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Endlich war der Tag herangekommen, an dem die Bärbel zum ersten Male zur Schule sollte. Im Hause des Apothekenbesitzers Wagner herrschte daher leichte Erregung, denn solch ein wichtiger Tag war für die gesamte Familie ein großes Ereignis.
Frau Wagner hatte ihre sechsjährige Tochter in die Privatschule des Fräulein Greger angemeldet, einer Dame, die seit mehr als einem Jahrzehnt eine kleine Töchterschule in Dillstadt innehatte. Fräulein Greger, die als Vorsteherin selbst unterrichtete, hatte sich zur Hilfe noch zwei Lehrerinnen angenommen, dazu für etliche Stunden den aus der Volksschule entlehnten Lehrer Baller. Mit diesen wenigen Lehrkräften wurde die kleine Privatschule versorgt, die aber einen sehr guten Ruf hatte, weil Fräulein Greger für außerordentlich tüchtig galt.
Vergeblich hatten Herr und Frau Wagner versucht, Bärbel für die Schule zu erwärmen, denn das kleine Mädchen sah dem ersten Schultage mit größtem Unbehagen entgegen. Man brauchte sich darüber gar nicht zu wundern, denn Emil Peiske, der Sohn des Schneiders und Bärbels Freund, hatte dafür gesorgt, daß Bärbel eine ganz falsche Anschauung von Schule und vom Schulunterricht bekam.
»Mehr Prügel gibt es dort als Unterricht,« hatte der vierzehnjährige Knabe gesagt, »mucksen darfst du nicht, immerzu nur lernen, daß einem der Kopf brummt; mit dem Spielen ist es aus, lustig sein darfst du auch nicht mehr. – Na, es ist eine Schinderei!«
Aber nicht nur Emil Peiske hatte die Schule als ein Institut des Schreckens hingestellt, der Hausdiener des Apothekers, der schon mehrere Jahre seine Stelle bei Herrn Wagner innehatte, wußte ebenfalls schreckliche Dinge von den Lehrern zu erzählen.
»Die Lehrer hauen, und die Lehrerinnen geben Strafarbeiten auf. Ich bin froh, daß ich raus bin; ich legte mich lieber ins Grab, als daß ich nochmals in die Schule ginge.«
Alle Bemühungen, Goldköpfchen, wie Bärbel überall im Städtchen genannt wurde, vom Gegenteil zu überzeugen, fielen daher auf unfruchtbaren Boden. Bärbel sah in ihren zukünftigen Lehrerinnen die Peiniger, und schon manche Träne war über das verängstigte Kindergesicht gerollt, wenn Bärbel daran dachte, daß der verhängnisvolle Tag näher und immer näher heranrückte.
In ihrer Seelennot hatte Bärbel ihren Bruder Joachim gefragt, der schon so viele Jahre zur Schule ging und auch zuerst in der Privatschule des Fräulein Greger gewesen war, aber seit einem Jahr das Gymnasium in der nahen Kreisstadt besuchte. Anfänglich war geplant, Joachim alltäglich mit der Bahn hinüberfahren zu lassen; aber Apotheker Wagner hielt es für richtiger, den jetzt vierzehnjährigen Knaben in Pension zu geben, damit auch die üble Freundschaft mit dem Schneidermeisterssohn Emil Peiske endlich aufhöre.
Für Bärbel war diese Trennung recht schwer. Wenn sie auch vom Bruder Joachim häufig geärgert wurde, liebte sie ihn doch schwärmerisch. Kam er zu den Ferien heim, jubelte sie hellauf. Joachim behandelte seine kleine Schwester sehr von oben herab, aber im Grunde seines Herzens hatte er das goldhaarige Schwesterlein doch recht lieb.
Er sah Bärbels verängstigtes Gesichtchen, als sich die Kleine bei ihm nach der Schule erkundigte, und meinte herablassend: »Wenn du immer den Mund hältst und die Olle nicht zu sehr ärgerst, mag es schon gehen. Schön ist es natürlich nicht, – man muß es eben ertragen.«
Ein guter Trost war das auch nicht. Bärbel blickte voll Neid auf die jetzt zwei Jahre alten Zwillinge, die es noch lange nicht nötig hatten, an Schule und Lernen zu denken, die mit Pferdchen und Bauklötzchen spielen konnten und von den Eltern verhätschelt wurden.
Die Osterferien waren vorüber, Bruder Joachim war wieder abgereist, und Bärbel zitterte vor dem morgigen Tage, der ihr den ersten Schulgang brachte. Als die Kleine des Abends im Bettchen lag, als die Mutter ihr den Gutenachtkuß gab, hielt Goldköpfchen mit beiden Armen Frau Wagner fest.
»Wird sie mich auch nicht totschlagen, Mutti?«
»Wer denn, mein liebes Kind?«
»Morgen – – die Lehrerin.«
Frau Wagner seufzte tief. »Kleines Schäfchen, ich habe dir doch schon oft gesagt, daß es in der Schule sehr schön ist und du gar keine Angst zu haben brauchst. Fräulein Greger ist eine sehr liebe Dame, und Fräulein Fiebiger, die dir in der Hauptsache den Unterricht erteilen wird, haben alle Kinder gern. Du bist ja auch nicht allein, du hast noch drei kleine Mitschüler. Es wird doch furchtbar nett sein, wenn du lesen und schreiben lernst.«
»Ich möchte lieber was anderes lernen, Mutti, und nicht in die Schule gehen.«
»Sei nicht unvernünftig, Bärbel, – alle Kinder müssen in die Schule gehen und lernen. Mache deine Mutti nicht erst traurig.« – –
Der Schultag kam heran. Es war ein banger Seufzer, den die kleine Bärbel ausstieß, als ihr das wichtige Ereignis zum Bewußtsein kam.
Schweigend, das kleine Herzchen voller Angst, stampfte Goldköpfchen neben der Mutter einher, dem Schulhause entgegen. Nochmals versuchte Frau Wagner, mit freundlichen Worten ihrem kleinen Töchterchen die Freuden der Schulzeit zu schildern, aber Bärbel hatte dafür kein Ohr. Das Verhängnis war unvermeidlich, in wenigen Minuten würde sie in der Schulbank sitzen und die ersten Schläge bekommen.
Goldköpfchen hielt sich am Rock der Mutter fest, als es vor Fräulein Greger stand, einer großen, stattlichen Dame mit strengem Gesicht. Jetzt lächelte Fräulein Greger freilich und streckte Bärbel die Hand hin.
Scheu legte die Kleine ihre Rechte hinein, dabei suchten die Augen nach dem Stock, der nirgends zu sehen war.
Allmählich fanden sich auch die anderen drei Abcschützen mit ihren Müttern ein. Da war die kleine Maria Koch, die Tochter des Arztes, Hanna Hasselmann, des Kaufmanns Einzige, und Georg Schenk, der Sohn des Buchhändlers. Bärbel war eigentlich die einzige, die deutliche Angst zeigte; die anderen drei schauten sich neugierig und unbefangen im Zimmer um.
Bärbel hätte am liebsten laut aufgeschluchzt, als die Mutter sich verabschiedete. Emil Peiske hatte erzählt, daß es hier eine finstere Kammer gäbe, in die man gesperrt würde. Ob man wohl alle vier Kinder zusammensperrte, oder ob sie allein in das finstere Loch kam?
Aber nichts von alledem geschah. Die Schulvorsteherin führte die vier Kleinen in ein kleines, aber freundliches Zimmerchen, in dem sechs Schulbänke standen. An der einen Wand, vor den Bänken, standen etwas erhöht ein Tisch und ein Stuhl. Bärbel wußte, daß dies der Platz für die böse Lehrerin war, die von oben herunter die Kinder beobachtete. Dort die große Wandtafel, an den Wänden einige Bilder und eine Karte mit kleinen Tintenklecksen.
Bärbel wagte nicht, sich umzusehen. Endlich vernahm sie neben sich eine freundliche Stimme. Sie schaute auf. Da stand schon wieder eine fremde Frau, die dem Kinde unters Kinn faßte und freundlich fragte:
»Nun, kleines Bärbel, warum hast du solche Angst?«
»Wer bist du denn?«
»Deine Lehrerin.«
Bärbel trat rasch einen Schritt zurück. Eine Falte erschien auf der Stirn des Kindes, und wieder fielen ihm die Worte des Bruders ein: »erst sind sie freundlich, und dann zanken sie einen aus.«
Schließlich mußten die Kleinen in den Bänken ihre Plätze einnehmen. Bärbel saß neben Maria Koch, einem kleinen, kecken Mädchen, das gar keine Furcht zu haben schien. Dann sprach Fräulein Greger noch einige Worte, ging schließlich davon und ließ die andere Lehrerin mit den vier Kleinen zurück, nachdem sie den Kindern gesagt hatte, daß sie bei Fräulein Fiebiger recht brav lernen und gut aufpassen sollten.
Vom Unterricht merkte man zuerst gar nichts. Fräulein Fiebiger unterhielt sich mit den Kindern freundlich und fragte nach den Namen.
»Ich schreibe euch alle in mein Buch ein, damit ich genau weiß, wie ihr heißt.«
So ging es der Reihe nach. Als die Lehrerin den Namen von Georg Schenk wissen wollte, nannte ihn der Knabe mit lauter Stimme und setzte hinzu: »Wie heißt denn du?«
»Ich bin Fräulein Fiebiger, aber ihr könnt mich einfach ›Fräulein‹ nennen.«
Das Gespräch kam nun auf Fleiß und Folgsamkeit. Da Fräulein Fiebiger mit Maria Koch eine längere Auseinandersetzung hatte, nahm Bärbel die Schulmappe, zog daraus ein Brötchen und begann zu essen.
»Hast du jetzt schon Hunger, Bärbel? Du sollst erst nachher in der Pause essen.«
»Ich möchte aber jetzt essen.«
»Nein, mein Kind, während der Schulstunde wird nicht gegessen. Stecke das Brötchen wieder ein.«
Bärbel rührte sich nicht.
»Hast du nicht gehört, Bärbel?«
Die Kleine saß unbeweglich.
»Wer von euch kann mir sagen,« rief Fräulein Fiebiger, »was die kleine Bärbel jetzt ist?«
»Semmel,« piepste Hanna.
»Das meine ich nicht.«
»Hungrig,« rief Goldköpfchen erbost.
»Ich habe zu Bärbel gesagt, sie soll das Brötchen fortlegen, sie tut es nicht. – Wie nennt man das?«
»Sie ist ein Dickschädel,« rief Georg Schenk.
Bärbel erhob sich. »Ich möchte jetzt nach Hause gehen, – es gefällt mir hier nicht.«
»Du bist eben erst hergekommen, mein liebes Kind. – Du bleibst, bis ich dich heim schicke.«
Tapfer schluckte die Kleine die aufsteigenden Tränen herunter, steckte die angebissene Semmel energisch zwischen die Hefte und warf die Schultasche auf den Fußboden.
Fräulein Fiebiger tat, als merke sie das Verhalten nicht, sie fragte vielmehr die Kinder über Haustiere und Vögel aus, wollte wissen, wer daheim einen Kanarienvogel hatte oder wo Haustiere wären.
Die drei anderen beteiligten sich recht lebhaft, nur Bärbel blieb stumm.
»Nun, Bärbel, weißt du nicht auch ein Haustier? Hund und Katze sind schon genannt. – Wer von euch kennt noch ein Tier, das viel in der Nähe der Menschen lebt?«
»Ein Esel!«
»Gut, – und weiter?«
Die Abcschützen schwiegen.
»Ich denke an ein Tier,« fuhr Fräulein Fiebiger fort, »das immer unsauber ist, das häßliche Laute ausstößt und das sich sehr oft aus seiner Behausung entfernt und, wenn es ihm möglich ist, auf dem Grundstück des Nachbars umherläuft. – Nun, Kinder, was ist das?«
»Ich weiß,« rief Bärbel wie elektrisiert.
»Das ist nett, daß du auch etwas weißt. – Nun?«
»Nicht doch, Bärbel, – der Emil ist doch kein Tier. – Ich meine das Schwein.«
»Der Emil ist ein Schwein,« beharrte die Kleine, »das sagt unser Felix immer.«
»Ein Mensch kann niemals ein Schwein sein, Bärbel. Der Emil kann wohl einmal sehr schmutzig aussehen, aber ein Schwein ist er deshalb nicht, und wenn das dein Felix sagt, hat er unrecht.«
»Der Felix hat aber nicht unrecht,« sagte Bärbel, »der Felix ist groß und weiß alles.«
Fräulein Fiebiger warf einen verzweifelten Blick auf das kleine Mädchen, das solch einen störrischen Eindruck machte; aber sie hoffte durch Nachsicht und Güte auch diese kleine Widerspenstige zu zähmen.
Während sich die anderen drei an den Fragen ziemlich lebhaft beteiligten, saß Bärbel gelangweilt auf ihrem Platze und untersuchte das Tintenfaß. Der klappende Deckel bereitete ihr recht große Freude, und schließlich ging es dauernd: klapp, klapp.
»Halte deine kleinen Finger still, Bärbel, und laß das Tintenfaß in Ruhe.«
»Dir paßt auch gar nichts,« platzte Goldköpfchen ärgerlich heraus, »ich spiele doch!«
»Du hast aber gut aufzupassen und nicht zu spielen.«
»Mir gefällt es aber nicht,« klang es zurück.
»Sitze jetzt ruhig und gib acht.«
Endlich läutete es. Fräulein Fiebiger war froh, daß diese erste und anstrengende Stunde nun glücklich vorüber war.
In der Pause taute Bärbel auf. Als es dann aber wieder an den Unterricht ging, zeigte sich erneut die Falte auf der Stirn des Kindes.
Wieder erschien Fräulein Fiebiger, und Bärbel machte ein recht enttäuschtes Gesicht.
»Kommst du schon wieder?«
»Natürlich, mein Kind, ihr sollt doch allerlei bei mir lernen und klug werden.«
Da man sich in der zweiten Stunde mit Zeichnen beschäftigte, wurde nicht gar zu viel gefragt, weil jedes Kind eifrig mit dem Bleistift beschäftigt war. So verging auch diese Zeit rascher. Es läutete, Bärbel packte hastig zusammen, wurde aber von Fräulein Fiebiger zurückgehalten.
»Einen kleinen Augenblick müßt ihr noch warten. Weil ihr heute so brav gewesen seid, sollt ihr noch eine Extrafreude haben.«
Die Kleinen horchten gespannt auf.
»Nun, wer kann sich wohl denken, was euch jetzt für eine Freude bereitet wird?«
»Willst du uns die Freude machen?« fragte Bärbel.
»Fräulein Greger, eure Schulvorsteherin.«
Bärbel strahlte. »Sie soll die Schule zumachen, und du sollst uns nicht weiter unterrichten.«
»Du wirst die Schule noch sehr liebgewinnen, Bärbel. – Nun aber gebt schön acht, da kommt Fräulein Greger.«
Die Schulvorsteherin betrat das Zimmer, sie trug vier große, bunte Tüten im Arm.
»O,« rief Hanna begeistert, »ich kriege von meiner Tante eine noch viel größere Tüte!«
Fräulein Greger sprach einige Worte zu den Kleinen, sie wurde dabei von Georg unterbrochen.
»Schenkst du uns nun jeden Tag eine solche Tüte, wenn wir herkommen?«
»Du mußt ›Sie‹ sagen, Georg.«
»Schenkst du uns jeden Tag eine Tüte, wenn wir hierherkommen, – sie?«
»Nein, nur heute zum ersten Schultage, damit ihr die Schule liebbekommt, gern hineingeht und ein liebes Andenken habt.«
Dann reichte Fräulein Greger jedem Kinde eine Tüte.
Bärbel stand ein Weilchen nachdenklich vor der Schulvorsteherin, betrachtete die Tüte, sann einige Augenblicke angestrengt nach, dann streckte sie beide Arme, die das Geschenk hielten, der Vorsteherin entgegen.
»Nimm sie, ich geb' sie dir wieder, ich bleibe lieber zu Hause.«
»Aber, Bärbel, – hat es dir denn nicht gefallen?«
Die Kleine schüttelte den Kopf. »Nein, – sie will immer recht haben und mischt sich in alles ein.«
»Wenn es dir auch heute noch nicht gefallen hat, mein Kind, wird es dir morgen schon besser behagen. Nimm die Tüte, und nun dürft ihr heimgehen.«
Zögernd nahm Bärbel die Gabe wieder zurück. Sie freute sich nicht darüber, denn der Gedanke, daß sie morgen wiederkommen müßte, daß sie alle Tage auf der Schulbank sitzen solle, verleidete ihr den Genuß an den Süßigkeiten.
Zögernd folgte sie den davoneilenden Kindern. Draußen, vor der Schule, stand Frau Wagner, die ihr Kind lächelnd in Empfang nahm.
»Nun, mein liebes Goldköpfchen, wie hat es dir denn gefallen?«
»In der Pause war es ganz hübsch,« erwiderte das Kind. Und froh eilte es zu seinen Spielsachen. –