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Die Bucht von Riva blieb immer weiter zurück hinter dem Dampfer, der leise südwärts zog durch das dunkelblaue, stille Wasser. Die Sonne beglänzte diese Bucht. Hafen, Paläste, Häuschen, Hütten, weiß oder ziegelrot oder orangengelb, funkelten freudig in ihr. Die Berge dahinter, auch voll in der Sonne, hatten noch kein Grün, ihre höchsten Kuppen aber noch Schnee. Feber war es. Die Luft sehnsuchtreich, in kleinen, süßen Wellen streichend; die Erde von ungekannten Düften duftend; das Wasser voll von seidiger Weichheit, schmiegsam und lau.
Die Bucht von Dorbole blieb nun zurück hinter dem Dampfer, der leise südwärts zog durch das dunkelblaue Wasser. Und dann tat sich je und je rechts und links eine neue Bucht auf, und Kastelle, auf steinernem Arm in den See hinausgereckte Dörfer, Limonengärten, Kirchen auf pinienbestandenen Hügeln traten vor, schnell und nahe, und grüßten und blieben dann auch zurück.
Unterdes sank die Sonne. Im Süden tauchte Kap Manerba als blaue Kulisse vor dem reingoldenen Himmel auf; im Osten aber trank Garda in Terrassen, Olivenhainen und uraltmorschen Toren die untergehende Sonne ganz in sich. Und das Wasser zwischen dem Dampfer und diesem östlichen Ufer flammte und brannte, und des Dampfers Weiß, festlich beglänzt von des Himmels und des Wassers Glut, schoß mit den aufgestachelten Wellen spielend dahin.
»Sind das Möwen, Axel?«
»Ja, Möwen, Maria.«
Axel und Maria saßen vorne allein auf Deck. Das heißt, ganz allein waren sie nicht. Ein Kapuziner saß ihnen gegenüber, ein Mann mit großem weißem Bart und zimtbraunem Habit. Aber dieser Mann störte sie nicht; er las in seinem Brevier.
Die Möwen begleiteten das Schiff, schon seitdem es Riva verlassen. Es kümmerte sich zwar niemand um sie, denn es war heute nicht Sonntag, an dem jedesmal eine Menge fröhlichen Volks auf Deck lachte und ihnen Brotkrumen warf. Aber sie hofften trotzdem. In weißer, flattriger Schar schossen sie immer wieder aus der Sprühe des Wassers empor, wurden von der Sonne vergoldet, schwirrten wie Wölkchen aus knistriger Seide übers Deck hin, schaukelten, kreischten und stürzten wieder zurück in die Flut, immer wieder.
»Ob der Mönch uns für Hochzeitreisende hält?« fragte Maria und rückte ein bißchen von Axel weg. Axel hatte seinen Arm um sie gelegt.
»Das wäre ein Kompliment für uns, meinst du? Nach fünfjähriger Ehe?«
Maria blickte auf den Kapuziner hinüber und schmiegte sich wieder in Axels Arm. Und lachte dabei wie jemand, der es darauf ankommen lassen darf, verkannt zu werden. »Ob viele Eheleute nach fünf Jahren noch so glücklich sind?«'
»Und wir sind sogar glücklicher als vor fünf Jahren!« sagte Axel.
»Und diese Reise heute ist schöner, als die Hochzeitsreise gewesen ist?«
»Ja! Meinst du nicht?«
»Ja, ich meine es auch.«
»Siehst du,« sagte Axel nach einer kleinen Pause, denn das Glück saß ihm ganz sicher und stark unten im Herzen, und er mußte die Worte erst suchen, mit denen es anzupacken war, »damals haben wir uns geliebt, ohne daß wir wußten, warum. Und jetzt, jetzt wissen wir voneinander alles; was du denkst, das denke auch ich, und umgekehrt, und du kannst nichts tun, ohne daß es für mich geschieht, und wir beide können nichts tun, was nicht für unsern Bubi geschieht, und ...«
»Unser Bubi! Du, ob ihm die Lisa heute die Milch ordentlich warm gegeben hat?«
»Die Mama ist ja dabei. Da kann doch nichts geschehen.«
»Aber Sehnsucht wird er doch haben, Axel! Eigentlich ist's nicht schön von uns, daß wir ihn zu Hause ließen. Der arme, kleine Kerl!«
»Aber, Maria, ein zweijähriges Kind! Wir konnten es doch nicht mitnehmen.« Scheinbar aber bereute Axel, daß er nicht doch eine Möglichkeit ausgedacht hatte, Bubi mitzunehmen.
Maria nahm Axels Hand. »Hast du Bubi lieb?«
»Ja; ich möchte wissen, ob man etwas lieber haben kann!«
»Und mich?«
»Du bist Bubi, und Bubi ist du! Ihr seid mein Leben!«
»Bist du nie eifersüchtig darauf, daß ich ihn so lieb' habe?«
»Im Gegenteil! Das liebe ich am allermeisten an dir, daß du das Kind so liebst!«
»Du, hast du damals viel Angst um mich gehabt, als Bubi zur Welt kam?«
Als ob diese Angst nun wiederkäme, schlang Axel seinen Arm fester um Maria. »Du, das war eine Nacht!«
»Denk' dir: ich hab' damals noch nicht an das Kind denken können! Immer nur das hab' ich gedacht: daß ich dich nicht allein lassen könnte und daß ich so grenzenlos ungerne stürbe ... Das war eine Nacht! – Aber dann der Morgen!« setzte sie selig hinzu.
»Ja! Wer das nicht erleben durfte, hat wenig erlebt. Ein Kind von dem einzigen Menschen, dem man gehört!«
»Aber es waren wohl harte Jahre vorher, für dich !«
»Für dich viel mehr.«
»Oh! Ich fühlte nichts davon. Mein Gott, wie hast du arbeiten müssen, um keine Schulden zu machen. Und hast mir doch niemals ein bedrücktes Gesicht gezeigt. Und Blumen hat's immer gegeben!«
»Und wer hat sich denn die Hüte selber garniert und wer hat noch nie einen Schmuck von mir gekriegt?«
»Und wer hat denn seiner Frau, wenn er schon todmüde war, vorgelesen? Und wer ist denn zu Bubi aufgestanden in der Nacht, fünfmal, sechsmal, siebenmal? Und wer hat denn diese Reise zustande gebracht? Und wer ...« Maria unterbrach sich, beugte ihr Gesicht weit nach vorne und flüsterte hastig: »Axel, schau, die Möwe!«
Im letzten Sonnenglanz, über und über grell leuchtend, saß eine Möwe auf dem metallenen Geländerstab des Decks, keine fünf Meter von Maria entfernt, und sah mit scheuem, funkelndem Auge zu ihr und Axel herüber.
»Pst, Axel! Sieh, sie trägt einen goldenen Ring um den Hals.«
Axel beugte sich, nun auch vor. Wahrhaftig, die Möwe trug ein goldenes Ringlein um den Hals!
»Siehst du's?«
»Wie sonderbar! Trägt einen goldenen ...«
In diesem Augenblick klatschten der Möwe Flügel auf und trugen sie wie einen Pfeil in die Luft zurück.
»Hast du's gesehen?«
»Ja, es war ein goldener Ring!«
»Aber woher kann sie den haben?«
Axel zuckte die Achseln. Es gibt Menschen, die nichts glauben, was außergewöhnlich ist, auch wenn sie es sehen; und solche, die das Außergewöhnliche ebenso gerne glauben wie das Gewöhnliche. Ein solcher war Axel.
»Wie kann die nur zum goldenen Ring gekommen sein?« beharrte Maria weiter und sah Axel erregt an. »Was meinst du?« Und Axel zuckte nochmals die Achseln und lächelte. »Ich weiß es nicht,« sagte er. »Aber wir fahren ein. Hast du deine Sachen?« Und zog sie, ein bißchen zerstreut auf das Wasser zurückblickend, über dem die Möwe verschwunden war, der Treppe zu. –
Axel fand am nächsten Morgen, daß Maria schöner geworden sei seit gestern. Und Maria fand es von ihm. Axel war ein großer, schlanker Mann mit braunem, klarem Gesicht. Wunderhübsche Augen leuchteten in diesem Gesicht, gütige, innige, ehrliche Augen. Maria war wenig kleiner als er. Wenn sie so nebeneinander dahergingen, machten sie ein hübsches Paar. Die Jugend lachte nimmer ganz auf den Zügen der Frau; aber die feinen Bewegungen ihres Körpers und das üppige Dämmerblond ihres Haares und besonders ihre volle, klingende Stimme: diese Dinge waren unendlich jung und lebensfreudig an ihr.
»Was sollen wir heute tun?« fragte Maria an diesem Morgen.
»Was wir wollen!« Axel lachte. »Wir nehmen uns gar nichts vor.« Und so machten sie es. Sie frühstückten in dem ganz mit Morgensonne angefüllten Saal und frühstückten sehr lange. So gut hatte man's zu Hause nicht. Um acht begann sonst für Axel die Arbeit, und davor war er nicht recht zum Reden zu bringen; ehe es nicht Abend ist, hat ein beschäftigter Mann keine Ruhe.
»Jetzt kannst du mir einmal nicht davonlaufen!« lachte Maria vergnügt.
»Ja,« meinte Axel, »eigentlich weiß ein Mann wie ich den ganzen lieben Tag nicht, was die eigene Frau treibt. Man schreibt in einem sorgfältig abgesperrten Zimmer, und unterdes spielt sie mit dem Kind und schilt das Mädchen und sieht ein bißchen in die Küche und geht wohl auch aus und kauft Zahnbürsten und Vorhangstoff und ...«
»Und tut auf diese Weise eigentlich nichts!« Maria stellte sich empört.
»Nun, auf alle Fälle ist's unnatürlich, daß sie da und er dort ist. Denn der Mann macht auf diese Weise auch nicht sehr viel.«
Sie gingen ein Stück in die Straße nach Salò hinein, eine weiße, warme Straße. Es war kein einziges Wölkchen am Himmel, aber eine Menge Menschen, eingeborene, zerlumpte, aber fröhlich lachende, und fremde, schöngekleidete, aber etwas gelangweilte, ging auf den Wegen. Zwischen der Straße und dem blanken See waren Rasenflächen und Gärten lichtgrün, viele Sträucher hatten schon kleine neue Blätter angesteckt, und wo Grenzmauern recht häßlich und ein Stück Boden recht dürftig schienen, hingen gewiß die weißen Kronen der Mandelbäume darüber.
»Was würdest du tun, wenn du unabhängig wärest?« fragte Maria.
Axel hörte, blieb aber stehen. »Mir gefällt es auf dieser Straße nicht,« sagte er. »Wie wär's, wenn wir hinauf zur Kirche gingen?«
Es ward also umgekehrt. Zur Kirche hinauf ging man durchs alte Gardone, eine steile, ungepflasterte Straße. Aus den nachtschwarzen Torbogen, die Polentaduft und morgendlichen Lärm ausstreuten, kamen allenthalben Kinder und bettelten. Axel gab schnell und ohne zu erlahmen. Zuletzt wollte Maria ihm dreinreden. Da dachte sie aber im rechten Augenblick an Bubi, der stets um Äpfel und Apfelsinen bettelte, und lachte über das Kupfer, wenn es zwischen die balgenden Kinder fiel. »Weißt du,« sagte Axel, »auf zehn Lire kommt's uns gar nicht mehr an!«
»Ja, wir tun furchtbar reich. Zu Hause essen wir dann wieder brav Milchspeise am Abend.«
Sie lachten laut auf und schauten sich glückselig in die Augen. Jetzt waren sie bei der Kirche. Aber erst nach einigem Suchen fanden sie den schmalen Balkon, der sich hinter ihr mit weitem Ausblick über den See hin aufbaute. »Da ist ja eine Bank, Axel!« rief Maria, und lief auf die Bank zu.
Es war noch Morgen. Der See lag, von wenigen Segeln gepflügt, ruhig zwischen seinen schönen Ufern. Von Süden her, wo ihn die Sonne nicht streifte, strahlte sein tiefes Blau wie aller heiteren Freude Gewähr. Vom kleinen Hafen, von den Villen und Häusern kam kaum ein Laut herauf. Es war wahrhaftig, als stünde drüben über Maderno, etwa dort, wo ragende Zypressen über formigen Hügel nach dem Norden des Sees grüßten, ein himmelblauer Engel und geböte mit lächelndem Munde allerwärts Schweigen.
Axel hatte seinen Arm um Maria gelegt. »Du hast gefragt, was ich tun würde, wenn ich unabhängig wäre. Das heißt, wenn man täglich wüßte, wovon man morgen lebt und keine Sorge hätte?«
»Würdest du dann all deine Zeit mit mir verbringen?«
»Eben ja! Ich habe mir so vieles vorgenommen, dir zu sagen, dir zu zeigen, mit dir zu besprechen, mit dir zu studieren, aber man kommt zu nichts. Die Arbeit frißt alles auf. Arbeiten würde ich wohl auch dann, aber anders. Wir sind fünf Jahre lang Eheleute, aber die ganze Welt wäre zu besehen, vom Kleinsten bis ins Große, und wir sind immer noch im Anfang. Ich will gar nicht klagen; denn auch das ist schön genug, zu wissen: wir leben zusammen und werden zusammen sterben. – Aber ich möchte doch nicht sterben, ohne mit dir ganz fertig geworden zu sein. Verstehst du?«
»Gut ...«
Am Abend fuhren sie in einer Barke hinüber nach der Isola di Garda. Der Berg im Rücken der Riviera strahlte in rosenrotem Licht. Während die Ufer des Südens nahe und in jeder Pinienkronenkurve erkennbar den See umgürteten, traten die Ufer gen Nord und Ost wie wundersam lichte, neblige Mauern weit hinter das rauschende Kleinwellenwasser zurück und schienen unendlich ferne. Und aus dieser abendbeschimmerten Ferne glommen undeutliche Dörfer, tauchten, schnell wieder zerfließend, rote Segel auf, und viele Glocken, Feierabendglocken, klangen herüber und hinüber, unsichtbaren Wesen gleich, die lautlos und sicher über die Wellen schritten.
Der Koch des Fürsten Borghese sagte schlankweg »No!«, als Axel und Maria in die Villa wollten. Er stand, ganz in Leinwand gekleidet, am Ufer, eine Zigarette in der Hand, und schaute die Fremden hochmütig an. »No!« wiederholte er auch auf freundliche Bitten und selbst ein Fünflirestück wies er stolz römisch ab.
»Ein merkwürdiger Italiener!« meinte Axel und griff wieder zum Ruder. Aber als das Boot um die kleinen Felszungen der Insel herum war und die gelben Mauern der Villa hinter Baumwipfeln verschwunden waren, setzte er froh das Ruder ab, lenkte das Boot ans Ufer und fand die beste Bucht für diesen Abend. Er machte Maria ein Plätzchen auf trockenem Winterlaub zurecht, brachte vom kahlen Dickicht einen Calicanthuszweig, legte ihn in ihren Schoß und schwieg zufrieden.
Das Licht des Abends verglomm. Die kleinen Wellen flüsterten kälter, die Töne im Himmel wurden blässer. Aus kühler Dämmerung schrie ein Pfau immer wieder von der Villa herüber. Aber die Landschaft wurde, je mehr Licht aus ihr versank, größer und weiter, und Maria und Axel konnten sich einbilden, nicht auf der geräumigen Insel eines kleinen Sees zu sein, sondern auf dem kleinsten Eiland eines riesengroßen Meeres.
»Du,« sagte Maria, »heute morgen hast du gesagt, wir werden zusammen sterben. Aber wenn das nicht der Fall ist?«
Axel blickte sie überrascht an und fand nicht gleich eine Antwort.
»Ob es schwerer ist,« fuhr Maria fort, »vor dem anderen zu sterben, oder ihn zu überleben?«
»Beides gleich schwer!« sagte nun Axel fest und bestimmt. »Wenn man so daläge, den Tod auf der Stirn, und wissen müßte, daß nun der andere allein bleibt, du, das muß ebenso furchtbar sein, wie den anderen sterben zu sehen und ihn dann niemals mehr zu finden!« Es kam jetzt ein feiner Windstoß in die Wellen und trieb sie plätschernd ans Ufer. So tief saßen Maria und Axel, daß sie die große aufspringende Wasserfläche nur als eine Linie sahen, die in wogendem Vorübergleiten sich schlangengleich krümmte und wand.
»Würdest du noch einmal heiraten?« Das hatte Maria nicht mehr fragen wollen: aber nun war es doch ausgesprochen.
»Siehst du,« sagte Axel, indem er fast heftig aufstand, »darüber wollen wir nun nicht reden. Wir wissen ja doch, was wir davon denken!« Und er stieg in das Schilf hinab und zog das Boot vor Marias Füße.
* * *
Ein Tag nach dem anderen schwand. Alle waren sie himmelblau, voll Sonne und freudig. Keine schwere Wolke störte ihre Lenzruhe. Gewiß hatte der letzte Winter genug Unfrieden, Kampf und Tod über diese Landschaft gelegt, denn auch die Menschen werfen! die Bürden ihrer traurigen oder einsamen Stunden auf die Erde, die sie trägt. Aber dieser Streit zwischen Leben und Sterben, Hoffen und Ergebung war nun schon ans gefochten. Wieder einmal standen rundum die Herzen in Blüte, und Wellen, Winde und Schollen riefen in ihren Bewegungen, Kräften und Düften nur den Sieg des Überwinders aus.
Maria und Axel verstanden diesen Ruf. Aus der Unrast der Stadt und den ewig fordernden Pflichten des Alltags gekommen, fanden sie in der heiteren Schönheit dieses siegreichen Frühlings alles in sich, was sie bisher wohl tief in ihren Seelen gewußt, zu wägen und zu nutzen aber nicht Zeit gehabt hatten. In wechselnden Erzählen, Erinnern und Empfinden lebten sie darum jetzt die Jahre ihrer Ehe nach, und je weiter diese Tage der inneren Rast fortschritten, um so dankbarer und heller entdeckten sie, wie sich die einzelnen Gezeiten ihrer Entwicklung mit sicherem Reifen und gelingendem Wachstum aneinanderfügten. Menschen verschiedener Kindheit und Jugend, hatten sie einander gesunden, zufällig, wie auch andere, dann aber entschlossen die wesensungleichen Wurzeln zu einem einzigen festen Stamm vereinigt. Und dieser Stamm hatte wahrhaftig gerade und aufrecht emporgestrebt und trug nun schon eine Krone; und diese Krone enthielt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich.
»Axel, das entdecken zu dürfen, ist das nicht Glück?«
»Ein seltenes Glück, Maria!«
Sehr oft sagten sie sich das ...
Am Tag vor der Heimreise trieben sie unter vollem Mittag im Boot auf dem See. Oben stand die Sonne? blendend und groß. Rund um das Boot wellte das Wasser in dunkelblauen Wogen, und all diese Wogen, vom Sonnenstrahl vergoldet, in ihren Tälern und Bergen, gleißten und schimmerten. Und rum um dies prunkvoll pulsende Wasser standen die Berge lichtübergossen, die edlen Linien ihrer Kämme aneinanderreihend zu flimmrigem Zaun, und aus hundert dunstbeschleierten Schluchten und Buchten sproßte die leisegrüne Flamme ihres Frühlings.
»Könntest du das alles erzählen, Axel?« fragte Maria. »Die ganze Zeit, seit der wir uns kennen?«
»Warum erzählen, Maria?«
»Weil ich wissen möchte, ob auch du, wenn du in Gedanken diese Zeit durchläufst, die Entwicklung siehst, die in ihr vorging! Es ist doch nicht von Anfang an alles so gewesen, wie es jetzt ist. In mir wenigstens ist mit den Jahren des Zusammenseins alles anders geworden: Zuerst welche Furcht vor dir! Nichts wagte ich zu sagen, ohne daß du es vorher gesagt hattest. Vielleicht mißfiel es dir, oder du dachtest: Wie einfältig, wie ganz anders, als ich es verstehe! Und schon nur in dein Zimmer zu treten, wenn du darin arbeitetest! – wie überlegte ich mir das! Störe ich ihn, wird er mich unbequem finden? dachte ich. Oder wird er denken: Das ist kindisch, daß sie mich zu jeder Stunde besuchen will? – Tausendmal wagte ich's nicht, dir meine Liebe zu zeigen, und plagte mich gerade deshalb mit den Zweifeln: Entbehrt er das? Ist er enttäuscht, hat er sich seine Maria anders vorgestellt? Und sann eifrig, eifrig nach: Worin soll ich mich ändern?«
»Und? ...« Axel blickte sie stolz an.
»Und du?«
»Ganz gleich erging es mir, denke! Ganz gleich!« fiel er lebhaft ein. »Aber geradezu ganz gleich! Nun sollt ihr eins sein, dachte ich, eine Seele, ein Leib, und doch fürchtet ihr euch voreinander! Und erwog, wie du: Ist Maria enttäuscht, bereut sie am Ende schon, bin ich zu wenig aufmerksam? Wie soll ich's denn anders machen? Das waren meine ewigen Sorgen!«
»Und dann?«
»Dann heißt es immer: In der Ehe muß man sich dem andern anpassen! Aber ich machte die Bemerkung, daß ich nun ein ganz eigenartiger Mensch war und es immer mehr wurde. Als ob ich erst seit der Ehe dieses Eigentümliche bekommen hätte. – Also mich anpassen! – Ja; natürlich; gerne! Denn ich liebte dich ja! – Aber anderseits: wenn du mich liebtest, wie ich war, brauchte ich mich doch nicht zu ändern? Weiß Gott, wie oft und wieviel zerbrach ich mir den Kopf in diesem Dilemma! Bis auf einmal ...«
»Wann?«
»Als mein erstes Buch fertig geschrieben war! Jene Geschichte einer Mutter! Als ich dir das vorlas ... du, das zu tun, war mir ebenso schwer, als ich es keinen Tag mehr hätte aufschieben können! ... als ich dir's vorgelesen hatte, da sagtest du: Axel, wunderschön ist's, wunderschön! ... Aber, verzeih: Wahr ist es nicht! Wahr ist es nicht! Ja, fragte ich, ein bißchen gekränkt, denn es war aus meiner tiefsten Seele gekommen, was ich da geschrieben hatte, woher weißt du denn das? Du hast es doch nicht erlebt. Und da sagtest du ...«
»Was sagte ich?« Maria fragte hastig, aber ganz leise, verschämt.
»›Nicht erlebt, Axel,‹ sagtest du, ›aber, siehst du: du bist der Mann ... und ich bin das Weib!‹ – Und da, Maria, da begann die Erleuchtung! Von da ab habe ich nimmermehr geglaubt, daß ich du und du ich werden müßtest, sondern daß wir beide eigene, ganz voneinander verschiedene Menschen sein dürfen und daß wir uns gerade dieser Verschiedenheit halber lieben mußten. Und wenn ich mir nun oft noch sagen konnte: das versteht sie anders als ich, und darin bin ich anders als sie, von da an habe ich dein anderes Verstehen inniger und echter geliebt, als ich deine Unterordnung unter das meine geliebt hätte. Und je mehr wir so, jeder für sich, aber in der Gemeinsamkeit unserer Liebe, Menschen wurden, selbständige Menschen, um so mehr habe ich von dir genommen und hast du von mir genommen, und nur so hat es kommen dürfen, daß mir mein Leben als eine Frucht des deinen erscheint und umgekehrt. Und als dann das Kind kam ...«
»Axel!« Maria hatte sich weit nach vorne geworfen und deutete mit fast erschreckt ausgereckter Hand nach einer Boje hin, nahe am Boote. »Axel, die Möwe mit dem goldenen Ring!«
Unwillkürlich ließ Axel das Ruder sinken. Wahrhaftig, da auf der schaukelnden, roten Boje saß die weiße Möwe und schaute mit scheuem, funkelndem Auge herüber ins Boot. Und trug um den Hals den goldenen Ring.
»Siehst du sie?«
»Ja!«
»Und es ist wirklich ein goldener Ring, den sie ...«
In diesem Augenblick klatschten der Möwe Flügel auf und trugen sie wie einen weißen, schimmernden Pfeil in die Luft zurück.
»Zum zweitenmal, Axel!« sagte Maria fast leidenschaftlich. »Du, ist's nicht sonderbar?«
Axel antwortete nicht. Er blickte der Möwe nach, die in jähem Bogen aus der Luft niederkam, nun schon ferne dem Boote, und schwieg. Es kam ihm nicht zum klaren Bewußtsein, daß ihm das weiße Tier wie einer seiner geheimnisvollsten Gedanken an die Zukunft erschien, wie etwas ihm Verwandtes, und so setzte er ruhig wieder seine Ruder ein, und das Boot glitt weiter, Ruderschlag auf Ruderschlag. Die ganze leuchtende Küste zog vorüber.
»Und als das Kind kam?« nahm plötzlich Maria seinen gestörten Satz wieder auf.
Da gab es Axel einen Ruck. Wie aus einem versonnenen Traum hob sich sein Gesicht, die Augen glänzten dankbar und freudig, ein Lächeln überglitt ihn, das, wie die Sonne auf den Wellen, so stark und hell war, und er sagte: »Und als dann das Kind kam, hab' ich staunend erkannt: wir waren ja lange schon eins. Denn das Kind war nur das Kind dieser Einheit!«
Maria senkte das Gesicht und faltete, ohne es zu wollen, die Hände. Wie ein Zauber heiliger Rührung hüllte der Klang dieser Worte, der heiß aufquellende Glaube an ihre Wahrheit sie ein. Und in diesem Zauber wagte sie es nicht, zu dem Mann aufzusehen, der still das Boot an das Ufer lenkte.
* * *
An diesem Abend ward im dunklen Dom von Salò ein Bild von hellem Schimmer getroffen. Die Wände der nackten Schiffe starrten im Finster; Ampeln, Betstühle und Marmor versanken mit undeutlichen Reflexen in der Segenstunde der Dämmerung. Nur das Bild von Golgatha in der Kapelle zur Rechten leuchtete hell durch diese Kirchennacht, und während aus den Gewölben die Dunkelheit immer beschwerender niederkam, tat sich der gemalte Himmel über den drei Kreuzen immer glänzender auf, immer reiner und grenzenloser, als fiele aus einer hoch in die Lenzluft erhobenen Kuppel alles Licht, das der verglommene Tag heute besessen hatte, auf ihn.
Axel und Maria waren allein in der Kirche. Sie lehnten im Angesicht dieses Himmels über den drei Kreuzen an einem steinernen Pfeiler und hielten sich an den Händen. Eine innige Gewalt lenkte ihre Augen auf das Bild dessen dunkelnde Hügel keine Gestalt belebte, dessen Raum aber, scheinbar von ewigen Händen aufgerichtet und gemalt, den Tod Christi posaunend in die Welt rief.
»Ist das Golgatha?« fragte Maria endlich.
»Ja!«
Eine Pause entstand, während Maria bedachte, ob sie weiter in Axel dringen dürfe. Dann aber, als seine Gestalt sich nicht bewegte, sondern immer steinerner zu werden schien, nahm sie den Mut. »Warum redest du davon niemals zu mir?«
»Von Christus?«
»Glaubst du nicht an ihn?«
Es entstand wieder eine Pause. Axels Auge bohrte sich heftiger in das Bild.
»Glaubst du nicht an ihn?«
»Darüber ein Wort zu finden, ist schwer!« antwortete er nun. »Man lebt, lebt so dahin und gedenkt seiner gar nicht! Das Tatsächliche unseres Lebens drückt seine unirdische Idee nieder. Dazu kommt, daß unsere Gegenwart jeder Vergangenheit Feind ist, und so erscheint er auch mir oft ebenso vorübergegangen, wie irgendein historischer Mann, dessen Werk die Zeiten begruben.«
»Es geht mir wie dir!«
»Aber oft, plötzlich, wie hier ...«
»Nicht wahr? Hier!«
»Plötzlich steht er vor mir. Und dann verwischt ein einziger Satz, den er gesprochen, das menschliche Kleid, das sie heute um ihn weben, und alles, was sie gegen ihn sagen und tun, erkenne ich dann deutlich als bequeme Lüge, und in der notwendigen Wahl, die trotz dieser Lüge noch heute die Menschen quält: ihm folgen oder seinem Widersacher ...« er unterbrach sich, »Doziere ich, Maria? ...«
»Nein! Weiter! Weiter!«
»In dieser Wahl entscheide ich mich dann für ihn!«
»Wie die Armen? Und die Trostlosen?«
»Ja, wie die!«
»Und wie die Feigen und die Dummen?«
»Auch wie die. Denn er hat« – er deutete nach dem Himmel hin, dessen blanke Helligkeit die Schäfte der schwarzen Kreuze überstrahlte – »als sein Leben zertreten, als jedes seiner Werke der Liebe unverstanden und besudelt war, gesagt: ›Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹«
Maria löste ihre Hand aus der Axels. Schauer und Angst zugleich empfand sie. Warum redete Axel heute so? Warum hatte er jahrelang davon geschwiegen? Hatte er diesen Glauben geheim in seiner Brust getragen? Hatte auch sie ihn geheim in ihrer Brust getragen? War es Christus, der, ohne daß sie seiner gedacht, ohne daß sie ihn laut bekannt, ihr Leben in Ruhe und Frieden gelenkt, Schein und Falschheit von ihnen abgestreift, es mit seiner Gnade gesegnet hatte? Und warum bekannten sie ihn nicht schon lange?
»Warum hast du mir das noch niemals gesagt?« fragte sie jetzt, wie von heißem Schreck ergriffen, und nahm wieder seine Hand.
»Weil ich erst auf dem Wege zu ihm bin! Und du bist auch erst auf dem Wege. Aber ich weiß es, wir kommen zu ihm! Nicht wie die Wallfahrer, die ihn nach kräftigen Sünden suchen, und auch nicht wie die Sterbenden, die ihn in der Todesangst anbetteln! Sondern als Lebendige, die ihn lange schon ahnten und die ihn daher plötzlich einmal auch ganz erkennen müssen. Als Glückliche, die nicht Trost und Ergebung bei ihm holen, sondern ihr Glück ihm darbieten, damit er es kröne! – Und ich redete heute davon, weil nun bald die Zeit kommt, in der unser Kind ... verstehst du?«
Sie blickte ihn reglos, mit weitoffenen Augen, an. Keines Wortes war sie mächtig.
»Du kannst dem Kinde nämlich nichts Besseres auf den Weg mitgeben als ihn,« schloß er. »Soweit wenigstens bin ich gekommen ...«
* * *
Am nächsten Morgen rollte ein welscher Wagen von der Anhöhe von Nago herab nach Loppio. Ein langer, brauner Kutscher lenkte ihn, peitschte die mageren Gäule, daß die Hufe rasend klapperten, fluchte, rückte die Virginia von einem Mundwinkel unablässig in den anderen, ließ den schmierigen Hut immer tiefer nach rechts übers Ohr fallen und erklärte je und je mit ein paar halbdeutschen Worten die Bilder der Landschaft.
Axel und Maria reisten heim.
Der Himmel hatte sich umzogen. Weiß, gleichmäßig bleich hing er über den Klüften der Berge, über den anstrebenden Trümmern der Steinlawinen, den lautlosen Wassern des Sees von Loppio. Wo die Erikabüsche aus dem Kahl blühten, schienen sie trotz ihrer roten Glut zu frösteln, wo ein grüner Streifen inmitten farbloser Erde lag, schien er zu trauern, und die Lieder, die aus den Weingärten aufstiegen, oder die Glockenzeichen, die aus den weltabgeschnittenen Türmen dieses Tals brachen, klangen klagend und schwer.
Maria saß stumm neben Axel und blickte verzagt in diese düstere Leblosigkeit. Wohin war plötzlich all die Sonne hingeraten, die eine Woche lang so festlich geschienen hatte? Oder bedeutete dies winterliche Tal, daß es nun zurückkehren hieß in das Leben des Alltags, in dem es viel schwerer war, dem Glück auf den Grund zu sehen, als in den verrauschten Tagen der Rast und Ruhe.
Eine seltsame Bangnis überfiel sie und ließ nicht ab von ihr, so heftig sie sich auch dagegen wehrte. Denn je weiter sie fuhren, um so schwerer nur stand der Himmel, um so darbender lag unter ihm das Land.
Als endliche der Wagen in die Gasse von Mori einfuhr und der Kutscher durch zwei schmutzige Finger einen lauten Pfiff tat, atmete sie auf. Da war wieder Leben. »Gott, sei Dank!« rief sie wie erlöst Axel zu und ergriff seine Hand.
Und erschrak! Diese Hand war ja eiskalt!
»Axel!« rief sie besorgt und schnellte aus dem Polster. »Axel!«
In diesem Augenblick hielt der Wagen vor dem Albergo all gallo. Der Kutscher sprang katzenartig vom Bock, machte vor dem Schlag einen Kratzfuß, den schmierigen Hut in der Hand, und fragte, ob die Herrschaften ein Glas Wein, »un bicchierino di Vermouth ...?«
»Axel!« Maria war leichenblaß. Ihre Augen fanatisch versenkt in Axels Gesicht, das mit gefälltem Blick über dem unheimlichen Weiß des Kragens hing. »Axel!«
Der Kutscher machte ein verblüfftes Gesicht. Aus dem schwarzen Torbogen des Albergo kam die junge Carmela gelaufen.
»Axel!« schrie Marias gellende Stimme. Sie war emporgesprungen, zerrte an Axels Arm, zerrte an seinem Mantel, zog ihm das niedergesunkene Gesicht in die Höhe. »Axel, Axel, Axel!« –
Nun schossen aus allen Winkeln, Ecken und Türlöchern der Gasse zerlumpte Menschen herbei, raubtierartig, Männer, Weiber, Kinder, und scharten sich um den Wagen.
»Axel!«
Noch enger ward der Kreis um den Wagen.
Da, während Maria noch einmal schrie, schrie, daß die rasende Todesangst der vergewaltigten Seele in den Himmel aufzudrohen schien wie ein Arm mit zorniger Faust, geschah das Furchtbare: Axels Oberkörper fiel, von ihren Händen aus den Polstern gerückt, schwer über den Rand des Wagens und blieb starr, mit auf die Erde stürzenden Armen in der Luft hängen.
»Gesù Maria!« kreischte ein Weib auf. Und alle, die da standen, heulten es ihr nach: »Gesù Maria!«
Im Wagen stand eine Gestalt, weiß, aufrecht, hoch. War diese Gestalt noch die eines Menschen?
* * *
»Mama, wann kommt Papa?«
»Morgen, Bubi, morgen!«
Und morgen fragte Bubi wieder: »Mama, wann kommt Papa?«
Und wieder sagte das steinerne Gesicht, in dem alles Leben ausgelöscht war: »Morgen, Bubi, morgen! ...«
Als dann einmal Bubi nimmer fragte, war das die erste Erleichterung für die Zerstörte. Die Photographien Papas konnte man ja einsperren, und wenn ein Besuch kam, der von Papa redete, konnte man Bubi einsperren. Und doch war diese Erleichterung nur ein Irrtum! Maria hätte Bubi ja verbannen müssen, für ewig von ihren Augen verbannen, um das Furchtbare nicht beständig denken zu müssen: Papa kommt nimmer wieder.
Oft stand sie, das Kind im Arm, auf der obersten Treppe des Hauses. Wenn sie sich, das Kind im Arm, hinabstürzte? Oft saß sie, das Kind tief an sich geschmiegt, in einer dunkeln Ecke des Schlafzimmers, in dem Axels Bett wie ein sprechendes Grab stand. Wenn sie jenen Revolver nahm, aus ... Papas Lade, ihn lud und erst das Kind und dann sich erschoß?
Aber da, in solchen Augenblicken, stand Axel vor ihr. Genau so wie er gelebt hatte. Er hatte die eine Hand an der geöffneten Türe, mit der anderen hielt er die Feder. Er kam aus seinem Arbeitszimmer und schaute nach, was Maria und das Kind trieben. Lächelte, wollte eben etwas sagen. – Da sah er schon ihre Verzweiflung! Rasch, erschreckt kam er nahe, legte den Arm um sie, beugte sich nieder und küßte sie. Und dann küßte er das Kind.
Dann schrie sie auf! Dann schob sie das Kind von sich weg und stürzte der Erscheinung entgegen. Ihr Herz hämmerte. Liebe, die niemals noch so in ihrem Menschen getobt und gerufen und gebettelt hatte, machte sie groß, funkelnden Auges, voll einer grenzenlosen Hingebung. Es war nicht wahr, daß Axel am Herzschlag gestorben war, in einem fremden Wagen, von ihr unbemerkt, ohne Abschied. Es war nicht wahr, daß ihn der Eisenbahnzug, in einem Waggon, darauf ein Kreidekreuz gestanden, in die Heimat gebracht hatte. Tot! Es war nicht wahr, daß er begraben worden war, daß seine Kleider da drin im Schrank hingen, leer, seine Bücher drüben im Regal standen, geistlos, daß er vermoderte, vermoderte, ... er war da! Er war wieder da! ...
Aber nun ... wie? Was Nun? Was geschah jetzt? Jetzt war das Zimmer wieder leer. Leer! Ganz leer! Axel war nicht da. Er kam nimmer! Er vermoderte!
Taumelnd, schlürfend ging sie zum Kinde zurück, nahm es von neuem an ihre Brust und sah ihm in die Augen. Bubi hatte große, blaue Augen, er ließ sich so gerne hineinschauen! Heute aber, jetzt aber, – jetzt legte Bubi seine weichen Ärmchen um ihren Hals, ließ sich nicht in die Augen schauen und weinte!
* * *
Die zweite Erleichterung für Maria kam, als Bubi Papa vergaß. Er vergaß ihn. Sein Bild entschwand der zweijährigen Seele. Eines Morgens wußte diese Seele nichts mehr davon.
Nun konnte sie Bubi ruhig in Axels Arbeitszimmer mitnehmen. Er erkannte weder Papas Uhr noch Papas Tintenfaß. Er wußte nicht mehr, daß auf diesem Stuhl vor dem großen Tisch Papa gesessen hatte und daß er auf den Schoß von Papa geklettert war, jeden Tag, um mit einem großen Bleistift auf ein schönes weißes Blatt Papier zu kritzeln. Nichts mehr wußte Bubi.
Aber war das ein Trost? War das nicht der gleiche Trost, wie daß nun auch alle anderen Menschen, die Axel mit überströmenden Worten betrauert hatten, schon nichts mehr von ihm wußten? Daß, was er erdacht, erstrebt und geschaffen hatte, schon in Vergessenheit sank? Daß es Sommer ward, ohne daß er noch lebte?
Es war, als habe Axel mit seinem Tode einen langsamen Gang stadtauswärts getan und sei nun, unmerklich fast, hinter den letzten, grauen Gassen der Vorstadt verschwunden. Wenn Maria am Fenster saß, konnte sie hinausblicken in die wolkige Ebene, die unermeßlich sich ausdehnte bis an die Grenze des bleichen Horizonts, und mußte denken: ›Da geht er! Immer weiter! Immer weiter!‹ Und wenn sie sich noch so verzweifelt, so händeringend und weinend dagegen sträubte: er ließ sich nicht halten! Gleichen Schritt ging er mit der unerbittlich sich entfernenden Zeit ...
Herbst ward es. Dann Winter. Und dann jährte sich zum erstenmal der Todestag. Und da stiegen nun jäh, wie plötzlich von finsternisbeschwerten Abgründen auffliegende Wolken, die Erinnerungen aus der betäubten Brust auf und stellten Axel vor die erwachenden Augen zurück. Wieder war er da! Leibhaftig! Und verschwand wieder! Und nun ging ihn die Aufgepeitschte von neuem suchen, gieriger denn je, gläubiger denn je, ihn zu finden. Er mußte noch da sein! Nacht für Nacht kramte sie nun in den Blättern, Manuskripten, Studien, Aufzeichnungen, die der bisher scheu versperrt gehaltene Schreibtisch ihr enthüllte. In seinen Werken mußte Axel noch sein! Aber je länger sie vor diesen Worten saß, je ungeduldiger sie diese Worte betrachtete, um so fremder wurden sie ihr. Auch sie waren tot. Auch in ihnen war Axel nicht mehr.
War er nirgends mehr? – Sie saß in der letzten dieser suchenden Nächte vor dem ausgeleerten Tisch. Die Lampe war herabgebrannt. Müde hielten die zitternden Hände die letzten Blätter. Nirgends mehr?
Sie sprang entsetzt auf. War das wahr?
Da sagte ihr das rasende Herz endlich, endlich: In dir ist er! In dir und dem Kinde! Und ihr allein könnt ihn bewahren! ...
Seit diesem Wort des Herzens begann die Verzweiflung langsam von Maria zu sinken. Denn dies Wort war wahr. In ihr und dem Kinde lebte Axel fort. Und erst jetzt, da die hundertmal Getäuschte ganz die Unmöglichkeit erkannte, Axel je wieder auf die Welt zu rufen, entdeckte sie, daß sie ihn gar nicht verloren hatte und niemals verlieren konnte. Und je stärker dies Bewußtsein wurde, um so mehr Trost gab es auch, und um so entschlossener ging sie daran, von diesem neuen Reichtum dem Kinde zu geben. Ohne daß klein Axel sich seines Vaters entsinnen konnte, sollte er dessen Abbild werden, und wenn der Gestorbene auf seiner Reise stadtauswärts aus schon unendlicher Ferne zurückblickte, nach dem Haus, in dem sie geblieben war, sollte er wissen, daß sie ihm die Ewigkeit bereitete in ihrer Seele und in seinem Kinde.
Die Zeit der Ergebung begann.
* * *
Und es wäre aus ihrem Fortschreiten voll werktätiger Sammlung aller Handlungen und Gedanken auf ihr Ziel vielleicht auch wirklich dies Ziel entstanden, hätte nicht eine plötzliche Entdeckung Maria gezwungen, die sanfte Entwicklung zu stören. Sie mußte eines Morgens bemerken, daß Axels erspartes Kapital, von dem sie diese Jahre bestritten hatte, zu einer Summe zusammengeschmolzen war, die ihr den Unterhalt für nicht mehr lange gewährleistete. Lebte sie wie bisher fort, dann würde eines Tages dieser einzige Zehrpfennig erschöpft sein, und sie sah sich gezwungen, mit dem Kinde der Mutter zur Last zu fallen, die mit ihrer Pension zwei unverheiratete Töchter erhielt. Was tun?
Sie entschied sich rasch und tapfer. Gab das letzte Stück Wohlstand auf – die Wohnung, die noch ihr ganzes Glück gekannt hatte – und mietete ein kleineres Quartier mitten in der Stadt. Ihr und dem Kinde ließ es nur ein einziges Zimmer frei, kostete aber nichts, wenn sich für seine übrigen Räume ein gut zahlender Mieter fand.
Dieser Mieter fand sich. Der erste, der kam, um die ausgeschriebene Wohnung zu besehen, war der Bankdirektor Friedrich Westmann. Nach kurzer Verhandlung zog er ein.
So war sie dieser Sorge ledig. Aber das war ihr noch nicht genug. Sie wollte dazu auch noch verdienen. Und so kam es, daß sie eines anderen Tages, einem nach rastlosem Hin- und Hersinnen gekommenen Einfall folgend, Axels Schreibmaschine hervorholte und daß am nächsten unten auf der Haustüre die Tafel hing: »Hier werden Maschinenschreibarten besorgt.«
Es dauerte lange, bis der erste Besteller kam; sie konnte unterdes fleißig üben. Aber einmal kam er doch. Ein alter, runzeliger Mann stieg mühsam die Treppe herauf, blickte Maria mißtrauisch an und übergab zuletzt umständlich seine gelehrte Arbeit. Hernach dauerte es wiederum lange, bis der zweite kam. Aber auch der rückte eines Tages an, und ihm folgten andere.
Ein ganz neues Leben begann. Ein Leben unausgesetzter Anspannung, völliger Selbstlosigkeit, nur dem einen Ziel gewidmet, ihr und dem Kinde das Leben zu verdienen und so dem Toten die Ewigkeit zu erkaufen. Daß es gelang, gab ihr Kraft. Eine schwere Last war ihr aufgeladen, aber sie trug sie, trug sie allein. Verlieh das nicht Stolz und Genugtuung? Und wenn mit der Zeit die Bestellungen immer häufiger kamen, weil ihre Arbeit gut war, oder wenn je und je Friedrich Westmann, der vornehme, stille Mieter, über die Flurschwelle trat und nach freundlichen Worten, die sie seinem sorglosen Reichtum nicht zugemutet hätte, dem kleinen Axel ein Spielzeug in die armen Händchen legte, dann fiel in dies neue Leben sogar ein Sonnenstrahl, und Maria fühlte sich wohltätig erwärmt.
Oft aber blieb auch für lange jeder Sonnenstrahl aus. Dann, ob es Winter oder Sommer war, klapperte die Schreibmaschine unter Marias emsigen Fingern, und während klein Axel neben ihr saß und buchstabierte, peinigten sie schwere, bleierne Gedanken. Und nun halfen plötzlich auch der Stolz und die Genugtuung nicht, um aus dem schaudernden Herzen die Öde zu bannen, die immer kälter sich darin ausbreitete; die von den fremden Worten Fremder zurückkehrenden Augen sahen in eine selige Vergangenheit zurück, und der gähnende Raum in der gehetzten Brust schrie kraftlos auf: Wird es immer so sein? Immer so? Freilich besiegte Maria auch diese Stunden. Aber mochte auch Monat um Monat mit vermehrter Anstrengung fortgeschoben werden, ganz vermochte sie nicht, sie zu bannen: sie kamen immer wieder. Und je öfter, desto grausamer.
Und diese Stunden waren es, die, ohne daß Maria es merkte, Friedrich Westmann zu ihr zogen. War er zu Anfang nur ein seltener Gast gewesen, den das Mitleid nicht an der einsamen Frau vorbeigehen ließ, so kam er nun fast jeden Tag, und später noch öfter. Was war es, das den Verwöhnten, der allen Launen hätte gerecht werden dürfen, Maria suchen hieß? Wer sein schönes, bleiches Gesicht mit den schwarzen Augen sah, die unstet brannten, die Hände, die in hilflos ungewohnter Gebärde über Axels Scheitel fuhren, oder wer die volle, noch junge Stimme hörte, die wohl einen Satz weich und gütig aussprechen, dann aber seltsam kühl und herrisch weiterklingen konnte, der mochte nicht glauben, daß es die Seele Marias war, die diesen Mann anzog. Und doch war dem so! – Freilich, so wie Maria die fortschreitenden Künste seiner Werbung nicht verstand, weil sie sich ihnen sonst verschlossen hätte, und wie sie nicht sah, was da mit hundert Fäden sich enge um sie zusammenzog, so wußte auch er nicht, wie er so plötzlich in ein Netz geraten war, das beim ersten Beschauen lächerlich banal und ungefährlich erschien. Er saß oft eine Stunde lang vor Maria, ohne ein rechtes Wort zu sagen, und dachte nun gewissenhaft an alles, was jede dieser so unerklärlich heiß von ihm begehrten Stunden so seltsam machte: daß er gerade in dieses Haus zu wohnen gekommen war, daß er Kinder niemals lieb gehabt hatte, klein Axel aber keinen Abend mehr entbehren konnte, daß er auf der kalten Höhe seines Lebens niemals eine Frau geliebt hatte und nun diese arme, arbeitende Witwe liebte; und daß in dieser Frau vielleicht noch das Bild eines anderen lebte, das er auslöschen mußte, wenn sie ihm wahrhaftig gehören sollte.
Monatelang trug er diese Gedanken in sich herum, verdichtete sie in einsamen Betrachtungen und bestärkte sie so lange, bis die zuredenden ebenso feste Mauern bildeten wie die abmahnenden. Als er aber zuletzt aus der Schlacht, in die ihn sein wägender Geist nun gestellt hatte, keinen Ausweg mehr fand, nahm er sich eines Abends das Herz, pochte bei Maria an und fragte sie, ob sie sich entschließen könnte, seine Frau zu werden. Maria sprang bei diesen Worten empor, als hätte der Blitz eingeschlagen, oder als wäre sonst etwas Furchtbares geschehen. Wie leblos starrte sie ihn an. Als er aber seine Frage wiederholte, ging sie zitternden Schrittes aus dem Zimmer, holte klein Axel aus der Küche und verließ das Haus. Es war ein langer Gang, den sie, das Kind an der Hand, an diesem Abend noch tat, durch Menschenströme, Lärm und Leben, durch hundert Gassen, Schreie und Nichtigkeiten, und erst als Axels Füßchen müde waren, kehrte sie heim. Und saß in dieser ganzen langen Nacht vor des Kindes Bett, ohne daß die betäubte Seele sich aufhellte, – am nächsten Morgen aber sagte sie Ja.
* * *
Es ward eine sonderbare Hochzeitsreise. Der kleine Axel wurde mitgenommen. Durch Deutschland und Österreich führte die Reise, und als sie zu Ende war, mitten in einem duft- und jubelvollen Sommer, stellte Maria im neuen Hause klein Axel vor sich auf, blickte ihm in die Augen und fragte: »Bist du zufrieden, Bubi?«
Bubi langte mit seinen Armen tief nach ihrem Hals und flüsterte: »Du, bleibt nun Papa immer bei uns?«
»Immer, Bubi! ... Ist dir's lieb?«
»Ja, Mama!«
Nun nahm sie Axel an die Hand und führte ihn durch alle Zimmer. Überall lag Sonne, überall standen Blumen, überall schimmerte Reichtum. Ein Diener deckte eben den Tisch im Speisezimmer, durch einen Spalt der Portiere sah man ihn, er legte Silber auf, das klirrte ein bißchen, und stellte Gläser, die klingelten leise. Und hier waren Leoparden- und Tigerfelle um ein persisches Goldbecken ausgebreitet, und da hing eine Unzahl von Bildern an den Wänden, Und dort stand Marias alter Nähtisch. »Mama, dein Nähtisch!« lachte klein Axel und klatschte in die Hände. Er hatte unablässig zu bewundern, sah Tausendfaches, immer Neues, rief laut: »Wie schön, Mama!« Kein Ende fand er des Staunens. Und Maria staunte mit. Und als dann Friedrich kam, ging sie mit Axel auf ihn zu und sagte zu Axel: »Du mußt gleich Papa danken!« Friedrich aber ließ das nicht zu, er nahm Axel lachend hoch, und nun bestaunten sie alle drei das Neue, das so unerwartet und wunderbar ihnen gegeben worden war.
Oft in der Zeit, die nun folgte, wollte Maria sich besinnen: Wie kam denn das? Aber so wie ihr schon während der kurzen Brautzeit und auf der Reise kein Augenblick geblieben war, um das Geschehene zu bedenken und seine Voraussetzungen zu erforschen, bot sich ihr auch jetzt keiner hierfür dar, da eine neue Welt mit neuen Menschen und neuen Dingen sie umgab. Denn was war ein jeder dieser Tage anderes, als eine ununterbrochene Reihe von Geschenken an sie und an das Kind, von Zerstreuungen und Ablenkungen, von unausgesetzten Versuchen Friedrichs, sie an seine Liebe glauben zu machen und immer fester an sich zu ketten?
Oder ... wollte sie den Augenblick nicht finden, der ihr die klare Rechenschaft gab? – Denn daß sie in Friedrichs Werbung eingewilliget, sich ihm gegeben und damit Axel verlassen hatte, das blieb ja doch etwas Unerklärliches. Es war also gewiß das Richtigste, sich zu sagen: Es ist einmal so gekommen. Nun lebe es!
Jedenfalls handelte sie nach dieser Erwägung. Und gerade das lohnte ihr Friedrich. Denn darüber war auch er sich klar: er hatte diese Frau überrascht, als ihr die Vergangenheit noch nicht tot war. Sie hatte also ein Recht auf Rücksicht, wenn sie sich so tapfer in die plötzlich gefügte Lage fand, und alles, was dazu dienen sollte, das Band zwischen ihr und diesem Neuem zu stärken, mußte zart und vorsichtig geschehen. Axel, das Kind, sollte der Mittler hierzu sein. Der hatte keine Vergangenheit, keine Erinnerung, die die Mutter vielleicht noch quälte und die zwischen ihr und dem neuen Gatten stand. Und Axel war schmiegsam. Er freute sich des Vaters. Er konnte herzhaft mit ihm lachen, harmlos vertrauend an seiner Hand gehen, offen um etwas bitten und offen für etwas danken. Er sah es gewiß, daß das ganze Herz dieses neuen Vaters ihm gehörte, und darum schenkte er ihm freudig auch das seine. Es konnte geschehen, daß er den ganzen Vormittag stumm bei Maria saß, scheinbar tief über etwas nachdachte, damit aber nicht herauskam zu ihr. Flog jedoch plötzlich die Türe auf und trat Friedrich ein, dann sprang er jubelnd von seinem Platze auf, stürzte ihm entgegen und rief: »Papa, ich muß dich etwas fragen!« Und da mußte dann Papa mit ihm in sein Zimmer gehen.
Wie die Vögel fliegen oder wie die Schmetterlinge aus den Puppen springen – so etwas war es stets, was er fragte. Aber es genügte, um Friedrich in eine Glut von Freude zu tauchen. So also empfand ihn dies Kind, das nicht sein eigenes war: als seinen Vater! Mußte da nicht, so wie diese Seele ihm langsam zu eigen wurde, auch die andere mählich ihm zufliegen, die Seele Marias? Und darum hoffte er und wartete er geduldig. Begnügte sich völlig damit, die Monate wie sanfte Wolken in blauem Himmel über Maria wegzuschieben und nur je und je aus der täglich heißer werdenden Freude an der Liebe heraus zu fragen: »Glaubst du, das Kind mag mich leiden?« Worauf sie stets erwiderte, mit eigentümlich zitternder Stimme: »Es liebt dich!« –
Da stand aber einmal, mitten in dieser hoffnungsvollen Zeit, Axels Sterbetag. Als ob er aus fernen, undeutlichen Dämmerungen aufstiege, schaute er Maria an. Axels Sterbetag! Aber nun war sie schon zu sehr an das Wirkliche, an das Gegenwärtige gewöhnt, um sich schnell aus der Bahn bringen zu lassen. Ohne Friedrich etwas zu sagen, nahm sie gegen Mittag den kleinen Axel an die Hand, ging mit ihm auf den Friedhof und kniete am Grabe nieder.
»Was tun wir hier, Mama?« fragte Axel, während sie mit einem quälenden Zwiespalt in der unruhigen Brust nicht wußte, ob sie alle ihre Gedanken in dies Grab hineinzwingen oder von ihm losreißen sollte.
Aber nochmals fragte Axel: »Was tun wir da, Mama?«
»Papa ist da begraben,«, antwortete sie. »Dein Papa.«
»Papa?« rief Axel hocherstaunt aus, »Papa ist doch im Bureau, Mama?«
Mit einem wehen Lächeln erhob sie sich und schritt hastig, Axel wieder an der Hand, aus dem Friedhoftor. Es war ein warmer, stiller Vorfrühlingstag, grün war noch nichts, aber die Luft roch nach keimender Erde, und in einem Park an der Straße schlugen die Drosseln. Axel fragte nach allerhand Dingen, aber sie führte ihn einsilbig und rasch weiter. Sie sehnte sich jetzt nach der Einsamkeit ihres halbdunklen Zimmers zu Hause.
Angekommen, warf sie das schwarze Kleid ab, damit Friedrich es nicht an ihr sähe, und setzte sich vor das vorhangverhüllte Fenster. Welche Unsicherheit war denn plötzlich in ihr? Als ob sie eine Verbrecherin wäre und jedermann ihr das ansehen und vorwerfen müßte, so klopfte das Herz.
Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Aber ob sie da regungslos vor dem Fenster saß oder erregt im Zimmer auf und nieder ging, es gelang ihr nicht. Seltsam verdunkelt und verhüllt war ihre Seele. Als sie zuletzt die Qual dieser Erregung nimmer ertrug, eilte sie zum Kinde hinüber, nahm es vor sich hin, schaute ihm in die Augen, wie immer, wenn sie sich etwas ergründen wollte, was kein Wort recht auszusprechen wagte, und fragte: »Axel, weißt du nichts mehr von deinem Papa?«
Das Kind blickte groß zu ihr auf, ebenso erstaunt wie auf dem Friedhof, und sagte dann: »Papa bringt mir heute ein kleines Automobil mit. Meinst du, wir können ausfahren darin?«
Nun stahlen sich ihr die Tränen in die Augen. Sie ließ das Kind los und wollte sich wieder auf ihren Platz setzen, da stand Friedrich in der Türe. Gleich sprang Axel auf ihn zu und umarmte ihn. Und jetzt ließ sich Friedrich, noch bevor er zu Maria herantrat, lachend von des Kindes schnellen Worten erzählen; er hatte das Automobil nicht vergessen, er hielt es in den Händen auf dem Rücken. Als aber Axel, weil er sich nicht getraute, Papa nach dem Automobil zu fragen, in endlicher List von einem Grabe redete, auf dem heute die Mama gekniet habe, und darum müsse die Mama gleich heute im Automobil ausfahren, verstand Friedrich sofort. Er ging mit Axel in das Zimmer nebenan.
Abends, bevor Maria sich zum Schlafengehen anschickte, trat er behutsam bei ihr ein. Und in diesem Augenblick, während sie ihn nahekommen sah, empfand sie ihn als einen Fremden, als einen völlig Fremden, obwohl seine Miene nichts als freundliche Güte enthielt. So zögerte Friedrich eine Weile, ehe er sagte: »Kannst du ihn nicht vergessen, Maria?« Aber er fragte es ohne alle Bitterkeit, ohne Vorwurf, fragte es so, als ob er sich erkundigte: ›Bist du nicht wohl?›
Sie überlegte gar nicht ihre Antwort. Ein klein wenig sich von ihm abkehrend, und dabei in einer vollen Bewegung ihr wunderschönes Haar lösend, daß es blond über ihre Schultern niederrollte, sagte sie leise: »Es war heute sein Todestag.«
In dieser Nacht aber quälten sie zum erstenmal heiße Träume. Die Nähe Friedrichs peinigte sie. Und wenn sie erwachte, verhüllte sie mit beiden Händen ihre Augen, bemühte sich, nichts zu denken, gar nichts, und nichts zu empfinden. Und so schwer und bedrängend wie diese Nacht waren auch die folgenden. Fieber und Angst rüttelten an ihr, eine unheimliche Schärfe saß in ihren Augen, eine grenzenlose Schwermut belastete ihre Brust. Sie wollte sich wie ein Ertrinkender am Strohhalmen an den unleugbaren Werten ihres neuen Lebens retten: an dem wachsenden Kind, an Friedrichs Güte, an der ruhigen Sorglosigkeit ihres Daseins. Aber die Strohhalme brachen unter ihren zugreifenden Händen vom Ufer ab; mit ihnen ertrank sie.
Als der Morgen kam, an dem vor Jahren Axel begraben worden war, erkannte sie: so geht es keinen Tag weiter. Und da raffte sie sich auf. Was war denn ihre Pflicht? Oder war es etwa nicht ihre Pflicht, Friedrich zu lieben? War er nicht gut? Nicht geduldig? Müßte es ihm nicht auch der Verstorbene danken, daß er sie und das Kind aus Sorge und Armut gerissen hatte?
Und außerdem: war es nicht ihr freier Wille gewesen, ihm zu folgen?
So brachte sie sich wieder ins Geleise zurück, und weil Friedrich gemerkt hatte, was in den letzten Tagen so erdrückend über ihr gelegen, nahm er diese Rückkehr als doppelt wertvolles Geschenk auf. Stille, ungetrübte Zeiten wurden es nun wieder. Das Rad ihres Lebens hatte neuen Schwung bekommen und lief von neuem hoffnungsvoll in die Zukunft hinein.
Bis eines Mittags im Spätherbst Friedrich einen Brief brachte, der Marias alte Adresse trug. Der Brief war ihm zugestellt worden, weil die Post von der eingetretenen Änderung wußte. Er kam von Axels Verleger, kündigte das Erscheinen einer neuen Auflage von Axels letztem Buch an und enthielt das Honorar.
»Was ist es für ein Brief?« fragte Friedrich.
Maria reichte ihm die Blätter mit fast zitternder Hand.
Friedrich las. Dann sagte er: »Hast du das Buch?«
»Ja.«
Sie war froh, für einen Augenblick aus dem Zimmer gehen zu können, und holte das Buch. Es steckte hinter gleichgültigen Bänden tief im Dunkel des Schrankes. Als sie es Friedrich brachte, nahm dieser es in die Hand und sagte: »Hat dein erster Mann viel geschrieben?«
»Vier Bücher im ganzen waren es.«
»Vier?«
Nun schwiegen sie.
Dann kam, Gott sei Dank, Axel herein. Sie wurden zum Mittagessen geholt. Beim Essen sowohl wie nachher während der Ausfahrt kämpfte Maria alle Lust zu schweigen tapfer nieder. Aber abends, als Axel zu Bett gebracht war und Friedrich sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, weil er noch arbeiten wollte, schloß sie sich ein und las das Buch. Drüben in seinem Zimmer las es zur gleichen Zeit Friedrich. Aber während Marias Herz im Lesen klopfte, während ihr auftauchendes Gedächtnis jedes Wort erhaschte, das jedem anderen Menschen fremd, ihr aber bekannt sein mußte wie ein Stück ihrer Seele, kam in Friedrichs ruhiges Gesicht ein überlegenes Lächeln. Und lächelnd las er weiter, als Maria schon lange von einem leidenschaftlichen Schluchzen überfallen worden war.
Drei Tage später kam er in ihr Zimmer, während sie dort nach Tisch ruhte. Er rauchte an einer Zigarette, warf sie aber alsogleich in ein Becken, nahm Marias Hand und sagte: »Dein Mann war ein Dichter?«
Sie sah ihn ruhig an und antwortete: »Ich meine wohl!«
»Und ich bin keiner.«
Sie sah ihn nur noch fester an. Etwas wie die Kraft großer Selbstentäußerung, wie die Kraft eines Geistes, dem alles Menschliche zu überwinden gegeben ist, flutete in ihr auf. »Es können und müssen nicht alle dieselben sein!« lächelte sie und drückte seine Hand.
»Ja,« sagte er und atmete tief auf. »Ich bin ein ganz anderer Mensch! ... Ein ganz anderer Mensch!«
Maria schwieg.
Aber noch einmal atmete er so tief auf. Und dann sah er Maria scheu an und sagte: »Darf ich dir heute von mir erzählend?«
Also war die Stunde gekommen, in der er zum erstenmal einer Frau sein Leben bloßlegte. – Er erzählte. Zuerst mit gesenktem Gesicht, stockend und schüchtern. Dann, als ob ihm während des Erzählens die Triebkräfte, die dieses Leben entwickelt hatten, in erschreckenden Visionen erschienen, grell, hastig, geradezu beichtend. Und so, als ob er sich Maria gegenüber immer leidenschaftlicher anklagte: siehst du, was für ein ganz anderes Leben habe ich gelebt als dein erster Mann!
Ein eigentümliches Leben war es gewesen. Ein Leben des absichtlichen Kampfs gegen alle Mächte des Gemüts; ein Streit von lauter ziffermäßig wertbaren Zwecken gegen alle Wünsche, Sehnsüchte und Befehle des Herzens. Ein Triumph des kühlen Abwägens, Berechnens, der List und Kühnheit, des unentwegten Vorteil suchens. Aus angesehener, aber armer Familie entsprossen, hatte er sich schon in der Jugend zurückgesetzt gefühlt und mit bitterem Haß auf die Reichgeborenen, Machtbelehnten, jeden Weg, der zu bescheidener Zufriedenheit führte, gemieden. Entweder hoch steigen oder am Boden liegen bleiben, war sein Grundsatz. Aber weil mit der zunehmenden Intelligenz auch die Begier nach den Gütern wuchs, die ihm versagt waren, gab er das Oder aus diesem Grundsatz bald auf und stürzte sich wild in die Jagd nach diesen Gütern. Geld und Macht! – Als simpler Praktikant trat er in eine Zündholzfabrik ein. Und kaum war ihm damit der Tritt ins Leben geglückt, warf er alle Regungen, Empfindungen, Träume, die ihn vom geraden Weg zu seinem Ziele etwa ablehren konnten, weg und ward rücksichtslos, bedenkenlos, brutal. Als er – sein Talent hatte sich gar bald erwiesen – aus einem Wechslergeschäft, in das er von der Fabrik übergetreten war, in die Kreditanstalt einer Provinzstadt berufen ward, hielt er das für wohlverdient und nur für die erste Sprosse der Leiter, die ihm zu ersteigen beschieden war. Er hatte recht. Als er sechs Jahre später Direktor des größten Bankinstituts im Lande wurde, fürstlich bezahlt und überall als Kapazität seines Fachs anerkannt, zählte er einundvierzig Jahre und viel mehr Neider. Warum sollte er nicht Finanzminister werden können?
Da aber, gerade nach diesem Ereignis, trat etwas Seltsames in ihm ein. Er fühlte sich noch jung, arbeitskräftig, leistungsfähig. Aber doch auch unzufrieden und leer. Er sah nun die, die ihn haßten, die die Püffe seiner Ellbogen zu spüren bekommen hatten, denen er das Glück abgejagt hatte. Und er sah, daß ihn zuerst einmal der Geruch des winkenden Reichtums gewissenlos gemacht hatte; einmal, nur einmal. Dann aber, ein zweites mal, hatte ihn der Duft der nahen Macht gewissenlos gemacht. Und dann, ein drittesmal –
Verachtete er sich eigentlich nicht? Verachteten ihn nicht alle? Und versprach da die Zukunft etwas Besseres? Befriedigung? .... Glück? ...
Da, in diesem Zustand, war er Maria mit dem Kinde begegnet ...
»Und nun möchtest du wissen,« fragte er, als er zu Ende war, »wieso ich, wieso dieser Mann zuletzt dazukam, die Witwe eines anderen zu heiraten und dessen Kind bei sich aufzunehmen?«
Maria schwieg. Sie konnte nur immerfort denken: ›Was für ein ganz anderes Leben als das Axels!‹
»Ich verstehe,« sagte er, indem er heftig aufstand, »daß du keine Antwort darauf weißt. Es ist mir ja selbst unerklärlich. Aber ich weiß nur so viel: ich sehnte mich nach euch, ich sehnte mich nach euch, Maria, ohne es zu wissen, lange, ohne es zu wissen ... und jetzt gebe ich euch nicht mehr her!«
Er ging rasch, in großer Erregung, aus dem Zimmer.
* * *
An diesem Abend, im Nachklang dieser bestimmten, fast drohenden Worte Friedrichs versank die halb mahnende, halb lockende Erinnerung an Axel von neuem in Maria. Kamen ihr je und je wieder nachdenkliche Stunden, die unwiderstehlich den Vergleich zwischen Axel und ihm aufzwangen und mit beharrlicher Stimme einflüsterten: ›Du hast dem Toten die Treue gebrochen!‹, dann kämpfte sie diese Stunden hartnäckig nieder und wiederholte sich die Worte Friedrichs: »Und jetzt gebe ich euch nicht mehr her!« Gehorchte ihr Herz aber auch diesen festen Worten nicht ganz, obwohl sie so klipp und klar sagten, daß es kein Zurück mehr gab, dann besänftigte sie es mit der Philosophie: die Treue kann nur einem Lebenden gewahrt werden! Und bewies sich gerade damit, daß Friedrichs Recht auf ihre Liebe auch nicht durch ein noch so treues Gedenken an den Toten verkürzt würde.
Hie und da schwankte freilich die Überzeugungskraft dieser Philosophie. Da war aber dann schon wieder ein Monat Zusammenlebens mehr mit Friedrich vorübergerauscht und hatte mit dem hellen Licht seiner Wirklichkeit die blassen Zweifel und Bedenken übertroffen. Und da, noch später, sich Jahreszeit an Jahreszeit reihte, ohne daß diese Wirklichkeit von einer anderen abgelöst wurde, war es keine Täuschung, daß Maria im zweiten Frühling ihrer Ehe mit Friedrich sich gestand: nun hat sich alles zum guten gewendet! Ihr Gesicht verlor die Schatten des ruhelosen Grübelns, mit inniger Lust sah sie, wie Friedrich immer stärker ihrem Leben und Wesen verwoben ward, wehrte sich nicht mehr gegen diese Eroberung und ließ es geschehen, daß die Vergangenheit nun endgültig versank ...
In diesem Frühling reisten sie nach Venedig. Klein Axel ward natürlich mitgenommen. Sein Entzücken auf der Fahrt war allein schon eine Quelle unerschöpflicher Freude für die Eltern. Wenn er, von allem was vorüberflog an hastigen Bildern zu Frage und Bewunderung angeregt, zwischen ihnen dasaß, das kluge Gesichtchen ans Fenster gelehnt, die Händchen aufgestützt auf Friedrichs Knie, und jede Antwort, die er gerne bekam, im schnellen Gehirn tiefernst überlegte, ruhte Marias Auge zuversichtlich auf ihm, und es bedrückte sie nicht mehr, daß alle Ähnlichkeit mit dem Gestorbenen aus diesem Gesichtchen verschwunden war.
In Venedig dann wartete eine andere Freude ihrer. Zum erstenmal seit Jahren fand sie ihr Auge wieder frei und offen. Alle düsteren Schleier waren von ihm verschwunden, es sah nimmer nur Dunkel und Trübung, sondern klar und freudevoll wieder das Helle und Heitere, dessen hier überviel und überall ausgebreitet war. Das Durcheinander der unzähligen Bilder, die Schritt auf Schritt und zu jeder Stunde völlig Neues zeigten und die sie zum erstenmal sah, verwirrte sie nicht. Wenn sich aber in ihrer schnell phantasierenden Seele Romanzen und Balladen bilden wollten, wenn sie auch in Sekunden fast dichterischen Schauens Kapitel einer Geschichte erlebte, die ebenso blutig und abenteuerlich als idyllisch und edel war: ihr neues Auge unterschied doch mit Sicherheit, was davon der wuchernden Poesie eines historischen Traumes und was der rauhen Wirklichkeit angehörte.
Noch weniger vergeblich hatte klein Axel an Friedrichs Hand gelebt. »Wohin fahren die Schiffe?« »Woher kommt dieser Neger?« »Wer hat diesen Palast gebaut?« »Wie kann er im Wasser stehen?« »Sind das Marineure?« »Ist das der Bischof?« Tausend Fragen tat er an jedem Tag! Und alle übersahen sie die bald sehnsüchtig süße, bald leidenschaftlich zwingende, bald kleinmütig müde Stimmung, die über Himmel, Wasserruhe und leuchtendem Stein hing, und packten trotz ihrer kindlichen Unbewußtheit nur das an, was das unerbittliche Gesetz des Werdens auch in diesem Stück Welt herrschend offenbarte; den Zweck alles dessen, was da gaukelte und schaukelte, die Voraussetzungen, unter welchen dieser Zweck erstrebt, und die Mittel, mit denen er erreicht worden war.
Friedrichs Auge aber leuchtete dabei. Als ob er sich unablässig sagen dürfte: ›Ich habe mich nicht geirrt! Maria gehört meiner späten Sehnsucht nach Liebe, dem Rest dessen, was in mir an Übersinnlichem noch lebt und das Kind dem Erbe meiner Weltüberzeugung! Schließe ich beide wahrhaftig in mich, dann erst bin ich ein Mensch!‹ – Und so ward er nicht müde, während er Schulter an Schulter mit Maria und klein Axel an der Hand Venedig durchstreifte, in Bildern und Vergleichen, die für ein kindliches Ohr und Auge faßbar waren wie Trompetenrufe und Farbenklexe, die Geschichte dieser Stadt und die zeugenden Kräfte ihrer Geschichte darzulegen: von den Anfängen des Pfahlbaus, durch Krieg und Sieg bis zur goldenen Macht der Serenissima; von dieser durch die fressenden Schäden von Hochmut, Überfluß und eifersüchtigem Hader zum Verfall; und von diesem durch eine Kette müder Erhebungen zum Untergang.
Und wenn er von diesem Untergang redete, konnte er schweren, fast träumenden Auges über die Stadt hinschauen, die hundert Hochzeitspärchen dazu benutzten, um die Tauben zu füttern, als berechnete er in mathematischer Formel den Fehler, den die Psyche und das Blut dieses Volkes begangen hatten. Aber dann, auf einmal, nahm er klein Axels Hand fester, und nun schien ihm diese Vision des Untergangs schon wie eine Torheit versunken. Er lächelte, zeigte auf den Schaft des wiedererstehenden Campanile hin, der aus dem Dächergewirr aufragte, auf die unzähligen Schiffe, die im Kanal der Giudecca lagen und auf deren Planken unzählige Rastlose gingen, trugen, schleppten, keuchten, und sagte zuversichtlich: »Aber, siehst du, Axel, sie haben schon wieder angefangen! Da drüben bauen sie den Turm wieder auf, hier laden sie Rosinen aus und Baumwolle und Kaffee, und in der Marina draußen – ich fahre dich morgen hin – laden sie Kohle in die Kriegsschiffe.«
All dem hörte Maria zu. Eifrig lauschend, als wäre auch sie ein Kind, geradeso wie klein Axel. Und obwohl sie den Unterschied, der da zwischen ihr und dem Kinde war, genau empfand, hatte diese Empfindung keinen bitteren Geschmack mehr. Im Gegenteil. Ganz anders als Friedrich und doch ähnlich wie er trug sie eine Hoffnung mit sich: ›Wenn ich zu verstehen lerne, wie er die Welt sieht, kann ich nicht ärmer, nur reicher werden! Denn wie man sie träumt, hat mir Axel gezeigt, und wie sie ist, sehe ich jetzt! Und so werde ich Sonne und Schatten, Wirklichkeit und Traum in meinen Augen haben – und also Gerechtigkeit in meinem Herzen!‹
Das erwog sie still in diesen Tagen. Und es war vielleicht die erste Frucht dieser Hoffnung, daß in einer der Frühlingsnächte, die sich so leise auf diese Tage niedersenkten, etwas in ihr wieder erwachte, was lange Jahre nimmer ihr Gut gewesen war.
* * *
Am Abend nach dieser Nacht fuhren sie vom Lido zurück in die Stadt. Das Meer war draußen an der Küste blau und rauschend gewesen, die roten Mauern der Diguen hatten blaß geleuchtet, taumelnde Segel aus sehnsüchtig verschwimmender Ferne sich aufgereckt, während die Sonne vom goldenen Himmel herniederglitt.
Nun war sie gesunken. Je weiter das Schiff sich vom Strande entfernte, um so schimmernder trat Venedig ihm zu. Prunkend wie Alpenglühen lag der Abend über den Kuppeln, Türmen, Simsen und Kapitälen, und als würde der Abend alleinig der Feier nicht Herr, rief er noch die Klänge verborgener Glocken zu Hilfe und die Ahnung geheimer Lieder, die in der Nacht erst sollten gesungen werden. Und je höher und glorreicher er stieg, um so milder und leiser wurde das Wasser. Wer auf Deck noch geredet hatte, schwieg jetzt, und nicht nur klein Axel schien mit wundernden Ohren wie einer ferne anhebenden Stimme zu lauschen, sondern auch der besonnene Mann neben ihm.
Fischerboote nahten sich. Dann überholte sie der Dampfer.
Ein Mönch, mit weißem Bart, in schäbigen, zimtbraunen Habit gehüllt, saß gekrümmt auf der Bank um den Kamin und betete in seinem abgenutzten Brevier.
Die Glocken aus der Stadt klangen jetzt lauter, stärker, als hätten sie den Beruf, alles, was außer ihnen da war an Leben und Laut, mit ihrem allmächtigen Ruf zu ersticken.
Plötzlich fragte klein Axel hell: »Was sind das für Vögel, Papa?«
»Möwen!«
Maria schnellte aus ihrer lauschenden Ruhe, als habe ein Schwert sie im Rücken getroffen.
»Sind es Seevögel?« fragte Axel weiter.
»Ja,« sagte Friedrich.
In diesem Augenblick aber hatte schon eines der schwärmenden Tiere sich aufs goldene Geländer des Decks niedergelassen und schaute mit scheuen, funkelnden Augen auf Maria, Friedrich und das Kind hin.
»Siehst du,« sagte Friedrich und hemmte Axels Händchen, damit seine Geste das Tier nicht scheue, und wollte eben beschreiben – da wurden Axels Augen starr vor Erstaunen. »Papa,« flüsterte er, »Papa, sieh, sie hat einen goldenen Ring um den Hals!«
Maria atmete wild. Zitternd an allen Gliedern und lauernd hinter Friedrichs Rücken verborgen, zielte sie ihre Augen auf das weiße Tier hin, grub sie in seinen funkelnden, scheuen Blick und keuchte in einer Angst, die alles Blut in ihr gefrieren machte.
»Was du nicht sagst!« lachte Friedrich zum Kind herab. »Einen goldenen ...!« Aber wahrhaftig! Nun sah er es auch: die Möwe trug einen goldenen Ring um den Hals.
»Mama,« Axel drehte sich in fliegender Geschäftigkeit nach Maria um, »Mama, sieh! Eine Möwe mit einem goldenen Ring um den ...«
»Pst!« machte Friedrich.
Zu spät! Mit einem klatschenden Geräusch stürzten der Möwe Flügel schon auf und trugen sie wie einen Pfeil in weitem Bogen aufs Wasser zurück.
»Papa erzähle,« heischte Axel erregt, indem er mit flackernden Augen der Möwe nachsah, »gibt es denn Möwen mit goldenen Ringen? Woher kommen die?«
Aber Friedrich hatte nun Maria bemerkt. »Was ist denn, Maria?« rief er erschreckt und beugte sich zu ihr nieder. »Um Gottes willen, was ist denn?« Und auch Axel sah nun die Mutter, die im Gesicht weiß war wie Marmor. »Mama, Mama, was hast du denn?« Sie wehrte sie aber beide von sich mit einer fast feindseligen Heftigkeit und erhob sich. Da stand sie zuerst wankend, als risse das Fieber ihren Körper hin und her, und nahm dann, als sie die Herrschaft über ihn wiedergewonnen, das Kind mit hartem Griff an die Hand und zog es rasch an die Landungsbrücke.
»Aber wir sind ja noch gar nicht da!« rief ihr Friedrich verblüfft nach und eilte hinter ihr her.
Allein das hörte sie gar nicht. Sie blieb vor dem Ausgang stehen und begann wie bewußtlos den Boden zu stampfen. Und dies Stampfen, diesen leisen, herzschlaggleichen Tritt setzte sie allen Fragen und Reden Friedrichs zum Trotz so lange fort, bis der Dampfer endlich anlegte. Als die Brücke gezogen war, hob sie klein Axel auf ihre Arme, drängte sich gewaltsam vor und stieg als erste an Land. Wie sie den Fuß auf den Stein setzte, kam ein Wort aus ihrer Brust, das niemand verstand. Nur der Mönch im zimtbraunen Habit, der die ganze Szene aufmerksam betrachtet hatte, lächelte schwermütig in seinen weißen Bart, schaute ihr so lange nach, bis auch sie sich nach ihm umwandte, und schlug dann das Brevier zu. Und wartete nun ergeben und bescheiden, bis alle ausgestiegen waren.
* * *
Und nun war alles verändert. Alles! In einer Sekunde hatte sich alles verändert. Axel war wieder da!
In der Nacht fieberte Maria. Glühen und Eiseskälte überrannen abwechselnd ihren Leib. Friedrich wollte bei ihr wachen. »Du bist krank!« sagte er mit seiner angstvollen, liebereichen Stimme. »Laß mich nur bei dir bleiben!« Und obwohl sie sich gierig danach sehnte, allein zu sein, wagte sie nicht, ihm Nein zu sagen. Duldete seine Sorgfalt mit einem geheimnisvollen Lächeln. Denn noch hoffte sie, daß nach ein paar Stunden der Alp, dieser furchtbare Alp von ihr verschwunden sein würde.
Als aber der Morgen kam, fuhr sie neben dem schlafenden Friedrich jäh in die Höhe: Axel stand vor ihr! Ja! Axel! Er war wieder da! Und nun wußte sie, daß diese Erscheinung nimmer von ihr weichen würde!
Sie wich auch nicht mehr.
Bei Tag, bei Nacht – überall, immer war jetzt Axel bei ihr! Ganz lebendig. So wie er damals am Gardasee neben ihr gewesen war. Mit sehenden Augen, mit natürlichen Bewegungen, mit sprechendem Munde. – Und was dieser Mund redete! Nicht etwa einen Vorwurf oder eine Anklage sagte er; kein einziges, kleinliches Wort. Nicht etwa sagte er: ›Maria, wie war es nur möglich, daß du mich vergessen konntest!‹ Nein! Er lächelte sogar! Er sagte nur: ›Du hast geglaubt, ich sei weggewesen! Aber ich bin niemals weggewesen! Ich war immer bei dir!‹ Tausendmal, unablässig sagte er das! Und sie, sie glaubte es ihm! Sie konnte keinen Augenblick mehr an der Wahrheit dieser Worte zweifeln. Ja, er war immer dagewesen! Er hatte alles mit angesehen! Alles angehört! Alles erraten! Er war ihr ständiger Begleiter gewesen, während sie Friedrichs Frau war, während klein Axel den neuen Papa liebgewann, während sie sich immer weiter von ihm entfernen wollte, während sie ...
Während sie ihn langsam vergaß ...
Sie stand oft stundenlang vor diesem Gedanken. Als ob dieser Gedanke ein Bild wäre oder eine Flamme, die ihre Augen unerbittlich anzog. Und jedesmal warf sie, als könnte sie nun die brennenden Strahlen dieses Bildes, die züngelnde Blendglut dieser Flamme nicht mehr ertragen, die Hände vors zuckende Gesicht und stöhnte: »Du bist immer dagewesen, und ich habe dich nicht gesehen! ...«
Als sie die Qual dieser Vision nimmer aushielt, drängte sie von Venedig fort. Aber zu Hause ward ihr nicht leichter. Axels Mund redete hier noch deutlicher, noch lebendiger. Sein Bild wurde von Tag zu Tag nur noch wirklicher, während alle Bilder, die ihrer zweiten Ehe angehörten, von Tag zu Tag mehr verblaßten. Als ob alles, was sie seit Axels Tode gelebt hatte, nur ein Traum gewesen wäre, verblaßten sie und verloren jeden Zusammenhang mit ihr. Wenn sie in ihrem Zimmer saß, allein, abgesperrt, dann konnte sie sich derart genau vorstellen, Axel hielte sie an der Hand, daß sie plötzlich zu ihm redete. Laut. Und während sie ihm erzählte, kam es wie eine Erleuchtung über sie, daß sie Friedrich ja gar nie geheiratet hatte, daß er sie niemals besessen, daß sie Axel niemals verlassen hatte, – denn das alles war ja völlig unmöglich gewesen! Es war ja Axel dagewesen! Und nur der war ihr Gatte!
Sah sie dann Friedrich, dann kam ihr dies alles noch viel schärfer zur Überzeugung. Friedrich? Ein Fremder. Ein ganz Fremder! Der hatte nichts mit ihr zu tun! Und war er wieder gegangen, dann saß plötzlich ein brennender Stachel in ihrer Brust und begehrte dringend und fest: Handle!
Handeln? Jawohl! Ja! Aber wo sollte sie damit beginnen?
Eines Abends erhielt sie unversehens Antwort auf diese beißende Frage. Klein Axel sollte zu Bett gehen. Sie führte ihn in sein Zimmerchen wie immer und entkleidete ihn. Und als er dann im Nachthemdchen vor dem Bett stand, kniete sie davor nieder und hieß auch ihn niederknien. »Nun wollen wir beten, Bubi!« sagte sie. Und hierbei war es, daß ihr plötzlich der Gedanke kam: »Beim Kinde mußt du beginnen!«
Klein Axel sah sie verwundert an. »Papa betet nie!« sagte er.
Da wurde ihr Mund schon bitter, und eine Welle heißer Scham stieg schon in ihr auf. »Bete!« befahl sie. »So, wie ich's dich früher gelehrt habe: Vater unser, der du bist ...« Axel faltete nun wohl die Hände, weil sie ihm die Hände ineinanderlegte. Aber seine Miene ward trotzig. »Bubi, sage mir's schön nach: Vater unser ... der du bist ...« Verzweifelte Tränen würgten sie. »Vater unser, Bubi! Vater ...«
»Papa!«
Friedrich war in diesem Augenblick eingetreten. Das Kind flog ihm stürmisch zu, als müßte er es schützen. »Papa, Mama will, daß ich beten soll!« rief er schnell anklagend und versteckte sich hinter Friedrich.
Friedrich lächelte. »Die Mama will, daß wir beten? – Jetzt auf einmal?«
Maria stand vom Boden auf. »Axel hat es gewollt!«
Friedrich gab es einen Ruck. Nicht die Worte, aber der Ton dieser Worte verletzte ihn. Vielleicht überlegte er zu lange, was er sagen wollte, darum brachte er endlich fast heftig heraus: »Sein Vater bin ich!«
»Nein, du bist es nicht!«
Er blickte sie groß an. Lange. Zuletzt sah er, daß sie auf ihn zukommen wollte. Da stellte er das Kind von sich und ging aus dem Zimmer ...
Nun weinte klein Axel. Aber Maria blieb fest. Denn nun sah sie, was sie bisher nur als dunkle Mahnung empfunden hatte, vollkommen klar vor sich. Sie hatte Axel verraten! Sie hatte sich ihm geraubt! Sie hatte, während er immer noch da war, sich aber nicht wehren konnte, sein Erbe vertan, seine Liebe vergessen, seine Ziele vergraben, sein Kind verschenkt! Schon im Grabe, hätte er trotzdem noch leben können, hätte sie sich und das Kind ihm bewahrt! So aber hatte sie ihn tot gemacht, geistig tot, ihm die Ewigkeit gestohlen, die sie ihm zu geben gelobt hatte.
Sie riß das goldene Gitter des Betts herab, und mit einer Inbrunst, deren Flammen aus ihren leidenschaftlichen Augen sprühten, umarmte sie das Kind. In der Brust drin bohrten ihr schneidige Schwerter, aber in derselben Brust brauste ihr eine heilige Gewalt, die sie unendlich stark machte. Noch konnte Axel gerettet werden. Noch war es nicht ganz zu spät! »Bubi,« sagte sie in heißer Hast, während ihre zitternden Hände durch das Blond des kindlichen Haars fuhren, »heute will ich dir von deinem Papa erzählen! Komm, ich will dir alles erzählen, was du noch nicht weißt!« Aber Axel ließ sich nicht an ihrer Brust betten. Er entglitt müde ihren werbenden Armen und schloß schläfrig die Augen über dem krampfhaft liebkosten Kissen. Er wollte heute nichts mehr hören.
Trotzdem gab sie nicht nach. »Es war einmal,« fuhr sie mit bebender Stimme fort, »ein Papa, der hat deine Mama sehr lieb gehabt, und die Mama hat ihn sehr lieb gehabt. Und da bist eines Morgens du gekommen. Und wie du kamst, hat dich Papa an sein Herz genommen und geküßt, und immer geküßt und gesagt: ›Das ist mein Fleisch und Blut ... mein Gedanke, meine Liebe ...‹« Sie setzte plötzlich aus, als verließe sie das Denken, und beugte das Gesicht tief über die schluchzende Brust. Das konnte Bubi ja alles nicht verstehen!
Aber das Kind schlug nun doch das Auge zu ihr empor und lauschte. So zwang sie sich weiter. »Du bist zwei Jahre alt gewesen, da starb dieser Papa. Weißt du ... so wie Peter, deine Puppe, gestorben ist. Eines Tages war Peter tot, er konnte die Augen nicht mehr aufbringen, und da hast du ihn unten im Garten unterm Fliederbaum ein Grab gemacht, und da liegt er heute noch!«
»Peter!« flüsterte nun klein Axel.
»Ja, so starb Papa. Und bevor er starb, hat er gesagt: ›Sage Bubi, er soll seinen Papa immer lieb haben!‹ Weißt du?«
Wieder setzte sie aus. Hatte er das gesagt? Nein, er hatte es nicht so gesagt, aber ...! Sie zitterte am ganzen Leibe. Er hatte es doch gesagt! Und sie hatte es vergessen! ...
»Und dann hat Mama eines Tags einen neuen Papa gebracht, einen ganz neuen ... und, nicht wahr, Bubi ...« – sie beugte sich in würgendem Weh, in bitterster Scham über das Bettchen – »nicht wahr, Bubi, das war nicht schön von Mama? Denke dir, Peter, der arme Peter, der immer bei dir schlafen gedurft hat, den du immer in die Sonne getragen hast, überallhin mußt' er dich begleiten, überallhin ... der liegt im Grabe, und es schneit darauf, und er war immer so lieb, so gut mit dir, er hat alles getan, was du wolltest, und nun liegt er im Grabe, und Mama bringt dir einen neuen Peter, und du willst nun den neuen Peter lieb haben, viel lieber als den alten ... und der alte, im Grabe unten, der sieht das, er hört das, er fühlt das ...«
Sie fuhr schaudernd empor vom Bettchen, ihr Gesicht war schneeweiß: Das Kind schlief!
Alles war zu spät ...!
Sie lief nun in einer tollen Jagd durch die Säle, bis sie in ihrem Zimmer war. Dort blieb sie einen Augenblick stehen und besann sich. Aber ehe sie zu einem klaren Gedanken gekommen war, trieb sie die heiße Hast, die in ihr raste, schon wieder weiter, diesmal bis vor Friedrichs Türe.
Sie pochte nicht an. Da war ja Friedrich! »Friedrich,« sagte sie, kaum eingetreten und jetzt in völliger Ruhe, »ich und das Kind, wir müssen fort von dir!«
Friedrich hatte sie erstaunt angesehen, als sie so wie ein Gespenst hereingeschlüpft war. Jetzt stellte er besonnen die Lampe auf seinem Tisch so, daß er Maria gut sehen konnte. Und als ob er lange schon derartiges geahnt hätte, sagte er ruhig: »Warum?«
»Weil es falsch ist, wenn wir noch bleiben. Falsch!«
»Wenn es jetzt falsch ist,« blieb Friedrich bei seiner Ruhe, »dann war es ja immer falsch.«
»Ja.«
»So?«
»Aber ich habe es erst jetzt so erkannt.«
»Wann?«
»In Venedig.«
Nun bekam Friedrich eine schwere, fast eine drohende Stimme. »Damals auf der Heimfahrt vom Lido.«
»Ja«
»Wieso?«
Sie setzte sich tapfer nieder. Dann, im vollen Anblick seines mühsam beherrschten Gesichts, erzählte sie von der Möwe mit dem goldenen Ring. Sie erzählte langsam, mit jedem Wort die Wohltat genießend, die dies Bekennen gab, die Befreiung auskostend, mit diesen klaren Worten aus dem Wunderbaren jenes Begebnisses zur verstandesmäßigen Einsicht zu kommen, daß dies Wunderbare nur einen selbstverständlichen Prozeß beendet hatte. »Du wirst nun verstehen!« sagte sie, als sie fertig war.
Er nahm ein silbernes Falzmesser vom Tisch und hämmerte damit auf die Aschenschale, daß es hell klirrte. Dabei schienen seine Augen eine ermüdende Forschung in einer unergründlichen Tiefe zu tun, sie umzogen sich mit Schleiern, wurden groß und größer. Maria fürchtete sich vor ihnen.
»Siehst du, Maria,« sagte er dann, diese Augen plötzlich zu ihr aufschlagend, »das mußt du mir doch noch ein bißchen erklären!«
»Wie erklären, Friedrich?« Noch erklären? Sie schüttelte den Kopf. »Wie denn noch erklären, Friedrich?«
»Wie denn noch erklären? – Verständlich machen mußt du mir, wie denn eine Möwe, eine ganz gewöhnliche Möwe dazu kommt, dir plötzlich ...«
»Aber das alles ist doch so einfach!«
»Einfach?« Er rückte den Stuhl und sah sie scharf an. »Einfach? Wenn es einfach ist, dann hast du mich also angelogen damals, als du Ja sagtest!«
Es tat ihr fast wohl, daß er ihr mehr vorwarf, als wessen sie sich anklagte. Darum widersprach sie auch nicht. »Es ist alles meine Schuld!« sagte sie.
»Du hast eben so gedacht: ›Nachdem mir dieser Mann starb, bin ich ohnedies mit aller Liebe zu Ende; ich kann also wohl einem neuen den Gefallen tun!‹«
»Es ist alles meine Schuld!«
Er sprang aus dem Sessel. Hochrot war er im Gesicht. »Dann, Maria, – haben wir gegenseitig eine Gemeinheit begangen, willst du mir das sagen?« Er stand groß und zornig vor ihr. So kannte sie ihn noch nicht. »Ich, indem ich darauf pochte, dir das Gedächtnis an ihn zu töten, und du, indem du das duldetest? Was?«
»Alle Schuld trifft mich allein! Dich keine! Darum komme ich ja auch, zu bitten, daß du mir meine Schuld verzeihest. – Damit ich dann gehen kann!«
Nun schwindelte ihn. Er griff sich an die Stirne. »Verzeih, Maria, aber das ist ja alles ein grenzenloser Unsinn.«
»Es scheint so, ja. Aber es ist Ernst!«
Er wollte sich aber noch einmal zwingen und lächelte geduldig. »Du bist erregt, Maria,« sagte er gutmütig. »Du bist vielleicht ein bißchen angegriffen ...«
»Ich bereue alles, Friedrich,« fuhr sie jedoch fort und überhörte ihn völlig, »was ich dir angetan. Von ganzem Herzen! Aber es geschah ohne klares Wissen! ... Doch nun, da ich klar bin und es dir gesagt habe, würde ich nichts mehr bereuen, was dich schmerzen müßte; denn nun muß ich Axel leben!«
Er begann mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ja! Ich muß! Und auch das Kind muß seinem Vater leben! Wir haben ja Axel gemordet; das Kind und ich!«
»Wenn ich mich aber wehre, Maria?« Er blieb vor ihr stehen.
»Du kannst dich nicht wehren, Friedrich!«
»Ich kann nicht?« Er faßte sie an den Schultern, als wollte er eine Wahnsinnige zur Vernunft bringen. »So bedenke doch nur, was du redest! Er ist tot ... und ich lebe!«
»Er ist aber nicht tot. Das ist es ja!«
Nun sah er sie hilflos an. Was war denn mit dieser Frau geschehen? Er setzte sich in seinen Stuhl, nahm wieder das Papiermesser und hämmerte auf die Aschenschale. Maria schaute ihm völlig ruhig zu. So verging eine Viertelstunde.
Endlich aber erhob er sich, trat zu ihr hin und sagte leichthin: »Diese Geschichte von der Möwe, Maria, ist die reinste Gespenstergeschichte. Du wirst sehen, sobald wir vernünftig darüber reden ... komm, laß uns vernünftig darüber reden!« Und wollte sie an sich ziehen.
Aber sie entriß ihm den Arm. Mit einer schleudernden Bewegung warf sie sich auf den Teppich nieder, kniete vor Friedrich hin, blickte ihn mit beschwörenden Augen an und rief: »Friedrich ich bitte dich, – ich bitte dich: sage Ja! Mit meiner gequälten Seele, die ihn liebt, ihm die Liebe gebrochen hat, von allen Bissen der Reue gefoltert ist, die nur mehr ihn sieht, nur mehr ihn, als wäre er auferstanden, als wäre er da, neben mir, Tag und Nacht, flehe ich dich an: sage Ja!«
Er stand wie gelähmt. »Nein!« sagte er tonlos. »Niemals!«
»Ich ringe die Hände zu dir, Friedrich! Ich bin ja trotz alledem seine Frau geblieben, immer, ohne daß ich es wußte, es mußte ja auch so sein, es war ja anders gar nicht möglich, – und jetzt, jetzt kann ich nicht mehr zweifach leben, denn jetzt läßt er es nicht mehr zu, Friedrich, ich flehe dich an, ich flehe ...«
Jetzt konnte er sich nimmer beherrschen. Mit seinen starken Armen hob er sie auf, so wie sie flehend da lag, trug sie durch den großen, halbhellen Raum bis zur Türe hin und stellte sie in der Schwelle der Türe nieder. Und als sie da stand, verzerrten Gesichts, unausgefochtenen Kampfs, schaute er sie aus seinen entschlossenen Augen noch einmal an, trat dann fest in den großen, halb dunkeln Raum zurück und zog hinter sich die Türe zu.
* * *
Aber er kannte die Kraft dessen nicht, der gegen ihn kämpfte. Der die Seele seiner Frau, als habe sie jahrelang in blütenloser Brache gelegen, verschwenderisch nun mit neuen Blüten überschüttete. Aus allen Sonnenstrahlen des Tages ihr seinen Leib neu auferstehen ließ, lichtvoll, wandelnd, überreich an Liebkosungen, die nur er geben, mit denen allein die Seele dieser Frau genug haben konnte. Und der in den Nächten ihrer angespannten Schlaflosigkeit alle seine von ihr schon vergessenen Gedanken und Träume wiedergab, so als läge er neben ihr, ihr einziger Geliebter, ihr Gefährte für immer und ewig, der nun, da er ihr Erwachen sah, sagen konnte: Du hast mich doch nicht vergessen! Die Kraft des Toten kannte er nicht! ...
Als Maria am Morgen nach diesem Abend an seiner Türe pochte, hielt er darum die Wandlung in ihr schon eingetreten. Sie kam nun gewiß lächelnd zu ihm und bat, er solle vergeben; sie wisse nicht, was gestern abend in einem Anfall unerklärlicher Überspanntheit über sie gekommen sei.
Aber sie hatte das Kind an der Hand und war zum Ausgehen bereit. Ein Kleid trug sie, das aus ihrer Witwenschaft stammte, und Axel hatte sie das billigste seiner Matrosenkostüme angelegt.
»Nun sind wir da, Friedrich!« sagte sie leise und hielt den Knaben zurück, der schon ungeduldig aus ihrer Hand drängte. »Wir wollen, bevor wir gehen, dem Papa danken ... Nicht wahr, Bubi? ...« ängstlich und unsicher sah sie zum Kinde nieder ... »nicht wahr, wir wollen Papa danken, weil er so lieb und so gut mit uns war?«
Friedrich setzte sich nieder. Nach langem Schweigen, währenddessen er unentwegt klein Axel ansah, der nicht wußte, was heute vorging, sagte er ruhig: »Und wohin willst du gehen?«
»Ich will es machen wie ... vorher. Ein kleines Quartier mieten und arbeiten.«
Wieder schwieg Friedrich. Er war bleich bis in die Haarwurzeln.
»Und Wir wollen nun bitten ...« begann Maria von neuem, jetzt schon in sinkender Kraft.
Da hob Friedrich den Kopf. »Axel,« rief er, »komm zu mir!« Axel machte sich aus Marias Hand frei und lief zu ihm hin. Ohne weiteres setzte er sich lachend auf seine Knie. »Sag' einmal, Bubi, hast du Papa lieb?«
Das Kind warf einen mißtrauischen Blick auf Maria zurück, und diesen Blick in seinen Knabenaugen behaltend, schlang es die Arme um Friedrichs Hals und küßte seinen Mund.
»Und würdest du von Papa weggehen wollen?« Friedrichs Stimme zitterte.
»Ich bleibe immer bei Papa!« sagte Axel bestimmt.
»Und wenn Mama ginge?«
»Ich bleibe immer bei Papa!«
Friedrich stellte den Knaben auf den Boden, nahm ihn an der Hand und trat vor Maria hin. »Hast du nun das Herz dazu?«
Sie sah ihn verzweifelt an. »Friedrich, ich muß es haben!«
»Du hast mir das Kind geschenkt. Und nun nimmst du es mir!«
»Aber vorher habe ich es ihm geschenkt und ihm genommen. Diese Schuld muß ich zuerst abbüßen.«
»Ich gebe es aber nicht her!«
»Aber« – sie streckte hilflos die Hände nach ihm aus – »Friedrich, ich darf nicht allein zu Axel kommen!«
»Dann ...« – er stieß ihr das Kind entgegen, daß es mitten in ihre angstvoll aufgeschreckten Arme flog – »dann laß das Kind selbst entscheiden! Wir wollen sehen!«
Maria starrte ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf, als könnte sie nicht begreifen, warum er sie für eine Irrsinnige hielt. Aber als sie ihre Hand, die qualvoll zitterte in der ihr aufgezwungenen Pflicht, das Leben eines Lebendigen zu zerstören, um das eines Toten zu retten, auf des Kindes Scheitel legen wollte, war ihr Axel schon entglitten. Aufkreischend, als drohe ihm eine unheimliche Gefahr, mit weit ausgebreiteten Armen, flog er Friedrich zu und barg sein furchtsam schreiendes Gesichtchen an seinen Knien.
»Siehst du!« Trotz des Fiebers, das ihn im Anblick der unkenntlich veränderten Frau schüttete, lächelte er stolz. »Siehst du?«
* * *
»Axel will nicht mitkommen!« klagte sie auf Axels Grab. Es war Mai, auch über allen Gräbern funkelte und wucherte die große Pracht des allfarbigen Blühens. »Axel, unser Kind, will nicht mitkommen! ... Aber ich werde warten, Axel!«
Sie wartete. Aber Friedrich besann sich nicht anders ...
Einmal, von seinem Schmerz verzehrt, sagte er: »Warum fliehst du denn nicht und raubst das Kind?«
Darauf sagte sie: »Bevor du nicht verstehst, daß ich gehen muß, darf ich nicht gehen! Ich lüde sonst neue Schuld auf mich.«
»Mir gegenüber?« lachte er gezwungen.
»Ja! ... Du darfst aber, weil ich das sage, nicht glauben, ich bin verrückt ...«
Etwas Ähnliches glaubte er; sie sah ganz richtig. Er war jetzt fast immer allein, und immer grübelte er nur über das eine nach: wie heile ich sie? Er war nicht der Mann, der in der Frauen Seele lesen konnte wie in der eigenen, und er wußte das. Trotzdem, davon war er überzeugt, mußte es ein Mittel geben, das die ganze Verzauberung Marias mit einem Schlag aufheben konnte. Und wenn nicht das erratende Gemüt, so mußte es doch sein findiger Verstand entdecken.
Und eines Morgens hielt er es für entdeckt! Strahlend kam er ins Frühstückzimmer. »Maria,« sagte er, »ich verreise heute auf ein paar Tage. Geschäftlich.«
»Wohin?«
Da sank der Schimmer von seinem Gesicht. Die Furcht, mit dieser Reise Maria der Versuchung einer Flucht auszusetzen, brannte in ihm böse auf. »Nach Wien, vorerst,« antwortete er mühsam.
Maria bemerkte seine Furcht. »Du kannst ruhig reisen,« sagte sie. »Axel soll dich empfangen, wenn du wiederkommst.« –
In diesen Tagen von Friedrichs Abwesenheit bewies Maria den größten Mut, die größte Standhaftigkeit. Obwohl sie unablässig geheime Zwiesprache mit dem Toten hielt, der sie als bewegtestes Leben erfüllte, obwohl sie aus diesen Zwiegesprächen klar seine Bitte vernahm: zögere nicht mehr, werde nicht schwach! und obwohl sie ihm darauf heilig versprach, mit tausend liebreichen, tröstenden Worten, daß sie standhaft sein werde, tat sie ihre Pflicht als die Frau des Abwesenden getreulich! Sie besorgte das Haus ohne jedwede Nachlässigkeit, sammelte auf seinem Schreibtische die Briefe, die für Friedrich eingelangt waren, gab dem Gärtner Anweisungen, daß er für die kommende Woche Rosen bereithalte, weil Friedrich ein Herrensouper haben sollte, und trennte sich keine Viertelstunde vom Kinde, dem der Streit zwischen Vater und Mutter bereits entglitten war. Axel machte seine Aufgaben, ging nachmittags mit ihr aus, durfte einmal ein Pferderennen ansehen, einmal japanische Briefmarken einkaufen, und plauderte bei all dem lebhaft und vertraut mit ihr, begab sich ihr ganz und gar, so daß sie hundert Gelegenheiten gehabt hätte, sich seines Willens zu versichern und auf ihn Einfluß zu nehmen. Aber nicht ein Wort verriet auch nur schmeichelnd oder listig dem Kinde ihren Plan. Eine kühle, klare Stärke war in ihr, die nichts Grausames hatte, aber auch nichts Schwaches, die deutlich übersah, welche Wunden sie riß, wenn sie nach dem handelte, was ihr Innerstes gebot, und trotzdem wußte, daß sie so handeln würde ...
Am fünften Abend nach seiner Abreise kam Friedrich zurück. Er war erstaunt, Maria und das Kind wirklich auf dem Bahnhof zu finden, und als ihn Maria mit freundlichem Willkommen empfing, zog ein hoffnungsvolles Lächeln über sein Gesicht. Vielleicht war die unerklärliche Verzauberung schon, während er weggewesen, von Maria verschwunden, dachte er im stillen, und sah mitleidig auf ein kleines Kistchen aus dünnem Holz herab, das er dem Diener nicht überlassen hatte und nun selbsteigen bis zum Wagen trug.
»Und es geht dir gut?« fragte er, als er im Wagen saß, das Kistchen auf den Knien und Axel an der Hand.
»Danke,« sagte Maria gleichmütig. »Und du? Hast du eine gute Reise gehabt?«
»Eine sehr gute Reise.« Er lächelte ein wenig. »Sogar eine sehr gute Reise.«
»Und was ist in diesem Kistchen drin?« wagte nun auch Axel zu fragen.
»Später!« tröstete Friedrich und zog das Kistchen enger an sich. »Später, Bubi. Wenn wir zu Hause sind ...«
Zu Hause ließ er dann Maria und Axel feierlich in sein Zimmer eintreten und sperrte hinter ihnen beide Türen ab. Dann stellte er das Kistchen auf seinen Schreibtisch, zerbrach mit seinem Federmesser vorsichtig eine der Holzwände und schaute, bevor er ganz öffnete, gespannt zu Maria und dem Kinde empor. »Ich habe euch etwas sehr Schönes mitgebracht,« sagte er, mit einer Stimme, die nur allzu deutlich die Erregung verriet, die jetzt in ihm wogte. »Wollt ihr es sehen?«
Maria blickte ihn traurig und enttäuscht an. ›So will er uns also durch ein Geschenk fangen?‹ dachte sie. Aber da war Axel schon an den Tisch hingeeilt und rief jubelnd: »Schnell, Papa, schnell!«
Das Federmesser tat noch einen Schnitt, die letzte Holzsprosse brach ab und aus dem viereckigen Dunkel flog pfeifend und flügelklatschend eine Möwe.
»Die Möwe! Die Möwe,« rief Axel wie besessen, »die Möwe mit dem goldenen Ring!« Und, einen Stuhl umstoßend, ein Tischchen mit Büchern umwerfend, jagte er der Möwe, nach, die wild und laut flügelschlagend im Zimmer kreiste und im wirren Wirbel ihrer verzweifelten Bewegungen den goldenen Ring blicken ließ, der ihr am Halse hing.
Maria war auf einen Sessel niedergesunken. Sprachlos starrte sie Friedrich an.
»Ja,« sagte der langsam, »die Möwe mit dem goldenen Ring, Maria. Ich habe sie gefunden. Sie ist es.«
»Fange sie, Papa, fange sie!« rief Axel, immer noch hinter dem kreischenden Tier einherlaufend. Aber Friedrich achtete seiner nicht mehr. Mit lauerndem Blick, mit einem fast kindhaften, überraschungsfreudigen Lächeln beobachtete er Maria, die nun die Hände erhob, sie schluchzend vors Gesicht legte, und das Gesicht mit diesen weinenden Händen tief sinken ließ.
Diese Gebärde griff ihm ins Herz. Sie verzehrte sofort seinen Mut. Einen Augenblick zweifelte er auch, ob er weiterreden sollte. Aber es war doch wohl notwendig, einen Augenblick lang hart zu sein, wenn die Heilung gelingen sollte.
»Ich bin nämlich in Venedig gewesen,« fuhr er darum unsicher fort, »und habe alle Lidodampfer abgesucht. Alle! Von morgens bis abends. Und auf jedem habe ich gefragt: Haben Sie hier eine Möwe mit einem goldenen Ring um den Hals?« Er sah prüfend auf Maria hin. Aber sie schien nicht zu hören. Sie saß unbeweglich, das Gesicht in den Händen verborgen.
»Es kam mir selbst etwas lächerlich vor, aber ich hatte mir's in den Kopf gesetzt: ich werde die Möwe mit dem goldenen Ring finden.« Wieder blickte er Maria an. Veränderte sich denn gar nichts an ihr? Ahnte sie den Zusammenhang noch nicht?
»Und ich hatte recht. Ich fand den Dampfer wieder, auf dem wir gefahren waren, und auf diesem Dampfer ...«
»Papa, ich hab' sie!« stürzte gellend Axel herbei, das kreischende Tier ins Nest seiner Hände zwingend. »Mama, ich hab' sie!«
Friedrich zog mit einer festen Entschlossenheit den Knaben zu sich her und versuchte, den Kopf der Möwe aus der Furcht emporzurecken. »Und auf dem Dampfer da fand ich sie. Sie gehört dem Kapitän des Dampfers, Barcaccia, – und sie gehörte ihm schon, als er vor sieben Jahren Kapitän des ›Zanardelli‹ auf dem Gardasee war. – Das ist des Rätsels Lösung, Maria!«
Maria schüttelte ihre Hände ab und sprang, bebend am ganzen Körper, auf. »Das ist erlogen!« Axel drehte den Kopf. Was geschah denn da? »Das hast du erfunden, Friedrich!« Friedrichs Gesicht überzog sich mit furchtbarer Blässe. »Das ist die falsche Möwe, Friedrich! Ich weiß es!«
Ihr Atem keuchte. Friedrich hielt das lodernde Gesicht für ein Bild wahnsinnigen Zornes. Den Ton dieser schneidenden Stimme für ein Wort der Verachtung. Er sah nicht die hilflose Rührung, die das arme Weib über seine kindliche List ergriffen hatte, nicht den furchtbaren Zwiespalt, der jetzt, in letzter Stunde, in ihr sich auftat. Und sagte kein Wort.
»Und wenn es die echte wäre, Friedrich!« ... sie stand vor ihm, der verkörperte Pulsschlag einer aufgerüttelten Seele ... »hast du denn glauben können, daß ich mich vom Blick eines Tiers, vom Blinken eines Rings, von einem Zufall, vom Spiel eines gedankenlosen Zufalls bestimmen ließ? Und hast du nicht vielmehr verstanden, daß es so zuging, daß dieser Zufall nur die Spannung löste, die lange schon da war? Daß er der letzte Tropfen gleichsam war ... Friedrich, verstehst du mich jetzt?«
Einen Augenblick ließ er das Haupt tief sinken. Wie ein getäuschtes Kind. Wie ein ertappter, ungeschickter Lügner, wie ein innerlichst von Überlegenem Durchschauter. Und immer tiefer wollte ihm das Haupt sinken, bis er sich plötzlich emporriß. Sein Mund schien ein mordendes Wort auszusprechen, so verzerrte er sich, während der Arm aus der Starre schoß und dem spielenden Kinde die Möwe entriß.
»Papa!« schrie Axel auf. »Papa!«
Aber da fiel der Körper des Tiers schon, im Erdulden des Mordes leise aufsingend, zuckend mit den Flügeln, in weitem Bogen auf den Boden hin.
»Papa!« rief Axel zum dritten Male, »Papa!«
Friedrich tat einen langen, schmerzlichen Blick. Einen Blick, der sah, wie im Dunkel des Sterbens der goldene Ring der Möwe verglomm, wie Axels Auge anklagend zu ihm aufloderte, wie Axel mit einer empörten, hastvollen Gebärde sich von ihm abkehrte und an den Rock der Mutter klammerte. Und frei und offen, die ganze Niederlage, die dieser Blick ihn lehrte, bekennend, trat er nun vor Maria und das Kind hin und sagte: »Jetzt könnt ihr gehen, Maria! ... Alle beide!«
Maria zuckte zusammen und sah ihn groß an. Lange. Und tat dann endlich einen kleinen Schritt nach vorne; zögernd, so als wäre dieser kleine Schritt die letzte Bewegung des Zweifels, der immer noch fragte, ob sie recht tat oder unrecht, wenn sie ging. Aber kaum hatte sie diesen Schritt gemacht, nahm sie ihn schon entschlossen zurück ... und nun ging sie, Axel an der Hand, gesenkten Hauptes aus dem Zimmer.
* * *
Gegen Abend war's, doch schien die Sonne nach voll herein in die Straßen. Und weil die gerade ihr allerreichstes Leben lebten, denn morgen war Sonntag, hatten Dinge, die sonst nüchtern und feierlich aussahen, einen menschenfreundlichen Schimmer auf sich liegen. Die weiten Plätze zitterten in frohen Lichtwellen, die sommerlich über Statuen, Kirchen und Gärten rannen, die Straßenzeilen, von Rollen und Rauschen und Pfeifen durchtönt, schmiegten sich willig dem Menschenstrom an, der an ihren Wänden dahinstrebte. Von fernher blinkten über blitzenden Dächern dunstgleißende Türme, Kuppeln, Schlote und Maste, und die Luft, die über all dies freudige Leben wehte, über all die tausend Trippelnden, Bedächtigen, Hastigen, Laufenden oder Rasenden hinwehte, schien aus einem Traumland herzustreichen, in dem sie alle schon einmal gewesen waren, vor sehr langer Zeit, an das sie im Lärm und Rauch der Stadt ihre Erinnerung treu gewahrt hatten, und in das sie morgen ... vielleicht ... für eine fliegende Stunde wiederkehrten ...
Trotz dieses menschenfreundlichen Schimmers ging Maria mit dem Kinde diesen Weg schweigsam und schnell. Sie trug jenes abgenützte Kleid aus ihrer Witwenschaft, das sie schon einmal in der jüngsten Zeit angelegt hatte – damals vergeblich –, und hatte am Arm ein kleines Handtäschchen hängen, in dem neben eilig zusammengerafften Notwendigkeiten ihr mageres Sparkassenbuch und die Liste eines Wohnungsvermittlers staken.
Sie ging schnell und schweigsam, weil sie immer noch fürchtete, daß Axel seinen Sinn ändern und sagen könnte, nun gehe er nicht mehr weiter, und wolle umkehren. Darum befiel sie auch eine jähe Angst, als sie auf der Brücke, die sie zu überschreiten hatten, dem Stubenmädchen des Nachbarhauses begegneten. Wenn Axel das Mädchen erkannte, dann blieb er gewiß stehen und redete es an, und es gab sicher irgendein Wort, irgendeines, das ihn daraufbrachte, zu sagen: Mama, ich kehre mit Lisl um! Aber diese Furcht war grundlos. Als wüßte Axel ganz genau, wohin er da mit Mama zu gehen habe, und daß dieser Weg gemacht werden müßte, grüßte er wohl das Mädchen, aber nicht einmal laut, und schritt, als Lisl vorbei war, ebenso ernst wie Maria selbst weiter.
Nach einer Weile mußten sie die Straße verlassen und mitten durch einen großen Park gehen, in dem gewöhnlich viele Kinder spielten. Aber auch jetzt war Marias Furcht ungegründet, denn Axel sah wohl die hundert spielenden Kinder, die da Bälle jagten und Reifen warfen und in dem Springbrunnen Wasser schöpften, aber er veränderte sein ernstes Gesichtchen nicht um eine Linie, blickte tapfer geradeaus und schritt schweigsam vorwärts.
Aber nun kam das Friedhofstor. Jetzt war die Sonne schon gesunken, der Himmel goldig; das Tor ragte aus der Wegbahn blau und lichtlos auf, und aus seinem Bogen schimmerten vom fernen Hintergrund die lilienweißen Grabsteine und das tote Grün der abendlichen Büsche. – Wenn nun Axel ihre Hand ausließ und sagte: Mama, kehren wir um?
Aber auch das geschah nicht. Axel stapfte an ihrer Hand ruhig durch das Tor ein und ließ sich durch Wege und Pfade bis zum Grabe hinführen, und als zuletzt Maria mit einem Seufzer der Erlösung vor dem Grabe niedersank, setzte er sich, ohne ein Wort zu fragen, auf den Stein hin und wandte sein Gesicht von ihr ab.
Lange wagte sie nicht, ihn aus dem Auge zu lassen. Er würde ja müde werden, er würde endlich ja fragen: Mama, was tust du denn?
Als jedoch Minute um Minute verrann, ohne daß Axel sich rührte, ward sie mutig. Mit einem glückseligen Lächeln auf das Kind, dessen Füßchen in den Blumen des Grabs ruhten, dessen Ärmchen den Baum umschlungen hielten, der über dem Grabe singende Vögel trug, beugte sie sich über den Hügel, als wollte sie ihn umarmen und sagte: »Axel, nun sind wir da, das Kind und ich!«
Und kaum hatte sie dies Wort an den Toten gerichtet, vergaß sie auch schon des Kindes. »Axel, nun sind wir da!« sagte sie noch einmal und beugte sich noch tiefer. »Bubi und ich!« Und noch einmal und noch einmal sagte sie es. Und je öfter sie es sagte, um so lauter und freudiger wurde ihre Stimme, sie bemerkte nicht, daß sie über alle Gräber klingend hinschwebte und von den Mauern des Friedhofs wiedergegeben wurde. Denn Raum und Zeit versanken ihr, die Pein und Qual der letzten Wochen schwanden von ihr, in eine einzige süße Gewißheit fühlte sie ihr Sein gezogen: jetzt ist des Toten lange überhörter Ruf erfüllt und meine Schuld getilgt, – und seine Stimme werde ich nun hören dürfen, die sagt: ›Jetzt bin ich erlöst!‹
Als sie sich endlich erhob, erglänzte der Himmel in der Blässe der Dämmerung. Sie lächelte. Denn noch immer saß das Kind regungslos da. Und so warf sie sich noch einmal, der zwingenden Glückseligkeit gehorchend, die in ihr aufstand, über das Grab hin und rief: »Axel, nun sind wir da! Bist du zufrieden?« Und zuckte zusammen und lauschte erschreckend: Kam jetzt die Stimme aus dem Grabe hervor?
Als es stille blieb, legte sie ihr Ohr auf die Erde. Da unten mußte ja Axel liegen! Da unten mußte er sie ja gehört haben! Alles, was in den letzten Wochen an Streit und Qual in ihr getobt, hatte er ja da unten gefühlt! Und jetzt sah er sie auch, sie und das Kind! Und jetzt mußte er, er mußte ihr jetzt sagen: ›Maria, ich danke dir, nun ist alles gut!‹ – Er mußte ja!
Aber, siehe, je länger sie lauschte, desto stiller wurde es nur! –
Es kam keine Antwort! Nicht der Teil eines leisesten Tones! Eine grenzenlose Stille nur brach aus dem Grabe empor. Und diese Stille schwoll von Minute zu Minute tiefer an, ward wie die Stille eines reinen Friedens, in den kein menschlicher Wunsch mehr tönt, wie die Stille einer Ewigkeit, in die keine menschliche Stimme mehr dringt. – Und verwandelte sie, während sie ihr lauschte. Verwandelte sie! Es war, als ob dies unendliche Schweigen ihr Schleier von den Augen zöge, als ob es ihre Ohren befreite, als ob es ihre Seele von einem gefährlichen Irrtum, von einer traumartigen Verzauberung löste, und indem es ihr eine neue Wahrheit gab, mit der Göttlichkeit seiner Weite, mit der Kraft seiner Herrschaft ihr sagte: Der, den du rufst, ist nimmer von dieser Welt! Bedarf deiner nicht mehr! – Aber ein anderer ...
Der Himmel ward noch bleicher. Hell stieg er über den scharf sich abzeichnenden Kreuzen des Kirchhofs zu glänzender Höhe. Und noch immer lauschte Maria, das Gesicht starr in ihn gerichtet.
Da, plötzlich, sprang sie auf: Hatte nicht, jetzt jemand geredet?
»Mama,« sagte klein Axel, schon ungeduldig, weil sie ihn überhört hatte, »bist du Papa noch böse?«
Sie sah ihn wortlos an. Wer redete denn da? Axel oder das Kind?
»Glaubst du, er bereut es nicht? Das mit der Möwe?«
Was waren das für Worte? Hatte nicht Axel diese Stimme gehabt? Hatte nicht Axel einmal Ähnliches gesagt? Ähnliches, – so Ähnliches?
»Ich glaube,« fuhr klein Axel fort und kam von der Steinplatte herab, »daß wir ihm nicht mehr böse sein dürfen. Denn er hat es gewiß nicht gerne getan! – Er hat gar nicht gewußt, was er tat!«
Ihre Augen wurden weit offen und starr. Blickten bohrend, mit einer jähen Anstrengung, den kleinen Mund an, der so Sonderbares redete. Blickten dann, als ob sie in der nächsten Sekunde erfassen müßten, welcher Zusammenhang zwischen diesen kindlich irrenden Worten und dem war, was ihr die Stille geoffenbart hatte, in den Himmel hinein, der jetzt diamanten über den schwarzen Kreuzen hing ... und tat plötzlich einen Schrei: war dieser Himmel nicht derselbe, wie jener Himmel von Golgatha mit den drei Kreuzen? Und redete also im Kinde nicht jener Mann, von dem Axel damals, vor diesem Himmel gesprochen hatte?
Sie fuhr zusammen. Ein Blitz durchglühte sie. Sie verstand, wie mit tausend Seelen, den Irrtum des Kindes, der in dieser offenbarungsreichen Stunde nichts anderes war, als die Stimme jenes Mannes ... als das Vermächtnis Axels!
»Mama, hörst du nicht?« drängte das Kind und riß an ihr.
Aber da hatten sich ihre Arme schon ausgebreitet, um das Kind zu umschlingen, das Gesicht sich schon geneigt, um den Mund zu küssen, der sie zur Helle gerufen. »Ja, Bubi,« rief sie jubelnd in seliger Freude, »ich habe gehört! Und ich fühle wie du!« – Und den zitternden Arm um das Kind gelegt, das blonde Haupt über seinen Scheitel gebeugt, schritt sie aufrecht vom Grabe fort.
* * *