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Wera Jegorowa.

Erstes Kapitel.

Auf der Petersburg-Warschauer Chaussee, deren Poststationen größtenteils schon längst eingegangen, seit die beiden Großstädte durch die der Chaussee meist parallel und stellenweise in fast unmittelbarer Nähe geführte Eisenbahn verbunden sind, ist der Verkehr zu jetziger Zeit nur ein ziemlich schwacher. Die Chaussee dient jetzt im wesentlichen nur dem Verkehr der in der Nähe gelegenen Güter und Dörfer mit den Eisenbahnstationen, mit der Kreisstadt und untereinander. Trotzdem hat Mark Fedotow, der die beim Dorfe Pokrowka hart am Chausseerande erbaute Schmiede vor einigen Jahren übernommen, bisher keine Ursache gehabt, seine Uebersiedlung zu bereuen. Er versteht sein Handwerk, ist ein gesunder und ausnehmend kräftiger Mensch, und würde sogar, da in dieser Gegend des Kreises die guten Schmiede und Schlosser nur äußerst dünn gesäet sind, sein ausnehmend gutes Auskommen haben, wenn er nicht gar so leichtlebig wäre. Einige Gläser über den Durst, ein kleines Hazardspiel mit beliebigen Kumpanen, ein ewiges Karessieren bald mit dieser bald mit jener nicht allzu skrupulösen Dorfschönen, – damit würzt er sich seine freie Zeit, seine Abende und oft gar halbe Nächte, ohne Rücksicht auf Frau und Kind. Dabei ist er überall gern gesehen. Wo er erscheint mit seinen lustigen Augen, seinen prachtvollen Zähnen hinter den üppigen, von einem kleinen, blonden Schnurrbart überschatteten Lippen, seiner stets schief nach hinten gerückten Mütze und seinen schier unerschöpflichen Späßen, da bringt sein heiteres impulsives Wesen auch die Schwerfälligsten bald in Schwung und richtige Stimmung. Zu Hause fühlt er sich, namentlich Abends nach Beendigung seiner Tagesarbeit, oder am Sonntag und sonstigen Feiertagen – äußerst ungemütlich.

Mit der Frau verträgt er sich schon seit Jahren nicht, und behandelt sie schlecht genug. Als er um sie freite, vor acht Jahren, da gefiel sie ihm sehr gut. Wera Jegorowa mit ihrem schlanken Wuchs, ihrem blassen, angenehmen Gesicht, ihren dunklen, ernstblickenden Augen, überwölbt von dichten, bogenförmigen Augenbrauen, ihrem auffallend kleinen, feingeschnittenen Munde, – sie hatte so etwas Apartes, über das Dorfniveau Hinausgehendes an sich. Dabei hatte sie einige Schulbildung, wußte zu reden, wo es sich der Mühe lohnte, in gut gewählten Worten. Sie hatte seinerzeit dem hübschen, allzeit lustigen Mark Fedotow eine wirkliche Zuneigung entgegengebracht, hatte ihn geheiratet trotz des hartnäckigen Einspruchs ihrer Eltern, denen sein Hang zu leichtsinnigem Leben nicht unbekannt geblieben.

Kaum aber war ein Jahr vergangen, kaum war der kleine Jaschka geboren, da war es schon vorbei mit der anfangs ziemlich soliden Haltung des jungen Ehemannes, da brachte er jede freie Stunde viel lieber auswärts zu, als zu Hause. Wera war eine etwas kühle Natur, nahm das Leben ernster als die meisten ihrer Altersgenossinnen und war dabei sehr geneigt zum Sinnen und Grübeln. Trotzdem hatte sie ihren Mann wirklich lieb gehabt, sein Frohsinn war ihr sogar sehr sympathisch erschienen. Als sie aber merkte, daß ihre Person nicht mehr imstande war ihn ans Haus zu fesseln, als er anfing, sich herumzutreiben mit notorischen Trinkern und Spielern, und Verhältnisse anknüpfte mit verschiedenen Dorfkoketten, da wandelte sich ihre Liebe bald genug in Gleichgültigkeit und stets wachsende Abneigung. Wenn er spät abends oder nachts nach Hause kam, angetrunken und nach Bier und Branntwein riechend, erregt durch Spielverluste, abgehetzt durch seine ewig wechselnden Liebschaften, wenn er je nach Laune sie dann auszankte und herunterschimpfte und oft genug auch geradezu mißhandelte, oder ein anderes Mal sie in brutaler Weise zu ehelichen Zärtlichkeiten zu zwingen trachtete, – da gab es oft sehr häßliche Szenen zwischen ihnen, während welcher sogar ihr jetzt schon siebenjähriges Söhnchen aus seinem Schlafe aufgestört wurde. Ihr in der ganzen Nachbarschaft beliebter Mann wurde ihr dabei von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag immer widerwärtiger und verhaßter. Zuletzt war es so weit gekommen, daß sie sich durchaus von ihm scheiden lassen wollte, um mit ihrem Jaschka zu den Eltern zurückzukehren oder irgend einen Dienst anzunehmen.

Leider ist die Ehescheidung in der russisch-rechtgläubigen Kirche nur äußerst schwer zu erreichen, namentlich wo es sich um in einfacher Lebensstellung befindliche und nicht sonderlich bemittelte Leute handelt. Und Mark Fedotow wußte es außerdem zu würdigen, daß er an Wera Jegorowa eine gute Hausfrau und Wirtschafterin hatte, die, im Gegensatz zu seiner liederlichen Lebensweise, ehrbar und anständig geblieben. Auch hätte er es nie übers Herz gebracht, sich von seinem Söhnchen zu trennen, das ihm wie aus den Augen geschnitten war. Er hatte also nicht die geringste Neigung, in eine Ehescheidung zu willigen oder seiner Frau von sich aus einen besonderen Paß zu geben, auf den hin sie getrennt von ihm leben konnte. Durch die Verweigerung seiner Einwilligung in Scheidung ihrer Ehe, durch seine Weigerung, ihr einen besonderen Aufenthaltspaß auszustellen, wollte er sie zugleich empfindlich dafür strafen, daß sie so wenig Nachsicht übte mit seinen Schwächen und kleinen Sünden, daß sie sich in stets zunehmendem Widerwillen von ihm zurückzog, von ihm, dem der Sieg über andere Frauenzimmer immer noch so leicht gewesen. In allerjüngster Zeit ist in Rußland die Frage der Ehescheidungserleichterung höheren Orts wieder ernstlich in Erwägung gezogen. Eine Abhilfe steht in naher Aussicht. Die Ausgabe von Sonderpässen an die Frau zum Alleinleben ist jetzt, je nach der Natur des Falles, auf dem Administrations- oder Justizwege, auch ohne Einwilligung des trunksüchtigen und liederlich gewordenen und seine Frau mißhandelnden Mannes zu erlangen.

Durch ihre unglücklich ausgeschlagene Ehe und in jeder Hinsicht hoffnungslose Lage war Wera Jegorowa, bei ihrem von Hause aus ernstem, grüblerischem Wesen, allmählich auch wankend geworden in ihrem Glauben an die Kirche und an die Richtigkeit der im Namen der Kirche von ihren Dienern gehandhabten Satzungen. In ihrer Vereinsamung sich nach Anschluß an andere ernste Menschen und nach biblischem Troste sehnend, hatte sie zuletzt die Gemeinschaft der örtlichen Stundisten Eine seit dreißig Jahren in Rußland, namentlich in Südrußland bestehende Sekte, deren Namen von dem deutschen Wort Stunde, d. h. Betstunde abgeleitet wird. gesucht und deren Andachtsübungen beigewohnt, hatte ihr kleines, silbernes Brustkreuzchen abgelegt, sich von allen rechtgläubigen Gebräuchen losgesagt und war, trotz des anfangs scharfen Einspruchs ihres Mannes, der Kirche, die er zu besuchen pflegte, ganz fern geblieben. Ja, sie war noch weiter gegangen, sie hatte sich eiserne Büßerketten, die sonst bei den Stundisten nicht üblich sind, zu verschaffen gewußt, und trug diese Ketten auf bloßem Leibe Tag und Nacht, obgleich sie schmerzhaft drückten und Brust und Rücken an manchen Stellen dadurch schon wund und schwielig geworden waren. Sie tat das ›zur Abtötung des Fleisches‹ und hatte sich das als lebenslängliche Buße dafür auferlegt, daß sie sich einst hatte bestechen lassen durch Mark Fedotows angenehmes Aeußere und heiteres Wesen, daß sie sich in ihn verliebt und ihn zum Manne begehrt hatte, – ihn, der sich ihr in der Ehe nachher bald genug in seiner wahren, ihr unerträglich widerlichen Gestalt gezeigt hatte.

Wenn sie aber bei ihrem Abfall von der Kirche und dem Anschluß an die örtlichen Stundisten vielleicht noch den Hintergedanken gehabt hatte, ihrem Mann, der trotz seiner leichtfertigen Lebensweise eifrig die Kirche besuchte und alle rechtgläubigen Gebräuche pünktlich erfüllte, das Zusammenhausen mit ihr, als einer offenbaren Ketzerin, so zu verleiden, daß er und der hinter ihm stehende örtliche Priester leichter in die Scheidung ihrer Ehe oder wenigstens in ihre völlige Entfernung aus seinem Hause willigen würden, so mußte sie bald inne werden, daß sie sich in solcher Hoffnung gründlich getäuscht hatte.

Sie war endlich zu der Ueberzeugung gelangt, daß Mark Fedotow durch nichts zu bewegen sei, sich von ihr zu trennen, daß er sich geradezu weide an der Qual, die ihr das Zusammenleben mit ihm bereite, daß sie, so lange er am Leben, unzerreißlich an ihn gefesselt bleiben werde, und daß sie entweder in stumpfer Ergebung abwarten müsse, bis sein Tod sie zur Witwe mache oder, wenn es ihr dazu an Kraft gebräche, ihr nur der eine Ausweg bleibe, ihren Mann oder sich selbst – zu töten.

Sie will aber doch noch einen letzten Versuch machen, will nochmals den örtlichen Priester aufsuchen und ihn flehentlich bitten, auf ihren Mann doch von neuem mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln einzuwirken, damit er endlich in die Trennung von ihr, die nur gezwungen in seinem Hause lebe und dabei noch eine ketzerische Stundistin sei, willigen möge. Zu diesem letzten Versuch, der im Falle des Gelingens jegliche gewalttätige Selbstbefreiung aus den sie fesselnden Banden verhindern könnte, hat sie den heutigen Tag ausersehen.

Im Flur ihres Hauses rüstet sie sich zu diesem Gange. Noch ist's heller Tag. vor der offenen Tür der Schmiede hält ein Schlitten. Die Leine des Pferdes ist um einen der die Anfahrt flankierenden Pfosten geschlungen. In der Schmiede arbeitet Mark Fedotow. Er ist aber nicht allein. Im Rahmen der großen, weitgeöffneten Tür der Schmiede sind zwei weibliche Gestalten sichtbar, von denen die eine sich am hellangefachten Kohlenfeuer die Hände wärmt, die andere ihre während der Fahrt in Unordnung geratenen Haare in ziemlich ungenierter Weise zu ordnen versucht. Lautes Gelächter der beiden begleitet die Hammerschläge des Schmieds.

Wera Jegorowa ist dergleichen Besuch junger Weiber und Mädchen in der Schmiede ihres Mannes nichts Neues. Zudem hat ja die Butterwoche Butterwoche – heißt die russische Karnevalszeit vor den siebenwöchentlichen, dem Osterfest vorausgehenden großen Fasten. begonnen. Da muß Mark Fedotow natürlich dabei sein, bei jeder Gasterei, jeder Schlittenfahrt – von allen Teilnehmern der Lustigste und Ausgelassenste.

Während sie, ohne weiter das Trio in der Schmiede zu beachten, die aus dem Flur zur Chaussee führende Treppe hinabschreitet, dringt plötzlich von ihrem Hofe her klägliches Hundegewinsel an ihr Ohr. Ihr Dachshund, den sie sich selbst erzogen hat und der sehr an ihr hängt, scheint in ernster Gefahr zu schweben. Um das Haus herum eilt sie in den Hof. Richtig, da ist er wieder, der große, fremde Köter, der sich schon neulich auf ihrem Hofe gezeigt hat. Mitgelaufen ist er offenbar mit dem Schlitten, dessen Insassinnen eben in der Schmiede mit ihrem Manne schäkern. Das große Tier hat ihren Krolik überwältigt und übel zugerichtet. Zum Hofe hinaus scheucht sie den Eindringling. Ihr armer Krolik aber kann sich nicht mehr aufrichten, ihr nicht mehr schweifwedelnd entgegenwatscheln wie sonst. Die Kehle ist ihm durchbissen, er liegt in den letzten Zuckungen. Verendend leckt er noch die Hände seiner Herrin, die sich, bitterlich weinend, über ihn gebeugt hat. In plötzlichem Entschluß hastet sie ins Haus, reißt die stets geladene Doppelflinte ihres Mannes von der Wand, an dem Mörder ihres Lieblings die wohlverdiente Strafe zu vollziehen. Der große Hund hat sich neben den Schlitten gelagert; die noch blutige Schnauze auf die Vorderpfoten gestreckt, liegt er so ruhig da, als ob er nie ein Wässerchen getrübt hätte. Kaum hat er die bewaffnete Frau erblickt, springt er empor und enteilt im schnellsten Lauf längs der Chaussee hin. Hinter ihm her kracht der Schuß: tödlich getroffen stürzt das Tier zusammen.

Wera Jegorowa versteht mit Gewehren umzugehen. Im ersten Jahr ihrer Ehe, als sie und Mark sich noch gut miteinander vertrugen, hat ihr Mann sie die Handhabung der Schießgewehre gelehrt, damit sie sich gegen ungebetene Gäste, die in seiner Abwesenheit ihrem etwas einsam gelegenen Hause einen Besuch abstatten könnten, zu verteidigen wisse. Sie ist damals eine gelehrige Schülerin gewesen, sie schießt vortrefflich. Von der bei einem Weibe äußerst seltenen Sicherheit ihres Auges, ihrer Hand – hat sie soeben wieder eine gute Probe abgelegt. Der Schuß hat den fliehenden Hund getroffen, trotzdem er schon ziemlich weit entfernt war.

Auf den Knall des Schusses ist Mark mit seinen beiden Freundinnen vor die Tür der Schmiede getreten. »Das ist für Krolik!« ruft Wera ihnen zu, wirft das Gewehr von sich – und geht ihres Weges in der Richtung zum Pogost Pogost – heißt die ganze Gruppe der in nächster Nähe der Kirche gelegenen Wohnhäuser des Priesters und der sonstigen Diener der Kirche, mit Einschluß der Häuser aller andern Personen, die sich im Laufe der Zeit dort niedergelassen., zur Wohnung des Priesters. Mark eilt ihr nach, und will sie zur Rede stellen. In dem Blick aber, mit welchem sie sich nach dem sie Verfolgenden umsieht, glüht ein so unheimliches Feuer, daß er jäh erbleicht, kein Wort ihr zu sagen wagt, und zögernden Schrittes zur Schmiede zurückkehrt. Die Mädchen rufen der kräftig ausschreitenden Frau laute Schimpfreden nach, der verdammten Stundistin mit gerichtlicher Klage und strenger Bestrafung drohend. Sie zu verfolgen wagen sie nicht. Der Schmied hat das Gewehr aufgehoben, es vom Schnee gesäubert, von neuem mit gehacktem Blei geladen, es dann ins Haus gebracht und an seinem alten Platz wieder aufgehängt. Zurückkehrend vor die Schmiede, tröstet er die beiden Mädchen, die unterdessen in ihrem Schlitten schon Platz genommen und Zügel und Peitsche ergriffen haben, über den Verlust des Hundes, ja, verspricht sogar, ihnen bald ein noch viel schöneres Tier, als Ersatz des Erschossenen, zum Präsent zu machen. Die schnell versöhnten Mädchen rufen ihm scherzhaft drohend zu, sie heute, als am ersten Tage der Butterwoche, nur ja nicht gar zu lange auf sich warten zu lassen. Ein Zungenschlag, ein Peitschenhieb, – und schellenklingelnd kreuzt ihr Schlitten die Chaussee und gleitet dann querfeldein auf der von grellem Sonnenlicht beschienenen blendendweißen Fläche.

Mark Fedotow geht zurück in die Schmiede, um eine dringend verlangte Arbeit, die er trotz des Beginns der Butterwoche nicht aufschieben kann, zu Ende zu bringen. Dem kleinen Jaschka, der laut heulend den totgebissenen Krolik zu ihm in die Schmiede schleppt, gibt er die Reste der Süßigkeiten, mit denen er seine Verehrerinnen vorhin traktiert hatte. Er heißt ihn, sich ins Haus zu scheren, und hier in der Schmiede weiter nicht zu stören.

Zweites Kapitel.

Im Pogost, im Wohnzimmer des Priesterhauses, sitzen an einem der Fenster der örtliche Priester Vater Alexei und sein Neffe, der wohlbestallte Stadtschulinspektor Iwan Petrowitsch Karpow aus der nächstgelegenen Kreisstadt. Der schon in den Dreißigern stehende Inspektor, bis jetzt noch strammer Junggeselle, ist mit großem Vergnügen der Einladung seines Onkels, den Anfang der Butterwoche diesmal mit einem solennen Blinifrühstück Die Hauptrolle unter allen Genüssen der Butterwoche spielen die Blini, ein möglichst heiß aufgetragenes, dünnes fladenartiges Gebäck aus Weizen- und Buchenweizenmehl. im Pogost mitzufeiern, nachgekommen. Im stillen fürchtet er nur, daß bei dieser Einladung die Frau seines Onkels den Ausschlag gegeben hat, die immer allerlei Attentate auf seine goldene Freiheit im Schilde führt, und wohl auch diesmal ihn mit irgend einem in der Nachbarschaft neuentdeckten heiratsfähigen Fräulein bekannt zu machen wünscht. Nun, dergleichen Pläne der lieben Tante werden wohl auch diesmal wieder zu Wasser werden. Vorläufig sehnt er sich noch nicht allzusehr nach den Rosenfesseln der Ehe.

Wie er da eben dem Vater Alexei gegenübersitzt, geben die beiden ein interessantes Bild diametraler Gegensätze.

Das ausdrucksvolle, ernst blickende Gesicht des Priesters, mit seinem leicht ins Rötliche spielenden Vollbart und mit der seltenen Fülle kastanienbraunen, leicht gewellt über den Nacken hinabfallenden Haares, erinnert etwas an die Apostelgestalten auf den Bildern altitalienischer Meister. Seine Bewegungen sind gemessen und entbehren nicht einer gewissen Grazie. Er spricht selbst nicht viel, folgt aber mit wohltuender Aufmerksamkeit den lebhaften Reden seines redelustigen Gastes.

Iwan Petrowitsch präsentiert sich nicht übel in seiner neuen, gutsitzenden Schuluniform, das helle Blondhaar kurz geschoren, das glattrasierte Gesicht durch lebhaft wechselndes Mienenspiel bewegt, der meist harmlos schalkhafte Ausdruck der hellblauen Augen nur wenig beeinträchtigt durch die blitzenden Gläser seiner Brille. Er spricht mit sonorer Stimme und begleitet seine Worte meist mit eindrucksvollen Bewegungen der Hände. Viel zu schaffen macht ihm dabei das etwas obstinate Gestell seiner Brille, das die Neigung hat, an den Schläfen immer etwas hinaufzurutschen, und von ihm während des Sprechens von Zeit zu Zeit immer wieder hinter die Ohren zurechtgerückt werden muß.

Nach Erledigung rein persönlicher Dinge sind die beiden auf die noch immer recht prekäre Lage der russischen Dorfgeistlichen zu sprechen gekommen.

»Ihr seid doch,« ereifert sich Iwan Petrowitsch, »Familienväter mit meist zahlreichen Kindern! Ihr habt euch und die Eurigen durchzufüttern und zu kleiden und die Kinder in der Stadt zu schulen! Eure Wohnhäuser in den Pogosten müßt ihr entweder mieten oder vom Amtsvorgänger kaufen oder gar selbst aufbauen! Und die Heizung, und die Unterkunft für euer bißchen Vieh und Fasel? Und könnt ihr etwa auskommen ohne Pferd und Fuhrwerk, – ohne Knecht und Magd? – Ach, Onkelchen, ich bin ja selbst im Pogost geboren und aufgewachsen. Nur zu gut erinnere ich mich, wie schwer es meinem armen Vater wurde, uns zu versorgen, jahrein, jahraus.«

»Du kannst doch aber nicht leugnen, daß sich unsere Lage seit einiger Zeit durch die Fürsorge der Regierung schon etwas gebessert hat,« bemerkte hierauf Vater Alexei, während sein Neffe sich in umständlicher Weise zu schneuzen beliebt, »wir beziehen doch jetzt schon einen Jahresgehalt, sogar mit Pensionsberechtigung. Alle vier Monate können wir diese Gage in der Kreisrentei erheben.«

»Das weiß ich, Onkelchen,« ruft Iwan Petrowitsch aus, »es handelt sich dabei um ganze hundertfünfzig Rubel jährlich, – ich weiß auch, daß alle Aussicht vorhanden ist, diese Gage in nicht zu ferner Zukunft bis auf dreihundert Rubel erhöht zu sehen! Aber befreit euch denn diese Gage von der Notwendigkeit, die Dörfer eures Pfarrbezirks abzufahren, und Haus um Haus einzusammeln, was die Bauern euch an Feldfrüchten und Wirtschaftsprodukten geben wollen? Befreit sie euch von der Notwendigkeit, mit euren Gemeindegliedern zu feilschen um die Zahlungen für Dankmessen und Seelenmessen, um eure Gebühren bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen?«

Achselzuckend will der Priester ihm in die Rede fallen, aber Iwan Petrowitsch, einmal im Zuge, läßt ihn noch nicht zu Worte kommen: »Und manche dieser eurer Gebühren, und das kirchliche Beicht- und Abendmahlsgeld, der Ertrag der Klingbeutelsammlung und des Wachslichtverkaufs, sind das etwa eure unbeschnittenen Einkünfte? Nach wie vor fällt doch ein Teil dieser Gelder der Kirche zu! Und in den Rest – habt ihr euch, denke ich, auch jetzt noch zu teilen mit euren Diakonen und Psalmensängern, die doch auch nicht leben können wie die Vögel unter dem Himmel oder wie die Lilien auf dem Felde?«

Da Iwan Petrowitsch sich abermals schneuzen muß, kann der Priester ihm einwenden: »An manchen Orten indes klagen unsere Dorfgeistlichen durchaus nicht über ungenügendes Jahreseinkommen! Freilich, in kleineren und seit längerer Zeit verarmten Kirchspielen ... oder wo Mißwachs gar zu häufig ... oder wo Sektierer ihr Wesen treiben ... da ...«

Von seinem ursprünglichen Thema abspringend, unterbricht Iwan Petrowitsch seinen Onkel hier mit der lebhaften Zwischenfrage: »Und wie steht es denn jetzt hier bei euch, hier in deinem Kirchspiel, mit der Stundistenbewegung? Ist es wirklich wahr, daß sich der Stundismus in eurer Gegend unter deinem Amtsvorgänger in etwas ungewöhnlichem Maße ausgebreitet hat? – Ich kannte den Alten ja auch etwas. Alljährlich immer neuer Kinderzuwachs, darunter selbst Zwillinge, – fortwährend von Geldsorgen gedrückt! – Ist es wirklich wahr, daß er die Bauern beim Einfordern der ihm an Geld oder Naturalien zukommenden Gebühren so zu drücken pflegte, daß viele unter ihnen teilweise schon dadurch zum Abfall von der Kirche und zum Anschluß an die Stundisten bewogen wurden?«

»Ach, Iwan Petrowitsch, lassen wir diese traurigen Vorkommnisse lieber unerörtert!« antwortet ihm hierauf der Priester, den stattlichen Vollbart durch die Finger seiner linken Hand gleiten lassend. »Die Anzahl der Stundisten, die ich hier bei meinem Amtsantritt vorfand, war allerdings ziemlich bedeutend, und die Anzahl jener, die hier seitdem wieder zu unserer Kirche zurückgekehrt sind, ist bis jetzt noch klein genug, obgleich ... Selbstverständlich ist hier infolgedessen das Einkommen der Kirche und des örtlichen Priesters stark zurückgegangen. Ich hätte mit meiner Familie schwere Zeiten zu durchleben gehabt, wenn uns nicht, gottlob, die Zinsen des Kapitals, das uns nach dem Tode meiner Schwiegermutter zufiel, über Wasser gehalten hätten.«

Fröhlich auflachend lehnt sich Iwan Petrowitsch in seinem Sessel zurück: »Ja, ja, – ich erinnere mich noch lebhaft genug, wie ich mit meinen Kollegen am Frühstückstisch fröhlich zusammen saß, um den mir an jenem Tage vom Volksschuldirektor des Gouvernements zugesandten Annenorden dritter Klasse mit einem guten Tropfen gebührend zu feiern, und wie da dein Brief, lieber Onkel, in unsere Tafelrunde hineinschneite, dein Brief mit der Nachricht von der euch zugefallenen, unerwartet großen Erbschaft! Na, da habe ich noch manches Extrafläschchen spendiert, und wir haben deine und der Tante Gesundheit ausgebracht, einmal über das andere, und auch auf der alten, geizigen Schwiegermutter ewige Seligkeit manch Gläschen getrunken! Der Brummschädel am andern Tage, der war ein recht gründlicher!«

Der Priester verbeugt sich leicht gegen den Inspektor, der bei seinem Heiterkeitsausbruch wieder mit seinem hoch hinaufgerutschten Brillengestell in ernste Differenzen geraten ist; ein flüchtiges Lächeln huscht über sein ernstes Gesicht.

»Verzeih mir, Onkelchen,« fährt Iwan Petrowitsch fort, »daß ich in meiner Lebhaftigkeit vorhin dich eigentlich ganz unnütz mit der Frage, wie es jetzt hier bei dir mit den Stundisten steht, belästigte. Ich weiß es ja ganz genau schon aus dem Munde der Priester unserer Stadtkirchen, daß in deinem Kirchspiel die Bauern jetzt nicht mehr murren über zu drückende Kirchen- und Amtshandlungsgebühren, daß sie alle äußerst zufrieden sind mit ihrem Vater Alexei, und daß daher die hiesigen Stundisten jetzt schwerlich mehr auf neuen Zuwachs rechnen können. Sogar der Postknecht, der mich heute hierhergebracht und der doch nicht wußte, daß ich dein naher Verwandter bin, hat mir dein Loblied, Onkelchen, in allen Tonarten gesungen.«

Vater Alexei hebt abwehrend die Hände; bei den letzten Worten seines Neffen hat sein Gesicht sogar eine leichte Röte überflogen.

Während der Unterhaltung der beiden Männer ist eine stämmige Magd öfter ein- und ausgegangen, mit dem Decken des Frühstückstisches beschäftigt. Sie hat sich dabei nach besten Kräften bemüht, nicht gar zu hart aufzutreten und mit Tellern und Gläsern nicht allzu laut zu klappern. Soeben ist sie wieder ins Zimmer getreten, diesmal mit ziemlich verdrossenem Gesicht. In der Küche, meldet sie dem Priester, sei die Schmiedsfrau, die Wera Jegorowa, die Stundistin, erschienen; sie wolle durchaus den Vater Alexei sprechen; sie weine und sei so erregt, und lasse sich nicht abweisen ...

»Laß sie nur hier eintreten,« bedeutet Vater Alexei die Magd. Zum Neffen gewandt setzt er hinzu: »Ich will sie schon lieber sogleich hier empfangen, ehe weitere Frühstücksgäste eintreffen.«

»Da gehe ich unterdes die Kinderchen begrüßen,« meint Iwan Petrowitsch, »falls die liebe Tante es nicht vorzieht, beim Blinibacken meine Hilfe in Anspruch zu nehmen.« Dabei verläßt er das Zimmer, eine muntere Melodie vor sich hinsummend.

Drittes Kapitel.

Mit dem Rücken ans Fensterbrett gelehnt, die Arme über der Brust verschlungen, empfängt der Priester die unter wiederholten Verbeugungen Eintretende.

»Vater Alexei,« redet sie ihn an, »verzeiht, daß ich Euch abermals belästige und, wie es scheint, sehr zur Unzeit. Ach, vergesset, daß ich vor Euch stehe als Abgefallene von der Kirche, als Stundistin. Seht in mir nur das arme, gequälte Weib, das nach Befreiung lechzt aus schmählichen Banden. Ich hoffte, daß Eure Vermahnungen den Mark Fedotow doch noch allmählich dahin bringen würden, sein lasterhaftes Leben aufzugeben und mich menschenwürdiger zu behandeln. Leider haben Eure Vermahnungen nichts gefruchtet, es wird mit ihm von Tag zu Tag nur noch ärger. Ich bin zu Ende mit meiner Geduld, mit meiner Kraft, – ich kann so nicht mehr weiter leben! Ich muß fort von ihm, ich muß! sonst geschieht irgend ein schreckliches Unglück. – Halsstarrig bleibt er dabei, sich nicht von mir trennen zu wollen, – und einen Paß zum Alleinleben wird er mir auch nie geben. Ich habe mich schon mehrmals an den Stanowoi Stanowoi Pristaw heißt der Vorsteher eines Polizeidistrikts des Kreises. gewandt, und an den Landhauptmann. Sie bedauern mich, sie geben mir auch recht. Aber sie schicken mich achselzuckend fort, ohnmächtig, mir zu helfen. Da bin ich denn wieder – zu Euch gekommen, Vater Alexei! Ihr seid doch sein Beichtvater, Euch muß er gehorsam sein! Um des barmherzigen Gottes willen, bewegt ihn, zwingt ihn – in die Scheidung von mir zu willigen, mir vorläufig wenigstens einen Paß zu geben. Erbarmt Euch eines todunglücklichen Weibes, helft mir, ach helft mir!«

»Wera Jegorowa,« antwortet ihr der Priester, »wie soll ich dir helfen? Du kannst es mir glauben, daß ich trotz meines Priesteramtes, das mir eigentlich die Mitwirkung zu einer Ehescheidung streng verbietet, doch mehrmals schon versucht habe, auf deinen Mann im Sinne deiner Wünsche einzuwirken. Er bleibt hierin aber auch mir gegenüber unbeugsam. Ihn zu zwingen, sich von dir zu trennen, fehlt mir die Macht. Du tust mir herzlich leid, du hättest einen besseren Mann verdient als ihn! Mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln will ich ihn abermals zu bewegen suchen, sein Leben und sein Verhalten zu dir zu ändern, vielleicht habe ich darin doch noch einigen Erfolg bei ihm. Aber mehr als dieses, du Arme, kannst du leider von mir nicht erwarten.«

Er trocknet sich die feuchtgewordene Stirn. Mit der Wera Jegorowa kann er ja nicht reden wie mit einem Schäflein seiner Herde. Es kostet ihm Mühe genug, ihr gegenüber heute vom konfessionellen Standpunkt ganz abzusehen, und sich ihrer stundistischen Anschauungsweise anzupassen.

Wera Jegorowa wiederholt ihre Bitte, schluchzt, ringt die Hände.

In etwas wärmerem Tone sucht der Priester sie zu trösten: »Gott gibt einem jeden unter uns sein besonderes Kreuz zu tragen, und manchem unter uns scheint die Last dieses Kreuzes zu schwer für die schwachen Schultern. Du liesest ja gewiß oft genug in deiner Bibel – als Stundistin. Da mußt du ja auch gelesen haben, daß solch Kreuz uns Sündern zur Läuterung dienen soll, zum Heil unserer Seele, – und daß Gott uns auch die Kraft gibt, jedes Kreuz, so schwer es auch sei, zu tragen! – Es ist doch eigentlich erst in letzter Zeit so gar schlimm geworden mit deinem Mann. Ist dir, armes Weib, denn nie der Gedanke gekommen, daß Gott dir in deiner Ehe solch schweres Kreuz als Buße auferlegt hat nicht nur dafür, daß du einst, in unbedachtem Leichtsinn und trotz des Widerspruchs deiner Eltern, Mark Fedotows Weib geworden, sondern auch dafür, daß du, im Schoße unserer Kirche geboren und getauft und früher in unserer Kirche mit uns zu Gott betend und des heiligen Abendmahles gewürdigt, in reiferen Jahren abgefallen bist von unserer Kirche und dich zu den Sektierern hältst, zu den Stundisten?« ...

»Ach, Vater Alexei,« antwortet sie, von häufigem Schluchzen unterbrochen, auf seine gutgemeinten Trostworte, auf seine mildklingende vorwurfsvolle Frage, »als ich in meiner Ehe immer unglücklicher wurde, da fand ich keinen Trost in Eurer Kirche und in der Erfüllung der rechtgläubigen Gebräuche. Ich bin ja nur ein dummes Weib, ich kann mit Euch nicht rechten, mit Euch, dem gelehrten Priester. Aber, glaubt es mir, den ersten Trost in meinem Elend brachte mir das Anhören der einfachen Bibelworte in den Stundistenversammlungen, und das eifrige Lesen in der Bibel zu Hause in meiner Einsamkeit. Bis jetzt hat dieser Trost mir geholfen zur Geduld, zum Ausharren, hat mich zurückgehalten von Selbstmord, von ... Ach, aber jetzt – verliert auch dieser Trost seine Kraft! Was fange ich jetzt an, ich Unselige?«

Der Priester ist näher herangetreten an die Verzweifelnde: »Wera Jegorowa, wenn der Halt und der Trost, den du in deinen Stundistenandachten gefunden, wirklich von Gott kommt, so wird er dich auch fernerhin stärken in deinem Unglück, und wird dich bewahren« – dabei schaut er ihr fest in die Augen mit warnend erhobenem Finger – »vor jeder Freveltat! Gottes Wege – sind nicht unsere Wege! Bei seinem zügellosen Leben kann dein Mann – ganz plötzlich sterben. Dann wärst du plötzlich von ihm befreit – nach Gottes eigenem Willen! Geh in Frieden, du armes Weib! Weiter habe ich dir nichts zu sagen. – Deinem Mann werde ich ernstlich ins Gewissen reden, – und beten will ich für dich, für euch beide, zu unserem allbarmherzigen Gott!«

Wera Jegorowa verläßt das Zimmer, ihr tränenüberströmtes Gesicht unter ihrem Tuche verhüllend.

Schnell durchschreitet sie die von heißem Backdunst erfüllte Küche. Noch ehe die am Ofenherde beschäftigte Priestersfrau ihren Fortgang bemerkt hat, ist sie schon draußen.

Das gutmütige, stets leicht gerötete Gesicht der Hausfrau hat heute eine fast kupferrote Färbung, auf der Stirne perlt reichlicher Schweiß. Nicht weniger gerötet und schweißglänzend erscheint das Gesicht der neben ihr sich mühenden Köchin. Es ist auch kein leichtes Stück Arbeit, das die beiden in der stark überheizten Küche zu leisten haben. Der dünnflüssige, aus Weizen- und Buchweizenmehl mit Hefenzusatz schon gestern abend angerührte Teig ist während der Nacht prächtig aufgegangen. Nun gilt es, von diesem Teig ungezählte Male etwas in die runden, mit heißbrodelnder Butter bedeckten Pfännchen zu gießen und mit geschickter Schwenkung gleichmäßig zu verteilen, und dann die schnell gargebackenen und stellenweise sich leicht bräunenden Fladen sofort auf einen der beiden in der Nähe stehenden Teller, auf denen schon eine ziemliche Anzahl des appetitlich duftenden Gebäcks übereinander gestapelt ist, hinüber zu praktizieren. Prüfenden Auges taxiert die erfahrene Hausfrau die fertig gebackenen Blinis. Nein, noch langt der Vorrat nicht! Immer neue Teigportionen gelangen in die auf den Pfannen brodelnde, jedesmal zischend aufspritzende Butter, die durch stets neuen Zusatz in richtigem Niveau erhalten wird. Immer höher türmt sich auf beiden Tellern der Stapel fertiger Blinis ... Da, horch! lustiges Schellengeklingel!

Draußen sind einige Schlitten vorgefahren. In ziemlich lärmender Weise, unter Lachen und Scherzen, treten die Gäste in die Küche, von der Hausfrau in ebenso lauter und heiterer Weise begrüßt. Mit ihrer und der Magd Hilfe schälen sie sich aus ihren Pelzen und Kappen und Tüchern. Unter ihnen präsentieren sich auch einige ganz niedliche junge Gesichter, Wangen und Näschen frostgerötet, die Augen blitzend in übermütiger Lebenslust. Nun, Inspektorlein, – hüte dich fein!

Alle treten in die Wohnstube, während der Hausherr seine Gäste herzlich bewillkommnet, und die Hausfrau den Frühstückstisch noch schnell mit holländischem Hering versieht, mit Lachs, gepreßtem Kaviar, saurem Schmand, heißer, geschmolzener Butter und diversen Flaschen und Fläschchen flüssiger Labe, – erscheint auch Iwan Petrowitsch, an jeder Hand eines der Kinder des Priesters führend. Der Hausherr stellt ihn den Gästen vor. Beim Erblicken der beiden hübschen, jungen Mädchen, die seit dem Eintritt des uniformierten Stadtherrn vor lauter Verlegenheit sich einer etwas unmotivierten Lustigkeit hingegeben haben, blinzelt der Inspektor mit verständnisvollem Lächeln zu der Hausfrau hinüber. Sie beantwortet seine schalkhafte stumme Frage mit drohendem Schütteln ihrer kleinen Faust ... ah, da nähert sich ja schon dem Frühstückstisch die stämmige Magd mit zwei prächtigen Stapeln dampfender Blinis! Der Inspektor führt, nach tiefem Bückling, an jedem Arm eine der hocherrötenden lustigen Mädchen zu Tisch, und läßt sich dann in bester Stimmung zwischen den beiden nieder. Das fröhliche Mahl nimmt seinen Anfang: wohl bekomme es ihnen allen!

Viertes Kapitel.

Draußen auf den Straßen der Dörfer, die Wera auf ihrem Heimweg zu passieren hat, herrscht überall laute Fröhlichkeit, ja Ausgelassenheit. Greller Sonnenschein wechselnd mit leichtem Schneefall, die Kälte nur mäßig, fast völlige Windstille, gut eingefahrene Schlittenbahn, – kurz ein Butterwochenwetter, wie man es sich schöner gar nicht wünschen kann. Alle Arbeit ruht. In der Nähe der ansehnlicheren Bauernhäuser spürt man schon auf der Straße den Dunst der Blinis, die drinnen gebacken werden. Auf den Haustreppen sitzen und stehen Jung und Alt, Mädchen und Bursche im Feiertagsputz. Lautes Gespräch, Neckereien, Gelächter, hochrote Wangen. Hier und da ertönen flotte Harmonikaklänge, riskieren die näherstehenden Bursche die urwüchsigen Pas der Kamarinskaja. Kamarinskaja – ein allbeliebter russischer Nationaltanz, dessen Tempo während des Tanzens in stetem Zunehmen begriffen ist. Hin und her gleiten die Schlitten, überladen mit feiernden Menschen, die sich aneinander festhalten, um nicht herausgeschleudert zu werden, wo der Boden unebener, oder wo die Straße eine stärkere Krümmung macht. Die meist kleinen Pferde, deren Geschirr und Krummholz mit bunten Läppchen und Bändern verziert ist, werden unbarmherzig zu immer größerer Eile angetrieben, obgleich ihre Flanken schon mit flockigem weißen Schaum bedeckt sind. Ab und zu purzelt einer der auf den Schlittenrändern Sitzenden in den Schnee. Am höchsten gehen die Wogen der Lust, der tollen Fröhlichkeit, wenn einer der Schlitten ganz umschlägt, alle seine Insassen in wirrem Knäuel hinausfliegen, und Männlein und Weiblein sich unter derben Scherzen und lautem Johlen wieder emporarbeiten, dabei aber von dem einen oder andern der zahlreichen Passanten mit Schneebällen bombardiert und mutwillig wieder in den tiefen Schnee zurückgeworfen werden. Dazwischen kreist natürlich die Branntweinflasche. Heute gönnt man auch den Weibern und Mädchen, ja sogar halbwüchsigen Kindern einen Tropfen des edlen Nasses.

Schlecht genug paßt diese lärmende Butterwochenfröhlichkeit zu der gedrückten verzweifelten Stimmung, in der Wera Jegorowa dahinhastet, sich scheu vorbeidrückend an der jubelnden Menge, oft sogar kleine Umwege nicht scheuend, um nicht angehalten zu werden.

Die Schatten der Abenddämmerung umfangen die einsame Fußgängerin. Gottlob, schon ist die Schmiede, ihr Haus in Sicht. Just in diesem Moment fährt auf der Chaussee eine ganze Reihe von Schlitten an ihr vorüber, in tollem Wettstreit einander überholend. Allen voran jagt der Schlitten mit den beiden Schönen, die heute auf Besuch in der Schmiede waren. Vor ihnen im kleinen Gefährt steht Mark Fedotow, mit Peitschenknallen und gellendem Zuruf das Pferd zu immer schnellerem Laufe antreibend. Erhitzten Gesichts wendet er sich alle Augenblicke zu den hinter ihm sitzenden Mädchen, sie mit seinen mutwilligen Späßen zu schier endlosem Lachen herausfordernd; unter den häufigen Stößen des hin und her schleudernden Schlittens setzt er sich oft genug auf die ihm bereitwillig überlassenen Kniee seiner Dunja, seiner Lisa. Im Vorüberjagen erkennen die Mädchen die am Chausseerande nach Hause eilende Wera, und grüßen sie mit höhnischen Gebärden. Ihr Pferd aber, das vor der dunkel gekleideten Gestalt Weras zurückschreckt, einige wilde Seitensprünge macht und willens scheint, mit zurückgelegten Ohren Reißaus zu nehmen, nimmt Mark Fedotows ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er wird wohl kaum das einsame Weib mit dem halbverhüllten Gesicht erkannt haben. Wie ein wüster Spuk ist die ganze Reihe der Schlitten an Wera vorübergerast.

Sie hat ihr Haus erreicht. Auf der Treppe findet sie den allbekannten halbblinden Krüppel aus dem Dorfe. Etwas angetrunken erscheint er ihr. Der Schmied habe ihm befohlen, sagt er, das Haus zu bewachen, bis er selbst oder bis die Frau nach Hause komme. Mit einigen Kopeken lohnt sie ihn ab und schickt ihn ins Dorf zurück. In der Stube auf der Wandbank schläft ihr Jaschka. Das Gesicht des Kindes sieht erhitzt aus, sein Atem riecht nach Branntwein. Wahrscheinlich hat der alte Krüppel, vielleicht auch der Vater selbst, dem Knaben etwas Branntwein gegeben, damit er die Zeit seines völligen Alleinseins verschlafe. Sie weckt ihn und bietet ihm Speise und Trank. Er aber mag nichts essen und bittet nur, daß die Mutter ihn weiter schlafen lasse, da ihm der Kopf sehr schmerze. Sie versucht selbst einige Bissen zu genießen, hört aber bald damit auf.

Ohne sich zu rühren sitzt sie am Fenster der Wohnstube, in dumpfes Sinnen verloren. Aus den dichter gewordenen Wolkenschleiern war gleich nach ihrer Heimkehr reichlicher Schnee gefallen. Danach hatten die Wolken sich verzogen, hell funkeln die Sterne am tiefdunklen Himmel. Die Lampe hat sie nicht angezündet. Wie spät es ist, weiß sie nicht, – die Wanduhr ist stehen geblieben. Tiefe Stille umgibt sie. Nur ihr Herz hört sie klopfen in schnellen, bangen Schlägen. Sogar am Halse und in den Schläfen hämmert das erregte Blut. Eine sonderbare Furcht, ein seltsames Grauen überkommt sie. An der nahen Zimmerwand erglänzt im Mondlicht der blanke Beschlag an dem Kolben des Doppellaufs. Ja, das war ein guter Schuß heute morgen! Ob wohl ein Mensch nach solch einem Schuß in den Kopf auch sofort tot ist? Oder vermag er noch manches zu hören und zu sehen in den wenigen Augenblicken bis zum Eintritt des Todes? Ihr schwindelt ... Da wird es laut draußen auf der Chaussee. Vier Männer nähern sich in der Richtung ihres Hauses, lärmend, gröhlend, offenbar Trunkene. Unweit des Hauses bleiben sie stehen. Einer von ihnen – sie hat gute Augen und die Schneefläche draußen schimmert im Mondlicht – ist Mark Fedotow, ihr Mann. Seine drei Gefährten entfernen sich mit heiserem Gesange. Er schreitet auf das Haus zu und stolpert die Treppe empor. Die Tür ins Zimmer ist unverschlossen. Im dunklen Flur findet er sie aber erst nach einigem Hin- und Hertappen. Beim Oeffnen der Tür die am Fenster sitzengebliebene Frau erblickend, schreit er sie an: »Oh, du gemeines Tier, warum ist's denn hier so dunkel? Das ist doch eine infame Wirtschaft hier im Haus!« Weras Hände zittern, das Anzünden der Lampe gelingt ihr nicht schnell genug. Mit schwerer Faust schlägt er sie in den Nacken: »Beeile dich etwas, heilige Fratze du!« Endlich brennt die Lampe. Feindselig streift ihr Blick die schwankende Figur des Mannes, seine in Unordnung geratene Kleidung, das gedunsene Gesicht mit den stierblickenden Augen. Im Zimmer steht nur ein einziges zweischläfriges Bett. Mark hat den kurzen Leibpelz und Rock und Weste abgeworfen und sich auf den Bettrand gesetzt. Es gelingt ihm nicht, sich der Stiefel zu entledigen. Die Frau muß ihm helfen, wie sie mit todblassem Gesicht vor ihm auf der Diele kniet und mit schwerer Mühe seine Füße von den nassen Stiefeln befreit, haftet sein Blick auf ihrer schlanken Gestalt, auf ihrem reichen dunklen Haar, das sich bei der Anstrengung des Stiefelausziehens teilweise gelöst hat. Er beugt sich vor, will ihren Kopf umfassen und sie küssen, voll Abscheu entwindet sie sich seiner Umarmung. Roh auflachend ruft er ihr zu: »Alberne Heuschrecke du – da warte ich eben noch etwas! Bald mußt du dich doch auch niederlegen. Dann ...« Dabei ist er, von Trunkenheit und Müdigkeit übermannt und ohne sich vollends zu entkleiden, aufs Bett zurückgesunken, hat sich näher zur Wand geschoben, und bald verkünden unregelmäßige schnarchende Atemzüge, daß er im Einschlafen begriffen. Dabei murmelt er vor sich hin in abgebrochenen Worten: »Wera – nein Lisa, Dunja – ach ihr Kanaillen – nun noch ein Küßchen, noch eins, aber saftig! – Dunascha – Wera!« Seine Lippen spitzen sich schmatzend. Mit widerlichem Grinsen, die Augen halb offen, tastet er mit der Hand neben sich, ob wohl Wera sich schon niedergelegt.

Alle Geduld, alle Selbstbeherrschung Weras ist zu Ende! Sie muß jetzt den Trunkenen zum Schweigen bringen, um jeden Preis! Sie muß sich schützen vor den Griffen seiner muskulösen Fäuste. Sie weiß ja, daß sie, auch wenn er berauscht, diesen Griffen immer unterliegt. Unwiderstehlich drängt es sie, ihr Haus, ihr Bett zu säubern von dem ihr jetzt zum Ekel gewordenen Menschen! Wie hat sie nur einst diesen Mund in Liebe küssen können? Unwiderstehlich drängt es sie, sich ein für allemal zu befreien von ihm, sich selbst dabei endlich zu befreien, Herr Gott, endlich! ... wieder klopft ihr Herz bis zum Halse hinauf, wieder schwindelt ihr ... Ihr scheint, daß häßliche Fratzen sie umgaukeln – oder sind das die Kerle, die sie vorhin durchs Fenster gesehen? ... Nach ihrem Halse greift der eine der Unholde, der andere greift schon nach Marks Doppellauf ... Nein, nein! ... Aber wer hat ihr selbst plötzlich – das Gewehr in die Hände gegeben? wer hat sie vor dem Bett niedergezwungen – auf die Kniee? Nein, es ist keine Täuschung! Deutlich fühlt sie den Kolben des Gewehres zwischen Schulter und Wange. Das Ende des Gewehrlaufs berührt fast die Stirn des Mannes, der da vor ihr in unruhigen: Halbschlafe, im Nachgenusse seiner heutigen Butterwochenfreuden mit den Lippen schmatzt, und nun sie – vergewaltigen will! ... Da kracht auch schon der Schuß! ... In furchtbarem Schreck, als ob nicht sie den Schuß abgegeben, sondern von der Tür her ein Einbrecher, ein fremder Mörder – sinkt sie zu Boden, von tiefer Ohnmacht umfangen.

Fünftes Kapitel.

Der Schuß hat den kleinen Jaschka erweckt. Der Anblick des blutüberströmt im Bette liegenden Vaters und der vor dem Bett auf der Diele hingesunkenen Mutter ermuntert ihn vollends. Am ganzen Leibe zitternd drängt er sich an die wie tot daliegende Mutter, zerrt an ihren Armen und wehklagt und schluchzt so laut, daß Wera Jegorowa endlich aus ihrer Ohnmacht, ihrer Erstarrung erwacht.

Doch welch ein Wunder ist mit ihr geschehen! Alle Verwirrung, alle Angst, alle Seelenqual ist von ihr gewichen, – sie fühlt sich so leicht, so frei, von jahrelanger Pein erlöst!

Den wehklagenden Knaben scheucht sie mit strengen Worten auf sein Lager zurück. Seltsam ruhig, schaut sie auf die Brust des zu Tode Getroffenen, die sich unter röchelnden Atemzügen noch immer hebt und senkt, auf die formlose Höhle des durchschossenen rechten Auges, auf die zitternden Krampfbewegungen der Lider des andern, unverletzt gebliebenen Auges und auf das viele Blut, das sich aus dem Kopf des Sterbenden auf das Bett ergossen hat und längs der Wand hinaufgespritzt ist.

Mit derselben Ruhe ordnet sie ihr Haar und ihren Anzug. Dann zieht sie ihren Leibpelz an, und bindet sich ihr großes Tuch quer über Kopf, Schultern und Brust. Dem leise vor sich hin weinenden Knaben bedeutet sie, daß sie sogleich wieder da sein werde, und verläßt das Haus, ohne sich nochmals nach dem Sterbenden umzusehen.

Das Dorf liegt in unmittelbarer Nähe der Schmiede. Dahin eilt sie. Den Dorfältesten will sie bitten, sofort mit einigen Nachbarn mit ihr zu kommen, da mit ihrem Manne soeben ein schreckliches Unglück geschehen. –

Aber was soll sie den Leuten sagen?

Ihres Jaschka wegen wäre sie ja glücklich, wenn der Verdacht, den Schmied getötet zu haben, nicht auf ihr haften bliebe. – Und – Hand aufs Herz! – so sehr sie ihren Kopf auch anstrengt, sie kann sich wirklich nicht erinnern, wie sie das Gewehr in die Hände bekommen; sie hat wirklich die deutliche Empfindung gehabt, daß der Schuß von einem jener Kerle abgegeben worden ist, obgleich sie selbst damals vor dem Bette gekniet und den Lauf ihres Gewehrs aus den Kopf ihres Mannes gerichtet hielt. Durch ihr vieles Bibellesen glaubt sie ihrem Gott persönlich jetzt viel näher zu stehen als früher, wo sie ohne viel Nachdenken nur die Kirche zu besuchen und sich vor den Heiligenbildern zu bekreuzigen pflegte. Vielleicht hat Gott selbst es so gefügt, daß durch einen Schuß von fremder Hand ihr die Tötung des Gatten erspart bleiben sollte. Und wenn die fremden Kerle, die sie damals im Zimmer zu sehen geglaubt, nur ein Gaukelspiel ihrer Sinne gewesen, wenn sie tatsächlich selbst ihren Mann erschossen hat, so hat vielleicht Gott selbst ihr damit einen Fingerzeig geben wollen, daß er ihr diesen Mord nicht anrechnen wolle als Verbrechen, daß er ausdrücklich wünsche, sie solle ihrem jetzt vaterlosen Knaben als Mutter erhalten bleiben. Nein! sie fühlt sich nicht berechtigt, sich den Bauern gegenüber sofort als Mörderin ihres Mannes anzuklagen.

Sie erzählt ihnen, daß Mark Fedotow vor kurzem nach Hause gekommen, von drei ihr unbekannten Kerlen bis ans Haus begleitet. Er sei, wie gewöhnlich, angetrunken gewesen und habe sie auch diesmal wieder schlechter wie einen Hund behandelt. Halbentkleidet sei er dann auf dem Bette eingeschlafen. Als sie sich später auch niedergelegt, seien plötzlich die fremden Kerle, die sie vorhin vom Fenster aus gesehen, durch die Flurtür ins Zimmer eingedrungen. Infolge des Gezänks und trunkenen Tobens ihres Mannes wäre die Tür unverschlossen geblieben. Einer der Kerle habe sofort die neben der Tür an der Wand hängende Doppelflinte Mark Fedotows ergriffen und ihn damit aus nächster Nähe durch den Kopf geschossen. Vor Schreck wie gelähmt und aus Furcht, selbst auch noch das Opfer der Bande zu werden, habe sie sich nicht zu rühren gewagt. Der Mensch, der den Schuß auf ihren Mann abgegeben, habe die Flinte danach zu Boden geworfen und sich mit seinen Begleitern schleunigst entfernt. Erst dann habe sie sich vom Bett erhoben, sei aber beim Anblick des gräßlich verstümmelten Gesichts ihres Mannes und des vielen Blutes ohnmächtig niedergesunken. Aus dieser Ohnmacht sei sie erst durch ihren kleinen Jaschka, den der Schuß aus dem Schlafe aufgeschreckt, erweckt worden.

Wera Jegorowa hatte diese Einzelheiten etwas stockend und dabei in so eigentümlich gleichgültiger Weise vorgebracht, daß die Bauern, die ja sehr gut wußten, wie schlecht sie in den letzten Jahren von ihrem Mann behandelt wurde, ihrer an sich schon ziemlich unwahrscheinlichen Erzählung von Hause aus keinen Glauben beimaßen. Sich dann in Weras Begleitung der Schmiede nähernd, erblickten sie in dem frischgefallenen Schnee, von der Chaussee her bis zur Schmiede und Haustreppe, die Fußspuren eines einzigen Mannes, nicht dreier Männer. Bei ihrem Eintritt ins Haus hatte der im Bett liegende Verwundete noch einige Male schwach aufgeatmet und war denn verschieden. Als Wera sich während der letzten Atemzüge des Sterbenden in aller Ruhe ihres Pelzes und des darüber gebundenen Tuches entledigte, fiel es den Bauern sofort auf, daß an ihrer Kleidung, auf Gesicht und Händen nicht die geringsten Blutspuren zu erblicken waren, obgleich sie doch, ihrer Erzählung nach, im Moment des Schusses und der durch den Schuß verursachten starken Blutung sich neben dem Mann im Bett befunden haben wollte.

Die Bauern waren bald darüber ins klare gekommen, daß Wera selbst ihren Mann erschossen. Sie verhehlten das auch ihr gegenüber in keiner Weise. Dabei wunderten sie sich nur darüber, daß auf die Frau, die nicht die geringste Teilnahme an dem schrecklichen Tode ihres Mannes zeigte und in deren Gesicht und Haltung und Gebaren weit eher eine unverkennbare Befriedigung zu bemerken war, ihre mit dürren Worten ausgesprochene Beschuldigung gar keinen Eindruck zu machen schien. –

Auf Veranlassung des Dorfältesten erschien der Stanowoi Pristaw Stanowoi Pristaw heißt der Vorsteher eines Polizeidistrikts des Kreises. schon nach wenigen Stunden am Tatort.

Bei der Untersuchung des Tatbestandes durch die Landpolizei und durch den schon nach 1½ Tagen mit dem Gerichtsarzt eingetroffenen Untersuchungsrichter ergab sich, daß die ganze Kartätschenladung des Gewehrs durch das rechte Auge und dessen Knochenwandung in den Schädel gedrungen und den vordern Teil des Gehirns längs der Schädelbasis und der obern Knochenwand des linken Auges durchquert hatte. Die unregelmäßig dreieckige Ausgangsöffnung des Schußkanals befand sich im untern Teil der linken Schläfe, von dort aus hatte sich die Ladung zerstreut, so daß einige Bleistückchen in der Nähe des Kopfes des Erschossenen in die Wandbalken eingeschlagen, andere dagegen von der Wand abgeprallt und ins Bett und unter dasselbe gelangt waren. Die Ränder der großen rundlichen Eingangsöffnung des Schußkanals waren angesengt und mit schwarzen Pulverkörnerrestchen durchsetzt. Im rechten Lauf der Doppelflinte des Schmieds fanden sich die unverkennbaren Spuren eines kürzlich aus ihm abgegebenen Schusses, der linke Lauf erwies sich geladen mit genau solchem Kartätschenblei, wie es sich in den Wandbalken und im Bette vorfand. Der Schmied war also tatsächlich mit seinem eigenen Gewehr erschossen worden. Dabei war der Gewehrlauf in fast horizontaler Richtung gegen das rechte Auge gerichtet gewesen, und die Mündung des Gewehrlaufs hatte sich im Moment des Schusses in unmittelbarer Nähe des rechten Auges, der rechten Schläfe befunden. Die Person, die den Schuß abgegeben, mußte am Bettrande auf der Diele gehockt oder gekniet haben.

Damit war denn auch festgestellt worden, daß eben nur Wera die Tat verübt haben konnte. Auf ihre ursprüngliche Erzählung von den ins Zimmer gedrungenen Kerlen, deren einer ihren schlafenden Mann erschossen haben sollte, kam sie nicht mehr zurück. Sie mußte natürlich zugeben, daß der ganzen Sachlage nach sie allein als die Mörderin des Schmieds erscheine, vermied es aber konsequent, ihre Tat direkt einzugestehen. Dagegen verhehlte sie nicht, daß sie sich freue über den Tod ihres Mannes, da dieser Tod ihren lebhaften Wunsch, von ihm befreit zu sein, endlich erfüllt habe. Wenn auch jetzt Gefängnishaft und Sibirien ihrer warte, so sei das im Vergleich zu dem Höllenleben, das sie in den letzten Jahren ausgestanden, für sie immer noch ein wahres Paradies.

Ihre Untersuchungshaft dauerte übrigens nicht allzu lange. Auf ihr dringendes Bitten hatte man ihr den siebenjährigen Jaschka ins Gefängnis mitgegeben. Im Gefängnis hatte sie guten Schlaf, guten Appetit und erholte sich zusehends. Nach wie vor las sie viel in ihrer Bibel. Aus ihrer Bibel gewann sie immer mehr die feste Ueberzeugung, daß der liebe Gott ihr in jener Welt diese Mordtat, wenn sie sie wirklich verübt, wohl kaum als Sünde anrechnen würde, und daß die stete Weigerung ihres Mannes, in die Trennung von ihr oder völlige Scheidung zu willigen, und das Verhalten der Obrigkeit und des örtlichen Priesters, ihr nicht verholfen zu haben zur völligen Befreiung von ihrem Manne auch gegen den Willen desselben, eine viel schwerere Sünde gewesen sei. Ja, sie verstieg sich zuletzt zu der Behauptung, daß sie, wenn sie die weltliche Strafe auch jetzt als eine vor Gott eigentlich Unschuldige leide, damit gerne diese Sünden ihres Mannes und der Obrigkeit und des Priesters, zu denen sie ja die Veranlassung gegeben habe, sühnen wolle – nach dem Vorbilde Jesu Christi, der selbst rein von aller Sünde, nach dem Willen Gottes doch durch sein blutiges Leiden und Sterben die Sünden aller Menschen gesühnt habe, – ja, daß sie im Hinblick auf den gekreuzigten Gottessohn in ihrer jetzigen Lage nicht nur reichlichen Trost finde, sondern sogar etwas wie stolze Genugtuung.

Abgesehen von dieser, in der Einsamkeit des Gefängnisses durch das viele Bibellesen und Grübeln bedingten, sonderbaren Auffassung ihrer Tat und deren Folgen, waren an ihr nicht die geringsten Spuren irgend einer geistigen Störung zu entdecken.

In aller Ruhe sah sie ihrer Verurteilung entgegen.

Einen Verteidiger vor Gericht hatte sie ausdrücklich nicht gewünscht. Der Prokureur und der Gerichtspräsident ließen bei der Verhandlung des Falles im Schwurgericht der besonderen Notlage Weras, ihrem exaltierten Gemütszustande vor und während der unseligen Tat, volle Gerechtigkeit widerfahren. Daß sie sich in den letzten Jahren zu den Stundeten gehalten, wurde in der Gerichtsverhandlung nur leicht gestreift. Die Geschworenen, unter denen sich manche befinden mochten, die der Stundistin, als einer von der Kirche abtrünnig Gewordenen, um so eher auch jedes andere Verbrechen zutrauten, sprachen sie schuldig.

Sie wurde zur Verschickung nach Sibirien verurteilt.

Ihr Knabe fand Aufnahme bei ihren Eltern, die für seine Erziehung sorgen wollten. –

Ihre Büßerketten hatte sie auch im Gefängnis nicht abgelegt. In diesen Büßerketten auf bloßem Leibe wurde sie auch nach Sibirien abgefertigt.

Bei ihrem Abschied aus dem Gefängnisse erschien sie den Gefängnisbeamten und ihren Mitgefangenen in zufriedener, fast heiterer Stimmung.

Hatte man ihr doch ihre Bibel gelassen!

Erleuchten wird ihr diese Bibel den ›großen Leidensweg‹, der ihr bevorsteht, erleuchten nicht ihr allein, sondern auch manch anderen aus der Zahl der mit ihr den gleichen Weg gehenden Frauen und Mädchen. Sie freut sich schon im voraus darauf, daß die eine oder andere derselben an ihrem fernen Bestimmungsort ebenfalls als eifrige Stundistin ankommen wird.


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