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Clichothek G.m.b.H.

Das Land des Dalai-Lama

Es war einmal ein Schüler, der erhielt von seiner Mutter als Weihnachtsgeschenk ein Reisewerk über das geheimnisvolle Tibet. Es war Hedins Transhimalaja. Ein merkwürdiger Zauber ging von diesem Buche auf den jungen Sekundaner aus, der nun, anstatt seine Schularbeiten zu machen, alle erreichbaren Bücher über Innerasien verschlang. Anstatt sorgfältig seine französischen Aufsätze zu schreiben, oder seine Geschichtslektion zu lernen, saß er bis spät in die Nacht hinein über einer alten tibetischen Grammatik, oder er lernte russisch, denn er hatte aus den Reiseschilderungen bald ersehen, daß zur Bereisung des geheimnisvollen Innerasiens die Kenntnis dieser Sprachen unerläßlich ist. Und daß er selbst einmal nach Zentralasien gehen würde, das wußte er damals schon. Dann plagte er sich damit, in die Geheimlehren des Buddhismus und Lamaismus einzudringen, und er studierte die einschlägigen Werke über Geologie und Geographie.

Lange sollte es dauern, ehe er sich ganz seinem Studium widmen konnte. Aber eines Tages zog er auf die Universität, und nun begann er immer tiefer in seine Interessengebiete einzudringen. Er vertiefte sich in alle Bücher und Schriften, die er über Zentralasien erhalten konnte, aber bald merkte er auch, daß es bei einer wissenschaftlichen Forschungsreise gar nicht so sehr darauf ankommt, die weißen Flecke auf der Landkarte aufzusuchen, die Gebiete anzeigen, in denen noch nie ein Europäer war, sondern daß es galt, ganz bestimmten Fragen und Problemen in diesem Lande nachzugehen. Und je mehr sich der Gesichtskreis unseres jungen Studenten erweiterte, um so deutlicher erkannte er, welch große Aufgaben im geheimnisvollen Innerasien noch zu lösen waren, wieviel unbeantwortete Fragen es dort noch zu beantworten gab. Aus der umfangreichen Literatur suchte er sich ein Bild davon zu machen, wie wohl das höchste Bergland unserer Erde – das 4000 bis 5000 Meter hoch gelegene Tibet – entstanden sein mochte. Er trug die geologischen Ergebnisse der verschiedenen Forscher zusammen, entwarf eine geologische Karte, wälzte die Werke großer Geologen, die auch diese Fragen angeschnitten hatten und legte seine Ansicht in einem Abschnitt seiner Doktorarbeit nieder. Aber er wußte sehr wohl, wie lückenhaft unsere Kenntnis von den riesigen Erdräumen Zentralasiens war, und, wie gewagt es war, eine geologische Geschichte Tibets aufzurollen. Er selbst mußte hinaus, mußte das Land mit eigenen Augen sehen, mußte die Felsen und Berge studieren, Versteinerungen sammeln, die ihm das Alter der Gesteinsgeschichten angaben, und zu ergründen versuchen, wie Berge und Täler, die blauen Seen und die Schluchten, die weißen Gletscher und scharfen Grate entstanden waren. Er selbst wollte dem tibetischen Lande die Geheimnisse ablauschen; die Stürme, die täglich mit furchtbarer Gewalt über die Hochflächen dahinbrausen, die furchtbare Kälte, die den Wanderer bis ins Mark erstarren läßt, sollten ihm erzählen, wie das tibetische Klima ist, und wie das Klima auf die Ausgestaltung des Landes dort einwirkt. Denn um das Volk verstehen zu können, müssen wir ja erst seinen Lebensraum kennenlernen!

So kam denn endlich der große Tag, als die Karawane des jungen Gelehrten durch den Himalaja auf das einsame tibetische Hochland emporzog. Aber auch ihm blieben dort oben im Schneelande Sorgen nicht erspart. Oft, wenn er abends mit seinen Begleitern im Zelt saß, der Sturm an den Zeltstricken rüttelte, und die Kälte sich in die tibetische Erde festbiß, legte er sich wohl die Frage vor, wie das große Unternehmen ausgehen würde. Die Strapazen der Reise, die ständigen Stürme, die starke Luftverdünnung in den großen Höhen, ließen ein Tragtier nach dem andern zusammenbrechen. Aber keinem Tibetreisenden waren ja solche Verluste erspart geblieben! Sven Hedin hatte in demselben Teile Tibets oft 4 bis 7 Tragtiere an einem Tage verloren. Ohne zu verzagen zog die Expedition über die großen Hochplateaus dahin, wo keine Menschen mehr leben und wo nur der wilde Jak, der Wildesel und die tibetische Antilope ihr freies Leben führen. Die wissenschaftlichen Arbeiten hielten unsern jungen Forscher in ständiger Spannung. Immer umfassender wurden die Kartenaufnahmen, die er ausführte; Stück um Stück des unbekannten Landes wurde auf dem Meßtischblatt festgelegt.

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Mongole aus den Grenzgebieten

Photo: Prometheus-Film

Abends im Lager, wenn die Sterne wie Tausende von Diamanten am dunkelblauen Nachthimmel glitzerten, mußten die astronomischen Beobachtungen vorgenommen werden, um den genauen Standpunkt feststellen zu können. Das war manchmal eine harte Arbeit, wenn das Thermometer bis auf -10° C und darunter sank, und die Finger an den Messingschrauben des Theodolithen fast erstarrten. Aber die unbeschreibliche Pracht des tibetischen Sternenhimmels versöhnte mit der Kälte. Dann kamen wohl Erinnerungen an einsame Wanderungen in den Alpen, an stille Nächte, die unser Erdenwanderer in seiner Studienzeit hoch oben in den Schweizer und bayerischen Bergen verbracht hatte.

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Clichothek G.m.b.H.

Je länger der Aufenthalt in den Hochregionen dauerte, desto umfassender wurde das Bild, das sich der junge Gelehrte von dem Entstehen des hohen tibetischen Berglandes und dem Werden der tibetischen Landschaft machen konnte. Viel verdankte er auch seinem treuen Reisebegleiter, der unermüdlich mithalf, die Rätsel zu entwirren, die die schwierige Frage nach der Gebirgsbildung im höchsten Gebirgsgürtel unserer Erde aufwarf.

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Der höchste Gipfel »Mount Everest« im Süden des Landes

Robert Sennecke

Dann kam ein Tag, da war unser rastloser Wanderer wieder von seiner großen Expedition in die heimatlichen Gefilde zurückgekehrt. Wie anders war nun wieder das Leben für ihn. Nun konnte er nicht mehr Tag für Tag umherstreifen und wandern, nicht mehr reiten und in der Natur forschen, sondern nun lag sein Arbeitsbereich in Bibliotheken und im Studierzimmer, in Museen und Instituten. Die vielen Aufzeichnungen, die er von der Expedition mit heimgebracht hatte, mußten verarbeitet und veröffentlicht werden. Die gesamte vorhandene Literatur über Innerasten wurde wieder durchstudiert, die eigenen Ergebnisse mußten mit denen anderer Forscher in Einklang gebracht, das Ganze zu einem großen Gemälde geformt werden, das uns sagt, was wir heute über die von ihm bereisten Gebiete wissen. Aber es war ein streng wissenschaftliches Werk, das nur für den Forscher und den Gelehrten bestimmt ist.

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Trägerkarawane mit Frauen im südtibetischen Bergland

Clichothek G.m.b.H.

Während der langen, langen Zeit, die die Ausarbeitung der Ergebnisse erforderte, verging wohl kaum ein Tag, an dem seine Gedanken nicht in seinem geliebten Innerasien weilten. Er sah seine Karawane wieder über die sturm- und schneegepeitschten Höhen dahinziehen, er glaubte, den ihm vertrauten Klang des Tibetischen und des Hindustani zu hören und sah vor sich wieder die malerischen großen Lamaklöster aufsteigen. Die Tempelfahne, die er in seinem Studierzimmer hängen hat, erzählt ihm von den mystisch dunklen Göttersälen, in denen er so oft weilte, seine Aquarelle von der bunten Farbenpracht der tibetischen Berge und Salzseen, und die Buddhastatue mit ihrem geheimnisvollen Lächeln von den ewigen Weisheiten des indischen Fürstensohnes. Manchmal blättert er in seinen Tagebüchern oder in seinen Photoalben, und dann zieht alles Erlebte und Geschaute wieder an seinen Augen vorüber.

Oft und gern erzählt er vom fernen Innerasien, das ihm zur zweiten Heimat geworden ist. Wieder waren einmal einige Freunde bei ihm versammelt, und was war naheliegender, als daß das Gespräch auf das geheimnisvolle Land des Dalai-Lama kam. Da baten seine Freunde ihn, doch einmal mehr über dieses seltsame Land, in dem er geweilt, und dessen Bewohner er kennen- und lieben gelernt hatte, zu berichten. Es war ein dunkler Winterabend, das Feuer flackerte im offenen Kamin und warf einen matten Schein über die bronzene Buddhastatue und auf die bunte Tempelfahne. Da hub unser Wanderer seine Erzählung an. »Wo sich im asiatischen Kontinent heute die höchsten Gebirge unseres Planeten auftürmen, und das 5000 Meter hohe Bergland von Tibet gelegen ist, flutete einst das blaue Weltmeer. Viele 8000-Meter-Gipfel des Himalaja bestehen aus Gesteinsschichten, die einst am Grunde des Weltmeeres zur Ablagerung kamen, was die versteinerten Korallen und Muscheln beweisen, die wir in den Gesteinsschichten finden. Gewaltige, erdumwälzende Vorgänge haben das höchste Bergland unserer Erde geschaffen. Ein Blick auf die Landkarte lehrt uns, daß Tibet von der Außenwelt durch mächtige Gebirge so gut wie ganz abgeschlossen ist. Im Norden trennt in Form eines riesigen Walles der K'un-lun – das Rückgrat Asiens – Tibet von Chinesisch-Turkistan, und im Süden bildet der über 2000 Kilometer lange (Entfernung Berlin bis Nordafrika) Himalaja eine hohe Barriere gegen das heiße, indische Tiefland. Im Altertum der Erde, im Paläozoikum, war bereits der K'un-lun dem Meer entstiegen, war Festland, und sein südlicher Rand bildete die Uferzone gegen das im Süden flutende Meer. So ist er eins der ältesten Gebirge im Antlitze Asiens, und wo die Auswirkungen der jüngeren Gebirgsbildungen sich noch nicht so stark geltend gemacht haben, sehen wir auch seinen alten, abgetragenen Oberflächenformen das greisenhafte Alter an.

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Großes Kloster der »Roten Lamas« in Kleintibet

Photo: Trinkler

Die südliche Begrenzung des großen innerasiatischen Mittelmeeres wurde damals durch das sogenannte Gondwana-Land gebildet, unter dem wir das uralte indische Festland verstehen müssen, während im Osten und Westen die Verbindung mit dem Weltmeer sehr wahrscheinlich hergestellt war. Aber schon in der Jurazeit, als die großen Saurier lebten, begann der Rückzug des Meeres aus Innerasien. Eine Zeit gesteigerter Verwitterung und Einebnung setzte ein, und die Folge war eine starke Erniedrigung der Gebirge. Höhenunterschiede wurden ausgeglichen, Täler und Senken mit Schutt ausgefüllt. Aber noch einmal drang das Meer weit nach Innerasien vor und setzte große Strecken Landes unter Wasser. Aus den gefundenen Versteinerungen können wir feststellen, daß damals ein Meeresarm zwischen dem westlichen K'un-lun- und dem Karakorumgebirge die Verbindung zwischen dem innerasiatischen Mittelmeer und dem Meer, das Turan und das »Dach der Welt«, den Pamir, bedeckte, herstellte.

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Keystone View Co.

Noch einmal wieder regten sich die im Innern der Erde schlummernden Kräfte. Vor ihrer Macht mußte das Meer endgültig weichen, denn jetzt setzte die Auffaltung der mächtigsten Gebirgsketten unserer Erde ein. Ein Gebirge nach dem andern wurde aufgepreßt, sie verschmolzen miteinander, wurden aneinandergeschmiedet oder zerrissen, wenn die Spannung zu groß wurde. Mächtig brandeten die Wogen der in Bewegung geratenen Erdkruste gegen Süden, gegen den alten Gondwanakontinent, wuchsen dort gewaltig in die Höhe und schufen das schönste, größte und höchste Gebirge unserer Erde – den Himalaja. Auch im Nordwesten, wo das Meer auf einen schmalen Arm eingeengt war, entstand ein Gebirge, das an Höhe und Majestät sich mit dem Himalaja, der Wohnung des Schnees, messen kann. Das ist der Karakorum, in dem wir auf verhältnismäßig kleinem Raume mehr als 60 Gipfel zählen können, die über 6800 Meter aufragen, unter ihnen der zweithöchste Gipfel unserer Erde, der K 2, dessen Eispyramide eine Höhe von 8611 Meter erreicht. Die Falten konnten sich nicht frei entwickeln, hier waren alte Gebirge und starre Landmassen im Norden und Süden, und, eingeengt zwischen diesen gewaltigen Gebirgen, blieb den aufdringenden Massen nichts anderes übrig, als sich in die Höhe zu entfalten. Und im Großen trifft dies für das ganze tibetische Hochland zu. So wurden im Tertiär, der jüngsten Erdgeschichte, die Grundfesten zu dem heutigen tibetanischen Hochland gelegt, das von Norden nach Süden gewachsen ist. Die jungen Bewegungen, die diese Gebirge des Südens schufen, haben aber auch die alten Gebirge im Norden, wie den K'un-lun, stark in Mitleidenschaft gezogen. Sie zerbrachen an vielen Stellen, mächtige Brüche durchsetzten den alten Bau, große Teile des Gebirges sanken ab, andere wurden aufgepreßt. Die relativen Höhenunterschiede wurden wieder gesteigert, das Gefälle der Flüsse, die den niederen Randgebieten zueilten, wieder vermehrt, so daß sie imstande waren, sich tief in den Faltenbau des Landes einzuschneiden. So kommt es auch, daß heute Gebirge, die in ihrer Anlage sehr alt sind, ganz schroffe, jugendliche Formen aufweisen, wie z. B. die Randketten des K'un-lun.

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Tschorten in einer Dorfstraße

Photo: Trinkler

Längs gewaltiger Brüche und Spalten sinkt das tibetische Hochland im Norden und Osten nach dem Tarimbecken und den chinesischen Randgebirgen ab. Auch der innere Bau des Hochlandblocks zerbrach an vielen Stellen; Spalten rissen auf, aus denen basaltische Massen aufdrangen und Lavaflüsse ausbrachen. Auch das Auftreten vieler heißer Quellen sowie kleiner Geisire deutet auf die noch im Boden schlummernde vulkanische Tätigkeit hin. Auch tätige Vulkane hat es einst in Tibet gegeben, und wir brauchen nicht überrascht zu sein, wenn uns eines Tages die Meldung erreicht, daß es dort noch jetzt Vulkane gibt.

Am Ende der jüngeren Erdgeschichte, am Ausklang des Tertiärs, war also das Grundgerüst des tibetischen Hochlandes gelegt, auf dem sich nun alle die Vorgänge abspielen konnten, die das heutige Landschaftsbild hervorzauberten. Wie alle höhergelegenen Länder unserer Erde, so wurde auch Tibet nicht von der Eiszeit verschont. Von den hohen Ketten des Karakorum und K'un-lun schoben sich wie weiße Zungen die Gletscher vor und bildeten im westlichen Teile zur Zeit der größten Vereisung ein geschlossenes Eisstromnetz, wohl nicht unähnlich dem heutigen Spitzbergen. Wo die relativen Höhenunterschiede schon vor der Vereisung beträchtlich und große Täler entwickelt waren, konnte das Eis in Gestalt mächtiger Gletscher abfließen, die Täler ausschürfen und ausschleifen und ihnen die typische Trogform verleihen, wie wir sie aus den Alpen kennen. In den zentraler gelegenen Gebieten aber, wo auf weite Strecken hin die relativen Höhenunterschiede gering sind, drangen von den Bergen die Gletscher in die großen Längstalebenen und Flächen vor und bedeckten sie in Gestalt großer Tafeleismassen. Wie oft bin ich dort auf ausgedehnte Moränen gestoßen, wie oft konnte ich aus der Ausbildung alter Talbodenstücke und der Gehängeform auf die Tätigkeit der alten Eiszeitgletscher schließen! Als diese schwanden, sammelten sich die Schmelzwässer in den großen, abflußlosen Beckenlandschaften, oder suchten durch die stark angeschwollenen Flüsse den Ausgang zum Meer. So ist das ganze tibetische Hochland mit unzähligen blauen Seen bedeckt, von denen jeder den tiefsten Teil eines abflußlosen Beckens einnimmt. Heute, wo der Zustrom des Wassers aufgehört hat, verdunsten die blauen Wasserflächen. Still und friedlich, wie ein blankgeschliffener Türkis, liegen die Seen bei ruhigem Wetter da. Dann spielt ihr Wasser in allen Farben, und das Auge kann sich an dem Farbenspiel kaum satt sehen. Aber wenn der Sturm die Wogen peitscht und ein dunkler Wolkenhimmel sich über das Land schiebt, dann ist es an den tibetischen Seen unheimlich. Schwarzgrün ist das Wasser, auf dem kleine Schaumköpfe tanzen. Dann hören wir nur das Heulen des Sturmes und den schrillen Ruf einer Wildgans oder eines anderen Wasservogels.

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Flußübergang mit aufgeblasenen Yakhäuten im Karakorum

Clichothek G.m.b.H

In den Randgebieten des tibetischen Hochlandes, in die die feuchten Luftströmungen, die Monsune, vom Ozean her noch eindringen (Südwestmonsun vom Indischen Ozean, Südostmonsun vom Chinesischen Meer), kommt es zur Ausbildung reicherer Niederschläge. In diesen Randgebieten findet eine starke Zerschneidung des Landes statt, tiefe, unwegsame Schluchten schneiden die rauschenden wilden Gebirgsströme durch die Bergketten. Überall arbeiten hier die Flüsse an der Zerstörung und Aufteilung des Landes. Im abflußlosen Tibet dagegen finden wir in Schuttmassen erstickte Täler und Höhen, da hier die Verwitterungsprodukte nicht fortgeschafft werden können. Daher gleicht das abflußlose tibetische Hochland trotz seiner Höhe von 5000 bis 6000 Meter eher einem hügeligen Berglande, dem hier und da größere Ketten aufgesetzt sind. Horizontale Linien walten daher hier im Landschaftsbilde vor, während vertikale Linien in den Randgebieten dem Landschaftsbild den Stempel aufdrücken.

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Tibetische Brücke

aus Tafel, Tibet, siehe Seite 37

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Große Klosteranlage

Photo: Trinkler

Ist so das tibetische Landschaftsbild ganz verschieden, je nachdem ob wir uns im abflußlosen Zentraltibet oder in den äußeren Randgebieten bewegen, so ist ein weiterer Unterschied durch die Vegetation gegeben. Wo im östlichen Teile nahe der chinesischen Grenze der tibetische Hochlandblock in Staffeln absinkt und große tief eingeschnittene Täler den regenspendenden Monsunen ein weites Eindringen nach Tibet ermöglichen, konnte sich auch die Pflanzenwelt üppig entwickeln. Hier sind die Hänge der Berge mit Wäldern bestanden, und ganz alpin anmutende Bilder treten uns hier entgegen. Hier sind auch die Niederschläge stark genug, um die Schneegrenze bis auf etwa 4000 Meter herabzudrücken. Rhododendronwälder, Ebereschen, Tannen und Wacholder schmücken die Abhänge der Berge. Wie anders sieht dagegen das innere Tibet aus! Stundenlang, ja oft tagelang können wir dort über die Hochflächen dahinziehen, ohne ein Fleckchen Grün zu sehen. Berge und Täler sind in Schutt gehüllt, und nur an günstigen Stellen, an der Einmündung von Seitentälern in die großen Talebenen, finden wir Weideplätze. Wie oft locken den Reisenden die tiefblauen Seen, aber nur allzubald muß er feststellen, daß an ihren Ufern infolge des Salzgehaltes alles Leben erloschen ist. Manche Gegenden Tibets, besonders im nördlichen Teil, im Tschang-tang, sind tot und menschenleer; die Oberfläche des Mondes kann kaum öder sein! Und doch haben diese weltverlassenen Gegenden ihren besonderen Reiz! Das außerordentlich schnell wechselnde Wetter und die phantastischen Beleuchtungseffekte zaubern Stimmungsbilder hervor, die man wohl in jedem anderen Lande unserer Erde vergeblich sucht. Einmal brennt die Sonne vom tiefblauen Himmel mit einer Kraft der ultravioletten Strahlen, daß die Haut springt und reißt, und im nächsten Augenblick jagt ein Schneesturm oder eine Hagelböe über die Berge dahin. Ständig müssen wir unsern mit Schafpelz gefütterten Mantel, den Pustin, bei uns haben, um ihn anziehen zu können, wenn der Hagelsturm über uns hinwegbraust.

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Nomade »Tschang-pa« aus Nordtibet.

Clichothek G.m.b.H.

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Karawane auf der Rast in tibetischem Dorf.

Photo: Reichwein

Die außerordentliche Höhe des Landes, die ungetrübte und stark verdünnte Luft läßt oft selbst weit entfernte Gebirge in aller Deutlichkeit erscheinen. Abwechslung wird in das Landschaftsbild auch durch die Farben der Felsen gebracht: hier leuchtet eine Sandsteinklippe des Tertiärs ziegelrot auf, dort schimmern kristalline Schieferberge in grünen Farbentönen. Unermeßliche Räume kann das Auge hier überblicken. Von den über 6000 Meter aufragenden Ketten des Plateaus schieben sich große Gletscherzungen in die begrenzenden Ebenen vor, oder sie kleben in Gestalt steil geneigter Hängegletscher an den Berghängen. Hier und da erblicken wir, meist am Rande eines vergletscherten Massivs, eine Grasebene, auf der sich die Tiere des tibetischen Hochlandes tummeln. Hier ist das Reich des wilden Yak, des Kiang oder Wildesels, und der schnellfüßigen Antilope. Oft sieht man sie in Rudeln beisammen friedlich grasen, um in schnellem Lauf zu entfliehen, sobald sich die Karawane nähert. In den entfernteren Hochregionen des tibetischen Plateaus aber, in die selbst die tibetischen Jäger, die »Tschangpas«, nicht vordringen, sind die Tiere fast ganz zahm; nur der Yak, der schwarze Geselle, ist auf seiner Hut und läßt den Menschen nicht an sich herankommen. Er hat einen unglaublich feinen Geruchssinn, und nur mit äußerster Vorsicht gegen den Wind muß der Jäger sich ihm nähern.

Im Nordwesten Tibets liegen die großen Hochflächen, das Aksaitschin, »die weiße Wüste«, und die Lingschitang, »die Ebene der Stürme«. Fast zwei Monate haben wir dort verbracht, ohne einen Menschen anzutreffen. Man hat mich oft gefragt, ob es dort droben nicht schrecklich öde sei, da man doch keinen Menschen zu Gesicht bekomme. In einer Hinsicht ist das wohl richtig, aber nirgends gewinnt man den Zusammenhang mit der Natur so leicht wie dort, wo man mit der Natur ganz allein ist, denn dann lernt man sich selbst erst richtig kennen.

Im Süden betreten wir das Reich der Nomaden – das Land der schwarzen Zelte –, und erst südlich des 32. bis 33. Breitengrades, am Nordrande des Transhimalaja, liegen die ersten festen Siedlungen. Die Lebensadern Tibets aber sind die großen Flußtäler, die die von den Randgebieten sich zurückschneidenden Flüsse ins tibetische Hochland eingetieft haben. Schon in der Schule haben wir gelernt, daß fünf der größten Ströme des asiatischen Hochlandes ihre Quellgebiete in Tibet haben: der Indus, der Brahmaputra, der Salwen, Mekong, Jangtse-kiang und Hwang-ho. An ihnen und an ihren Nebenflüssen liegen die großen Siedlungen des Landes: Lhassa am Ki-tschu (Nebenfluß des Brahmaputra), Gartok am Gartangtschu-Arm des oberen Indus, Schigatse am Tsangpo-Brahmaputra und im Osten Tatsienlu, Batang, Litang und Tschiamdo sowie Dscherkundo und Derge. Alle diese Städte sind aber gar nicht sonderlich groß; selbst das berühmte Lhassa, die Hauptstadt des Landes und der Sitz des Dalai-Lama, hat nicht mehr als 30 000 Einwohner. Eine große Bedeutung kommt den Klöstern zu, von denen einige in der Nahe Lhassas über 8000 Mönche beherbergen.

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Tempelgasse in Taschi-lunpo.

Clichothek G.m.b.H.

Die politischen Grenzen Tibets sind auf große Strecken im Norden und auch wohl im Osten noch nicht festgelegt. Während sich im Norden Hunderttausende von Quadratkilometern ausdehnen, in denen kein Mensch weilt, und um deren Besitz sich niemand kümmert, ist das Land im Osten in zahlreiche Einzelgebiete aufgeteilt, in denen räuberische Grenzstämme, wie die Ngolok, ihr Wesen treiben. Schaudererregende Geschichten haben manche Reisende uns aus diesen Gegenden berichtet. – Eine größere russische Expedition konnte nur dank ihrer starken Bewaffnung – sie hatten sogar Maschinengewehre mit – diese Gebiete Nordosttibets durchziehen. Fast jede Expedition, die sich in diese schluchtenreichen Grenzdistrikte wagte, wurde von den räuberischen Ngolok angegriffen und ausgeplündert. Die Überfälle finden meist nachts statt. Schon tagsüber beobachten Späher der Räuberbande aus der Ferne die Karawane, die das Ziel des Überfalls werden soll. Unter dem Schutze der Nacht schleichen sie sich dann an das Lager, eröffnen ein wildes Feuer, so daß alles durcheinanderläuft. Diese allgemeine Verwirrung benutzt eine Abteilung der Räuber, um die Trag- und Reittiere schnell fortzutreiben, und dann ist der Reisende den Räubern auf Gnade und Ungnade überliefert.

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Tibetischer Reliquienschrein

Clichothek G.m.b.H.

Auch Albert Tafel, wohl unser bedeutendster deutscher Tibetforscher, wurde eines Tages in Nordosttibet von Räubern überfallen. Wir lesen in seinen Tagebuchblättern über diesen Überfall folgenden Bericht Tafel: Meine Tibetreise, Bd. I, S. 198/199.: Später war der Hsie-dia hinausgegangen. Die Pferde und Yak, die draußen zwischen den Zelten angebunden standen, waren etwas urnruhig geworden. Als der Hsie-dia längere Zeit nicht wiederkam, sandte ich zu seiner Unterstützung noch meinen Diener Gos. Der kam gleich wieder mit der Meldung, es sei alles in bester Ordnung. Kaum saß er aber am Feuer und wärmte sich die erstarrten Glieder, da girrte und heulte es wild rings um das Zelt. Dies war nicht der Sturmwind. Ein ohrenzerreißendes Hi-i-iu! Tschi-i-u-u! Ein wildes Juchzen und Fluchen schallte uns in die Ohren. Das Zelt begann zu wanken und neigte sich. Schwert- und Säbelhiebe patschten und klatschten auf die dünnen Tuchwände. Ein langer Spieß fuhr mitten durch das Zelt; ich sehe noch Tschang in dem zuckenden Licht unseres Feuers danach haschen und sich rasch zu Boden werfen, daß das Eisen ihm nicht mitten durch die Brust gehe. Zum Glück lag meine Mauserpistole schon geladen und entsichert auf meinem Kopfkissen neben mir. Ich war auch der nächste an der Zelttüre. Nur ein Griff, ein Sprung und ich stand im Zelteingang. Hageldicht fielen zwar die Hiebe auf mich nieder, aber sie schadeten nichts. Ich war ja dick angezogen. Die große Kälte war mein Glück. Sehen konnte ich nichts. Rabenschwarze Nacht war's draußen, und ich war noch geblendet von dem Feuer im Zeltinneren. Es war aber bitter ernst; es ging ums Leben, ich fühlte es. Von drei Seiten sauste es auf mich ein. Ein wuchtiger Hieb durchschlug mir meine drei Mützen. So hat es mich nie auf der Mensur gehascht! Das war Armhieb! Warm tropfte es mir jetzt auf das Gesicht. Tat aber nichts, daß das Blut die Augen verklebte. Zum Greifen nahe standen ja die Gegner. Es brauchte auch nur wenige Schuß aus der Pistole, und weg war die ganze grausige Erscheinung. Spurlos waren die Räuber wieder in der Finsternis verschwunden. Meine Diener krochen jetzt eben erst langsam aus dem halb zusammengestürzten Zelte und suchten ihre Waffen. Sie hatten des Sandes wegen die Gewehre aufrecht an die Zeltstangen gebunden. Es dauerte eine Weile, bis sie diese los hatten. Der Kampf jedoch hatte nur Sekunden gedauert.

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Grabdenkmal eines tibetischen Heiligen

Clichothek G.m.b.H.

Wo mochte aber nur der Hsie-dia sein? Wo die Pferde und die Yak? Da, wo diese vorher angebunden gestanden hatten, war der Platz leer. Auch der am Tage zuvor gekaufte Hund war samt seiner Leine verschwunden. Dagegen stolperten wir schon vor dem Zelt, zwischen den Piketpfählen, über eine Leiche, die mit gezücktem Schwert auf dem Boden lag. Ist es am Ende der Hsie-dia? Doch der Hsie-dia hat keinen so schönen Pelzrock wie dieser Tote; auch ist es sein Schwert nicht.

Ich rannte weiter auf die nächste Düne zu, um nach dem Hsie-dia und nach den Pferden zu suchen, da gellt aufs neue das wild lachende Kriegsgeheul. Vom See her stürmt jetzt eine lange Linie auf das Lager zu. Scharf heben sich die einzelnen Körper vom Schnee ab, zwischen 25 und 30 Mann! Wie rasend stürzten sie aufs neue auf die Zelte und hieben dort blindlings drauflos. Zum Glück war jetzt niemand mehr drinnen. Unter den Schlägen stürzte das Küchenzelt rasch vollends zusammen, und der Sturmwind griff wieder frisch in das Feuer, die Silhouetten der Räuber wurden damit ganz deutlich.

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Tschorten mit alter Klosteranlage auf der Höhe

Photo: Trinkler

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Die Burg von Schigatse

Clichothek G.m.b.H.

Tschang war der einzige, der um mich war, von meinen anderen Dienern war nichts zu sehen. Wir beide waren nur wenige Schritte von den Zelten und gaben instinktiv Feuer auf die Räuberbande. Doch auch diesmal rasselten die beiden Pistolen nicht lange, nach wenigen Schuß schon verschwanden die Schatten hinter den nächsten Dünen in der Finsternis. Wieder war es ruhig. Nur fern vom Teich her war die Stimme meines Koches Liu zu hören, der angstvoll meinen Namen rief und stoßweise herausbrüllte, daß ein Tibeter ihm auf dem Rücken knie und ihm sein Gewehr zu entreißen suche. Als ich dorthin gekommen war und noch diesen Angreifer verscheucht hatte, traf mich aus der Dunkelheit heraus etwas schwer auf den Kopf, daß ich in den Augen Funken zu sehen glaubte. Es war aber nur stumpf oder flach gewesen. Jedoch müde war ich daraufhin geworden, müde, meine Beine trugen nicht mehr! – –«

Grenzstreitigkeiten zwischen tibetischen Stämmen und Chinesen sind in Osttibet an der Tagesordnung und führen oft zu erbitterten Kämpfen.

Heute noch ist Tibet politisch so abgeschlossen, daß keinem Europäer der Zutritt in das Land des Dalai-Lama gewährt wird. Auf Schleichwegen nur kann er in das Schneereich eindringen, und nur selten gelingt es ihm, bis in die großen Siedlungszentren vorzustoßen. Nur ganz wenige Europäer haben bisher vom Dalai-Lama die Erlaubnis erhalten, im Lande umherzureisen, wie z. B. die Mitglieder der Mount-Everest-Expeditionen. Das alte westtibetische Königreich von Ladakh aber, das jetzt unter der Oberhoheit des Kaschmir-Staates steht, ist für den Europäer geöffnet, und hier kann er ungehindert Land und Leute studieren.

Tibet ist ein Priesterstaat, und seine Herrscher sind die Lamas, ihre Klöster beherrschen auch fast immer das Stadtbild. Es gibt wohl kaum malerischer gelegene Bauten als die tibetischen Klöster. Oft thronen sie wie alte Ritterburgen auf steiler Felsklippe, oft sind sie höhlenartig in mächtige Felswände eingehauen. Selten liegt ein Kloster im Talboden, da durch die große Klosteranlage der Bevölkerung zuviel Boden für die Landbestellung entzogen würde. Ehemals wurden die Klöster auch wohl zum Schutz gegen feindliche Überfälle auf schwer zugänglichen und leicht zu verteidigenden Plätzen erbaut.

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Mann aus Ladakh (Kleintibet)

Photo: Trinkler

Nie werde ich den Eindruck vergessen, den der Anblick des ersten Lamaklosters auf mich ausübte. Gerade als die Strahlen der untergehenden Sonne die Berge Ladakhs – des alten westtibetischen Königreiches – vergoldeten, erblickte ich auf einer hohen Felsklippe das erste Lamakloster. Feuerrot leuchtete seine Fassade. Bald waren nur die höchsten Teile der Klosteranlage noch von den Strahlen der Abendsonne beleuchtet, während blau-violette Schatten an den Felsen emporkrochen.

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Alter Tibeter

Aus Martin Hürlimann: Ceylon und Indochina (Orbis terrarum, Atlantis-Verlag, Berlin)

Holprige, aus großen zusammengelegten Felsblöcken bestehende Wege führen zu den Klostergebäuden empor, deren weiß getünchte, oft durch rotes Gebälk unterbrochene bemalte Fassaden weithin leuchten. Finstere Gänge und steile Treppen verbinden die einzelnen Gebäude untereinander. Hoch über allem thront der Lha-kang, der große Göttersaal. Bunt leuchten uns die mit Fresken bedeckten Wände entgegen, und oft staunen wir über das künstlerisch geschnitzte Gebälk, das auf das feinste ausgemalt ist. Nähern wir uns dem großen Göttersaale, dann dringen oft seltsame Laute an unser Ohr. Dumpf dröhnen die Schläge der großen Gebetstrommeln, oder wir vernehmen das Gemurmel und den Chorgesang der Lamas. Eines der eindrucksvollsten Bilder aus dem tibetischen Klosterleben empfing ich einst in Tikse-gumpa, wo ich der Morgenandacht der Mönche beiwohnen konnte. Als die Zinnen der auf einer hohen Felsenklippe sich erhebenden Klosteranlage die ersten Strahlen der Morgensonne erhielten, verkündete ein Lama durch Blasen auf dem Muschelhorn die Stunde der Morgenandacht. In dem dunklen, von hohen, roten Holzsäulen getragenen Göttersaal saßen die in rote Togen gehüllten Mönche auf zwei Reihen niedriger Polster, die durch einen breiten Gang getrennt waren. Gedämpftes Licht nur fiel in den mystisch dunklen Raum. Der Hauptlama hielt in der einen Hand den Donnerkeil, in der anderen die Klingel und las aus einem Buche die heiligen Texte vor, die seine Schüler nachbeten mußten. Der Donnerkeil ist eins der wichtigsten Geräte, die der Lama bei den lamaistischen Kulthandlungen gebraucht. Es ist ein wahrscheinlich uraltes, von Indien übernommenes Kultgerät. Es ist der Donnerkeil des altindischen Gottes Indra und wird von den Tibetern als Dordsche bezeichnet ( sanskrit Vadschra). Durch seine Kraft sollen in Verbindung mit dem Hersagen geheimnisvoller Bann- und Zauberformeln Hindernisse beseitigt werden, die die Dämonen den Menschen in den Weg legen. Während der Andacht wurde hin und wieder von jungen Novizen Tee gereicht, dunkler, ranziger Buttertee, den die Tibeter so lieben, und den wir nur mit Widerwillen trinken können. –

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Tibetische Klosterstadt

Photo: Atlantik

Naht der Frühling, so werden oft die heiligen Schriften der Tibeter, z. B. der Kandschur, der die erste große Sammlung heiliger buddhistischer Texte ist, von den Lamas gelesen, um eine reiche Ernte herbeizuführen. Um mit den umfangreichen Texten fertig zu werden – der Kandschur besteht aus 108 dicken Bänden –, erhält jeder Lama immer nur ein Blatt, also der erste Lama Blatt eins der ersten Sammlung ( tib. mdo), der zweite Lama das zweite Blatt usw. Nun liest aber nicht der erste Lama zuerst seinen Text und dann der zweite sein Repertoir, sondern alle tragen zugleich den für sie bestimmten Text vor. Dies bedeutet erstens eine große Zeitersparnis, und zweitens soll ein derartiges Aufsagen auch wirksamer sein. Tragen nun zwanzig oder dreißig Lamas vor, so erfüllt ein vollkommen unverständliches dumpfes Gemurmel den Raum, in dem nur die vor den Götterbildern brennenden Butterlämpchen einen trüben Lichtschein verbreiten.

Seltsam, furchterregend und abschreckend sind diese lamaistischen Götterbilder, von denen wir einige später noch genauer kennenlernen werden. Manche haben mehrere Köpfe und Arme, andere wieder zeigen dämonische Gesichter mit drei Augen, Flammenhaaren, Kronen aus Menschenschädeln. Oft fällt der Blick in den Göttersälen auch auf schön gemalte Tempelfahnen, von denen manche große Klöster geradezu Prachtstücke haben.

Betreten wir zum ersten Male lamaistisches Land, so fallen uns sofort weiße, runde Reliquientürmchen – die sogenannten Tschorten – auf. Hervorgegangen aus dem altindischen Stupa, enthalten sie die sterblichen Überreste der Lamas oder der Vornehmen und Reichen des Landes. Während die nicht dem Priesterstande Angehörenden meist verbrannt werden, setzt man die höheren Lamas in Hockerstellung in den Tschorten bei. Die trockene Luft des tibetischen Hochlandes verhindert die Verwesung.

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Tibeterin bei der Speisebereitung

Photo: Boßhart-Trinkler-Film

Form und Gestalt der Tschorten sind sehr wechselnd. Von den kleinen, in Reihen aufgestellten weißen Türmchen gibt es unzählige Übergänge bis zu den großen Königstschorten, deren Wände bunt bemalt oder mit Skulpturen seltsamer Fabeltiere geschmückt sind. Hier lassen sich sowohl chinesische wie auch indische Einflüsse erkennen. Wir sehen an ihnen Darstellungen von geflügelten Menschen sowie Löwen und Pfauen. In dem unteren quadratischen Sockel dieser Stupas sind oft Höhlungen, in denen wir außer Blättern heiliger Schriften auch unzählige kleine, turmähnliche Gebilde liegen sehen. Es sind dies die sogenannten »Tsa-tsas«, die, aus Ton geformt, die zu Mehl zerstampften Knochen verbrannter Toter enthalten. Haben wir Glück, so können wir in einem solchen Tschorten auch wohl kleine, aus demselben Material geformte Götterfiguren finden. Erstaunt war ich, eines Tages im Boden dieser Figuren Gerstenkörner eingebacken zu entdecken. Erst später erfuhr ich, daß diese Körner nach besonderer Weihe durch einen Lama in die Figuren eingepreßt wurden, bevor man sie im Tschorten beisetzte. Ältere Tschorten sind innen ausgemalt. In einer alten, wahrscheinlich bis in die Zeit des großen Rintschensangpo (10. Jahrh. n. Chr.) zurückgehenden Klostersiedlung konnte ich durch eine Öffnung unter dem Sockel eines größeren Tschorten einmal einen Blick in das Innere tun. Hier waren die Wände mit Fresken ausgemalt, die unzählige kleine Buddhas darstellten. Auch Stadttore tragen oft Tschorten; Heiligenbilder schmücken Decke und Seitenwände des Durchgangs.

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Tibetischer Häuptling.

Robert Sennecke

Auch im Innern der Tempel und der großen Göttersäle sehen wir oft im Hintergründe im Dämmerlicht einige versilberte Tschorten, die die sterblichen Überreste ehemaliger Äbte des Klosters enthalten. Weit gewaltiger aber sind die Mausoleen in den großen Klöstern, wie z. B. in Taschi-lunpo oder in Lhassa. Goldene geschweifte Dächer in chinesischem Stil überstrahlen hier die Tempelstadt. Die fünf Abteilungen der Tschorten stellen die fünf Elemente dar: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Der würfelförmige Sockel entspricht der Erde, die auf der Spitze des Turmes angebrachte Verzierung – Sonne in Mond – den Äther.

Außer den Tschorten erinnern uns auch die langen Manimauern daran, daß wir uns im Lande des Lamaismus befinden. Auf das feinste ausgemeißelte Steine tragen die in schönster tibetischer Schrift geschriebenen heiligen Silben » Om mani padme hum« oder » Om Vajrasattva hum«. In riesengroßen Lettern verkünden Felsinschriften die ewige Wahrheit. Ich habe Felsblöcke gesehen, auf denen die Buchstaben der Inschriften von Mannesgröße waren. Aber nicht nur Inschriften allein verkünden die lamaistische Lehre, sondern auch ihre Abzeichen sehen wir oft aus dem Fels ausgehauen. Das Rad der Lehre Buddhas, Zeichnungen kleiner Miniaturstupas und das uralte Svastika, unser Hakenkreuz, das »Jungdrung« der Tibeter, verkünden die Lehre. Aus der Stellung des Hakenkreuzes können wir entnehmen, ob wir im Lande der orthodoxen Lamas oder im Bereich der alten, noch mit vorlamaistischen Elementen durchsetzten Lehre der Njing-ma-pas weilen. Auch aus dem Umwandern der Manimauern – ob im Sinne des Uhrzeigers oder nicht – vermögen wir zu schließen, ob unser Begleiter ein Angehöriger der reformierten gelben oder der roten Sekte ist.

Noch ein drittes Kultgerät der Lamas erregt beim Besuch eines Tempels unser Interesse. Es sind die Gebetsmühlen. In allen erdenklichen Größen und aus dem verschiedenartigsten Material werden sie hergestellt. Eingelassen in Nischen an den Wänden der Klostergebäude finden wir oft Dutzende kleiner zylinderförmiger, aus Holz verfertigter Trommeln einfachster Ausführung. Dann wieder sehen wir große, über meterhohe Gebetsmühlen, die, künstlerisch geschnitzt, in altindischer Lantsaschrift in unzähliger Wiederholung das » Om mani padme hum« predigen.

Auf den Dächern der Häuser flattern die mit zahllosen Gebeten bedruckten Gebetswimpel und Gebetsfahnen. Oft sehen wir auf ihnen das »Lung-rta«, das Windpferd, auf dessen Rücken der glückbringende Edelstein Cintamani, »der Stein der Weisen«, liegt. Uralte Sanskritformeln in tibetischer Umschrift, sogenannte Dharams, sollen dem Spender der Fahne Glück und Segen bringen. Auf Felsvorsprüngen, an gefährlichen Wegstellen finden wir die »Hla-tos«, auf hohen Paßübergängen die mit Wimpeln geschmückten und mit Manisteinen belegten Steinhaufen. Pferde- oder Yakschädel krönen oft diese Steinmale, zu denen fast jeder Wanderer sein Scherflein in Gestalt eines Steines oder eines Wimpels beigibt.

Große Klöster bilden oft eine ganze Stadt für sich. Die einzelnen Gebäude sind fast immer mehrstöckig, und oft dient das Dach eines Hauses als Vorplatz für das anschließende höher gelegene Gebäude. Unzertrennlich ist mit den mystisch dunklen Klosterräumen ein eigenartiger Geruch verbunden, hervorgerufen durch das Brennen der Butterlampen und des Weihrauchs, vermischt mit Modergeruch nach alten Stoffen und Lumpen. In manchen Klosterräumen ist der Geruch von ranziger Butter so eindringlich, daß wir uns sehr bald wieder an die frische Luft begeben müssen. Vor besonders wichtigen Götterbildern, z. B. vor dem tausendhändigen und elfköpfigen Tschenresig, dürfen die Butterlampen nie erlöschen, und daher stellt man dann manchmal, wie z. B. im Hemiökloster, einen faßähnlichen, mit Butter oder Fett gefüllten Bottich vor das Götterbild. Dieses Butterlämpchen ist eine merkwürdige Parallele zur ewigen Lampe der Katholiken.

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Yaks, die unentbehrlichen Haustiere der Tibeter.

Photo: Trinkler

So wird das ganze tibetische Leben von der Lehre des Lamaismus beherrscht, wo wir uns auch bewegen, wohin wir schauen, überall werden wir daran erinnert, daß wir im Lande der Lamas weilen. Auch wenn wir nicht inmitten der Klosteranlagen wandern, sondern unter den einfachen Pomaden und Schafhirten weilen, erinnern uns die schnurrende Handgebetsmühle, die Talismane und Amulette, die die biederen Tibeter sich umhängen, an die Religion des Landes. Sie ist unzertrennlich mit dem Schneereich verbunden. Würde Tibet der Lamaismus genommen, so wäre damit auch seiner Kultur das Grab gegraben. Denn ebenso wie die Kunst ist auch ihre Literatur fast ausschließlich religiös. Die große Bedeutung, die der Lamaismus für Tibet hat, zwingt uns zur näheren Betrachtung dieser merkwürdigen Lehre, ohne die uns das tibetische Geistesleben und die tibetische Kultur unverständlich wäre.

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Noch recht dunkel sind unsere Vorstellungen von dem alten vorbuddhistischen Tibet, und doch gibt es wohl nichts Reizvolleres, als in die Anfänge der tibetischen Geschichte und in die alte Kultur des Landes einzudringen.

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Photo: Trinkler

Noch vor gar nicht langer Zeit glaubte man, daß es die tibetische Schrift erst seit dem 7. bis 8. Jahrhundert nach Christi gibt, aber seit den Ausgrabungen in den Ruinenstätten Chinesisch-Turkistans wissen wir, daß die Schrift schon viel früher in Gebrauch war und sich sehr wahrscheinlich aus der altindischen Guptaschrift entwickelt hat. Die tibetische Schrift und Sprache sind nicht leicht zu erlernen. In der Schrift gibt es nicht weniger als 64 Buchstabenverbindungen, und die Aussprache hat manchmal gar nichts mit den einzelnen Buchstaben zu tun. Unzählige Wörter enthalten auch stumme Buchstaben. So wird z. B. das große Kloster Taschi-lunpo »bkra-schis-hlun-po« geschrieben. Überhaupt die Aussprache des Tibetischen und die Syntax! Der Tibeter bildet seine Sätze so einfach wie möglich, und oft kann man nur erraten, was er meint. Wie stolz war ich, als ich zuerst leichtere tibetische Texte lesen konnte und glaubte, gut tibetisch zu können. Dann kam ich nach Ladakh und mußte bald merken, daß ich gar nichts verstehen konnte, denn Schrift und Umgangssprache weichen wieder beträchtlich voneinander ab. Seite 94 zeigt ein von mir erworbenes alttibetisches Manuskript (8. Jahrhundert nach Christi) vom alten tibetischen Fort auf dem Masar-tagh-Hügel am Khotan-darya in Chinesisch-Turkistan und Seite 90 eine moderne Schriftprobe, die die ornamentale tibetische Schrift zeigt. Diese aus Turkistan stammenden Schriftproben sind bis heute die ältesten tibetischen Urkunden, die wir haben, aber vielleicht sind manche Felsinschriften noch älter.

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Tibetische Soldaten mit Gabelflinten.

Aus Albert Tafel, Meine Tibetreise (Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart)

Können wir aus den Schriften der Bonpos ersehen, daß ihnen das Christentum nicht unbekannt war, so tritt dies noch mehr in vielen Kulthandlungen hervor, die den Weg in den Lamaismus gefunden haben. Gerade die Ähnlichkeit des lamaistischen Kultes mit den Riten der katholischen Kirche setzt die europäischen Besucher des tibetischen Landes immer wieder in Erstaunen, nicht nur die Ähnlichkeit der lamaistischen und katholischen Hierarchie. Man muß selbst einmal den ganzen lamaistischen Kult gesehen haben, um diese Ähnlichkeit erkennen zu können. Da sehen wir die Mönche das Weihrauchbecken schwenken, und wir hören den Chorgesang der Lamas, unterbrochen vom Klingelzeichen. Zweimal im Monat findet eine Beichte statt, und die »these-sgrub«-Zeremonie der Lamaisten erinnert sehr an unser christliches Abendmahl. Diese letzte Zeremonie wird abgehalten, um langes Leben zu erflehen. Waddell gibt uns davon folgende Schilderung: Zur Ausübung dieser heiligen Handlung befinden sich auf dem Altar folgende Kultgeräte:

1. Las-bum
die Wasservase.
2. Ti-bum
eine mit parfümiertem Wasser gefüllte Vase, an der ein Spiegel hängt.
3. Bang-bum
Vase.
4. Ts'e-bum
die Lebensvase.
5. Tse-ch'ang
der Lebenswein in einer menschlichen Schädelschale.
6. Ts'e-ril
die Lebenspillen (hergestellt aus Mehl, Zucker und Butter)
7. Lhi-mar
aus Mehl, Butter und Reis hergestellte Waffeln.
8. Dah-dar
Dolch.
9. rdor-jehi Gzungt'ag
der Zauberstab.
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Erlegter wilder Yak

Clichothek G.m.b.H.

Der amtierende hohe Lama berührt mit dem einen Ende des Zauberstabes die Nektar-Vase, die die Statue des Buddha Amitabha im Schoß hält, das andere Ende hingegen preßt er gegen seine Brust. Unter Anrufung von Schutzgottheiten findet die Weihe des Wassers, des Weins und des Brotes statt. Nach der Verteilung des geweihten Wassers und des geheiligten Brotes wird jedem die Lebensvase auf den Kopf gesetzt, und jeder erhält aus der Schädelschale einige Tropfen geweihten Weines sowie drei der geweihten Pillen.

Tibet ist das Land der lebenden Buddhas. Die Lehre von der Seelenwanderung ist tief ins Volk eingedrungen, aber sonst ist vom reinen Buddhismus, von der Lehre des Erleuchteten, doch nur wenig im Lamaismus erhalten geblieben. Auch das Bild des Buddha (tib. Sangs-rgyas-sa-kya-tubpa) sucht man oft vergeblich. Häufig aber sehen wir sowohl in Göttersälen wie auch aus Felsen ausgehauen die riesengroße Statue des kommenden Buddha, des Buddha Maitreya oder Tscham-pa, der fünftausend Jahre nach dem Tode des geschichtlichen Buddha erscheinen und aus dem Westen kommen soll!

Auf einem Berge an der Straße von Srinagar nach Leh liegt das alte Kloster Basgo. An einem Augusttage besuchte ich diese Klosteranlage. Alte Lamas führten mich. Das am höchsten gelegene Klostergebäude mit dem schön ausgemalten Göttersaal wird nur noch selten aufgesucht, da es bereits sehr baufällig ist und die Gefahr des Einsturzes droht. Im Hintergrunde des dunklen Göttersaales tauchte gespenstisch die riesengroße Statue des zukünftigen Buddha auf. Er wird stets sitzend dargestellt und hält in jeder Hand eine Lotosblume, deren eine das Rad der Lehre Buddhas, die andere ein Weihwassergefäß trägt. Die Statue war etwa 30 Meter hoch, und man mußte auf die obere Galerie des Klosters gehen, um Kopf und Oberteil genauer studieren zu können. Auf meine Frage, ob denn nicht die Statue des geschichtlichen Buddha vorhanden sei, erhielt ich die Antwort: »med« = nein. Auch in vielen andern Klöstern vermißte ich die Statue des Gautama. Dies ist darauf zurückzuführen, daß dem Tibeter der geschichtliche Buddha nicht als höchste Gottheit gilt, sondern die sogenannten Bodhisattvas. Der ins Nirwana eingegangene Buddha kann ja nichts mehr für die Erlösung der Lebewesen tun, die Bodhisattvas hingegen entsagen freiwillig dem Nirwana, um wieder und wieder auf die Erde zu kommen, im Dalai-Lama, Taschi-Lama oder in einem anderen hohen Priester wiedergeboren zu werden, um so den Menschen den Weg zur Erlösung zu zeigen. Darin liegt einer der bemerkenswertesten Unterschiede zwischen dem noch unverfälschten Buddhismus der südlichen Schule, die uns noch in Ceylon, Burma und Siam erhalten ist, und der nördlichen Schule, zu der der Lamaismus zählt.

Aber auch noch einen anderen Gedankengang müssen wir uns klar vor Augen halten, wenn wir den Unterschied zwischen der lamaistischen Lehre und dem reinen Buddhismus der südlichen Schule verstehen wollen. Die buddhistische Lehre stützt sich bekanntlich auf die Lehre vom Leid. Da das Leid die Welt beherrscht, strebt der Buddhist danach, durch rechtes Tun und Handeln der Wiedergeburt aus dem Wege zu gehen, um die Erlösung, das »Nirwana« zu erreichen. In der nördlichen Schule des Buddhismus aber nimmt die Lehre von der Leerheit einen großen Raum ein. Nicht weil die Welt qualvoll ist, muß man ihr entsagen, sondern weil sie überhaupt gar nichts enthält, was würdig wäre, die Aufmerksamkeit der Geister auf sich zu lenken. Wir werden dabei an das Gedicht jenes persischen Weisen erinnert, der eine ähnliche Anschauung in folgende Worte gekleidet hat:

»Ist einer Welt Besitz für dich gewonnen
Sei nicht in Freud' darüber, es ist nichts,
Und ist einer Welt Besitz für dich zerronnen
Sei nicht in Leid darüber, es ist nichts.
Vorüber gehen die Leiden und die Wonnen
Geh' an der Welt vorüber, es ist nichts.«

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Tibeterin beim Spinnen.

Robert Sennecke

Das Heer der Götterbilder, dem wir heute in den lamaistischen Klöstern begegnen, geht zum Teil auf indische Vorbilder zurück. In vielen der lamaistischen Götter lassen sich Hindugottheiten erkennen; nur einige der allerwichtigsten seien hier besprochen, da wir sie fast in allen Klöstern sehen. Wohl das verbreitetste Götterbild in Tibet ist der elfköpfige und tausendhändige Tschenresig, oder Avalokiteschvara, der immer wieder im Dalai-Lama aufersteht, um die Menschen dem ewigen Heil zuzuführen. In verschiedenster Ausführung sehen wir seine Statue in den Göttersälen, oft in Stuck ausgeführt, überlebensgroß, oder nur 20 bis 30 Zentimeter hoch, aus Elfenbein oder Holz geschnitzt, bis zu kleinen, aus Ton geformten Medaillons, die als Talismane in Amulettdosen getragen werden.

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Clichothek G.m.b.H.

Aus dem tibetischen Werke Mani-kabum, das dem ersten Könige von Tibet Srong-tsan-gampo (um 700 nach Christi) zugeschrieben wird, das aber wahrscheinlich jüngeren Datums ist, erfahren wir, daß dieser Bodhisattva Tschenresig aus einem weißen Lichtstrahle entstanden sein soll, der aus dem linken Auge des Dhyani Buddha Amitabha oder Amida hervorbrach. Als dieser Strahl auf eine Wasserfläche fiel, entfaltete sich dort eine große Lotusblume, in der der junge Bodhisattva saß. Er sah das Unglück der Welt, sah die Menschen im Taumel der Sinnenlust versunken, von Leidenschaften aufgepeitscht, im Dunkel der Unwissenheit tastend und von Hochmut und Stolz eingenommen. Da begann er zu weinen, und aus seinen Träumen entstanden die Göttinnen Drolma und Tronser, die ihm bei seiner schweren Arbeit, die Wesen zu erlösen, behilflich sein sollten. Nach einem andern Bericht aber soll Drolma durch einen grünen Lichtstrahl aus dem Auge des Amitabha erschaffen worden sein.

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Dorfsiedlung in Ladakh.

Photo: Boßhard-Trinkler-Film

Eine phantastische Legende erzählt uns, wie der Bodhisattva zu den tausend Händen und elf Köpfen kam. Eines Tages soll er zu seinem spirituellen Vater Amitabha gesagt haben: »Ich maße mir an, jede Kreatur zur höchsten und vollkommensten Erleuchtung zu führen, aber sollte mein Vorhaben nicht gelingen, so möge mein Schädel in viele Stücke zerbrechen.« Da schossen plötzlich aus seinem Körper sechs Lichtstrahlen hervor, welche in die sechs bewohnten Regionen der Welt eindrangen, nämlich in die der Götter, der Halbgötter, der Menschen, der Tiere, der Geister und in die der Hölle. Jeder Strahl wurde gleichsam zum Erlöser für die in den betreffenden Welten gefangenen Wesen. Eines Tages aber bemerkte der Bodhisattva, daß es ihm nicht geglückt war, die Welt zu erlösen. Vor Schmerz darüber zersprang ihm sein Schädel in viele Stücke, die aber von seinem Vater aufgesammelt und zu elf Köpfen geformt wurden. Auf seinen Wunsch hin wurden ihm durch göttliche Kraft auch tausend Hände verliehen, deren jede wieder ein Auge enthielt. Da trotz dieser tausend Augen, die eine unglaublich große Wirkungsmacht und Überzeugungskraft ausübten, die Erlösung der Lebewesen nicht abzusehen war, verlieh Amitabha dann seinem Sohne die sechs heiligen berühmten Silben » Om mani padme hum«, durch deren Ausruf die Menschen vor der Wiedergeburt bewahrt bleiben. So ist Avalokiteschvara oder Tschenresig der berühmteste Bodhisattva, der mit dem historischen Buddha Gautama und mit dem himmlischen Buddha Amitabha zu einer Dreiheit zusammengefaßt wird. Er ist auch der Schutzherr Tibets und wird in dieser Form als Padmapani bezeichnet. Auch dem Bilde des Gründers der lamaistischen Kirche, dem Padmasambhava, den die Tibeter Guru Rinpotsche nennen, begegnen wir häufig. Furchterregend und abschreckend sind die zahlreichen Schutzgottheiten, deren Aufgabe es ist, die Dämonen zu verscheuchen, die den Menschen nachstellen und ihnen Unheil bringen. Kenntlich sind sie an ihrer blauen oder roten Hautfarbe, an den mächtigen Hauern und Stoßzähnen, den drei Augen und ihren schaudererregenden Attributen. Kränze von Schädeln und abgeschnittenen Köpfen, zahlreiche Arme, die Waffen, Zaubergeräte oder mit Menschenfleisch und Menschenblut gefüllte Hirnschädelschalen halten, bilden ihren »Schmuck«. Manchmal werden diese Dämonen zusammen mit ihrer Cakti, der personifizierten weiblichen Energie in enger Umschlingung dargestellt, oft stehen sie auf sich krümmenden Menschenleibern. – Unter den Göttinnen nimmt die in verschiedenen Formen erscheinende Palden-lamo eine wichtige Stellung ein. In Leh gelang es mir, eine Tempelfahne, auf der sie dargestellt ist, zu erwerben. Sie ist von schwarzer Hautfarbe und reitet auf einem Maultier. In der rechten Hand schwingt sie ein Schwert, in der linken hält sie eine menschliche Schädelschale, deren Gehirn sie ißt, und deren Blut sie trinkt. Ihr Sattel besteht aus den Häuten toter Menschen. Sie ist die Schutzgöttin von Lhassa, und im oberen Stockwerk eines großen Tempels daselbst sollen sich zahlreiche Darstellungen von ihr befinden.

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Yak im Flußbett

Photo: Trinkler

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Tibetische Volkstypen aus Sikkhim

Clichothek G.m.b.H.

Die Schutzgottheiten, deren hinduistische Abstammung sich oft nachweisen läßt, spielen im lamaistischen Kult eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie werden angerufen beim Austreiben böser Dämonen, beim Behandeln von Kranken. Jeder Lama hat seine besondere Schutzgottheit, deren Namen er aber geheim hält. Sorgfältig wird die Schutzgottheit in einer Amulettdose getragen, oder, mit bunten Tuchfetzen überdeckt, im Kloster verwahrt. Aus ihren heiligen Büchern ersehen die Lamas jeweilig, welche Schutzgottheit anzurufen ist, um das gewünschte Ziel zu erlangen.

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Alter Ladakhihäuptling

Clichothek G.m.b.H.

Auf Schritt und Tritt begegnen wir in Tibet Riten und Kulthandlungen, die zum Teil wohl von den vorbuddhistischen Bonpos, zum Teil auch von den indischen Jogis und Fakiren entlehnt sind. Zauberei und schwarze Magie, Chiromantie und Astrologie nehmen einen großen Raum ein. Als Gründer dieses sogenannten Tantrismus ist wohl Padmasambhava anzusehen, der, um den Tibetern die Lehre Buddhas schmackhaft zu machen, den alten Dämonenglauben und die damit verbundenen Kulthandlungen übernahm. Der größte Teil dieser Kulthandlungen richtet sich gegen die bösen Dämonen und Geister, die man austreiben und versöhnen muß.

Nach Aussagen der Tibeter macht sich die Anwesenheit eines solchen Dämonen im Traum oder durch Krankheit bemerkbar. Solch ein böser Geist muß verbrannt werden, wenn er nicht großen Schaden anrichten soll. Zahlreiche Lamas versammeln sich zu diesem Zweck, und nach ganz bestimmten Riten wird zunächst auf dem Boden ein magischer Kreis gezogen, in den ein Lama ein Dreieck zeichnet. Dieses dem Pentagramm oder dem Drudenfuß ähnelnde Zeichen spielt auch bei den tibetischen Mysterienspielen, den »Teufelstänzen«, eine Rolle. Darauf werden um das Dreieck Holzstückchen geschichtet, so daß eine dreieckige, innen hohle Pyramide entsteht. Nun werden rund herum Nahrungsreste, Steine, Zweige, Blätter, Kleidungsfetzen und Geld aufgehäuft, worauf Öl oder Petroleum darüber gegossen und der Scheiterhaufen angezündet wird. Während der Verbrennung werfen die Lamas noch hin und wieder unter Ausrufen von Zaubersprüchen Gegenstände in die Flammen. In der Annahme, daß der Ruhestörer der Geist eines Verstorbenen war, der in irgendeiner verwandtschaftlichen Beziehung zu dem Veranstalter der Zeremonie stand, wird dessen Name zuletzt auf ein Stück Papier geschrieben und verbrannt. Erst wenn das Papier zu Asche zerfallen ist, soll sich der Geist beruhigt haben.

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Himalajakette mit Kangtschenjunga (Grenze Tibet – Sikkhim, ca. 8600 m)

Clichothek G.m.b.H.

Das Austreiben und Beschwören böser Geister nimmt im Lamaismus einen großen Raum ein. Nicht nur durch Andacht und Beschauung, durch Opfer und Gebete, sondern auch durch das Anrufen der Schutzgottheiten, durch Aussprechen von Bann- und Zauberformeln (Dharanis), durch Ziehen magischer Kreise kann man sich der bösen Geister erwehren und sie milde stimmen. So ist heute für den Lama das Erlernen der Bannsprüche und Zauberformeln sowie der dabei anzuwendenden Kultübungen und das Studium der astrologischen Bücher beinahe ebenso wichtig wie das Eindringen in die eigentliche Lehre Buddhas.

Die Bewohner kommen zu den Klosterbrüdern mit allen möglichen Anliegen und Fragen. Da kommt der tibetische Kaufmann und will wissen, ob der Antrittstag einer Reise günstig ist, hier eine Mutter, die hören will, ob ihr krankes Kind genesen wird und welche Zaubermittel gegen die Krankheit angewandt werden müssen. Der Bestohlene will hören, ob und wo er sein gestohlenes Eigentum wiederfinden wird, oder ein Bauer will wissen, in welcher Richtung ein entlaufenes Pferd zu suchen ist, wann der günstigste Zeitpunkt für eine Heirat oder Bestattung ist.

Zur Beschwörung und Anrufung der Dämonen benötigt der amtierende Lama außer dem obenerwähnten Dordsche, dem Donnerkeil, auch die Klingel (Trilbu), die kleine Handgebetstrommel (Damaru) und die gedruckten Bann- und Zauberformeln.

Als ich einmal in einem großen Göttersaal eines Klosters weilte, hörte ich aus einem Nebenraum das ununterbrochene Wirbeln einer kleinen Handgebetstrommel und das monotone Gemurmel eines Lamas. Dieser Mann war gerade mit einer religiösen Übung beschäftigt. Vor sich, auf einem niedrigen Gestell, hatte er die Blätter eines heiligen Textes liegen, in der rechten Hand hielt er seine Gebetstrommel in ständiger Bewegung, während die linke den Donnerkeil krampfhaft umfaßte. Hin und wieder klingelte er mit seiner Trilbu. Der Mann, dem ich dort gegenüberstand, war sichtlich mit seinen Gedanken weit weit weg und hatte sich ganz in Erregung versetzt. Er schien mich nicht zu sehen, und seine Augen hatten einen starren Blick. Zweifellos spielt im Lamaismus Selbstbeeinflussung eine große Rolle. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß gewisse Lamas die Fähigkeit besitzen, in ihrem Geiste Trugbilder hervorzurufen. Sie vermögen sich durch die Kultübungen derart in Erregung zu setzen, daß sie gegen die Umwelt blind und taub sind. Zu welchen Auswüchsen derartige Kultübungen führen können, hat uns Frau David Neel berichtet, die, als tibetische Bettlerin verkleidet, wohl mehr als alle anderen Reisenden Gelegenheit hatte, in die Geheimnisse des Lamaismus einzudringen. So berichtet sie von einer besonderen Zeremonie, durch die sich der amtierende Lama (meistens handelt es sich um Eremiten oder Wanderpriester) den bösen Geistern und Dämonen preisgibt. Mit den Kultgeräten ausgerüstet, begibt sich der Eremit an einen schwer zugänglichen Punkt, z. B. auf eine Klippe oder Bergspitze. Unter Ausrufen der heiligen Formeln wendet er sich an seine Schutzgottheit und an die Dämonen. Er gerät nun in immer wildere Erregung, immer heftiger läßt er die Gebetstrommel schnurren, bis sich sein Geist zu verwirren beginnt. Jetzt glaubt er den Dämonen leibhaftig vor sich zu haben, er glaubt, seine Berührung zu spüren, und bietet nun seinen Körper gleichsam den Dämonen dar, indem er ausruft: »Hier habt ihr mich und mein Fleisch.« Tibet ist uns noch ein zu unbekanntes Land um entscheiden zu können, welche Verbreitung Geisteskrankheiten dort haben. Aber es besteht gar kein Zweifel, daß mit diesen Krankheiten Behaftete als Heilige oder als von Dämonen Besessene angesehen werden.

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Tibetisches Bettelmädchen

V. L. Griffiths Photo

Um sich in tiefes Nachdenken zu versenken, wendet der Lama Übungen an, die an die Methoden erinnern, die man wohl zur Erlangung von Selbsthypnose einst angewandt hat, d. h. man muß zunächst unverwandt auf einen festen Punkt schauen und sich sammeln. Zu diesem Zweck, so berichtet uns Schlagintweit, stellt der Lama in einen magischen Kreis die zwei Vasen Namgyal-bumpa und Laibumpa und umwickelt sie mit Fäden in den fünf heiligen Farben (weiß, rot, grün, gelb, blau). Auf diese Vasen muß sich der Blick konzentrieren.

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Mongolische Bauern

Photo: Meis

Für jede Kulthandlung gibt es natürlich ganz besondere Vorschriften, die streng zu befolgen sind. So müssen z. B. die Kultgeräte aus ganz bestimmtem Material bestehen. Auch den Farbenzusammenstellungen kommt eine große Bedeutung zu. So müssen die Kugeln des Rosenkranzes, das Material des Dordsche oder des Donnerkeils und die Farben des Tuches, mit dem die anzurufende Schutzgottheit verhängt wird, genau zusammenstimmen. Für jede Kulthandlung sind ganz bestimmte Zauberformeln, »Dharanis« vorgesehen, und der amtierende Lama muß entscheiden, welche Formeln für die anzuwendende Kultübung am geeignetsten sind. Es scheint, als ob diese Frage auch wieder durch den astrologischen lamaistischen Almanach entschieden wird, doch wissen wir darüber noch nichts Bestimmtes.

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Zwei Reliquienschreine

Photo: Trinkler

Ganz besondere Vorschriften bestehen z. B. für den Lama, der die Tempelfahnen malt. Jeder Teil eines solchen Bildes, z. B. die Augen, Haare und Mund dürfen nur an ganz bestimmten Tagen gemalt werden, es müssen ganz besondere Formeln dabei aufgesagt und an manchen Tagen dürfen nur ganz bestimmte Farben aufgetragen werden.

Wie genau bei den lamaistischen Kulthandlungen die Farbenzusammenstellungen sein müssen, geht auch aus einer von Emil Schlagintweit gegebenen Schilderung des sogenannten Brandopfers, des »Sreg-pa«, hervor. Diese Handlung wird vorgenommen, um sich gegen Unfälle, Hungersnot, Krieg zu schützen und um sich von den Sünden zu reinigen. In besonderen, »Thab-koung« genannten Öfen werden Tamariskenholz, Baumwolle oder parfümiertes Öl verbrannt. Diese Öfen sind einen Fuß hoch und zwei Fuß breit. Ihre Form und Farbe sind nun besonders wichtig. Die Handlung wird von einem Lama vorgenommen, der in ein Gewand von gleicher Farbe gekleidet ist wie der Ofen. Ein solches Brandopfer wird nach dem Tode eines Menschen vorgenommen. Durch Ausrufen heiliger Formeln und durch das Opfer selbst sowie durch die Macht des Gottes Melha sollen die Sünden des Verstorbenen gleichsam vereinigt werden. Die Anrufungsformel lautet:

»Ich bete dich an und bringe Opfer dar für den Verstorbenen, der die Welt verlassen hat und in den Kreislauf eingetreten ist; für ihn, der in der Versammlung der drei barmherzigen Götter weilt, die manchmal milde, manchmal zornig sind. Ich flehe dich an, reinige ihn von seinen Sünden und zeige ihm den rechten Weg.«

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Straßenbild aus Lhassa

Robert Sennecke

Eine andere Zeremonie, die den Menschen noch zu Lebzeiten von den Sünden reinigen soll, verläuft folgendermaßen:

Das in der Bumpa-Vase enthaltene Wasser gießt man auf ihren Deckel »Jang« oder auf einen Metallspiegel, der das Bild Buddhas reflektieren muß. Darauf wird das Wasser in einer Dorma genannten Schüssel aufgefangen. Jede Meditationsübung schreibt auch eine ganz bestimmte Handhaltung (Mudra) vor.

Die Lamas sind auch die Verfertiger der Talismane und Amulette. Wohl kein Tibeter wird ohne einen Talisman gehen, und wenn dieser auch noch so einfach ist. Von kostbaren, massiv goldenen, mit Türkisen verzierten Amuletten bis zu einfachen Leinensäckchen kann man alle Übergänge studieren. Einst fand ich ein solches einfaches Amulett in Ladakh auf der Straße. Es besteht aus einem aus ganz grobem Leinen verfertigten Säckchen, das zugenäht und oben mit Jakhaaren verschnürt ist. Im Innern des Säckchens befindet sich nun der eigentliche Zauber in Gestalt eines mit Dharanis bedruckten Papiers, das quadratisch gefaltet und nach ganz bestimmtem geometrischen Muster mit in den fünf heiligen Farben schimmernden Fäden umwickelt ist.

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Tibetischer Abt

Photo: Boßhard-Trinkler-Film

Diese mit Zauberformeln bedruckten Papiere haben in der Mitte meist einen weißen Fleck ausgespart, in den nun ganz bestimmte heilige Zeichen eingetragen werden müssen. Waddell hat uns einige interessante Vorschriften zur Anfertigung solcher Amulette gegeben und es seien hier einige dieser wiedergegeben:

1. Gegen Verwundungen: Mit dem Blute eines Verwundeten male man das untenstehende Monogramm, wickele das Zauberblatt in ein Stück rote Seide und trage den Talisman um den Hals.

2. Gegen Vergiftungen: Mit dem Blute eines Pfaues male man das Monogramm Gra mit dem Barthaar eines Hasen. Dann binde man es zusammen mit den Federn eines Adlers und wickle das Ganze in den Magen eines Affen.

3. Gegen Diebstahl: Mit dem Blute eines schwarzen Hundes schreibe man das Monogramm »li« in das Zauberblatt. Dieses wickele man in ein Mausefell und hänge es an einem Türpfosten auf. Die Wirkung dieses Zaubers besteht darin, daß die Maus als Dieb angesehen wird, und daß man den Dieb verwendet, um den Dieb zu fangen.

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Vornehme Tibeterin

Keystone View Co

Wie stark der Glaube der Tibeter an Amulette ist, zeigte sich auch, als ich mit meiner Karawane in das tibetische Hochland aufbrach. Die Lamaisten unter meinen Dienern redeten eifrig zu, dem Leitjak unserer Karawane ein Amulett umzuhängen. Aber leider nützte dieser Talisman ebensowenig wie die Segenswünsche des Abtes vom Hemiskloster, denn die schwarzen Grunzochsen brachen sämtlich auf dem rauhen tibetischen Hochland infolge Seuche und Futtermangels zusammen.

Auch die Amulettdosen, auf deren Vorderseite die heilige Silbe »Om« in der alten Lantsaschrift steht, enthalten außer einer kleinen Götterfigur fast immer mit Zaubersprüchen beschriebene oder bedruckte Zettel. Auch Kopfhaare eines hohen Lama oder ein kleines Stück seines Gewandes werden in die Amulettdosen eingeschlossenen. Ebenso sollen die abgeschnittenen Fingernägel des Dalai- und Taschi-Lama als Talisman sehr gesucht sein. Auch Tierfiguren werden oft als glückbringend angesehen, so z. B. der Phönix-Garuda und die Schildkröte. Macdonald berichtet, daß die Tibeter sich auch Figuren ihrer Feinde machen. Sie formen diese aus Erde, auf der der Feind seine Fußspuren hinterlassen hat, mischen sie mit Gerstenteig, drücken Dornen in den Kopf der Figur und bohren eine Nadel durch das Herz. Eine ganz ähnliche Sitte besteht auch in Afghanistan.

Um einem Menschen eine Krankheit anzuhängen, wird das Fell eines Murmeltieres aufgeblasen, auf einen Tisch gelegt, ein Pfeil hineingeschossen und zu gleicher Zeit der Name desjenigen ausgesprochen, dem man Schaden zufügen will.

Noch ist es fast unmöglich, sich ein Bild davon zu machen, wie die Lamas aus ihren astrologischen Tafeln und Aufzeichnungen wahrsagen. Dies hat seinen Grund darin, daß die Lamas ihre Wahrsagekunst ganz geheimhalten. Waddell wie auch Schlagintweit haben uns einige Aufschlüsse über die lamaistische Astrologie gegeben. Der letztere hat in seinem Werke eine Tafel abgebildet, die die Lama-Astrologen zu ihren Weissagungen benutzten. Auf ihr sehen wir die Symbole der dreißig Elemente sowie ihre Farben, die Tiere des Jahreszyklus (Ratte, Ochse, Tiger, Ziege, Drachen, Schlange, Pferd, Schaf, Affe, Vogel, Hund und Schwein) sowie zahlreiche Reihen der tibetischen Buchstaben in bestimmter Anordnung dargestellt.

Die Wochentage werden mit den Elementen zusammengebracht, so z. B. Sonntag und Dienstag mit dem Feuer, Montag und Mittwoch mit dem Wasser, der Donnerstag mit der Luft, Freitag und Samstag mit der Erde. Auch hat jeder Monat seine ganz bestimmte Bedeutung. So ist der erste Monat des Jahres wenig geeignet, um irgendein größeres Vorhaben auszuführen, oder auf eine Reise zu gehen, der zweite Monat ganz besonders ungünstig zum Reisen, der dritte im allgemeinen sehr gut, im vierten soll man sich vor Krankheiten oder Unfällen in acht nehmen, während der achte Monat im allgemeinen wieder besonders schlecht ist. Ferner sollen alle geraden Tage im Monat schlecht, der neunte hingegen gut sein, um eine lange Reise anzutreten. Auch lassen die Tibeter – gerade wie es bei uns manchmal auch noch geschieht (Hotelzimmer Nr. 13!) – unglückbringende Zahlen aus.

Aus den Kugeln des Rosenkranzes, aus Steinchen, Würfeln und aus den Schulterblättern eines Schafes wird geweissagt. Dies spielt z. B. eine Rolle bei der Wahl eines Dalai-Lamas. Nach den verschiedenen Berichten, die uns zugegangen sind, spielt sich diese Wahl wie folgt ab: Meistenteils gibt der Dalai-Lama an, in welchem Distrikt sein Nachfolger gefunden werden wird. Durch Astrologen und Orakelsprüche geführt, begeben sich hohe Lamas nach dem Tode des Herrschers in das betreffende Gebiet und kundschaften aus, ob in der Gegend unter ungewöhnlichen Umständen ein Kind geboren wurde. So gilt z. B. das vorzeitige Blühen von Obstbäumen, die plötzliche Heilung von Schwerkranken, die mit dem Kinde in Berührung kommen, für ein sehr günstiges Zeichen. Werden nun mehrere Kinder gefunden, die für die Wahl des neuen Dalai-Lama in Betracht kommen, so muß das Los entscheiden. An einem durch die Astrologen bestimmten Tage werden die Namen der Kinder auf dünne Papierstreifen geschrieben und diese in aus Teig geformte Kugeln eingeschlossen. Unter Abhaltung religiöser Zeremonien wird nun eine Kugel gezogen und der in ihr befindliche Papierstreifen verkündet den Namen des neuen Herrschers von Tibet. Aber es bedarf noch weiterer Proben, ehe der neuerwählte Dalai-Lama anerkannt wird. Zu diesem Zwecke werden dem Kinde eine Anzahl Kultgeräte und Gegenstände vorgelegt, die dem früheren Dalai-Lama gehört haben. Diese Sachen werden zusammen mit anderen dem Kinde unterbreitet, das nun die seinem Vorgänger gehörenden Gegenstände herausgreifen muß. Das Kind, das zum Nachfolger des Dalai-Lama bestimmt wird, kann vier Wochen, aber auch zwei Jahre alt sein. Immer aber muß es nach dem Tode des Dalai-Lama geboren sein, da ja seine Seele im Körper des Kindes wiedergeboren wird.

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Klosteranlage mit Tschorten.

Photo: Trinkler

Auch Kranke werden mit den seltsamsten Mitteln behandelt. Als Urheber der Krankheit werden fast stets böse Dämonen angesehen, die ausgetrieben werden müssen. Bei leichteren Erkrankungen genügt das Rezitieren von Bann- und Zaubersprüchen, das Tragen eines Amuletts oder das Beschwören des Dämons mit Hilfe des Phurbu, des Zauberdolchs.

Tafel hat uns in seinem Tibetwerk eine Beschreibung von der Austreibung krankheitbringender Dämonen durch eine alte Nonne gegeben. Er schreibt an einer Stelle Tafel: Meine Tibetreise. Bd. I S. 311/12.: Seit mehreren Tagen hatte Sung Fieber und zeigte das Bild eines an schwerem Rheumatismus Leidenden. Ich hatte versucht, ihn mit Salizylpräparaten zu behandeln. Er hatte diese aber weggeworfen, sowie ich ihm den Rücken drehte. Der Lama verkaufte ihm ein Amulett für seine Krankheit und riet ihm, zu einer alten Nonne zu gehen, die in einer Grotte auf dem gleichen Berge ihre Behausung hatte.

Mit einem wahrhaftigen Hexenhandwerkszeug, mit einem Arsenal von Amuletten und Zauberdolchen, aber auch mit einem sehr voluminösen Strickzeug und mit einem Sack für das Mehl und die Butter, die die Bezahlung ihrer » science« ausmachten, erschien diese Tschumo schon mit dem ersten Morgengrauen des folgenden Tages. Sung wurde mit ihr ganz allein in das Dienerzelt eingeschlossen, so daß meine Wißbegier leider nicht auf ihre Kosten kam. Deshalb erklärte ich nach der ersten Frühstückspause, auch ich sei krank und bedürfe ihrer Behandlung. Ich mußte mich jetzt auf Lao Sungs Platz platt auf die Erde legen, und die Nonne hockte sich mit gekreuzten Beinen dicht neben mich. Nie zuvor war mir ein gleich runzliges Weib vor die Augen gekommen. Die eisigen Stürme und sengenden Strahlen Tibets hatten ihre Haut dunkel bronzefarben gebrannt und zahllose tiefe Furchen darein gegraben. Sie hatte sicherlich ein hohes Alter, die letzten Zähne hatte sie längst verloren. Aber schon in ihrer Jugend muß sie nie Wasser auf ihre Haut gebracht haben. Eine Frau soll sich ja auch nicht waschen, sie wäscht sonst alles Glück weg. Alle die tausend tiefen Falten und Fältchen, die ihr Gesicht und ihr Oberkörper aufwies, starrten von Fett und Schmutz. Eine dicke schwarze Schmutzschicht bedeckte ihre Arme und Beine. Während der Arbeit war sie aus religiösen Gründen, um wie Buddha zu sein, barfüßig. Barhäuptig, den Kopf rasiert, am Hals eine Unzahl von Lederbeuteln mit Amuletten, die bis zu den welken Brüsten herabhingen, den Körper in einem alten ärmellosen Priesterrock, die dürren Oberarme nur ein kleines Stück weit in zerrissenen Pelzfutteralen, hohläugig und heiser von der Behandlung Sungs, so saß die Nonne vor mir. Während der Eßpause hatte sie gemütlich an einem Strumpf mit ihren dicken eisernen Stricknadeln gestrickt. Jetzt war sie wie umgewandelt. Stier war ihr Blick auf mich gerichtet. In der Linken eine klirrende Glocke, in der Rechten eine wie Blech tönende Handtrommel aus zwei Menschenschädeln, begann sie erst im Baß, dann kreischend und gellend, immer rascher, immer fürchterlicher auf mich einzuschreien. Jetzt läßt sie Glocke und Trommel sinken und fährt mir mit ihren dürren Krallenfingern mit teuflischem Gebrüll fast ins Gesicht. Jetzt streicht sie schmeichelnd und geschmeidig wie der gewandteste Magnetiseur über meinen Körper und einen Augenblick später geht es weiter mit Glockenschlag und Trommelschlag, so hastig, so eilig, daß die sich jagenden Worte der Hexe, die Anrufungen und Verwünschungen, alle die tibetisch verdorbenen Sanskritworte wie eine Melodie an mein lautemüdes Ohr klingen. Zwei Stunden lang arbeitete sie so mit mir, dann sollte der böse Geist meiner Krankheit gebannt sein. Ich konnte aber in der Folge viele Nächte nicht ruhig schlafen, immer wieder bekam ich dasselbe Traumgesicht, immer mußte mir die alte Tschumo mit den schmutzigen Krallen ins Gesicht fahren und mich aufwecken.«

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Alte vornehme Tibeterin

Photo: Boßhard-Trinkler-Film

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Ein Leptscha-Dorf in Sikkhim

Photo: Reichwein

Eines Tages erhielt ich in einem Kloster ein merkwürdiges Holztäfelchen. Es sah fast schwarz und ganz abgegriffen aus. Aus dem Brettchen waren kleine Tierfiguren ausgeschnitten, Schildkröten, Fische, Lurche usw. Auf Befragen erfuhr ich nun, wozu dies Täfelchen verwandt wird: Bei schweren Krankheiten glaubt man, daß sich der Dämon in Gestalt eines Tieres in die Wohnung des Kranken eingeschlichen habe. Um ihn vernichten zu können, muß zunächst festgestellt werden, in welcher Tiergestalt er eingedrungen ist. Das kann ein Lama mit Hilfe seiner heiligen Bücher oder durch geheimnisvolle Zeremonien entscheiden. Darauf wird mit Hilfe des Holzbrettes aus einem Teig das betreffende Tier gepreßt, und diese Figur muß der Kranke verbrennen oder vergraben.

Gelehrte Medizin-Lamas verabreichen auch wohl seltsame Heiltränke oder Pillen. Über einige dieser Heilmittel hat uns Macdonald Auskunft gegeben. So wird z. B. gegen eine schwere Erkrankung folgendes Mittel verabreicht: Aus Quecksilber, Pfauenfedern, Goldstaub und gepulverten Landkrabben werden unter Zufügen von Mehl Pillen gedreht, von denen jede zwanzig Trankas kosten soll (eine Tranka gleich 17 Pfennig).

In Lhassa befindet sich die sogenannte Medizinschule auf dem Tschak-po-ri (Eisenberg), in der die Lamas in die Geheimnisse der Anatomie und der Heilkunde eingeführt werden. Da die Kranken nicht nur durch Medizinen geheilt werden, müssen die Lamas auch die Dharanis und Mantras lernen, die zum Austreiben der die Krankheiten verursachenden Dämonen ausgerufen werden müssen. Da die Tibeter ihre Toten oft zerschneiden, und die Leiber dann den Geiern aussetzen, sollte man glauben, daß sie anatomisch ganz gut geschult sind. Aber das ist nicht der Fall. Mc. Govern berichtet über anatomische Tafeln, auf denen das Herz einer Frau in der Mitte der Brust, das des Mannes auf der rechten Seite eingezeichnet ist, rotes Blut auf der rechten Körperseite, gelbe Galle auf der linken zirkuliert.

So ist Aber-, Geister- und Dämonenglaube im Volke verankert und beherrscht das Leben der Bewohner des Schneereichs. Von den Tempelfahnen, die überall flattern, und den langen Manimauern bis zu den Gebetsmühlen, die durch Wind, Wasser oder durch die Hand bewegt werden und den Talismanen und Amuletten tritt uns dieser Glaube – diese Furcht vor unheilbringenden Dämonen – entgegen. Vielleicht ist aber auch kein anderes Land unserer Erde so geeignet, bei primitiven Naturkindern den Glauben an Geister, Gespenster und Dämonen entstehen zu lassen wie Tibet. Die furchtbaren Stürme, die immer über das Hochland dahinbrausen, die düsteren schwarzen Felsen, der Mangel oder das gänzliche Fehlen der Vegetation lassen das Land rauh und unheimlich erscheinen. Hier hat der Mensch auf das schwerste mit der Natur zu kämpfen, um sich den kärglichen Lebensunterhalt zu beschaffen. Tibet ist kein Land für diejenigen, welche liebliche, anmutige Landschaften mit Wäldern, Wiesen und Alpenmatten lieben. Tibet ist hart, unerbittlich, sein Klima ist unglaublich grausam; hier muß der Reisende oft tagelang mit der Natur kämpfen, sei es mit der furchtbaren Kälte oder den schneidenden Schneestürmen. Hier ist der Mensch vollkommen in den Händen der waltenden Naturkräfte, hilflos ist er den hier in den großen Höhen Lobenden Naturgewalten preisgegeben. Selbst wir Europäer geraten in die Gefahr, dort droben auf den 4000 bis 5000 Meter hohen Hochplateaus zu verzagen und wagen uns kaum zu rühren, wenn die Gewitter- und Schneestürme mit furchtbarer Gewalt über das Hochland dahinjagen. Aber während wir dir göttliche Macht im Toben der Elemente erkennen, steht der Tibeter in ihnen nur das Walten der Dämonen, die den Menschen Böses wollen und gegen die man sich durch Talismane, Zaubersprüche, magische Kulthandlungen schützen muß. Sicher ist der Glaube an Dämonen und Geister uralt – vorbuddhistisch, aber die buddhistischen Missionare konnten dem Volk die Lehre Buddhas nur schmackhaft machen, indem sie sie mit dem alten vorbuddhistischen Glauben verquickten. Aber auch aus indischen Quellen schöpften die Gründer des Lamaismus.

Ich habe mir oft die Frage vorgelegt, ob die Lamas wohl selbst an die Wirkungen ihrer Kultübungen glauben, die sie ausführen, oder ob sie dadurch nur ihre Macht über das Volk behalten wollen. Wie in anderen Religionen, so scheint auch im Lamaismus die große unwissende Masse etwas Greifbares zur Verehrung haben zu müssen, daher die zahllosen Götter, Dämonen, Schutzgottheiten, Heiligen usw. Eine Parallele dazu bietet der Brahmanismus und Hinduismus. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß die gebildeten Lamas in die buddhistischen Texte wirklich eingedrungen sind.

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Tibeterinnen mit typischem Kopfschmuck.

Robert Sennecke

Wie manch einer meiner Leser wird über die seltsamen Talismane und Amulette gelächelt haben. Aber sind wir zivilisierten Europäer denn wirklich besser? Glauben nicht unzählige von uns an das glückbringende vierblättrige Kleeblatt, an die unheilbringende schwarze Katze, die uns über den Weg läuft, an das glückbringende alte Hufeisen, das wir auf der Landstraße finden? Gilt der Montag für uns nicht auch als Unglückstag, um eine Reise anzutreten, ebenso wie der 13. eines Monats? Werden besonders auf dem Lande nicht noch viele seltsame Heilmittel und alte Hausmittel angewandt und werden nicht gewisse Erkrankungen, wie z. B. Gesichtsrose, noch durch Besprechung geheilt?

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Fast jeder Besucher lamaistischer Länder weiß von den merkwürdigen Mysterienspielen zu berichten, die meist als Teufelstänze bezeichnet werden. Die grotesken Masken, die die Lamas bei diesen Spielen tragen, haben schon von jeher die Aufmerksamkeit der europäischen Besucher auf sich gelenkt. Diese Mysterien- und Tanzspiele werden zu verschiedenen Zeiten aufgeführt, und in ihrer Bedeutung zeigen sie oft starke Abweichungen. Auch scheinen Unterschiede zwischen den Spielen in den einzelnen Landesteilen zu bestehen. Im Lande der alten Sekten »der »Njing-ma-pa« und der »Sa-skya-pa« sind die Spiele anderer Art als im Bereich der Gelbmützen, der Gelugpas.

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Photo: Trinkler

Den berühmtesten Tanz der Njing-ma-pa sah ich im Kloster Hemis in Ladakh. Dieses liegt in einem felsigen, schluchtähnlichen Seitentälchen des oberen Industales versteckt. Während die meisten lamaistischen Klöster Ladakhs durch die Einfälle der Dogras von Kaschmir in den Jahren 1834 bis 1841 vernichtet oder zerstört wurden, blieb das Hemiskloster infolge seiner geschützten Lage verschont. Hier finden im Juni die großen Tempelfeste statt, die zum Andenken an Padmasambhava, den Begründer des Lamaismus (774 n. Chr.) veranstaltet werden. Dieser Heilige und große Zauberer muß ein merkwürdiger Mensch gewesen sein. Seine Lehren soll er von den Göttinnen, von den Dakinis, erhalten haben. Seine Heimat war Udyana, das Land des heutigen Swat und Pändschkoradistrikts westlich von Kaschmir. Ebenso merkwürdig wie seine Tracht sind seine Schriften, die zum Teil noch recht unverständlich sind. Nicht nur war er Verkünder neuer Lehren, sondern er war auch ein großer Magier, er war »Goldmacher« und Bereiter von Zaubertränken.

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Tschorten.

Photo: Trinkler

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Phari-Dsong, befestigte Siedlung in Südtibet

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Schon als wir uns am Tage vor den Festlichkeiten dem großen Kloster näherten, ritten wir an zahlreichen Tibetern und Tibeterinnen vorbei, die auch dem Kloster zustrebten. Alle hatten ihre beste Kleidung angelegt, und der reiche Türkisenschmuck der Frauen fesselte immer wieder unseren Blick. Auch die höheren Mönche aus den benachbarten Klöstern eilten zu den Festspielen. Da sah man, in feuerroten Gewändern und breitrandigen, vergoldeten Hüten, hohe Äbte, die genau so fest im Sattel saßen wie die tibetischen Soldaten. Ihre Pferde waren schön geputzt, und schon von weitem hörte man das Geklingel der Schellen am Zaumzeug.

Reihen schneeweißer Tschorten, lange Manimauern, die aus den Seitentälern bis in das schutterfüllte Industal hineinragten, kündeten die Nähe des Klosters an. Ein ermüdender Ritt über endlose Schuttfächer brachte uns an die an den Felsen klebende Klosterstadt. In einem kleinen Pappelhain wies man uns einen Lagerplatz an.

Am Vorabend des Festspiels machten wir Seiner Heiligkeit, dem Skuschok, dem Abt Staksan Raspa, unsere Aufwartung. Ein Lama holte uns ab und führte uns durch malerische Innenhöfe, über steile Treppen und durch dunkle, holprige Gänge in ein Vorzimmer, in dem die vor den Götterbildern brennenden Butterlämpchen ein schwaches Licht verbreiteten. Dann wurden wir in das Empfangszimmer geleitet. Der schon ältere Abt saß, den Rücken dem Fenster zugewandt, inmitten zahlreicher Diener. Prächtige Tempelfahnen schmückten die Wände des Raumes, in dem Weihrauchluft lag. –

Am folgenden Morgen, schon vor Sonnenaufgang, hörten wir die Klänge der Muschelhörner, die zwei auf den höchsten Zinnen des Klosters stehende Lamas bliesen. Dumpf hallte der Ton der Hörner von den Felsbergen wieder.

Um zehn Uhr verkünden Posaunentöne den Beginn des Festes. Von einigen Lamas begleitet, begeben wir uns in das Kloster, in dessen geräumigem Innenhof das Spiel stattfindet. Schon drängt sich die Zuschauermenge auf den Galerien und im Innenhof, und der Polizeichef des Klosters hat alle Hände voll zu tun, um Ordnung zu halten. Er ist eine merkwürdige Figur mit seiner großen europäischen Schirmmütze, seinem Knüppel und seinem großen, an einem Lederriemen befestigten Messingschild, auf dem in tibetischer und englischer Sprache geschrieben steht, daß er das »Auge des Gesetzes« des Hemisklosters ist. Zwei mit Masken bekleidete und peitschenschwingende Lamas helfen ihm dabei. Vor Beginn des Spieles und in den Pausen ist es ihre Aufgabe, das Publikum zu unterhalten, und sie spielen also auch gleichzeitig die Rolle des Hanswurstes. Bald läuft der eine von ihnen mit einer Weihrauchschüssel zwischen den Zuschauern herum, bis ihm einer an seinem Zopf reißt, worauf der andere Narr ihm zu Hilfe kommt.

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Lamas blasen die großen Tempelposaunen

Keystone View Co

Wie eine Götterstatue thront der Skuschok in seinen prächtigen chinesischen Seidengewändern unter einem großen Baldachin. Lauter und lauter wird nun die Musik, das Wirbeln der Gebetstrommeln, das Schlagen der Messingbecken und die Töne der Flöten, als die verschiedenen Gruppen der Teufelstänzer aus dem großen Göttersaal in den Innenhof des Klosters treten. Welche Farbenpracht der Gewänder, welch' phantastische Masken! Da sehen wir unter ihnen »ku«, den König der Menschenfresser, mit feuerrotem Gesicht, mächtigen Hauern, mit blutdürstigem und wildem Gesichtsausdruck, da schreitet gemessen »Lang«, der schwarze Bulle, und »Sengja«, der weiße Löwe, »Schawa«, der Hirsch, und der braune Tiger. Viele der Dämonen haben Schädelkränze und Ketten aus menschlichen Knochen, manche auf der Stirn noch ein drittes Auge, das Auge der Weisheit. Die aus Papiermachée oder Holz verfertigten Masken sind so groß, daß sie den vorderen Teil des Kopfes ganz überdecken, daher sind sie auch ziemlich schwer. Manchmal kann der eine oder der andere der Tänzer nicht sehen, wohin er tritt. Er stolpert und fällt hin zum Gaudium der Zuschauer. Fast bei jedem Tanze treten die Lamas in neuen Gewändern an. Diese sind meist aus kostbaren chinesischen Seidenstoffen gearbeitet und oft mit Totenschädeln bestickt.

In verschiedenen Gruppen treten die Tänzer dann auf dem Innenhof des Klosters an, wo sie sich nach ganz bestimmten vorgeschriebenen Schritten bewegen. Jeder Tänzer tanzt für sich, jeder Schritt ist genau abgemessen. Jedem Tanz kommt eine besondere Bedeutung zu und jede Bewegung wird lange vorher einstudiert. Dazu spielt die Musik, unterbrochen vom Wirbeln großer Gebetstrommeln, seltsame Weisen. Bald hört man nur das dumpfe Grollen und Brummen der Trommeln, dann wieder den hellen Klang der Flöten, bis die Musik durch das Schlagen der Messingbecken zu einem ohrenbetäubenden Lärm anschwillt. Der Gang der Handlung ist in den Spielen verschieden. So weit wir heute die Mysterienspiele überhaupt deuten können, scheint der Kernpunkt der Kampf der bösen und guten Geister um die Seelen der Verstorbenen zu sein. Die Angriffe der bösen Dämonen werden durch das Dazwischentreten von großen Zauberern oder Buddhas abgewandt.

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Junger Tibeter bedient die Gebetsmühlen

Aus Martin Hürlimann – Orbis terrarum – Indien

Eine merkwürdige Zeremonie spielt sich auch auf dem Innenhof des Klosters ab. Unter Vornahme besonderer Riten zieht ein Lama einen magischen Kreis, in den eine aus rotem, bemalten Teig geknetete menschliche Figur gelegt wird. »Guls«, leichenfressende Dämonen in schauerlichen Totenmasken und in Anzügen, auf denen Gerippe gemalt sind, tanzen um die am Boden liegende Figur, die den Bösen, den Feind des Landes, darstellen soll. Wilde Tänze folgen. Abenteuerliche, fratzenhafte Masken jagen den Zuschauern Schrecken ein. Immer größer wird die Spannung, bis »Tschos-rgyal«, der Gott der Toten und der König der Lehre, erscheint und die Figur in Herz und Glieder sticht. Das Bild des Tschos-rgyal finden wir auch auf Wandgemälden wieder, in denen er das Lebensrad in seinen Klauen hält.

Nun zieht Tschos-rgyal sein langes Schwert und trennt Kopf und Glieder von der Figur. Mit wildem Geheul stürzen sich die Tänzer auf den am Boden liegenden Rumpf und zerreißen ihn in Stücke, die sie in ein silbernes Becken werfen und dem König der Toten anbieten. Er greift ein Stück heraus, ißt es und schleudert die übrigen Teile unter die Tänzer und Zuschauer.

In einem Hexenkessel wird darauf eine seltsame Mischung aus Öl, Wein, Akonit und Blut gebraut, in die eine aus Papier geschnittene Figur eines Mannes getaucht wird. Fängt sie Feuer und ist sie von den Flammen verzehrt worden, so sind die letzten Spuren des Feindes vernichtet.

Noch eine andere seltsame feierliche Handlung hatte ich zu beobachten Gelegenheit. Die Tänzer hatten sich in das Innere des Klosters zurückgezogen, um sich für einen neuen Tanz umzukleiden. Währenddessen wurden schön gesattelte und mit bunten Tüchern überdeckte Pferde sowie die Klosterhunde in den Klosterhof geführt. Lamas eilten herbei, nahmen den Tieren die Decken ab, bemalten und übergossen sie mit roter Farbe und jagten sie dann mit Peitschenhieben durch den Klosterhof. Durch diese Zeremonie sollen die Sünden des Volkes auf die Tiere übertragen werden. Geheimnisvolle Handlungen spielen sich während der Tänze auch im Innern der Göttersäle ab, aber Europäern ist der Zutritt versagt.

Für die Bevölkerung bedeuten die Spiele ein großes Fest. Der einfache Tibeter weiß nichts über die Bedeutung der Tänze oder über den Sinn der Handlung, aber er freut sich über das farbenprächtige Bild, über die abenteuerlichen Masken und staunt über die seltsamen Handlungen.

Sind die Spiele vorüber, so begeben sich die Zuschauer wieder in ihr Heimatdorf, und das Alltagsleben nimmt wieder seinen Lauf. Sehen wir uns einmal in den Behausungen der Tibeter um! Zuerst wollen wir zu den Nomaden auf die Tschang-tang, die »Nordebene«, gehen. Da stehen in einem windgeschützten Seitental einige schwarze Zelte, aus denen der Rauch des Lagerfeuers aufsteigt. Nähern wir uns der schwarzen Behausung, so empfängt uns mit wütendem Gekläff der große tibetische Wachthund, der sogar den Kampf mit den Wölfen aufnimmt. Verstohlen lugen wohl die Bewohner aus der Zeltöffnung, und wir müssen ihnen zurufen, den Hund anzubinden, denn sonst können wir uns nicht in die Nähe des Zeltes wagen. In den aus verfilzten schwarzen Jakhaaren bestehenden luftigen Behausungen ist es rauchig, ein rußgeschwärzter Teekessel steht in der glimmenden Glut des Lagerfeuers, getrocknete Fleischreste, ein Sack geröstetes Mehl liegen in einer Zeltecke. Einige andere Töpfe, Holzschüsseln mit Milch oder Sahne, Decken und ein kleiner Schrein mit einer Butterlampe bilden die ganze Einrichtung.

Nachdem die Bewohner uns mit einem freundlichen »Dschule« begrüßt haben, werden wir aufgefordert, Platz zu nehmen, und man bietet uns den Buttertee, das Nationalgetränk der Tibeter, an. Schön schmeckt diese aus Tee, Butter (oft ranzig), Salz und geröstetem Gerstenmehl bestehende Mischung ja gerade nicht, aber es ist ein sehr nahrhaftes Getränk, und wir gießen den braungelben Trunk hinunter, um unsern Gastgeber nicht zu beleidigen. Vielleicht hat er auch ein alkoholisches Getränk, den »Tschang«, eine Art Gerstenbier, das in Krügen aufbewahrt wird und das besser mundet als der Buttertee.

In einer Zeltecke spielen die Kinder unseres Gastgebers und blicken hin und wieder mit ängstlichen Augen auf den Peling – den Europäer. Auch sie sind schon fast genau so gekleidet wie die Erwachsenen und tragen auch schon Amulette.

Ist das erste Mißtrauen überwunden, so beginnt unser Gastgeber zu plaudern, und wir erfahren nun einiges über das Leben der Nomaden.

Während die Männer die auf einem benachbarten Weidegrunde grasenden Jak-, Schaf- oder Ziegenherden hüten, müssen sich die Frauen ihrer häuslichen Arbeit widmen, die hauptsächlich in Weben oder Spinnen besteht. Immer sind sie fröhlich, und Gesang begleitet oft ihre Arbeit. Ihre einfachen, schmutziggrauen, braunvioletten oder schwärzlichen groben Leinengewänder sind oft mit großen Flicken besetzt. Aber selbst die ärmste Frau trägt auch irgendeinen Schmuck. Hübsch ist die Kopfbedeckung der Tibeterin mit dem kostbaren blaugrünen Türkisenschmuck. Einfach gekleidet sind diese biederen Nomaden und Jäger, unter denen es prächtige Burschen gibt, die unglaublich zäh und kräftig sind. Auch bei der größten Kälte schlafen sie oft im Freien. Hedin hatte einmal einen tibetischen Diener, der die Nacht im Freien verbrachte, während eine Temperatur von -40° C herrschte. Unglaublich abgehärtet sind diese Söhne des Schneereiches, die keine Wärme vertragen können, und die sehr bald erkranken, wenn sie in warme, tiefer gelegene Gegenden absteigen.

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Lamaistische Bläser im Festschmuck.

Photo: Prometheus-Film

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Mysterienspiele im Kloster Hemis

Photo: Boßhard-Trinkler-Film

Oft durchziehen sie große Gebiete Zentraltibets, bleiben mal hier ein paar Tage, dort ein paar Wochen, je nachdem wie die Weidegründe beschaffen sind. Es sind friedfertige ruhige Menschen, die niemandem etwas zuleide tun. Einmal im Jahre begibt sich der Tschang-pa, der Bewohner der Nordebene, in die tiefer gelegenen Gebiete, um dort seine Wolle, Salz, das er an den Salzseen gesammelt hat, Butter und einige Schafe zu verkaufen. Nur einige Monate bleibt er in den großen Städten. Dann zieht er wieder hinauf auf seine Hochflächen, nachdem er sich mit Nahrungsmitteln, wie Mehl, Weizen und Tee, eingedeckt hat. Wohlhabende Hirten besitzen oft große Schafherden, deren Wolle nach Indien ausgeführt wird.

Das Schaf wird in Tibet aber auch als Tragtier benutzt. Und von welchem Wert diese Tiere auch für den Reisenden sein können, habe ich selbst erfahren, als meine anderen Karawanentiere zusammenbrachen. Wenn ich jetzt wieder in meinen Tagebüchern blättere, dann tritt jene schwierige Überquerung des westtibetischen Plateaus im Herbst 1927 wieder lebhaft vor meine Augen. Ich sehe wieder unsere große Karawane über die 5000 Meter hoch gelegenen Plateauregionen Nordwesttibets dahinziehen. Schon längst hatten wir die besiedelten Distrikte hinter uns gelassen, hatten Abschied genommen von den Tschang-pas oder Nordmännern. Wir befanden uns in den gänzlich unbewohnten Gegenden des gewaltigen zentralasiatischen Berglandes. Hier herrschten nicht die Menschen, sondern die Stürme, die täglich, von den großen Eisgipfeln des Karakorums herunterstoßend, über das Land dahinbrausen und die Wolken in schnellem Fluge am Himmelszelt dahinjagen. Hier ist das Reich des wilden Jak, der schnellfüßigen Antilope und des Wildesels.

Mit dem Rufe » ribo« wurden unsere schwarzen schwerfälligen Jaks angetrieben, diese seltsamen Tiere, die nur marschieren, wenn die Kulis singen oder pfeifen. Auch das Auf- und Abladen der Lasten ist nur möglich, wenn die Diener bei dieser Arbeit ein monotones Lied anstimmen. Tiefer und tiefer drangen wir in die bunte Bergwelt des östlichen Karakorums ein. Am Ufer eines türkisblauen Sees begann das große Sterben unter unseren Jaks. Fast kein Tag verging, an dem nicht ein oder mehrere dieser Transporttiere zusammenbrachen. Weder durch Pfiffe und Lieder noch durch Stockschläge waren die schwarzen Grunzochsen vorwärtszubringen. Still, unbeweglich standen sie da und rührten sich nicht von der Stelle, bis sie zusammensanken und ein Gnadenschuß sie vor dem grauenvollen Tod durch die Wölfe rettete. Krankheit und kärgliche Weide trugen zu dem Zusammenbruch der Tragtiere bei, nur die mitgenommenen siebzig Schafe hielten sich ausgezeichnet. Ein großer Teil der Lasten mußte ihnen aufgepackt werden, während die schwereren Gepäckstücke zunächst in einem Depot zurückgelassen wurden, später aber durch eine zurückgesandte Hilfskarawane geholt werden konnten. Jedes Schaf bekam eine etwa 30 bis 35 Pfund schwere Last zu tragen, die in zwei kleinen Säcken verpackt wurde. Auch unser Hund mußte mit tragen helfen, wenn ihm auch diese Betätigung nicht sehr gefiel. So sind die Schafe unsere Lebensretter geworden. Tapfer hielten sie durch, und als wir an einem Oktobertage nach 62 Tagen vollkommener Abgeschlossenheit von der Außenwelt wieder mit Menschen in Berührung kamen, erregte unsere seltsam ausschauende Karawane bei den Eingeborenen das größte Interesse.

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Hoher mongolischer Lama im Festornat.

Photo: Prometheusfilm

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Keystone View Co

Die Tibeter haben schon seit langer Zeit die Bedeutung des Schafes als Tragtier erkannt, denn ein großer Teil der Handelsprodukte Tibets, so z. B. besonders Salz, wird auf Schafen an die indische Grenze befördert. Auch unsere Erfahrungen haben gezeigt, daß Schafe als Transporttiere auf dem rauhen tibetischen Plateau unentbehrlich sind, denn sowohl Pferde wie Maulesel erliegen leicht den Strapazen der Reise und ebenso auch die Jaks, wenn während einiger Tage keine gute Weide angetroffen wird.

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Lamas als Teufeltänzer mit ihren vielfältigen Masken bei den Mysterienspielen

Leipziger Presse Büro

Sven Hedin, der gründlich Gelegenheit gehabt hat, die Jäger und Nomaden Nordtibets kennenzulernen, schildert sie uns mit folgenden Worten Sven Hedin: Transhimalaja Bd. I.: »Ist es dunkel geworden, so setzen sich alle ans Feuer, über dem der Teekessel kocht. Dann unterhalten sie sich über die einförmigen Angelegenheiten ihres Lebens, über die Ausbeute des Tages, das Gedeihen der Herden und die Arbeit, die der nächste Morgen bringt. Der eine flickt seine Sohlen mit Sehnen und einem Pfriem, ein anderer gerbt mit der Hand eine Jakhaut, und ein dritter schneidet Riemen aus dem Fell eines Wildesels. Ihr Leben scheint so leer und inhaltlos, aber sie selber entbehren nichts, sie kennen nichts Besseres. Sie haben einen schweren Kampf zu kämpfen um die Gunst, in diesem kargen Teil der Erde, der Tschang-tang oder die Nordebene genannt wird, und auf dem sie das Schicksal hat geboren werden lassen, leben zu dürfen. Unter Armut und Gefahren leben sie dennoch siegreich und groß in Gottes freier Natur; die majestätischen Stürme sind ihre Brüder, die Herrschaft über die Täler teilen sie nur mit den Tieren der Wildnis, und nachts funkeln die ewigen Sterne auch über ihren schwarzen Zelten! Wenn man ihnen auch drunten im Süden schöne Hütten im Schatten der Walnußbäume gäbe, sie würden sich doch immer in die große Einsamkeit zwischen den Gebirgen, nach der eisigen Kälte und dem Schneetreiben und nach dem weißen Mondlicht der stillen tibetischen Winternächte zurücksehnen.

Dann kommt eines schönen Tages der Tod und schaut in die Zeltöffnung; vergeblich wird das ewige Gebet » Om mani padme hum« hergesagt, vergeblich versucht man die bösen Mächte, die den Menschenkindern feindlich gesinnt sind, zu beschwören oder mild zu stimmen. Gebeugt, runzelig und grau beschließt der alte Jäger seine Laufbahn, und auf starken Schultern wird er nach irgendeiner nicht tiefen Schlucht in der Nähe des Bergkammes getragen und dort – den Wölfen und den Raubvögeln preisgegeben! Wenn seine Enkel erwachsen sind, wissen sie nicht, wohin er damals gebracht wurde; im Leben hatte er keine bleibende Stätte und nach dem Tode hat er kein Grab, und keiner fragt danach, wo die Gebeine der Toten bleichen, denn da hausen böse Geister.«

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Lama in der Maske eines, leichenfressenden Dämons

Keystone View Co

Auch die seßhaften Tibeter, die Bauern, Kaufleute und Beamte, führen ein arbeitsreiches Leben. Das Land ist zu unfruchtbar, der Lebensunterhalt zu schwer zu verdienen, als daß der gute Tibeter ein Nichtstuer sein könnte. Alle Hausarbeit untersteht der Frau. Im Gegensatz zu anderen asiatischen, besonders mohammedanischen Ländern nimmt hier in Tibet die Frau eine wichtige Stellung ein. Sie sitzt auf dem Markt oder in den Verkaufsläden und besorgt auch die Jaks und die Schafe, wenn die Männer ihren Geschäften nachgehen. In allen Familienangelegenheiten hat sie ein wichtiges Wort mitzureden. In früheren Zeiten sollen sogar viele kleine Provinzen Tibets von Frauen regiert worden sein. Auch die Polyandrie, die Vielmännerei, die in Tibet herrscht, hat wohl den Einfluß der Frau noch gesteigert, so daß sie oft das Oberhaupt der Familie bildet.

Ist die Tagesarbeit beendet, so trägt wohl einer der Familienangehörigen die alten Märchen und Sagen des Landes vor. Man staunt, daß oft einfache Leute große Teile der alten Heldensagen, so z. B. die Geschichte des Königs Kesar, aus dem Kopf aufsagen können. Um eine Probe dieser tibetischen Literatur zu geben, habe ich im folgenden einen Auszug aus einem tibetischen Manuskript übersetzt, das mir von einem alten gelehrten Tibeter in Leh geschenkt wurde:

»Im Innern des Landes Dschagar (Indien) hausten sieben Zauberbrüder. Nicht weit von ihrem Wohnort lebte ein König mit seinen zwei Söhnen. Der ältere war zu den Zauberern gegangen, um die Zauberei zu erlernen. Obgleich er sieben Jahre lernte, konnte er doch nicht so ganz hinter das Geheimnis der Zaubermittel kommen. Als eines Tages sein jüngerer Bruder kam, um ihm etwas zu bringen, erfaßte dieser schon von der Türschwelle aus den Haupttrick der Zauberer. Zusammen mit dem älteren Bruder ging er nach Hause zurück und sagte zu ihm: ›Die Zauberer werden nicht ganz sicher sein, ob wir wirklich hinter ihre Zaubermittel gekommen sind. Ich werde mich in ein gut aussehendes Pferd verwandeln, und wenn du mich aus dem Stalle herausgeführt hast, so verkaufe mich, aber gehe nicht in die Richtung der sieben Zauberbrüder.‹ Darauf verwandelte er sich in ein Pferd. Der ältere Bruder verstand aber nicht, was er gesagt hatte und dachte: ›Obgleich ich nun sieben Jahre lang die Zauberei gelernt habe, weiß ich eigentlich nichts. Da mein jüngerer Bruder sich nun in ein solch schönes Pferd verwandelt hat, wäre es doch jammerschade, wenn man es nicht reiten würde.‹ Er bestieg also das Pferd, aber wie durch Zauberei wurden ihm mit einem Male die Zügel aus der Hand genommen und plötzlich hielt das Pferd vor dem Hause der sieben Zauberer. Er wollte fliehen, aber das Pferd ging nicht von der Stelle. Da kam ihm der Gedanke, ob denn nicht die Zauberer das Pferd kaufen würden, und er sagte zu ihnen: ›Wollt ihr nicht dieses ausgezeichnete Pferd kaufen, das mein jüngerer Bruder gefunden hat?‹ Sie aber wußten, daß es ein Zauberpferd war, und dachten: ›Zum besten haben lassen wir uns nicht. Wenn wir es gekauft haben, werden wir es töten.‹ Nachdem das Pferd ihr Eigentum geworden war und sie den Preis bezahlt hatten, banden sie es in einem dunklen Stalle fest. Eines Tages führten sie es an das Flußufer, um es zu töten. Einige hielten es am Kopf, andere an den Beinen, wieder andere an Schwanz und Mähne fest, so daß es sich nicht rühren konnte. Das Pferd dachte: ›Mein Bruder ist reingefallen und ich bin nun doch in die Hände der Zauberer geraten. Ist nicht irgendein lebendes Wesen in der Nähe, in das ich mich verwandeln könnte?‹ In diesem Augenblick kam ein Fisch herbeigeschwommen, in den er sich verwandelte. Die sieben Zauberbrüder verwandelten sich nun sofort in sieben Möwen. Als der Fisch davonschwimmen wollte, konnte er sich nicht von der Stelle bewegen, aber er verwandelte sich nun in eine Taube, die gerade vorbeiflog, worauf die sieben Zauberer sich in sieben Raubvögel verwandelten.

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Festspiele in Taschi-lunpo

Clichothek G.m.b.H.

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Mysterienspiele in Hemis.

Photo: Boßhard-Trinkler-Film

Nun geht die Jagd weiter und die Geschichte berichtet uns, wie nach verschiedenen Verwandlungen der Königssohn sich aus der Kugel eines Rosenkranzes, in die er sich hineingezaubert hatte, wieder als Mensch heraustritt und seine Feinde, denen er in seiner Verwandlung zuvorgekommen ist, tötet.«

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Butterfaß.

Copyright by Gilliams-Service

Unter den tibetischen Schriftstellern ist wohl Milaraspa (11. Jahrh. n. Chr.) über die Grenzen seines Landes hinaus berühmt geworden, ja, er ist wohl der meistgelesene Dichter in Tibet. Um von seiner Dichtkunst eine Probe zu geben, füge ich hier ein von dem verstorbenen Herrnhuter Missionar H. A. Jäschke übersetztes Lied an. Dieses Lied bringt in seiner schlichten Form die starke innere Verbundenheit des Dichters mit der Natur seines Landes zum Ausdruck und legt Zeugnis ab für die tiefreligiöse und hochentwickelte Geistigkeit eines scheinbar so primitiven Volkes. Es lautet:

I.

Ich, allbekannter Mi-la-ras-pa,
ein alter Mann, der nackt und bloß zur Ruhe geht,
von Weisheit und Erinnerung (früheren Daseins)
bin ich geboren;
meine Lippen singen ein kleines Lied;
denn die ganze Natur, auf die ich schaue,
ist mir ein Buch.
Der eiserne Stock, den meine Hand führt,
geleitet mich über den Ozean des Wanderlebens.

II.

Dies ist Dschang-tschub-rdzong's Bergeinsamkeit,
oben starken Gottes Gletscherschnee,
unten gläubiger Spender große Zahl;
glänzend weißem Seidenvorhang gleich
schließen Berge rings den Hintergrund.
Vor mir dichter Wäldermassen Pracht,
Nasengründe, Matten groß und weit;
auf den bunten Blüten reich an Duft
schwebet der Sechsfüßigen (Bienen) Gesumm;
Wasservogel an des Teiches Strand
steht und dreht den Hals und schaut umher;
in der Bäume weitem Laubgezweig singet lieblich bunter Vögel Schar,
wiegend tanzen, von dufttragendem
Wind bewegt, die Zweige hin und her;
Hoch im weitgesehenen Wipfel übt
Kunstsprung mannigfach der Äfflein Trupp;
auf dem grünen, weiten Wiesensamt
hingebreitet seh' ich grasend Vieh,
höre der Hirten Flötenspiel und Sang,
die der Weltbegier Handlanger sind.
Sie auch lagern, Waren bringend dort.
Wenn auf meinem weithin sichtbaren
Prachtgebirg' ich alles dieses schau',
die vergängliche Erscheinungswelt
wird zum Gleichnis mir; der Wünsche Lust
seh' ich an wie Spiegelungsbild der Luft;
dieses Leben wie ein Traumgesicht;
Mitleid flößen mir die Toren ein;
Speis' ist mir der weite Himmelsraum;
störungslosem Sinnen lieg' ich ob;
mannigfach Gedanken steigen auf;
der drei Weltgebiete Kreiseslauf
wird zum Nichts vor mir – oh, Wunder groß!

(Aus: A. H. Francke, Geistesleben in Tibet, S. 51)

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Der Dalai-Lama, der höchste weltliche und geistliche Würdenträger, vor der Statue Buddhas

Photo: Museum für Völkerkunde, Atlantic

Viele seiner Lieder sind zweifellos alte Volkslieder und daher ist dieser Dichter, der vor fast 900 Jahren lebte, auch heute noch so volkstümlich.

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Gebetfahne mit Windpferd.

Photo: Trinkler

Die Tibeter lieben auch Spiel und Tanz. Ähnlich unseren früheren Wandertheatern oder den heutigen chinesischen Schauspielertruppen haben die tibetischen Künstler ihr festes Programm und die Volksspiele dauern genau so wie die religiösen Mysterienspiele meist mehrere Tage. Musik begleitet das Spiel. Einfach sind die Musikinstrumente der Tibeter, die Trommeln, Zimbeln oder Blasinstrumente. Unvergeßlich werden jedem die großen Kupferposaunen – die Rag-dung – sein, die zwei bis drei Meter lang und oft mit Silber und Gold beschlagen sind.

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Hohe Lamas.

Keystone View Co

Während der Festlichkeiten werden Tee und alkoholische Getränke gereicht, und je länger das Spiel dauert, desto angeregter wird die Stimmung. Tanz ist bei den Tibetern immer mit Gesang verbunden. Sowohl Männer wie Frauen nehmen am Tanz teil und haben ihre beste Kleidung an.

Still, abgeschlossen von aller Welt, lebt der Tibeter noch heute sein freies Leben hoch oben in seinen Bergen. Von der Außenwelt dringt nur hin und wieder Kunde in die einsamen Täler und Siedlungen. Und wenn auch hin und wieder einmal Räuberbanden Unruhe über eine Gegend bringen, so bedeutet dies nur eine kurze Unterbrechung der friedlichen Stimmung, die über dem Reich des Dalai-Lama liegt. Hier weiß man noch nichts von Eisenbahnen und Trambahnen, von Autos, Motorrädern oder Fahrrädern. Auch noch nie hat ein Flugzeug über Tibet seine Kreise gezogen. Hier gibt es kein Hetzen und Jagen, hier atmet alles Ruhe und Beschaulichkeit.

Genügsam wie der Tibeter ist, fühlt er sich überall zu Hause, ob er in einem zerfetzten Zelt im kalten, sturmreichen Tschang-tang oder in einer Steinhütte in den Tälern des Südens wohnt. Selbst wenn man ihm im warmen sonnigen Indien im Schatten der Himalajazedern ein schönes Haus gäbe, so würde er sich doch nach seinen hohen Bergen und großen Hochebenen zurücksehnen.

Wohl jeder, der längere Zeit mit den Tibetern oder den Ladakhis in Berührung gekommen ist, weiß sie zu schätzen. Welch' große Dienste haben im besonderen die Ladakhis schon europäischen Forschungsreisenden geleistet! Die größten Strapazen ertragen sie mit Leichtigkeit und nie murren sie, wenn ihnen auch die härteste Arbeit aufgebürdet wird. Die buddhistischen Grundlehren sind fest im Volke verwurzelt. Wie tief ist die Liebe des Tibeters zu allen lebenden Wesen, besonders zu den Haustieren. Rintschin-Lamo, eine gebildete Tibeterin, die ein Buch über ihr Vaterland geschrieben hat, schildert uns z. B., wie sehr sie erschrocken war, als sie zum erstenmal ein Pferd einen Wagen ziehen sah. Sie empfand es als Tierquälerei, und es kostete sie eine große Überwindung, sich in den Wagen zu setzen. Wie rührend die Geschichte, die uns Sven Hedin von einem jungen Tibeter erzählt, der untröstlich war, als einer von Hedins Dienern eine Wildgans geschossen hatte. Wie recht hat der große schwedische Forscher, wenn er sagt, daß auch in Tibets kalten, öden Tälern manch' edles, feinfühliges Herz schlägt!

Der europäische Einfluß ist in Tibet noch sehr gering. Wohl verbindet heute bereits eine Telegraphenlinie Lhassa mit Indien, und die tibetischen Soldaten sind nach englischem Muster ausgebildet und tragen eine der englischen ähnliche Uniform, aber sonst sind alle Bestrebungen, europäischen Einfluß ins Land zu bringen, mehr oder weniger gescheitert.

Einige junge Tibeter sind wohl zur Ausbildung nach England geschickt worden, aber sie können ihre dort erworbenen Kenntnisse kaum verwerten. So studierte einer der jungen Leute Geologie und Bergwirtschaft. Als er aber in seine Heimat zurückkehrte und bergwirtschaftliche Untersuchungen anstellen wollte, wurde er von den Lamas daran gehindert, denn man darf nicht in den Berg hineingraben, da man es sonst mit den »Lu«, den Göttern der Tiefe, verdirbt. Wohl sind einige tibetische hohe Staatsbeamte fortschrittlich gesinnt, aber noch ist die Macht der Lamas so groß, daß sie nicht daran denken können, Reformen einzuführen. Und vielleicht ist dies ganz gut so, denn sonst wären unter Umständen auch in Tibet Zustände eingerissen, wie sie in Afghanistan durch die Reformen Amanullahs hervorgerufen wurden.

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Heiliges Kind, Inkarnation eines Buddhas.

Keystone View Co

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Tibetischer Brief aus dem 8. Jahrhundert n. Chr.

Photo: Trinkler

Nur ganz langsam, Schritt für Schritt wird die Zivilisation nach Tibet vordringen, und dann wird vielleicht auch einmal der Tag kommen, an dem das höchste Bergland unserer Erde uns Europäern seine Tore öffnen wird.

Der Priesterstaat von Tibet ist eine Macht für sich. Wenn auch Teile des alten Reiches, wie Ladakh und Baltistan in fremde Hände gefallen sind, so liegt die ganze geistliche Macht doch unbestritten in den Händen der Lamas und die Klöster stehen in enger Fühlung mit Lhassa und empfangen von dort ihre Anweisungen.

Seit 1911 ist Tibet nicht mehr unter chinesischer Oberhoheit, sondern ein selbständiger Staat, und wir können diesem Lande nur wünschen, daß es seine unabhängige Stellung im asiatischen Kontinent auch fernerhin bewahren wird.

Weit ab, weltenfern liegt das Schneereich von Tibet für uns. In das Hasten und Treiben des Alltags dringt nur hin und wieder einmal aus jenem Lande eine Kunde an unser Ohr, wenn ein Forscher seine Schritte in jene abgeschlossenen Regionen Hochasiens gelenkt hat oder wenn politische Verwicklungen zwischen Tibet und seinen Grenzländern drohen. Dann zieht sich der Vorhang wieder zu und Tibet entschwindet auf unbestimmte Zeit unseren Blicken.


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