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Die großen Wirren

Aus den Aufzeichnungen des Fürsten Turenjew

(1611)

Im siebenten Jahrzehnte meines Lebens stieß mir schweres Unglück zu: Meine Hände und Füße schwollen an, das Ebenbild Gottes – mein Gesicht – wurde so ungestalt, daß man es, wie die Weiber zu sagen pflegen, mit keinem Sieb zudecken konnte. Schwere Gedanken überwältigten mich, es wurde mir angst und bange, und die Haare standen mir zu Berge. Ich stieg vom Ofen, fiel vor den Heiligenbildern nieder und leistete das Gelübde, ein Werk zu vollbringen, das der Herr mir eingeben würde.

Als die Frühlingsgewässer zu fallen anfingen, schickte ich einen Boten nach Moskau zu meinem Bekannten, dem Amtsschreiber Schtschelkalow, mit Geschenken: sechs geräucherten Gänsen, einem halben Fäßchen Honig und einem Altyn und vier Denjgas in Geld, damit er mir aus den Schloßvorräten ausfolge ein Heft von hundert Bogen gutem Papier und Tinte zum Schreiben.

Und nun besinne ich mich in Erfüllung des Gelübdes auf alles, was meine sündigen Augen in den vergangenen bösen Jahren gesehen haben. Und aus allem, dessen ich mich erinnere, wähle ich das aus, was Bewunderung verdient: Unerforschlich ist der Weg des Menschen! Zuerst, als ich mich zu besinnen anfing – mein lieber Gott! – da spie ich aus und verwahrte das Heft hinter dem Bilde der Allerreinsten Fürbitterin: Schlecht sind die Menschen, schlimmer als die Tiere des Waldes. Ihre Verworfenheit hat keine Grenzen … Als ich es mir aber überlegte, beschloß ich dennoch, mit der sündigen Arbeit zu beginnen, und fange nun ohne Übereilung mit dem Bericht vom ungewöhnlichen Leben des seligen Nifont an. In unserer Gegend gedenkt man seiner auch heute noch.

 

In der Welt hatte Nifont Nahum geheißen. Sein Vater, Iwan Afanassjewitsch aus dem Dorfe Poliwanowo, war Pope an einer Kirche gewesen und vor vielen Jahren gestorben. Den Nahum nahm sein Onkel mütterlicherseits, der Diakon Gremjatschow, zu sich. Beim Diakon lernte Nahum lesen, und er las als Küster den Psalter vor und wurde nach kurzer Zeit in der Stadt Kolomna an der Kirche des Wundertäters Nikolai zum Popen geweiht. Hier sah ich ihn auch zum erstenmal.

In Kolomna besaßen wir, die Fürsten Turenjew, einen befestigten Hof, auf den wir aus unseren Landsitzen flohen und uns einsperrten, sooft der Krimer Khan mit großem Heer vom Wilden Felde gezogen kam. Der Khan hatte aber keinen anderen Weg als zwischen den Flüssen Donez und Worskla, entweder über Serpuchow oder über Kolomna. Hier standen auf dem Ufer der Oka Wachtposten und in den Städten Regimenter, die das Flußufer zu verteidigen hatten. Die Oka hieß damals auch die Unüberwindliche Mauer.

Die alten Leute sagten, die Stadt Kolomna sei unter dem Zaren Iwan sehr groß gewesen, in meinen Tagen war sie aber schon verödet: Der Krimer Khan war zum letztenmal durch die Schnelle Furt über die Oka gezogen, seit der Zeit hatte man schon zwanzig Jahre von den Krimern nichts gehört, und die freien Menschen hatten begonnen, die Stadt zu verlassen, die einen waren nach den Fischereien gezogen, die andern nach Moskau, und andere wieder als Räuber in die Steppe. In Kolomna waren nur die Kirchen- und die Klosterdiener zurückgeblieben, und in den befestigten Höfen die Aufseher, in der Öde zwischen den vernagelten Kaufläden und den verwilderten Gemüsefeldern lebten noch an die fünfzig Strelitzen, Wächter an den Festungswerken und Postkutscher.

In der leeren Stadt war es langweilig. Man sah nur die Tauben und die Dohlen auf den verfaulten Dächern und auf der hölzernen Stadtmauer herumgehen.

 

Damals herrschte eine schwere Hungersnot im ganzen Lande. Die Erde hatte seit drei Jahren nichts gezeugt. Das ganze Vieh war aufgezehrt. Die Äcker wurden weder gepflügt noch bestellt. Die Menschen irrten durch die Wälder und über die Landstraßen: Der eine zog nach Sibirien, der andere nach dem Norden, wo es viele Fische gibt, andere wieder flohen über die Grenze nach Litauen und hinter den Dnjepr. In Moskau ließ Zar Boris umsonst Brot verteilen, und eine große Menge Volkes zog nach Moskau. Wilde Tiere zerrissen am hellichten Tage auf den Landstraßen die Zurückgebliebenen, die vor Hunger nicht mehr weiter konnten.

Es gab mehr Räuber als Einwohner. Unser Landsitz war von Landstreichern niedergebrannt worden, und so lebte ich mit meinem Mütterchen in großer Angst zu Kolomna hinter der Mauer.

Ich erinnere mich: Einmal sitze ich mit Mütterchen auf dem Treppchen im Hofe, in der rechten Sonnenglut, und vor uns steht eine Popenwitwe, so dick wie ein Faß, barfuß, in einem zerrissenen Fuchspelz, und sie sagt: »Es naht der Jüngste Tag, Mütterchen Fürstin. Ich gehe eben über die Brücke, und auf der Brücke sitzen stellenlose Popen, acht Popen, und alle sind abgerissen und zerzaust und fluchen unflätig, und einige führen einen Faustkampf auf. Ich rede ihnen ins Gewissen. Aber einer von ihnen, der Pope Nahum von unserm Sprengel, sagt: ›Zar Boris hat seine Seele dem Teufel verschrieben, er hat Umgang mit Zauberern, geht nie zum Gottesdienst, und wir dürfen nicht länger unter seiner Herrschaft bleiben: Wir Popen wollen alle ins Wilde Feld zu den Kosaken, zum Hetman Rabenschnabel gehen. Ihr werdet unser noch einmal gedenken.‹«

Mütterchen erschrak und führte mich in die Stube. Am Abend kam aber der Pope Nahum vor unser Tor und klopfte so lange mit der Hand, bis man ihn einließ.

Nahum setzte sich auf eine Bank in der Stube, wo wir zu Abend aßen – er war ganz abgemagert, hatte einen zerzausten Bart und weißliche wilde Augen, und von seiner Kutte war ein großes Stück weggerissen, so daß man den bloßen Leib sehen konnte. Und er sprach ganz frech: »Jede Nacht geht jetzt ein Schweifstern auf. In Serpuchow auf dem Markte hörten alle Leute viele Pferde dahersprengen, aber von den Pferden und den Reitern sah man nichts, man sah nur die Hufeisen und den Staub. Nun bin ich ein stellenloser Pope – der Propst hat mich davongejagt: ›Der Wundertäter Nikolai‹, sagte er, ›wird sich auch ohne dich behelfen.‹ Gebt mir einen Nacktpelz und eine Lammfellmütze, und ich ziehe in die Steppe und werde Räuber. Gebt ihr mir aber keinen Pelz und keine Mütze, so werde ich euch eine Kirchenbuße auferlegen, denn ich bin noch immer ein geweihter Priester – oder ich werde euch etwas anderes antun. Wir gehen jetzt sowieso zugrunde. Wir russischen Menschen sind alle verflucht. Es gibt für uns kein Aufhalten mehr.«

Man gab ihm sofort einen Pelzrock und eine Mütze und Piroggen auf den Weg. Nahum erteilte uns allen den Segen: »Zum letztenmal«, sagte er. Er wischte sich die Augen mit der Faust, ging und schlug die Tür hinter sich zu. Und wir hörten, wie er auf der Straße im Finstern pfiff und wie aus der Vorstadt alle stellenlosen Popen auf seinen Pfiff antworteten. Mütterchen fing zu weinen an: So große Angst hatten wir alle.

 

Seitdem war mehr als ein Jahr vergangen. Die Hungersnot hatte, Gott sei Dank, aufgehört, aber im Volke war noch immer keine Ruhe. In Kolomna sammelten sich die Leute auf dem Markte vor dem leeren Kaufhause, und das Gerede ging los; kein Mensch dachte an seinen Handel. Man versammelte sich und erzählte sich, daß weise Frauen die Menschenspuren aus dem Boden herausschnitten, im Ofen trockneten, zerstießen und in den Wind streuten; daß aus Wolhynien viele Zauberer ins russische Land gekommen seien: Sie schickten Seuchen ins Volk, machten Trockenheit und faulige Winde und verdürben das Getreide – ausgesandt hätte aber diese Zauberer der König von Polen; daß sich in den Dörfern schlimme Menschen – Gaukler und Spielleute herumtrieben: Sie klimperten, hüpften und flöteten, und wenn sie in ein Dorf kämen, so schlügen sie ein Zelt aus Bastmatten auf, stellten ein »Ägyptisches Tor« hinein und verlockten das Volk, es sich anzuschauen: Fünf Mann müßten bloß eine Kopeke zahlen. Wie soll man da nicht hineinschauen! Wenn man aber das »Ägyptische Tor« sähe, ziehe es einen hinein – dem Menschen schwindele der Kopf, und er flöge durch dieses Tor in einen bodenlosen Abgrund, wo es keine Erde, keine Sonne und keine Sterne gäbe. Und so vernichteten die schlimmen Menschen ganze Dörfer.

Aus Moskau zugereiste Kaufleute führten auf dem Markte aufrührerische Reden über den Zaren Boris. Am Petritage ließ unser Woiwode, der Truchseß Mjassew, so einen Kaufmann ergreifen. Man ergriff ihn und gab ihm auf dem Marktplatz die Knute und schnitt ihm die halbe Zunge heraus. Die Waren, die er auf seinem Wagen hatte, durfte das ganze Volk plündern, ihn selbst jagte man aber aus der Stadt.

Aber das Volk fand keine Ruhe. Und da kamen Gerüchte auf über den Zarewitsch Dmitrij, daß er gar nicht ermordet worden sei zu Uglitsch, sondern die Fürsten Tscherkassij hätten ihn versteckt und nach Litauen gebracht; und jetzt, wo er erwachsen sei, sammele er zu Sambor ein Heer, um den Thron seiner Väter wiederzuerobern und den geschändeten rechten Glauben zu verteidigen.

Ich erinnere mich: In den großen Fasten trat ich einmal vors Tor, um das Glockengeläute beim Wundertäter Nikolai zu hören – man läutete da so schön und traurig. Der Tag war – auch dessen erinnere ich mich – trüb und grau. Jenseits des Flusses flogen Dohlen; sie stiegen als Wolke in den Himmel und fielen als Wolke auf die schwarzen Hütten herab – es war eine Unmenge von Dohlen. Und ich dachte mir: »Warum mögen wohl so viele Vögel über der Vorstadt fliegen?«

Um diese Zeit kam an unserem Hofe ein Wandersmann vorbei, hatte ein zerlumptes Bauerngewand an, war aber selbst wohlgenährt und rotbackig. Er ging, die Arme schwingend, geradewegs auf den Marktplatz, wo das Volk auf dem Miste vor den Wagen herumstand. Der Mann blieb stehen, lachte und wies auf die Vögel. »Schaut doch«, rief er, »die vielen Krähen. Es sind keine gewöhnlichen Vögel, sondern Krähen … Rechtgläubiges Volk!« Da riß er sich seine Filzmütze vom Kopfe. »Rechtgläubiges Volk! … Wer an Gott glaubt, der lese den Brief unseres rechtmäßigen Zaren …«

Und der Mann stürzte zum Pfahl, an dem man auf unserem Marktplatze die Räuber zu strafen pflegte, und hängte den Brief an den Nagel – so groß wie ein halbes Handtuch war der Brief, unten hatte er ein Siegel, und ein zweites Siegel hing an einer Schnur herab. Das Volk ließ seine Wagen und Verkaufsstände stehen und drängte sich lärmend um den Pfahl, und der Küster Konstantinow las vor: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Ich bin nicht dem Anschlag des Bösewichts Godunow zum Opfer gefallen, ein Engel Gottes hat die Hand der Mörder irregeführt, sie haben einen andern Knaben und nicht mich ermordet. Nun habe ich zahllose Heere gesammelt. Nach dem Petritage werde ich aus dem Polenlande ins Russenland kommen, um den Thron meiner Väter wiederzuerobern … Ihr aber, Rechtgläubige, sollt fest für den wahren Glauben eintreten, doch nicht für den Zaren Boris, und wer will, soll zu den Kosaken hinter den Don fliehen.« Nun merkten alle, daß der aufrührerische Brief vom Zarewitsch Dmitrij kam. In der Menge schrie man: »Wir werden schon für ihn eintreten, wir werden ihn nicht verraten!« – Für wen sie eintreten wollten, wußten sie selbst nicht recht, warfen aber vor Jubel ihre Mützen in die Höhe.

Da kam auf den Platz der Woiwode Truchseß Mjassew geritten. Er gab seinem Hengst die Peitsche, riß den aufrührerischen Brief vom Pfahle herunter und befahl den Strelitzen, das Volk auseinanderzutreiben. Es begann ein großes Gedränge. Die Strelitzen schlugen auf die Schreier ein und fingen an, den Leuten die Kleider zu zerreißen, das Volk drängte aber immer zum Pferd des Woiwoden. »Sprich die Wahrheit!« schrien die Leute: »Wer ist der wahre Zar: Godunow oder Dmitrij? … Für den wahren Zaren wollen wir unser Leben lassen.«

Man zerrte den unschuldigen Schreiber Grjasnyj an einem Beine vom Sattel, trat ihn mit den Füßen, schleppte ihn durch den Mist und wollte ihn im Eisloch unter der Brücke ersäufen. Der Woiwode konnte das Volk nicht zur Ruhe bringen; er ritt, ohne etwas ausgerichtet zu haben, heim und ließ das Tor zusperren.

So lärmte das Volk auf dem Marktplatze bis zum Abend. Nachts aber fing die Vorstadt zu brennen an, an zwei Enden zugleich. Die Sturmglocken läuteten. Später sagte man, die Glocken hätten ganz von selbst auf den Türmen geläutet.

 

Die ganze Stadt erwachte und trat auf die Mauern. Der Schnee war rot wie Blut. Die Krähen erhoben sich als mächtige Wolke über dem großen Feuer. Und man sah am Himmel über dem Rauche und über den Krähenscharen ein Weib mit unbedecktem Kopf – die Haare standen ihr zu Berge, und sie hielt in der Hand ein totes Knäblein.

In der gleichen Nacht schlugen die Strelitzen das Tor des Woiwoden ein, liefen, unflätig fluchend, über seinen Hof und suchten den Woiwoden, um ihn umzubringen. Da sie ihn nicht finden konnten, rissen sie das Schloß von der Kellertür herunter, rollten ein Faß Branntwein hinauf, tranken selbst und gaben auch dem Volk zu trinken: Viel Volk war in jener Nacht aus den nahen Dörfern nach Kolomna gekommen.

Der Anstifter dieses ganzen Aufruhrs war aber der fremde Mann, der den aufrührerischen Brief auf dem Markte angeschlagen hatte. Erst am andern Tag kamen die Leute von Kolomna darauf, daß dieser Mann der allen bekannte stellenlose Pope Nahum war. Er war aber indessen verschwunden, und mit ihm waren die unverheirateten Strelitzen, der versoffene Schreiber Konstantinow und viele Burschen aus der Vorstadt weggezogen. Sie waren in Wagen weggefahren und hatten einiges Geschütz – eine Haubitze, eine zweipfündige Kanone und Pulver mitgenommen, auch sämtliche Waren, die sie in der Nacht geraubt hatten.

 

Es verging wieder mehr als ein Jahr. Alles Unglück kann ich nicht mehr aufzählen. Zar Boris war gestorben: Er setzte sich abends zu Tisch, da platzte sein Leib, und aus seinem Munde floß Schmutz. Der Woiwode Basmanow trat mit dem ganzen Heere zum Zarewitsch Dmitrij über. Zu Moskau auf dem Bolotoplatz lasen die heimlichen Boten des Zarewitsch, Pleschtschejew und Puschkin, dem Volke ein Sendschreiben vor und verhießen große Gnaden. Das Volk führte diese Boten auf den Roten Platz, und da lasen sie das Schreiben zum zweitenmal vor, und der Bojare Fürst Wassilij Iwanowitsch Schuiskij rief von der Schädelstätte herab, daß in Uglitsch ein Popensohn ermordet worden sei. Das Volk schrie: »Wir haben die Godunows satt!« Man läutete die Sturmglocke. Dann stürzte man in den Kreml, erschlug die Strelitzen an der Roten Treppe mit Zaunpfählen, drang ins Zarenschloß ein, ergriff den Zaren Fjodor und die Zarin und schleifte sie über die Treppen und Gänge in das alte Haus Godunows. Hier sperrte man den Zaren ein. Es war Nacht.

Die ganze Nacht brannten im Kreml und auf dem Roten Platze Feuer. Man plünderte die Kaufläden auf der Warwarka, Iljinka und Marossejka. Auf der Schiffsbrücke über die Moskwa wurden zwei Menschen ermordet und ins Wasser geworfen. Aus den Bojarenhöfen und den Toren schoß man mit Büchsen. Viele Schenken wurden erbrochen, viel Branntwein wurde ausgesoffen. So üble Menschen sprangen, die Zähne fletschend und die Lumpen schüttelnd, zwischen den Feuern herum, daß das Volk von Moskau sich nur bekreuzigte, ausspie und staunte: Was ist das für ein Höllenspuk!

Am andern Tage kamen vom Zarewitsch die Fürsten Golizyn und Massalskij mit Genossen gefahren und ermordeten den Zaren Fjodor und die Zarin-Mutter, und das Volk rief Dmitrij zum Zaren aus.

Damals lebte ich mit Mütterchen noch in Kolomna. Die Leute, die aus Moskau kamen, erzählten, daß es dort unruhig zugehe und daß das Volk schwankend geworden sei: man hätte dem Volke große Gnaden verheißen, von diesen Gnaden sei aber noch nichts zu sehen. Zar Dmitrij meide seine Landsleute und pflege Umgang mit Polen. Er gehe nicht täglich ins Dampfbad, trete in die Kirche raschen Schritts und stehe bei der Messe lässig da. Er hätte kurze Beine, die rechte Hand kürzer als die linke, eine lange Nase mit einer Warze, trage das Haar aufwärts gekämmt, lasse sich den Bart erst seit kurzer Zeit stehen, und der Bart wachse spärlich. Am Dreikönigstage hätte man auf dem Eise des Moskwaflusses zum Spiele eine Festung erbaut und Strelitzen hineingesetzt. Auch einen Turm hätte man erbaut und an ihm eine Schnauze angebracht mit offenem Rachen und gefletschten Zähnen, alles mit Farben angemalt. Diesen Turm hätte man von hinten gestoßen, so daß er vorwärtsrollte, und die Leute darinnen hätten aus Büchsen und einem Geschütz geschossen. Und als man den Turm bis an die Eisfestung herangerollt hätte, sei Zar Dmitrij aus dem Turme herausgesprungen und auf die Festungsmauer gestiegen.

Das Moskauer Volk sah diesem Spiel von den beiden Ufern zu, und viele fingen an diesem Tage zu zweifeln an: Wen hatten sie zum Zaren eingesetzt? Ist es nicht Grischka Otrepjew, der entlaufene Leibeigene der Fürsten Romodanowskij, der das russische Land verhöhnt?

 

Im Mai machte sich Mütterchen auf, nach Moskau zu fahren. Der Propst und die Popenwitwe hatten ihr zugeredet, den Zaren kniefällig um etwas Land und Leibeigene zu bitten, soviel er ihr bewilligen würde.

Wir rüsteten zehn Fuhren aus mit Geflügel, Pökelfleisch, Eingesalzenem, Sauerkohl, Piroggen und gebleichter Leinwand. Am zwölften Mai ließen wir einen Gottesdienst abhalten und machten uns auf die Reise. Mütterchen weinte während der ganzen Fahrt und betete zu Gott, daß wir lebend ankämen.

Wir kamen nach Moskau am vierzehnten Mai um die Mittagsstunde und stiegen in der Nikola-Herberge am Arbattore ab. Wir aßen zu Mittag. Nach dem Essen legte sich Mütterchen schlafen, und ich ging in den Hof, wo die Fuhren standen. Ich sitze auf dem Treppchen und schaue. Da kommen in den Hof drei Kosaken geritten, der vorderste ist aber Nahum – ich habe ihn sofort erkannt. Er hat einen guten schwarzen Kaftan an, trägt einen Säbel an der Hüfte, ist ganz rot, böse und so betrunken, daß er kaum im Sattel sitzen kann.

»He, Satan!« schreit Nahum, »Wirt, Bier her! … Sonst hau' ich dich in tausend Stücke! Der Teufel hol' deine Mutter!«

Der Wirt unserer Herberge, Baulin, ein Gevatter des Gerbers Afanassij in Kolomna, ein glatter, kahlköpfiger Kleinbürger, trat lächelnd vor die Tür. »Ihr könnt es haben, meine lieben Kosaken«, antwortete er, »gewiß, ich habe kühles, schweres Bier, wer soll es auch trinken, wenn nicht ihr!«

Sofort brachte ein pockennarbiges Mädel mit einem Star an einem Auge einen Krug Bier und reichte es Nahum. Er schob die Mütze in den Nacken, trank aus dem Krug, holte Atem, stieg vom Pferde und setzte sich auf einen Balken vor der Treppe. »Gehörst du zu Dmitrijs Leuten oder bist du für den rechtmäßigen Zaren?« fragte er grimmig den Wirt.

Baulin lächelte und strich sich den Bart.

»Wir sind einfache Bürger«, sagte er, »und halten zu dem, zu dem alle halten. Uns paßt der Zar, der allen Leuten paßt. Wir kümmern uns bloß um unsern Handel.«

»Ach, du falscher Kerl und Hundesohn!« sagte ihm Nahum: »Ist denn Dmitrij ein Zar? Ein davongelaufener Mönch ist er, ein Schützling der Polen, der Erzgauner Otrepjew. Er hat bei den Wischnewezkis zu Sambor die Pferdeställe gekehrt. Ich kenn' ihn gut, hab' selbst für ihn mein Blut vergossen. Bei Nowgorod-Sjewersk, als wir Kosaken gegen den Fürsten Mstislawskij kämpften, eroberte ich eine Fahne. Ich hätte auch den Woiwoden Mstislawskij selbst gefangengenommen, aber er entkam in die Steppe, denn er hatte ein gutes Roß. Ach, das war ein Roß! … Dreimal schlug ich den Fürsten mit meinem Säbel auf seinen Eisenhut – hab' ihn ganz blutig geschlagen … Gott verzeih mir, so viele Russen haben wir umgebracht! … Und wozu? Damit uns die Polen in Moskau verhöhnen … Sie lassen unsereinem kein Blei und kein Pulver verkaufen … Kommt unsereins in eine Schenke, so jagt man ihn vom Tische weg … Na, wart …«

Nahum riß sich die Mütze vom Kopf, warf sie zu Boden und trat sie mit den Füßen.

»Wir wissen wohl, wem wir folgen werden. Wir werden schon für den Glauben eintreten … Kein einziger Pole wird lebend aus Moskau entkommen …«

»Hör auf, Nahum, es ist nicht schön«, sagte ihm Baulin. »Geh auf den Heuboden und schlaf dich aus.«

»Nein, ich bin nicht betrunken … Und wenn ich betrunken bin, so nicht von deinem Branntwein … Wart, wart, ihr werdet von uns schon was erleben! …«

Mit diesen Worten ergriff Nahum seine Mütze und setzte einen Fuß in den Steigbügel – sein Pferd warf sich zur Seite. Nahum hüpfte ihm auf einem Fuße nach und wälzte sich mit dem Bauch auf den Sattel. Die andern Kosaken johlten, sprengten alle drei wie besessen aus dem Tore und jagten durch die Vorstadt zu den Sperlingsbergen – man sah nur den Staub aufwirbeln und die Hühner zur Seite flattern.

 

Am andern Tage spannte man uns einen Wagen an, und Mütterchen fuhr mit mir nach dem Kreml zur Mariä-Himmelfahrts-Kirche. Hier hörten wir die Messe und gingen nach der Messe zu Schuiskij, ihn zu bitten, daß er beim Zaren ein Wörtchen für uns Waisen einlege: ob wir nicht etwas Land haben könnten.

Der Bojare Fürst Wassilij Iwanowitsch Schuiskij trat zu uns auf die Freitreppe heraus; Mütterchen verneigte sich vor ihm tief, und ich berührte mit der Stirn den Boden, obwohl wir gar nicht ahnten, daß das kleine dicke Männchen, das im grünen Zobelpelz vor uns stand, kein einfacher Fürst, sondern der künftige Zar war. Er hatte einen dünnen Bauernbart und ein aufgedunsenes Gesicht, seine Wangen zuckten immerfort, und die Schlitzaugen blickten klug, aber er ließ in sie nicht hineinschauen. Und der Fürst sagte uns seufzend, mit dünner Stimme: »Ich will schon ein Wort für euch Waisen einlegen, Mütterchen Fürstin, wo es sich gehört, aber wart ab, ja, wart ab. Heute sind wir alle in Gottes Gewalt … An deinen Mann, den Fürsten Leontij Turenjew, kann ich mich gut erinnern – unter dem Zaren Fjodor hatte er den vierten Platz nach mir: Erst kam ich, dann der Fürst Mstislawskij, dann der Fürst Golizyn, dann der Fürst Twerskoi aus dem Patrikejewschen Geschlecht, und dann kam der Platz Turenjews. Er war Woiwode im Wachregiment und dritter Woiwode im Großen Regiment. Dein Junge soll es sich merken.« Der Fürst streichelte mir den Kopf und entließ uns.

Am andern Tag ging ich mit der Mutter in aller Frühe auf den Markt am Roten Platz. Wir konnten uns aber gar nicht durchdrängen. Das Volk stand wie eine Mauer da: Bojarensöhne, Strelitzen, Perser und Tataren in bunten Kaftanen, Polen in Hellblau und Weiß, manche mit Flügeln an den Röcken, unsere Leute aber in dunklen, grünen und braunen Kleidern. Über den Knüppeldamm dröhnen Wagen. Ab und zu sprengt ein Bojare vorbei mit einem griechischen kammverzierten Messinghelm auf dem Kopfe – Reitknechte bahnen ihm mit ihren Peitschen den Weg durch die Menge – und da gibt es neues Gedränge.

An der Kremlwand stehen Schreiber und schreien: »Für eine Kopeke schreibe ich, was du willst!« – Popen stehen da, die noch nichts im Munde gehabt haben, und bieten ihre Dienste zu Trauungen und Beerdigungen an; sie zeigen eine Brezel und schreien: »Paß auf, gleich werde ich davon essen!« – Tee- und Brezelverkäufer rufen ihre Waren aus. Blinde blasen Flöte. Zwischen den Füßen kriechen lahme und nasenlose Bettler herum und packen die Leute an den Rockschößen. In den Verkaufszelten hängt eine Menge von Waren, es leuchtet nur so. Hinter den Ladentischen beugen sich die Kaufleute vor und schreien: »Zu uns, zu uns, Bojare, hast ja immer bei uns gekauft!« Wenn man an einen Verkaufsstand herantritt, so klammert sich der Kaufmann an einem fest und springt einem förmlich in die Augen, versucht man aber wegzugehen, ohne etwas gekauft zu haben, so fängt er zu schimpfen an und haut einen mit einem Stück Leinwand, daß man sie ihm abkaufe. Etwas weiter, in der Iljinkastraße, sitzen Menschen auf Bänken, haben Töpfe auf den Köpfen, und Zigeuner scheren ihnen das Haar – die ganze Straße ist voller Haare wie ein Filz.

Vor diesem Lärm wurde es Mütterchen angst und bange, und es zitterten ihr die Beine. Wir kehrten in unsere Herberge zurück und legten uns früh schlafen. In der Nacht weckt mich Mütterchen und flüstert: »Zieh dich schnell an!« Auf dem Tische brennt eine Kerze, Mütterchens Gesicht ist so weiß, als hätte sie es mit Mehl bestreut, ihre Lippen zittern, und sie flüstert: »Der Wirt war eben hier und sagte, wir sollen uns verstecken: Irgendein Heer naht gegen Moskau, sagte er, es zieht schon in die Stadt ein!«

Und wir hören das Stampfen vieler Füße und das Knarren vieler Räder, Stimmen sind aber nicht zu hören: Sie ziehen schweigend ein. Plötzlich klopft man ans Tor: »Macht auf!« Mütterchen packte mich, und wir versteckten uns auf dem Heuboden und hörten bis zum Morgen, wie die Leute zu uns in den Hof einbrechen wollten.

 

Am andern Morgen hörten wir aber: Ein Heer von achtzehntausend Mann mit dem Fürsten Golizyn ist in Moskau eingezogen. Im Kreml herrscht Aufruhr: Die Strelitzen verlangen Lohn für drei Monate voraus und drohen, vom Zaren zu Golizyn überzutreten. Die einen sagen, Schuiskij stelle sich krank, andere wieder wollen ihn nachts am Arbattore zu Pferde gesehen haben.

In der Frühstücksstunde kam zu uns in die Herberge ein Mann Gottes gelaufen, nackt, in zerrissener Hose, mit Ketten, Schlössern, Hufeisen und einem eisernen Kreuz am Halse. Wie Mütterchen ihn erblickte, verfärbte sie sich und legte ihren Löffel weg. Der Mann Gottes aber lachte, schnitt Fratzen und reckte den Hals, dann wackelte er wie ein Gänserich und murmelte: »Wen hat man denn in Uglitsch ermordet, ha? Wißt ihr es? … Den gleichen hat man auch jetzt wieder ermordet, hab' es selbst gesehen, hier ist es!« Und er reicht ein blutgetränktes Läppchen. »Riecht nur daran, es soll euch nicht leid tun: Zarenblut duftet wie Honig … Und wenn ihr ihn wieder, zum drittenmal ermorden werdet, ruft mich wieder herbei …«

Ich sehe, wie Mütterchen sich mit den Fingern an den Tischrand klammert und auf die Bank umsinkt. Man spritzte sie mit Wasser, das man über ein Stück Kohle gegossen hatte, an, und sie kam zu sich und schrie auf: »Man hat den Zaren ermordet, und ihr klopft hier mit den Löffeln … Wollen wir schneller gehen …« Und sie schleppte mich an der Hand vom Tische weg, und wir liefen in die Stadt. Ins Borowizkij-Tor ließ man uns nicht ein – im Tore und an der Brücke über die Neglinnaja standen Kosakenwagen, die Pferde waren angebunden, über den Feuern hingen kochende Kessel, und die Kosaken riefen vom andern Ufer herüber: »Die Polen haben das heilige Abendmahl aus der Mariä-Himmelfahrts-Kirche hinausgeworfen … Aus dem Tschudowkloster haben sie die Reliquien hinausgetan … Sie werden das ganze Volk gewaltsam zum polnischen Glauben bekehren …«

Die Neglinnaja entlang liefen Menschen – es gab ein Geschrei, ein Gedränge, Weibergewinsel … Wir schauen: Alle haben sich zu einem Haufen zusammengedrängt und schlagen auf jemand ein. Aus dem Haufen rennt ein Pole heraus, er haut mit dem Säbel um sich, springt dann in die Neglinnaja und schwimmt davon. Und die Kosaken schießen auf ihn vom andern Ufer aus Gewehren.

So kamen wir bis zum Roten Platz, und hier zog uns die Menge längs der Mauer zur Wassilij-Blashennyj-Kirche fort. Alle ihre grünen und roten, gewundenen Kuppeln funkelten in der Sonne. Die Glocken läuteten unruhig, und die vom Iwan dem Großen dröhnte dumpf.

Mit der Menge erreichten wir den Grashügel – die Schädelstätte, rings herum drängten sich barhäuptige Menschen. Auf der Schädelstätte lag auf einer eichenen Bank ein nackter Mensch mit aufgetriebenem Bauch, das linke Bein gebrochen, die Scham mit einem Lumpen zugedeckt, die Hände auf dem Nabel, das Gesicht war aber nicht zu sehen: Über das Gesicht hatte man ihm eine Larve – eine getrocknete Schafsschnauze gestülpt.

»Wer liegt da, wer liegt da?« fragt Mütterchen.

Viele Stimmen antworten ihr: »Der Zar.«

»Der Zar, der rechtgläubige, russische Zar liegt da.«

»Es ist kein Zar, sondern ein entlaufener Mönch und Dieb …«

»Nein, er ist es nicht, Kinder.«

»Gott sei uns gnädig!«

»Jener war viel dicker, dieser ist aber so stämmig …«

»Wo ist aber jener?«

»Entkommen …«

»Ich hau' dich gleich in die Fresse, wenn du das Volk wirr machst!«

Aus der Menge drängt sich zur Schädelstätte ein Mann vor und tritt an die Leiche; ich sehe: Es ist wieder Nahum. Sein Mund ist zerschlagen, die Backe voller Blut, und die Haare stehen ihm zu Berge.

»Ich schwöre euch beim heiligen Kreuze«, schrie Nahum und bekreuzigte sich mit einem Blick auf die roten Kirchenkuppeln. »Der Zar Dmitrij, der hier liegt, ist ein entlaufener Mönch und Betrüger. Glaubt es mir … Ich hab' für ihn mein Blut vergossen, verflucht soll er sein … Man hat ihn zu wenig gequält … Man müßte ihn noch mehr quälen …«

Nahum holte plötzlich eine buntbemalte hölzerne Flöte hervor und legte sie dem Toten in die Hand … Dann klatschte er in die Hände, riß seinen verwundeten Mund auf, wollte wohl lachen, schwankte aber plötzlich und fiel hin …

Das Volk tobte, Weiber schrien in Krämpfen. Da schoß man aber auf der Kremlmauer eine Kanone ab, die Glocken begannen zu läuten, das Tor ging auf, und Bojaren ritten heraus – allen voran Wassilij Schuiskij in einem mit Goldbrokat überzogenen Pelze, wie in einem Zarenornat. Man drängte uns zurück, und wir schlugen uns mit knapper Not zum Moskwaflusse durch. Jenseits der Moskwa war eine Schießerei: Die Kosaken und die Bürger brachten die Polen um und zerstörten ihre befestigten Höfe.

 

So kehrte Mütterchen mit mir unverrichteterdinge nach Kolomna zurück. Nun begann ein schlimmes Leben. Unsere Leibeigenen und Hörigen waren fast alle entlaufen: Die einen waren von den Kosaken verlockt worden, die anderen vor den Abgaben und Steuern nach allen Seiten geflohen.

Als das Volk erfuhr, daß man in Moskau Wassilij Iwanowitsch Schuiskij zum Zaren ausgerufen hatte, sagte es: »Das ist ein Werk der Schuiskijs und der Golizyns, wir aber spucken auf den Wassilij! Was ist er für ein Zar? Wir haben nicht ihm den Treueid geleistet, sondern dem Dmitrij. Dmitrij ist aber aus Moskau in Frauenkleidern entkommen, und am Tage Mariä Schutz und Fürbitte wird er wiederkommen.«

So geschah es auch. Im Herbst wiegelte Fürst Schachowskoi, den Schuiskij als Woiwoden nach Pultiwl verbannt hatte, das Volk für den Zaren Dmitrij auf, und der Woiwode Teljatewskij tat dasselbe in Tschernigow. Die Leibeigenen empörten sich. Aus den Wäldern kamen Räuberbanden. Die Mordwinen rückten gegen Nishnij-Nowgorod vor. In Astrachan lehnte sich der Woiwode Fürst Chworostin auf. Die Heere Schiuiskijs wurden bei Tula und Rjasan geschlagen. Es begannen große Wirren.

Am Tage Mariä Schutz und Fürbitte tauchte aber der leibhaftige Dmitrij auf. Er kam aus Litauen mit Kosaken gezogen. Ihm folgte aus Rjasan ein Freiwilligenheer mit dem Woiwoden Prokopij Ljapunow, und aus Tula Istoma Paschkow mit einem gleichen Heer. Vor Moskau vereinigten sie sich mit dem, der sich Dmitrij nannte, und schlugen ein Lager im Dorfe Kolomenskoje auf.

Bei uns in Kolomna glaubte nur der Propst allein nicht an den angeblichen Dmitrij. Er schrie: »Der Satan verwirrt euch, ihr Bauernvolk! Den Zaren Dmitrij hat man doch ermordet. Dieser Dmitrij ist aber ein Gauner, ich kenne ihn. Bolotnikow ist sein Name. Er war Leibeigener des Fürsten Teljatewskij, floh vor ihm zu den Tataren, die Tataren verkauften ihn an die Türken, und er arbeitete bei den Türken auf einer Galeere. Von den Türken entlief er nach der Stadt Venedig und schlug sich aus Venedig nach Rußland durch, verflucht soll er sein! … Und jetzt verbreitet er in den Städten aufrührerische Briefe.«

Und der Propst zeigte die aufrührerischen Briefe auf dem Markte und las sie vor: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wir befehlen euch, Leibeigenen und Hörigen, eure Bojaren und ihre Frauen zu erschlagen und ihre Güter unter euch zu verteilen. Und wir befehlen euch, den Hörigen in den Städten, alle Kaufleute und Handelsherren zu ermorden, ihre Habe zu plündern und euch ihre Frauen und Töchter zu nehmen. Und zum Lohne dafür werden wir euch Diebe, Schelme und namenlose Menschen zu Bojaren, Woiwoden und Beamten machen.« In der Dreikönigsnacht drangen in Kolomna auf hundertundzwanzig Schlitten Räuber ein. Als Mütterchen die Sturmglocke läuten hörte, zog sie sich an, kleidete auch mich an, nahm die Heiligenbilder von den Wänden, band sie in ein Tischtuch, und wir traten vor das Tor. Es war ein grimmiger Frost, und der Mond stand hoch und klar am Himmel. Die Räuber hatten Pelze an und manche auch Priesterornate. Sie schlugen auf die Pferde ein, reckten die Beine in die Höhe, brüllten und waren alle betrunken … Bei Nikolai dem Wundertäter läutete furchtbar die Glocke. Die Räuber sammelten sich auf dem Platze vor dem Hofe des Woiwoden und fingen an, die Tore und die Fensterladen aufzubrechen. Mütterchen kehrte mit mir in die Stube zurück.

Man hörte selbst in der Stube, wie auf dem Platze ein einzelner Mann zu schreien anfing. Ach, diese Mörder! … Die Popenwitwe erzählte uns später – sie hatte es selbst gesehen, wie die Räuber den Woiwoden aus dem Hause in den Schnee herausschleppten, ihm Rock und Hemd vom Leibe rissen und ihm dann mit Messern aus dem Rücken Riemen schnitten: Sie wollten von ihm erfahren, wo das Geld versteckt sei.

Wir sperrten unser Tor gar nicht zu, die Räuber würden es ja sowieso aufbrechen. Mütterchen stellte das Bild der Allerreinsten Fürbitterin auf den Tisch und entzündete vor ihm eine Kerze. Wir sitzen auf einer Bank und warten auf den Tod. Plötzlich knirscht der Schnee – sie kommen! »Leb wohl, Söhnchen, leb wohl, mein Täubchen, vergib mir um Christi willen«, sagte Mütterchen. Und sie bekreuzigte mich und drückte mich an sich.

Jemand stieß die Tür mit dem Fuße auf, und in die Stube traten einige von den Räubern. Und an ihrer Spitze war Nahum. Er nahm die Mütze nicht vom Kopfe, verrichtete auch kein Gebet, sondern sprach mit heiserer Stimme: »Nun habt ihr genug von unserem Brot gegessen – jetzt geht …«

»Nahum«, fragte Mütterchen mit Tränen in den Augen, »bist du es?«

»Einst hieß ich Nahum … Heute bin ich euer Oberhaupt … Nimm dein Hundejunges und geh … Es ist dein Glück, daß ich hier bin.«

So nahmen wir das Bündel mit den geweihten Heiligenbildern und gingen aus unserem Hause in den grimmigen Frost. Das Haus des Woiwoden auf dem Platze brannte wie eine Kerze. Wohin sollten wir gehen? Der Schnee reichte uns bis an die Knie. Und Gott brachte uns auf den Gedanken, beim Propste anzuklopfen. Lange ließ man uns nicht ein, aber dann sahen wir über dem Tore einen zerzausten Kopf herausschauen. Es war der Propst selbst. Er erkannte uns und ließ uns ein. Von nun an lebten wir beim Propste in der Kellerstube. Vor Kummer, vor dem beißenden Rauch und vor dem trockenen Brot vergossen wir so viel Tränen, daß sie uns fürs ganze Leben gereicht hätten.

 

Im Frühjahr hatten wir es etwas leichter. Bolotnikow wurde beim Dorfe Kotly von Skopin-Schuiskij geschlagen. Der Betrüger entkam nach Tula und schloß sich dort mit dem falschen Zarewitsch Petruscha ein. Damals waren viele solche Zarewitsche im ganzen Lande aufgetaucht: Es gab einen Zarewitsch Jeroschka und einen Zarewitsch Gawrilka und einen Zarewitsch Martynka – sie alle hatten eine Zeitlang ein schönes Leben.

Schuiskij belagerte Tula und überschwemmte die Stadt. In Moskau atmete man erleichtert auf und begann Brot anzufahren, Hauptleute und vereidigte Schenkwirte nach den Städten zu schicken und die Staatsgelder zu verwalten. Aber der feueratmende Satan, die listige Schlange, die unsere Seelen verzehrt, schickte über uns einen neuen falschen Zaren. Wer dieser war, wußte niemand, man wußte nur, daß er einmal zu Propoisk im Kerker wegen Raubes gesessen hatte. In Starodub wurde er jedoch auf dem Sonntagsmarkte als der Zarewitsch anerkannt; man gab ihm Geld, zu ihm gesellten sich Kosaken und Polen, und er rückte gegen Moskau vor. Bei Wolchow siegte er über das Zarenheer, schlug dann ein Lager im Dorfe Tuschino auf und verschanzte sich hier hinter einem Erdwalle und einem Palisadenzaune.

Anfangs wollte er Moskau erobern – die Polen rieten ihm dazu. Sie kämpften gegen die Moskauer, vermochten aber Moskau nicht zu nehmen. Nun begannen die Leute von Tuschino die anliegenden Dörfer zu plündern, Lissowskij belagerte das Troiza-Kloster, und Sapieha schlug Iwan Schuiskij und öffnete den Weg nach dem Norden, um die nördlichen Städte zu plündern. In Moskau begann wieder eine Hungersnot, in Tuschino lebte man aber im Überfluß. Und darum fing das einfache Volk von Moskau an, zum falschen Zaren nach Tuschino zu ziehen. Den einfachen Leuten folgten aber die Beamten und die Edelleute, um den Betrüger um Land zu bitten. Es kamen zu ihm Saltykow, Rubez Massalskij, auch Chworostin, Pleschtschejew und Weljaminow. Und der falsche Zar verlieh den einen Güter und den andern die Okolniki- und sogar die Bojarenwürde. Der Propst redete Mütterchen wieder zu, nach Tuschino zu gehen und den falschen Zaren um Land zu bitten: »So wird er das ganze Land verteilen, und du bleibst mit deinem Kinde allein wie ein Busch auf einer abgemähten Wiese.« Es war aber schrecklich, hinzufahren. Als man Bolotnikow im Frühjahr geschlagen hatte, war Nahum mit seinen Genossen aus Kolomna entkommen und machte jetzt die ganze Gegend unsicher. Er prahlte, daß bald der Räuberhauptmann Balowenj von der Wolga kommen würde – dann wollten sie das ganze Land verwüsten.

 

So warteten wir bis zum Herbst. Im Herbst verzankte sich der falsche Zar mit den Polen, steckte Tuschino in Brand, floh nach Kaluga und begann dort ein Heer anzuwerben. Doch die Polen und die Russen, die in Tuschino geblieben waren, schickten den Bojaren Saltykow zum König von Polen, um sich seinen Sohn Wladislaw als Zaren für den Moskauer Thron auszubitten. Zar Schuiskij sandte aber seinen Bruder Dmitrij mit einem großen Heere nach Smolensk, um die Polen zu schlagen. Die Polen schlugen dieses russische Heer bei Kluschino und zogen dann gegen Moskau, um den Polen in Tuschino zu helfen. Auch der falsche Dmitrij zog aus Kaluga gegen Moskau und schlug im Dorfe Kolomenskoje ein Lager auf. Es entstand ein solches Durcheinander, daß man sich nicht mehr auskennen konnte.

In der Thomaswoche kam nach Kolomna ein polnischer Oberst mit Husaren angeritten. Sie plünderten die noch verschont gebliebenen Häuser, brachten viele Menschen um und sprengten die Stadtmauer mit Pulver. Wir saßen während dieser Tage im Keller. Der Propst verbrannte auf seinem Heuboden. Die Popenwitwe nahmen die Husaren mit. So blieben Mütterchen und ich ohne Obdach. Wir nahmen Säcke und zogen aufs Geratewohl fort, um in Christi Namen zu betteln.

Ich erinnere mich: Wie wir eines Morgens aus einem Wäldchen herauskommen, sehen wir unten einen blauen Fluß sich schlängeln und auf den grünen Hügeln am Flusse weiße Kirchen mit goldenen Kuppeln stehen. Drei Mauern umgürten die Stadt, und innerhalb der Mauern sind Gärten und Gassen und hohe hölzerne Häuser, eines neben dem andern. Mütterchen sieht Moskau an und schweigt, Tränen fließen ihr aus den Augen.

Um die Mittagsstunde erreichten wir das Serpuchowtor. Auf der Wiese vor dem Tore und am Erdwalle drängten sich allerlei Leute, Kosaken und Strelitzen, und in der Mitte stand auf einem Wagen ein Mann, so braun wie ein Zigeuner, in einem schwarzen Oberkleid, breitschulterig, groß von Wuchs, mit tiefliegenden Augen, stolzem Gesicht, lockigem Bärtchen und geblähten Halsadern. Und der Mann schrie mit heiserer Stimme, so daß es das ganze Volk hörte: »Bei Kluschino hat man die besten russischen Menschen erschlagen. Sollen wir es noch lange dulden? … Zar Schuiskij hat kein Glück. Man muß Schuiskij absetzen. Wir brauchen einen jungen, einfachen Zaren. Einen, der auf die besten Männer hört, einen, dem wir glauben können, und für einen solchen Zaren, für den rechten Glauben und für das russische Land wollen wir unser Leben lassen. Unsere Kirchen sind entweiht. Die Polen plündern unsere letzte Habe und nehmen uns unsere Frauen weg. Verödet ist das russische Land …«

»Absetzen soll man den Schuiskij!« schrie das Volk dumpf.

Mütterchen fragte einen Bürger, wer der Mann sei, der vom Wagen herabschreie.

»Siehst du es denn nicht?« antwortete der Bürger: »Es ist Prokopij Ljapunow.«

Am gleichen Tage hörten wir, daß das Volk den Schuiskij abgesetzt hatte. Kaum hatten sie ihn abgesetzt, als sofort neuer Zwist begann. Die einfachen Menschen wollten den falschen Dmitrij zum Zaren; Ljapunow, die Strelitzen und die Kaufleute – den Michail Romanow, und die Bojaren den Königssohn Wladislaw. Der falsche Dmitrij war aber schon aus dem Dorfe Kolomenskoje dicht vor Moskau gezogen.

Alle hofften damals, daß die Wirren bald aufhören würden. Es war aber erst der Anfang der schweren Zeit. Wieder begann eine Hungersnot. Ans Pflügen und Bestellen der Felder war nicht zu denken. Vor all den Wirren und dem Hunger war das Volk ganz stumpf geworden: Von uns aus kann man den Teufel zum Zaren ausrufen.

Mütterchen wurde um diese Zeit krank, und gewisse gute Menschen im Stadtteile hinter der Moskwa nahmen uns zu sich. Wir sahen, wie der Hetman Zolkiewski mit den Polen in Moskau einzog, wie die Polen das russische Volk plünderten, wie Moskau zu einem Erbgut des polnischen Königs wurde. Das russische Land ging zugrunde. Nur die Bojaren allein litten die Schande, das einfache Volk aber erstarrte in grimmigem Haß und wartete ab. Wir sahen, wie aus Nishnij-Nowgorod und aus den nördlichen Städten das Bauernheer mit dem Fürsten Posharskij kam und Moskau belagerte. Alle Vorstädte waren niedergebrannt, der Stadtteil hinter der Moskwa war in eine große Brandstätte verwandelt. Wir lebten in Kellern und Gruben und wurden krätzig und grindig. Heute begreift man nicht mehr, wie nach alldem auch nur ein Häuflein Russen übrigblieb.

 

Nun hatte aber die Qual der Menschen offenbar ihre Grenze erreicht. Hilfe war von keiner Seite zu erwarten. Es war niemand da, an den man glauben, auf den man hoffen könnte. Alle Herzen war erbittert. Endlich nahmen die Russen Moskau und zogen in den geschändeten Kreml ein. Ich sah mit eigenen Augen, wie man von der Mauer Fässer mit eingesalzenem Menschenfleisch in die Moskwa warf. Und als man in die Kirchen trat, weinte man bloß. Die Wirren waren zu Ende. Aber man hatte wenig Freude: Rings herum gab es weder Dörfer noch Städte mehr, alles war zu einer Wüste, zu einem Friedhof geworden.

Ich erinnere mich auch, wie in der schmutzigen Herbstzeit, an einem windigen grauen Tage, das Volk vor die Tore Moskaus ins Feld trat und barhaupt dastand. Es wehte ein Wind, nasse Vögel flogen vorbei. Auf der schmutzigen, schwarzen Straße nahte ein Wagen, von acht buntgescheckten kleinen Pferden in Geschirr aus einfachen Stricken, mit hochgebundenen Schweifen gezogen. Hinter dem Wagen ritten Bojaren, Kaufleute und gewählte Männer. Aus dem Wagenfenster sah ein schmächtiger Knabe mit geschwollenen Äuglein auf das abgerissene, mürrische Volk heraus. Michail Romanow nahm die Zarenkrone mit Angst und schwerer Trauer an.

Plötzlich fällt vor dem Wagen ein abgerissener Mann in den Schmutz nieder, er bohrt sich die Nägel in die Brust – ich sehe, es ist wieder Nahum. Der Wagen fährt weiter, und Nahum läuft ihm nach und bleibt bis zum Kreml nicht zurück. Er rennt, heult und gebärdet sich wie ein Narr.

Mit den Romanows waren wir irgendwie verschwägert. Mütterchen bat den jungen Zaren um Land, und er verlieh ihr das Dorf Archangelskoje bei Kargopol. Hinzufahren bedeutete aber einen sicheren Tod: Durch das ganze nördliche Gebiet zog der Räuberhauptmann Balowenj mit Tscherkessen, litauischem und russischem Gesindel und verschonte niemand: Wenn er einen Menschen ergriff, stopfte er ihm Schießpulver in den Mund und in die Ohren und zündete es an. Erst drei Jahre später trieb man alle diese Banden hinter Olonez zusammen und vernichtete sie in den Bezirken von Onjega; den Balowenj hängte man aber zu Moskau an einer Rippe auf.

So lebte ich mit Mütterchen vorläufig im Kreml am Zarenhofe in einer Badestube.

 

Am Tage des heiligen Erzengels Michael wurde ich nach der Messe zur Zarentafel geladen – ich war damals schon siebzehn Jahre alt und saß mit den anderen Söhnen von Adligen an der Türe, wo die Tafel einen Winkel bildete.

Der Zar – ein schmächtiger Knabe, trat vor uns im Ornat mit dem Zarengeschmeide. Er setzte sich an die Tafel und nahm die Krone vom Haupte, und rechts und links von ihm setzten sich die Saltykows. Der Zar aß wenig und saß fast die ganze Zeit die Wange in eine Hand gestützt da. Er hatte dünnes, helles Haar, Flaum über der Oberlippe und ein müdes Gesicht. Boris Saltykow beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm etwas zu, und der Zar hob seine blauen Augen, lächelte und schickte bald dem einen, bald dem andern Bojaren den Becher …

Die Bojaren aßen dafür viel – denn sie waren ordentlich ausgehungert. Manche hatten einfache Nacktpelze an, sogar Bauernröcke aus Filz. Als man eine Stunde und noch eine Stunde getafelt hatte, fing der Zar an sich zu langweilen. Nun ließ Saltykow die Spaßmacher und Flötenbläser holen.

Man brachte die Spaßmacher. Sie drängten sich scheu in der Türe an unserm Tischende. Und ich sehe: Einer unter ihnen, mit einem Frauensarafan bekleidet und einem Korbe statt einer Haube auf dem Kopfe, ist Nahum. Er sieht wohlgenährt aus, sein Bart ist schön gekämmt, aber seine Augen blicken trüb und verschlafen. Mir stand das Herz still. Saltykow aber schrie: »Kommt doch herein, ihr Narren, fürchtet euch nicht – ein jeder kriegt ein Geschenk vom Zaren: der eine eine Schlinge, der andere die Knute, der dritte – einen Pfahl mit einem Querbalken …«

Die Bojaren lachten. Der Zar nickte mit dem Kopf. Nun sprang Nahum vor, schlug sich auf die Schenkel und fing an zu näseln: »Da bin ich, da bin ich! Alle Menschen lieben mich, denn ich bin ein Enterich. Heute bleiben alle Mädel sitzen, denn es gibt ihrer soviel wie Küchenschaben, an Männern fehlt es aber, sie sind alle erschlagen. Aber ich bin eine reiche Braut. Ich kriege mit: acht Bauernhöfe zwischen Lebedjan und Kasan und acht einzelne Höfe dazu, darin sind anderthalb und ein Viertel Menschen: Viere sind entlaufen und zwei ersoffen. An Bauten – zwei Pfähle, in die Erde eingerammt, mit einem Querbalken darüber. Alle diese Höfe liefern im Jahre Getreide für acht Speicher ohne Rückwände und vier Pud Steinbutter. Bei diesen Höfen gibt's einen Pferdestall, und darin stehen vier ausgeruhte Kraniche und ein Pferd kräftig und schnell, aber ohne Haare im Fell. Die gleichen Höfe liefern jedes Jahr an Vorräten: je vierzig Kränze geflochtene Hundeschwänze und je vierzig Faß Läuse und gepökelte Mäuse …«

Weiter konnte man kein Wort verstehen: So laut lachten die Bojaren, daß die Bänke wackelten.

Plötzlich steht einer von den Edelleuten auf und sagt voller Wut: »Zar, laß diesen Mann verhaften. Im vergangenen Jahre hat er mich auf der Serpuchower Landstraße überfallen, ausgeplündert und halbtot geschlagen … Er ist ein Räuberhauptmann.«

Der Zar erhob sich, faltete die Hände und sagte mit einem Blick auf die Saltykows: »Ist schon gut, ist schon gut, wir werden ihn verhaften … Ich will diese Sache selbst untersuchen.« Er lachte wieder. »Der Narr hat aber die Wahrheit gesagt, ihr Bojaren: Vier ausgeruhte Kraniche im Stalle – das ist der ganze Reichtum unseres Landes …«

Nahum wurde verhaftet, und der Zar ließ ihn am anderen Tage nach dem Kloster von Christi Verklärung schicken. Hier empfing Nahum die Mönchsweihe und erhielt den Namen Nifont. Und es vergingen wieder viele Jahre.

 

Ich heiratete, zeugte sieben Kinder, verlor mein Mütterchen und drei Kinder, und wir lebten als große Familie auf unserem Erbgute bei Orjol. Zar Michail war gestorben. Es begannen wieder Kriege: Man führte sie mit Glück und auch ohne Glück. Man baute Moskau wieder auf, befestigte die Mauern, errichtete Türme und Paläste im Kreml und führte neue Ordnungen ein. Moskau wurde immer reicher, aber im Lande gab es noch immer keine Ruhe: Die Leibeigenen und Hörigen flohen wieder hinter den Don und die Wolga und suchten dort Freiheit. Der Zar strebte danach, seine Herrschaft zu befestigen, die Bojaren und Beamten strebten nach Reichtum und Ehren, und das Volk nach Freiheit. Man sagt, daß es auch heute noch an der unteren Wolga unruhig sei – der Kosakenhauptmann Rasin treibe dort sein Wesen. Vielleicht ist es aber auch nur leeres Geschwätz.

Seit vielen Jahren schon sagten uns die Wallfahrer und Wandersleute, die bei uns vorbeikamen: »Geht doch einmal um Christi willen ins Kloster von Christi Verklärung und besucht den seligen Nifont.«

Und wir antworteten den Wallfahrern: »Diesen Nifont haben wir wohl gekannt und wollen ihn gern sehen – erzählt uns doch von seinen Taten.« Und die Wandersleute erzählten: »Er ist ein schwerer Sünder und Mörder gewesen. In der Einsiedelei empfing er die strengsten Mönchsweihen; er legte sich in einen Sarg und nahm weder Speise noch Trank zu sich, um schneller zu sterben. So lag er lange im Sarge in seiner Zelle. Eines Nachts erwachte das ganze Kloster: Nifont schrie mit übler Stimme. Man kam zu ihm in die Zelle und sah: Nifont sitzt in seinem Sarge aufrecht, schmäht den Heiland und die Mutter Gottes, flucht unflätig und knirscht mit den Zähnen. Die Mönche liefen voller Angst aus seiner Zelle, läuteten die Glocke, versammelten sich in der Kirche und beteten die ganze Nacht hindurch. Nifont ging aber um die Kirche herum und rüttelte an der Türe, konnte sie aber nicht aufreißen. Er stürzte sich dann zu den Fenstern und Gittern und fluchte mit unflätigen Worten. Gegen Morgen wurde er aber still.

Um die Mittagsstunde fand man ihn im Wäldchen, im Sumpfe: Nifont lag nackt auf dem Rücken, und die Mücken und Schmeißfliegen klebten an ihm und stachen ihn. Der Abt wollte mit ihm sprechen, aber Nifont sprang auf, lief davon und legte sich am anderen Rande des Sumpfes nieder, und das Ungeziefer klebte wieder an ihm.

Der Abt ließ ein Stück Brot bringen und es neben seinem Kopfe niederlegen. Und Nifont aß von dem Brot gerade soviel, um nicht Hungers zu sterben, und litt sein Martyrium weiter. Sein ganzer Körper bedeckte sich mit Wunden und Grind, und das Ungeziefer stach ihn nicht mehr, und er konnte nicht sterben. Nun ging Nifont zum Abt und bat ihn, ihm irgendeine Arbeit anzuweisen. Und der Abt hieß ihn Ochsen und einen Pflug nehmen. Nifont nahm den Pflug und pflügte ein dreieckiges Stück Land hinter dem Flusse. Den ganzen Winter fällte er Bäume und fuhr die Stämme zum Bau von neuen Zellen. Er tat alle schwere Arbeit. Im Frühjahr eggte er den Acker und besäte ihn mit Hafer. Das ganze Jahr hatte er kein einziges Wort gesprochen und jede Nacht sein Fleisch gemartert. Man meinte, der Hafer würde auf Nifonts Acker nicht aufgehen. Aber der Hafer ging üppig auf, Nifont erntete ihn und wurde von nun an heiterer. Aber er tat noch immer seinen Mund nicht auf und verminderte seine Arbeit nicht. Nun schweigt er schon seit zwanzig Jahren. Jetzt ist er alt und leuchtend. Die Wallfahrer bringen ihm oft ihre Kinder, er nimmt sie auf die Arme, küßt sie, streichelt sie und blickt ihnen in die Augen, und die Kinder spüren eine wunderbare Erleichterung.«

Das erzählten uns die Wandersleute über Nifont. Voriges Jahr in den Petrifasten ging ich mit den Meinen auf die Wallfahrt. Wir besuchten auch das Kloster von Christi Verklärung. Es ist ein herrliches Kloster am Flußufer in einem Birkenwalde. Der Klosterdiener, der uns führte, zeigte uns Nifont. Der Selige kam aus dem Birkenwalde, groß und aufrecht, in einer schwarzen Kutte, die bis an die Erde reichte, und einer Mönchskappe mit einem weißen Kreuz. Er ging leichten Schritts. Und er sah uns unter der Kappe mit hellen, seligen Augen an, die nicht mehr von dieser Welt waren.

Er blieb vor uns stehen, verneigte sich tief und ging weiter, und es sah so aus, als berührten seine Füße nicht das Gras.


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