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»Kutscher, jage Deine Pferde, so rasch Du nur kannst … Ich höre, Madame Lamolle … Also: während ich im Rauchzimmer wartete …?«
»Ich stieg die Treppe hinauf, ging auf mein Zimmer. Zog Hut und Cape aus …«
»Das weiß ich.«
»Woher?«
Die Hand Jansens zitterte hinter ihrem Rücken. Zoe antwortete mit einer halb liebkosenden Bewegung.
»Ich hatte nicht bemerkt, daß der Kasten, mit welchem die Tür ins Nachbarzimmer verstellt war, weggerückt worden war. Kaum hatte ich Zeit, mich dem Spiegel zu nähern … Und schon ging die Tür auf. Vor mir stand – Rolling. Aber ich wußte genau, daß er noch gestern in Paris war. Ich wußte auch, daß er vor dem Fliegen Todesangst hat … Wenn er aber fliegt – dann heißt es für ihn Tod oder Leben! … Jetzt weiß ich, was er vorhatte … Aber damals geriet ich einfach in Wut. Mich in eine Falle locken! … Ich hatte ihm solche Wahrheiten gesagt, daß er sich die Ohren zuhielt und fortging …«
»Er kam zu mir ins Rauchzimmer und schickte mich auf die Yacht …«
»Darum handelt es sich … So eine Närrin bin ich … Wein, Tanz … Ja, ja, mein lieber Freund … wenn man kämpfen will, Großes erreichen will, dann ist keine Zeit für Dummheiten … Zwei, drei Minuten später kehrte er wieder zurück. Ich sagte: Wir müssen uns aussprechen … Er beginnt: Meine Teuerste … und all das in einem Ton, den ich ihm nie zuvor erlaubte … »ich habe mich nicht auszusprechen … Sie werden diese Zimmer nicht eher verlassen, als bis ich Sie persönlich befreien werde …« Dann gab ich ihm ein paar Ohrfeigen …«
»Sie sind ein echtes Weib!« sagte Jansen entzückt.
»Nein, lieber Freund – das war meine zweite Dummheit … Aber, was für ein Feigling er ist! … Vier Ohrfeigen ließ er sich geben … Stand da, mit zitternden Lippen, kreidebleich … versuchte bloß, meine Hand zurückzuhalten – das ist ihm aber teuer zu stehen gekommen. Und schließlich: die dritte Dummheit: ich begann zu weinen …«
»Oh, welch' ein Nichtsnutz!«
»Warten Sie, Jansen. Rolling hat eine Idiosynkrasie gegen Tränen. Von Tränen bekommt er Krämpfe … Lieber hätte er sich noch vierzig Ohrfeigen geben lassen. Dann rief er den Polen – der war die ganze Zeit hinter der Tür gestanden. Sie hatten vorher alles verabredet. Der Pole setzte sich in den Lehnstuhl. Rolling sagte zu mir: »Im äußersten Falle ist ihm befohlen, zu schießen!« Und ging fort. Mir blieb nichts übrig, als mich zu beruhigen und die Sache zu überdenken. Ich nahm den Polen in Arbeit. Nach einer Stunde war mir der verräterische Plan Rollings bis in die kleinsten Details klar. Jansen, mein lieber Jansen, es handelt sich um mein Glück … Wenn Sie mir nicht helfen, dann ist alles verloren … Jagen Sie den Kutscher, er soll die Pferde antreiben …«
Die Kalesche flog über den Kai, der im ersten Morgenrot ganz leer war. Sie hielten vor der Granittreppe, die zum Meer führte, wo ein paar Boote auf dem schwarzöligen Wasser lagen.
Kurz darauf stieg Jansen, auf den Händen die kostbare Last des Körpers von Madame Lamolle tragend, geräuschlos über die Strickleiter, die an der Heckseite der »Arizona« herabgelassen war, an Bord der Yacht.
Rolling erwachte von der Kälte des Morgens. Das Deck war feucht. Die Lichter auf den Masten verblaßten. Bucht und Stadt lagen noch im Schatten, aber der Rauch des Vesuv war von der aufsteigenden Sonne bereits rosafarben.
Beinahe furchtsam betrachtete Rolling die Wachtfeuer, die Umrisse der Schiffe. Er näherte sich dem Wachthabenden, blieb eine Weile neben ihm stehen, schnaubte durch die Nase, stieg auf die Kommandobrücke. Sofort darauf trat Jansen aus der Kajüte, sauber gewaschen und gebügelt. Wünschte ihm einen guten Morgen. Wieder schnaubte Rolling durch die Nase, diesmal ein wenig höflicher als bei dem Wachthabenden.
Dann schwieg er lange Zeit, drehte zwischen den Fingern ununterbrochen einen seiner Rockknöpfe. Dies war eine schlechte Gewohnheit, die ihm schon seinerzeit Zoe abgewöhnen wollte. Aber, jetzt war alles egal. Uebrigens wird es wahrscheinlich in der kommenden Saison in Paris Mode sein, die Knöpfe so zwischen den Fingern umzudrehen und die Schneider werden womöglich sogar speziell Knöpfe erfinden, die man leicht umdrehen kann.
Abgerissen fragte er:
»Tauchen Ertrunkene wieder auf?«
»Wenn man ihnen kein Gewicht angebunden hat …« antwortete Jansen ruhig.
»Ich frage: wenn ein Mensch im Meer ertrunken ist, dann ist er ertrunken?!«
»Kommt vor – eine unvorsichtige Bewegung, oder eine Welle trägt ihn davon, oder eine andere Gelegenheit – alle die gehören in die Klasse der Ertrunkenen. Die Behörden pflegen ihre Nase in derlei Dinge nicht hineinzustecken!«
Rolling zuckte mit den Achseln:
»Das ist alles, was ich über Ertrunkene erfahren wollte. Ich gehe in meine Kajüte. Wenn sich ein Boot nähert – ich wiederhole: nicht verständigen, daß ich an Bord bin. Den Ankommenden empfangen – und mir melden!«
Er ging fort. Jansen kehrte in seine Kajüte zurück, wo hinter den blauen, zusammengezogenen Stores auf der Kapitänskoje Zoe schlief.
Nach acht Uhr näherte sich der Arizona ein Boot. Ein zerlumpter Mensch zog die Ruder ein und rief:
»Hallo – Yacht ›Arizona‹?«
»Angenommen: ja?!« antwortete der dänische Matrose, sich über Bord neigend. Habt Ihr auf Eurer Kiste einen gewissen Rolling, den Besitzer?«
»Angenommen: ja?!«
Der zerlumpte Mensch zeigte lächelnd wunderschöne Zähne:
»Fange auf!«
Geschickt warf er einen Brief auf das Deck, pfiff, schnalzte mit der Zunge:
»Matros' … Salzaugen … wirf' Zigarre! …«
Und während der Däne überlegte, was man ihm zuwerfen könnte, war er schon auf und davon mit seinem Boot, worin er tanzte und voll Lebensfreude einen modernen Foxtrott in den heißen Morgen hinausschmetterte.
Der Matrose hob den Brief auf und trug ihn seinem Kapitän hin. So lautete sein Befehl. Jansen schob die Stores ein wenig zur Seite, neigte sich über die Schlafende. Sie schlug, noch ganz verschlafen, die Augen auf:
»Was? Er ist schon hier?«
Jansen überreichte ihr den Brief. Zoe durchflog ihn:
»Ich bin grausam verwundet. Seien Sie barmherzig. Ich habe Ihre Interessen wie ein Löwe verteidigt, aber das Unmögliche ist geschehen: Madame Zoe ist in Freiheit. Ich werfe mich Ihnen zu Füßen …«
Ohne zu Ende zu lesen, zerriß sie den Brief:
»Jetzt können wir ihn ruhig erwarten.« (Ruhig blickte sie auf Jansen, streckte ihm die Hand entgegen.) »Mein lieber Jansen. Wir müssen einig werden. Sie gefallen mir. Ich brauche Sie. Deshalb – muß das Unvermeidliche geschehen …« Sie seufzte leise:
»Ich fühle – mit Ihnen werde ich noch viel Kopfzerbrechen haben … Mein lieber Freund, das alles ist eigentlich überflüssig im Leben – Liebe, Eifersucht, Treue. Ich weiß es – der Trieb! Das ist eine furchtbare Kraft. Im Weib und im Manne entstehen Elektromagneten. Und wären wir gleichzeitig auf verschiedenen Halbkugeln der Erde – ein magnetischer Sturm würde Sie mir in die Arme treiben – Sie würden Gitter brechen, über Leichen gehen, tausende von Menschen unglücklich machen, selbst Ihr eigenes Glück zerstören – nur um Ihren Körper an den meinen drücken zu können. Darin liegt Größe. Elementarkraft. Nun, und dann beginnt man, sich ein Nestchen zu bauen. Der Mann wird zum langweiligen Birkhahn. Pfui – als wären uns nicht die Minuten unseres Lebens vorgerechnet! Ich bin ebenso frei, mich hingeben zu können, wie Sie – um zu nehmen. Merken Sie sich das, Jansen! Wir schließen einen Vertrag: entweder gehe ich zugrunde – oder ich werde die Welt beherrschen, als autokratische Kaiserin von sechs Kontinenten. (Jansens Gesicht zuckte und er biß sich in die Lippen. Zoe gefiel diese Bewegung.) Sie werden das Werkzeug meines Willens sein. Vergessen Sie für den Augenblick – daß ich ein Weib bin. Ich bin eine Phantastin. Ich bin eine Abenteuerin – verstehen Sie das? Alles ist auf dieser Basis aufgebaut. Ich will, daß all das mir gehöre (sie beschrieb mit der Hand einen Kreis). Und der Mensch, der Einzige, der mir das alles geben kann – soll binnen kurzem auf die »Arizona« kommen. Ich erwarte ihn und auch Rolling erwartet ihn …« Jansen hob den Finger, wandte sich um. Zoe zog die Stores zusammen. Jansen kam auf die Kommandobrücke. Dort stand, an das Geländer geklammert, Rolling. Sein Gesicht mit dem schiefstehenden und zusammengepreßten Mund war von Zorn entstellt. Er starrte in die noch nebelige Ferne der Bucht.
»Da ist er« – preßte er mit Mühe zwischen den Lippen hervor, die Hand ausstreckend. Sein Finger hing wie eine Hacke über dem Wasser, »dort – in jenem Boot.« Eilig, den Matrosen Angst einflößend, krummbeinig, einer dunklen Krabbe ähnlich, lief er über die Treppe der Kommandobrücke hinunter und verschwand in seiner Kajüte. Von dort aus wiederholte er telephonisch den Befehl an Jansen, den Menschen, der sich in einem sechsrudrigen Boot näherte, an Bord zu nehmen.
Nie pflegte es vorzukommen, daß Rolling die Knöpfe seines Rockes abriß. In dieser Minute aber riß er alle drei Knöpfe ab – so lange hatte er an ihnen gedreht. Er stand inmitten der prächtigen, mit Schirasteppichen belegten, mit seltenem Holz getäfelten Kajüte und blickte auf die Uhr über der Eingangstür.
Nachdem er die Knöpfe abgerissen hatte, begann er, an den Nägeln zu beißen. Wieder geriet er in den Zustand seiner früheren Wildheit. Er hörte den Anruf des Wachthabenden, die Antwort aus dem Boot – und er zitterte, als er diese Stimme hörte: Garin.
Das schwere Boot schlug an die Bordwand der Yacht. Die Matrosen fluchten. Die Treppe knarrte. Schritte eilten. »Pack an … fertig … Vorsicht! … Wohin tragen? Auf das untere Deck.« Man lud irgendwelche Kisten aus. Dann wurde es stille.
Garin war samt den Apparaten in die Falle gegangen! Endlich! Rolling packte seine Nase mit der Hand und gab ziehende, hustende Töne von sich. Die Leute, die ihn kannten, behaupteten, sie hätten ihn nie im Leben lachen gesehen. Das stimmte aber nicht – Rolling lachte gerne, aber ohne Zeugen, allein, nach großen Erfolgen und, ebenso wie jetzt, auf Hundeart.
Dann rief er Jansen telephonisch an:
»Haben Sie ihn an Bord genommen?«
»Ja.«
»Führen Sie ihn in die untere Kajüte und sperren Sie von außen ab. Versuchen Sie, die Sache glatt zu machen – ohne Lärm.«
»Zu Befehl!« antwortete Jansen lebhaft – allzu lebhaft. Rolling gefiel der Ton nicht.
»Hallo – Jansen?!«
»Ja.«
»In einer Stunde muß die Yacht auf offener See sein!«
»Zu Befehl!«
Und wieder war es Rolling, als hörte er aus diesem Tonfall eine Beleidigung heraus, als würde sich auf der Straße irgendein Bube hinter seinem Rücken nach ihm umdrehen, Grimassen schneiden und ihm eine Nase drehen, so eine Nase!
Auf der Yacht begann ein Hin- und Herlaufen. Die Winde der Ankerkette klirrte. Die Motoren begannen zu surren. Hinter dem Illuminator sah man, wie die grünen Wasserstrahlen zu fließen begannen. Das Ufer begann, sich zu drehen. In die Kajüte drang feuchte Luft. Und ein freudiges Gefühl von Geschwindigkeit durchschauerte den ganzen schlanken Rumpf der »Arizona«.
Selbstverständlich sah Rolling ein, daß er eine große Dummheit begangen hatte, für die er schwer bezahlen mußte. Aber er war nicht mehr der Rolling von einst, der nüchterne Spieler, der unbezwingliche Büffel, der widerspruchslose Besucher aller sonntäglichen Predigten. Zoe hatte ihn alle Qualen fühlen gelehrt, sein Gehirn in einen krankhaften, roten Nebel gehüllt. Und ob er jetzt so oder so handelte, – er tat alles das nicht, weil es für ihn von Vorteil war, sondern weil all seine Qual, die schlaflosen Nächte, der Haß und die Eifersucht gegen Garin nach irgendeinem Ausgang suchten: Garin niederzutreten und Zoe zurückzuholen.
Diese Minuten innerlicher Klarheit waren furchtbar für ihn. Es war, als erblickte er neben sich einen zweiten Rolling: der blind Verzückte eilte dahin, ins Verderben, während der andere versuchte, zu retten, was noch zu retten war. Selbst der unglaubliche Erfolg, den man durch die Explosion der Anilinfabriken errungen hatte, zog nur wie im Traum in seiner Erinnerung vorüber. Rolling interessierte sich nicht einmal dafür, wie viel hunderte von Millionen ihm die Börsen der ganzen Erde am Tage des neunundzwanzigsten ausbezahlt hatten. Er hatte an diesem Tage Garin in Paris verabredungsgemäß erwartet – er war aber nicht erschienen. Rolling hatte dies vorausgesehen und war am dreißigsten per Aeroplan nach Neapel gefahren.
Nun war Zoe beseitigt. Zwischen ihm und Garin stand niemand mehr. Rolling trat gesenkten Hauptes aus der Kajüte in den Mittelgang der Yacht. Die Abrechnung mit Garin war bis in die kleinsten Details durchdacht. Es war nicht notwendig, die Sache zu überstürzen. Er begann, eine Zigarre zu rauchen, öffnete die Tür des unteren Decks – dort standen die Kisten mit den Apparaten. Zwei Matrosen, die auf ihnen saßen, sprangen auf. Er schickte sie in den Laderaum.
Dann drehte er die Schnalle der gegenüberliegenden Tür um, von wo eine Wendeltreppe zu den unteren Kajüten führte. Als er bereits die Türklinke in der Hand hielt, bemerkte er, daß eben die Asche seiner Zigarre zu Boden gefallen war. Selbstzufrieden lächelte er: seine Gedanken waren klar, das Blut floß regelmäßig in seinen Adern – schon lange hatte er nicht eine derartige innere Ruhe empfunden.
Er riß die Tür auf. Unter dem Kristallgewölbe des Oberlichts saßen, die Blicke auf den Eintretenden geheftet: Zoe, Garin und Schelga. Rolling machte einen Schritt rückwärts in den Korridor, der Atem blieb ihm stehen. Seine ganze Ordnung im Kopfe ging zum Teufel. Die Nase bedeckte sich mit Schweiß. Und, was ganz absurd war – Rolling lächelte. Kläglich und dumm lächelte er, wie ein Angestellter, den man beim Radieren im Kontobuch überrumpelt hat. (Ein ähnlicher Fall hatte sich mit ihm vor 25 Jahren zugetragen.)
Es geschah das schrecklichste, was ihm widerfahren konnte: Rolling geriet in eine lächerliche Lage.
Was war da zu tun? Mit den Zähnen knirschen, toben, schießen? – das wäre noch schlimmer, noch dümmer … Kapitän Jansen hatte ihn verraten – das war klar. Die Mannschaft war unzuverlässig …
Mit Anspannung aller Kräfte gelang es Rolling, diese Grimasse aus seinem Gesicht zu bannen und seine Augen nahmen einen starren Blick an, als wären sie aus Zinn:
»Ah!,« und er hob grüßend die Hand, »Garin. Was gibt's? Auch Sie wollten sich also ein wenig durchlüften? Bitte, sehr erfreut … auch wenn ich hier nicht der Herr bin, sondern selbst nur auf Besuch …«
Zoe antwortete schneidend:
»Rolling, Sie sind ein schlechter Schauspieler. Hören Sie auf, Ihr Publikum zu amüsieren! Kommen Sie herein und setzen Sie sich. Hier sind alle Ihre Todfeinde versammelt. Sie selbst sind Schuld daran, daß Sie in dieser lustigen Gesellschaft eine Spazierfahrt durch's Mittelländische Meer machen müssen!«
Rolling blickte sie ungeschickt an:
»Bei großen Geschäften, Madame Lamolle, gibt es privat weder Freundschaft noch Feindschaft. Da gibt es nur – Spiel!«
Und er setzte sich an den Tisch, wie auf einen Königsthron, zwischen Garin und Zoe:
»Gut – ich habe also das Spiel verloren – wieviel soll ich gleich bezahlen?«
Garin antwortete mit glänzenden Augen, scheinbar bereit, in ein zufriedenes Lachen auszubrechen.
»Genau die Hälfte, alter Freund, die Hälfte – so wie es in Fontainebleau vereinbart wurde. Hier sitzt der Zeuge« – und er deutete auf Schelga, der finsterer Miene mit den Fingernägeln auf der Tischplatte trommelte, – »ich will mich momentan keineswegs in Ihre Kassabücher einschleichen. Aber so, dem Augenmaß nach: eine Milliarde, in Dollars … Aus dem Kolonialkapital – das ist für Sie schließlich eine Kleinigkeit. Sie ziehen doch verteufelt schweres Geld aus Europa … Eine Milliarde also, zur endgültigen Abrechnung!«
»Es wird schwer sein, die Summe auf einmal flüssig zu machen. Ich werde die Sache überdenken. Heute noch fahre ich nach Paris. Ich hoffe, daß ich schon Freitag, sagen wir, in Marseille, Ihnen den größten Teil dieser Summe einhändigen kann …«
»Hoho,« sagte Garin, »aber, lieber Alter, Sie bekommen Ihre Freiheit erst nach Bezahlung dieser Summe wieder!«
Schelga warf ihm einen raschen Blick zu, schwieg aber. Rolling runzelte die Stirn, als hätte man eine große Taktlosigkeit begangen.
»Das soll heißen: Sie wollen mich auf diesem Schiff festhalten?«
»Ja.«
»Ich erinnere Sie, daß ich als Bürger der Vereinigten Staaten unantastbar bin. Wenn es darauf ankommt, wird die Flotte Amerikas meine Freiheit und meine Interessen verteidigen!«
»Umso besser!« rief Zoe, zornig und leidenschaftlich, »je eher – desto besser!« …
Sie erhob sich, streckte die Arme aus und preßte die Fäuste aneinander, daß sie ganz farblos wurden:
»Soll Eure Flotte gegen uns sein – soll die ganze Welt gegen uns sein – das will ich ja!«
Ihre kurze Jacke flog nach beiden Seiten auseinander, so heftig war ihre Bewegung. Die weiße Meerjacke mit den goldenen Knöpfchen, die kleinen, geballten Fäustchen, zwischen denen sie das Schicksal der ganzen Welt festzuhalten schien, die von Erregung finsteren, grauen Augen und die gebrochenen Linien ihres wunderschönen, erregten Gesichtes – all das war ebenso drollig wie grausam.
»Ich habe wohl schlecht gehört, gnädige Frau,« sagte Rolling, »Sie haben die Absicht, gegen die Kriegsflotte der U.S.A. zu kämpfen? Haben Sie das so gemeint?«
Schelga hörte auf, mit den Fingernägeln zu trommeln. Zum ersten Male während dieses verflossenen Monats wurde er aufgeräumt. Er streckte sogar seine Füße aus und lehnte sich bequemer in den Fonds seines Lehnstuhls – wie im Theater.
Zoe blickte auf Garin. Ihr Blick wurde immer finsterer:
»Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt. Pjotr Petrowitsch. Sie haben das Wort!«
Garin steckte die Hände in die Hosentaschen, stellte sich auf die Absätze seiner Schuhe und wiegte sich so, mit dem roten, fast geschminkt aussehenden, frischen Mund lächelnd. Diese verwegene Pose flößte keineswegs Vertrauen ein – im Gegenteil, es schien ihm gar nicht ernst zu sein. Zoe allein erriet, wie stahlhart die Energie dieses Menschen war, der den Ueberschuß seiner verbrecherischen Tatkraft spielen ließ:
»Erstens«, sagte er und verlegte das Schwergewicht von den Absätzen auf die Fußspitzen, »hegen wir durchaus keine ausschließliche Feindschaft gegen die amerikanische Nation. Jedenfalls aber werden wir uns bemühen, jede x-beliebige Flotte, die Ihre Unantastbarkeit zu verteidigen sucht, zu zerstören. Zweitens«, (er verlegte das Schwergewicht wieder von den Fußspitzen auf die Absätze): »wir bestehen keineswegs auf einer kriegerischen Austragung der Angelegenheit. Wir sind Zivilisten und haben nichts übrig für Waffengerassel. Wenn die Militärkräfte Europas und Amerikas uns das heilige, freie Recht zugestehen, uns ein beliebiges Territorium anzueignen – und wenn es sein muß, auch die Souveränitätsrechte auf dieses Gebiet – dann werden wir sie in Ruhe lassen, wenigstens in militärischer Beziehung. Im entgegengesetzten Falle aber wird gegen Land- und Seestreitkräfte Amerikas und Europas, gegen Festungen, Flottenbasen, Militärdepots, Generalstäbe usw. usw. unbarmherzig vorgegangen. Das Schicksal der Anilinwerke – hoffe ich – wird Sie genügend überzeugt haben, daß ich nicht das Blaue vom Himmel herunterschwätze!«
Er klopfte Rolling auf die Schulter:
»Hallo, Alter – und es gab doch eine Zeit, wo Sie als Kompagnon in mein Unternehmen eintreten konnten. Es hat Ihnen bloß an Phantasie gefehlt. Und all das kommt davon, daß Sie keine höhere Kultur besitzen. Was ist denn das: Börsenspekulanten zugrunde richten, Fabriken aufzukaufen … Billige Mätzchen … Und den einzigen, brauchbaren Menschen haben Sie – verpaßt!«
Rolling begann so auszusehen wie ein Verstorbener, der bereits in Zerfall übergeht. Mit Mühe die Worte hervorbringend, zischte er:
»Sie sind ein Anarchist! …«
Da begann Schelga, der sich mit der gesunden Hand durch das Haar gefahren war, derart zu lachen, daß oben, hinter dem Glasplafond das erschrockene Gesicht Kapitän Jansens erschien. Garin drehte sich auf dem Absatz herum: »Also: Volldampf nach Marseille! Schreiben Sie den Scheck, Rolling!«
In den nächsten Tagen ereignete sich folgendes: die »Arizona« warf an der Außenreede von Marseille Anker. Garin und Jansen präsentierten im Crédit Lyonnais den Scheck Rollings, in der Höhe von zwanzig Millionen Pfund. Den Direktor der Bank überfiel eine Panik und er fuhr eilends nach Paris.
An Bord der »Arizona« wurde Rolling für krank erklärt. Er saß hinter Schloß und Riegel in seiner Kajüte und rastlos überwachte Zoe seine Isolierung. Im Laufe von drei Tagen und Nächten nahm die »Arizona« flüssiges Heizmaterial an Bord, ferner Trinkwasser, Konserven, Wein usw. Die Matrosen und sonstigen Gaffer auf den Kais wunderten sich nicht wenig, als sich der eleganten Yacht eine Barke näherte, die voll mit Sandsäcken beladen war, um diese dort aufzuladen. Man sagte, die Yacht gehe nach den Salomonsinseln, wo es von Menschenfressern wimmeln soll. Tatsächlich aber hatte Kapitän Jansen Waffen eingekauft – zwanzig Karabiner, Revolver und Gasmasken.
An dem vereinbarten Tage erschienen Jansen und Garin wieder in der Bank. Der Stellvertreter des Finanzministers war eigens aus Paris nach Marseille gekommen. Von Liebenswürdigkeit triefend und, selbstverständlich ohne die Echtheit des Schecks im geringsten anzweifeln zu wollen, wünschte er aber trotzdem, den großen Rolling persönlich zu sehen. Man führte ihn an Bord der »Arizona«.
Rolling empfing ihn, ganz krank, mit eingefallenen Augen. Er konnte sich kaum aus dem Lehnstuhl erheben. Er bestätigte, daß er den Scheck persönlich ausgefertigt hatte, daß er im Begriffe stand, eine weite Reise mit seiner Yacht anzutreten und er bat, alle Formalitäten so rasch als möglich zu erledigen.
Der Stellvertreter des Ministers umklammerte die Rückenlehne des Sessels, und indem er nach Art Camille Desmoulins gestikulierte, hielt er eine Rede über die große Brüderschaft der Völker, über die kulturelle Schatzkammer Frankreichs und bat um eine Fristenstreckung für die Auszahlung des Schecks. Rolling, mit müde geschlossenen Lidern, schüttelte verneinend den Kopf. Sie kamen überein, daß der Crédit Lyonnais ein Drittel der Summe in Pfunden ausbezahlen werde, den Rest in Francs nach dem jeweiligen Kurs.
Das Geld wurde gegen Abend auf Militärkuttern zur »Arizona« gebracht. Nachdem sich alle Fremden entfernt hatten, erschienen auf der Kommandobrücke Garin und Jansen:
»Alle Mann auf's Oberdeck!«
Die Mannschaft stellte sich in Front auf und Jansen sagte zu ihnen mit kräftiger und strenger Stimme:
»Matrosen! Die Yacht ›Arizona‹ begibt sich auf eine äußerst gefährliche und bewegte Seefahrt. Ich möge verflucht sein, wenn ich für das Leben irgend eines von Euch, der an dieser Fahrt teilnimmt, bürge, ebenso wie für das Leben seines Besitzers oder dafür, daß das Schiff ganz bleiben wird. Ihr kennt mich, Ihr Haifischskinder … Ich verdopple die Löhnung, ebenso die üblichen Prämien. Allen, die heil nach Hause zurückkehren, wird eine lebenslängliche Pension bezahlt werden. Ich gebe Euch Bedenkzeit bis Sonnenuntergang. Wer will, kann das Schiff verlassen.«
Abends verließen acht Mann von der Besatzung die »Arizona«. Maestro Bellini, seinem Begleiter Schwarz und dem Maler unabhängiger Richtung Tito wurde in höflichster Weise nahegelegt, sich zu allen Teufeln zu scheren. Noch in derselben Nacht wurde die Mannschaft mit acht tollkühnen Taugenichtsen ergänzt, die Kapitän Jansen persönlich in verschiedenen Hafenkneipen aufgestöbert hatte.
Fünf Tage später legte die Yacht an der Außenreede von Southampton an und Garin präsentierte mit Jansen in der Bank of England einen Rolling'schen Scheck auf 20 Millionen Pfund. (Im Oberhaus wurde wegen dieser Sache eine leise Anfrage vom Führer der Arbeiterpartei gestellt.) Das Geld wurde ausbezahlt. Die Zeitungen jammerten. In vielen Städten kam es zu Arbeiterdemonstrationen. Die Journalisten stürzten sich auf Southampton. Rolling empfing niemanden. Die »Arizona« nahm neuerlich flüssiges Heizmaterial und ging in der Richtung gegen Westen in See.
Nach zwölf Tagen legte die Yacht im Panamakanal an und sandte ein Radio, das den Generaldirektor der »Rollinganiline« namens Mac Linney an den Apparat rief. Rolling, der im Radio-Ruoff unter der Mündung eines Revolvers saß, gab Befehl, Mac Linney möge zu einer bestimmten Stunde dem Ueberbringer seines Schecks, namens Mister Garin, 100 Millionen Dollar auszahlen. Garin fuhr nach New-York und kehrte mit dem Gelde und mit Mac Linney zurück. Das war ein Fehlgriff. Rolling sprach mit Mac Linney in Gegenwart von Zoe, Garin und Jansen genau fünf Minuten. Mac Linney führ mit der festen Ueberzeugung fort, daß die Sache nicht in Ordnung ging.
Dann begann die »Arizona« im leeren karibischen Meer zu kreisen. Garin fuhr unterdessen in Amerika kreuz und quer, kaufte Maschinen, Geräte, Instrumente, Stahl, Zement und Glas und ließ alles in San Franzisko auf Schiffe verladen. Ein Bevollmächtigter Garins schloß mit Ingenieuren, Technikern und Arbeitern Verträge ab. Ein anderer Bevollmächtigter fuhr nach dem Balkan, wo er unter den Ueberbleibseln der russischen weißen Armee fünfhundert Leute für Polizeidienste anwarb.
So verging ungefähr ein Monat. Rolling sprach per Radio täglich mit New-York, Paris, Berlin. Seine Befehle waren streng und unerbittlich. Nach dem Untergang der Anilinwerke hörte die deutsche chemische Industrie auf, sich ihm noch länger zu widersetzen. Auf allen Fabrikaten konnte man die Marke des »Anilinrolling« sehen: sie bestand aus einem gelben Kreis mit drei schwarzen Querstreifen. Oben stand: ›world‹, unten: ›Rolling Anilin Company‹. Es bekam nach und nach den Anschein, als müßte jeder Europäer diesen Stempel tragen, selbst in der Seele: den gelben Kreis. Auf diese Weise ging der »Anilinrolling« über die noch rauchenden Ruinen der deutschen Anilinwerke zum Angriff über.
Millionen müder und erbitterter Menschen schleppten die Last ihrer trostlosen Werktage in dieser barbarischen Welt dahin, die einst so prächtig war, nun aber überfüllt von Tränen und Blut, tobenden Kämpfen, Festmahlen und Kräfteüberschuß.
Ein beängstigender Hauch von Kolonialcharakter zog über ganz Europa hin. Hoffnungen erlöschten. Heiterkeit und Lebensfreude kehrten nimmer zurück. Unberechenbare Geistesschätze verwesten in den staubigen Bibliotheken. Die gelbe Sonne mit den drei schwarzen Querstreifen leuchtete über den riesigen Städten, Rauchfängen, mit ihrem unwirklichen Licht – Reklame, Reklame, Reklame, die den Menschen das Blut aus dem Körper sog, die aus jedem Schaufenster verspukter Straßen entgegengähnte: gelbe Kreise und Kreischen – Menschenantlitze, von Grimassen des Hungers, der Langeweile und Verzweiflung entstellt. Deutschland hungerte und arbeitete mit heraushängender Zunge. England krachte in allen Fugen, Klassenkämpfe schüttelten es durcheinander. In Frankreich wurde ein Schrei der Empörung laut, wie unterirdisches Getöse. Die Valuten stiegen. Die Steuerlast wurde schwerer, Schulden wuchsen. Und das heilige Gesetz, das gebietet, Pflicht und Recht zu ehren, wurde mit dem gelben Stempel vor den Kopf gestoßen: zahle!
Das Geld floß in Bächlein, Flüssen, dann in Strömen in die Taschen des »Anilinrolling«. Die Direktoren seiner Anilincompany benahmen sich in Europa wie zu Hause – sie mischten sich in die inneren Angelegenheiten und die Außenpolitik der europäischen Mächte. Als hätten sie ein Regime geheimer Reichsverweser ins Leben gerufen, wo Rolling und Mac Linney Priester waren und das Anilin – Gott.
Das ist ungefähr alles, was im Laufe des August vorgegangen war. Garin sauste noch immer von einem Ende der U. S. A. nach dem anderen, mit einem Stab von Ingenieuren. Tippmamsells, Vertretern und zwei Sekretären. Er arbeitete zwanzig Stunden im Tage. Nie fragte er nach dem Preis, nie feilschte er.
Mac Linney beobachtete ihn voll Unruhe und Staunen. Er konnte nicht verstehen, wozu man all dies Zeug kaufte und verlud, mit welcher Unbesonnenheit man da die Millionen Rollings vergeudete. Ein Sekretär Garins, eines der Tippfräulein und zwei Vertreter waren Mac Linneys Vertraute. Täglich sandten sie Mac Linney ausführliche Berichte nach New-York. Trotzdem aber war es schwer, aus diesem Wirbel von Einkäufen, Bestellungen und Verträgen sich klar zu werden.
Anfangs September erschien die »Arizona« wieder im Panamakanal, nahm Garin an Bord, fuhr in den Pazifischen Ozean und verschwand mit dem Kurs Süd-West.
In derselben Richtung dampften zwei Wochen später acht Frachtdampfer mit versiegelter Ordre ab.
Der Ozean war unruhig. Die »Arizona« hatte die Segel aufgespannt. Großsegel, Klüver – alle, außer den Marssegeln. Der schmale Rumpf der Yacht, mit den vom Wind geblähten, vollen Segeln, mit klingenden, singenden Wanten, das ganze eine dünne Schale, verschwand bald bis über die höchsten Mastwimpel unter den Wellen, bald schwang er sich auf den Kamm einer Welle, von Schaum triefend.
Tent war fortgeräumt, Luken geschlossen, Schaluppen auf Deckhöhe gezogen und fixiert. Die Sandsäcke, die entlang der beiden Bordränder lagen, wurden mit Draht festgebunden. Auf Back und Steven wurden zwei durchlöcherte Türme mit runden, kesselartigen Kammern auf der oberen Plattform errichtet. Diese Türme, mit Persenning bedeckt, gaben der »Arizona« das Aussehen eines halb armierten Schiffes.
Auf der Kommandobrücke, wohin nur kleine Spritzer von Wellen kamen, standen Garin und Schelga in ärmellosen Ledermänteln. Schelgas Arm war schon vom Gipsverband befreit, doch konnte er ihn noch zu nichts anderem benützen, als ein Streichholz an der Schachtel zu entflammen oder die Gabel zu gebrauchen.
»Der Ozean dort« sagte Garin, »und hier ein winziges Schiffchen, ein materialisiertes Kristallchen menschlichen Genies und Willens. Und trotz alledem geht's vorwärts, Genosse Schelga … Wir kämpfen … Und sehen Sie nur, welche Wellenberge!«
Eine riesige Welle warf sich über die rechte Bordwand. Ihr zischender Kamm wuchs und schäumte. Unter ihr bog sich, immer steiler, die gläsern-grüne gefurchte Oberfläche der See mit Plumpsäcken voll Gischt. Der Kamm richtete sich auf. Die »Arizona« legte sich auf die linke Seite. Der wilde Wind fauchte in die Segel und zog das Schifflein wieder hoch. Und die »Arizona«, ihren roten Boden bis zum Kiel bloßlegend, flog schräge über die tobenden Schäume. Deck und Schaluppen verschwanden und Back neigte sich bis über den Turmmast ins Wasser, das rings um die Kommandobrücke zischte.
»Ein feiner Sturm!« rief Garin.
Die »Arizona« richtete sich wieder auf, das Wasser strömte ab. Klüver plätscherten und sie jagte, ein wenig geneigt, wieder vorwärts.
»Ebenso ist der Mensch, Genosse Schelga, im Ozean der Menschen … Ich habe dieses Schiffchen leidenschaftlich liebgewonnen. Sind wir einander nicht ähnlich? Beider Brust windgeschwellt! Ha?«
Schelga zuckte mit den Achseln, antwortete nicht. Mit diesem Menschen da, der in sich selbst närrisch verliebt ist, wird er sich doch nicht hinstellen um zu streiten … Möge er sich an sich selber ergötzen, dieser ›Uebermensch‹. Nicht vergeblich hatten er und Rolling einander auf dieser Erde gefunden: erbitterte Feinde – und trotzdem kann einer ohne den anderen kaum atmen. Der chemische König hatte aus seinem Leib dieses von Ideen flammende Menschlein geboren, das seinerseits wieder Rollings Wüste befruchtete. Hole der Teufel alle diese Mystik!
Es war eigentlich wirklich schwer zu verstehen, warum die Haifische noch immer nicht Rolling zum Fraß vorgeworfen bekommen hatten. Er hatte seine Pflicht getan – wenn auch nicht eine Milliarde, aber dreihundert Millionen Dollar hatte Garin bereits erhalten. Jetzt wäre es Zeit, die Spuren unter Wasser zu tauchen … Aber nein – irgend etwas schien diese beiden Menschen noch aneinander zu binden …
Schelga verstand übrigens auch nicht, warum man ihn noch nicht in den Pazifik geworfen hatte. Damals, in Neapel, hatte Garin seiner bedurft, als dritten fürchterlichen Zeugen. Wäre damals Garin auf der »Arizona« in Neapel allein erschienen (es war ihm ja unbekannt, daß Jansen sein Verbündeter geworden war), hätte er mit unerwarteten Unannehmlichkeiten rechnen müssen. Aber zwei Gegner auf einmal beseitigen, wäre Rolling allenfalls schwerer gefallen. Das war ganz klar. Garin hatte jedenfalls die Partie gewonnen.
Wozu aber brauchte er jetzt noch Schelga? Während die »Arizona« noch in den karibischen Gewässern kreuzte, ließ man ihn noch beobachten. Hier aber auf offener See spürte ihm niemand mehr nach und er konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Er sah sich um, hörte zu, wo es möglich war. In seinem Innern überlegte er bereits irgendwelche Auswege aus dieser elenden Lage.
Nach dem Abendessen setzte sich der Geistliche ans Piano und Mme. Lamolle tanzte mit Jansen. Rolling pflegte gewöhnlich noch eine Zeitlang bei Tische sitzen zu bleiben und dem Tanz zuzusehen. Die Uebrigen begaben sich hinauf, in den Rauchsalon. Schelga stieg auf Deck, um seine Pfeife zu rauchen. Niemand verwehrte ihm das, niemand beachtete ihn. Eintönig gingen die Tage dahin. Der rauhe Ozean nahm kein Ende. Seine Wellen rollten unentwegt, wie tausend, wie Millionen Jahre ehedem.
Heute ging Garin gegen seine sonstige Gewohnheit Schelga auf die Kommandobrücke nach und begann mit ihm derart freundlich zu sprechen, als wäre seit der Zeit, als sie miteinander auf einer Bank des Boulevards der Gewerkschafts-Verbände in Leningrad beisammen saßen, nichts vorgefallen. Schelga wurde aufmerksam. Garin begeisterte sich an der Yacht, an sich selber, am Ozean, scheinbar aber ging er auf irgendein Ziel los.
Lachend sagte er, während er sich die Spitzen seines Bärtchens strich:
»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, Schelga!«
»Nun?«
»Erinnern Sie sich? Wir haben vereinbart, ehrliches Spiel zu halten!«
»Ja.«
»Da fällt mir übrigens ein … hat mir das einer Ihrer Gehilfen serviert? … damals, hinter dem Gebüsch … um ein Haar besser gezielt … und der Schädel wäre in Trümmer gegangen.«
»Ich weiß nichts derlei.«
Garin erzählte von dem Schuß bei der Villa Stufer. Schelga schüttelte den Kopf:
»Dafür kann ich nichts. Vielleicht war es Wolf oder Chlinow … Jedenfalls schade, daß Sie gefehlt haben!«
»Das heißt mit anderen Worten: ›Schicksal‹!?«
»Ja, Schicksal …«
»Schelga, ich stelle Sie vor die Wahl« – und Garins unerbittliche, wütende Augen näherten sich, sein Gesicht wurde automatisch länger, »entweder hören Sie auf, den Prinzipienreiter zu spielen … mit diesem verdammten Sowjetlächeln … oder: ich werfe Sie über Bord! Verstanden?«
»Verstanden.«
»Ich brauche Sie. Ich brauche Sie für große Dinge … Wir können überein kommen … Der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, sind Sie …«
Da kam eine riesige Welle, noch höher als die letzte und stürzte sich auf die Yacht. Prasselnder Schaum bedeckte die Kommandobrücke. Sie warf Schelga ans Geländer. Seine hervorgetretenen Augen, sein aufgesperrter Mund, der kranke Arm mit dem ausgestreckten Finger – das alles tauchte aus ihr auf und verschwand im nächsten Augenblick unter den stürzenden Wassermassen. Garin stürzte sich in die Flut …
Späterhin erinnerte sich Schelga oftmals dieses Zwischenfalls. Das eigene Leben riskierend, hatte ihn darin beim Rockärmel ergriffen und so lange gegen die wütenden Wellen gekämpft, bis sie sich besänftigt hatten. Es stellte sich heraus, daß Schelga außen an der Kommandobrücke gehangen hatte. Seine Lungen waren voll Wasser. Schwer fiel er auf das Deck. Die Matrosen hoben ihn auf, pumpten ihn aus und trugen ihn in seine Kajüte.
Dorthin kam auch bald Garin nach, umgezogen und aufgeräumt. Lustig gab er Befehl, ein Glas Grog zu bringen und setzte sich, seine Pfeife rauchend, zu Schelga, das unterbrochene Gespräch fortzusetzen.
Schelga betrachtete sein fein gezeichnetes Gesicht, diesen mageren Körper, der in den ledernen Lehnstuhl hingestreckt war, die korrekten, eleganten Bewegungen. Ein sonderbarer, widerspruchsvoller Mensch. Ein Bandit, ein Taugenichts und Abenteurer … Aber: entweder infolge des Grogs oder unter dem Eindrucke der eben überlebten Erschütterung war es Schelga angenehm, Garin so vor sich sitzen zu sehen, einen Fuß übers Knie gelegt, rauchend und von verschiedensten Dingen plaudernd, ungeachtet dessen, daß die Wellenschläge von allen Seiten auf die »Arizona« niederprasselten, wie siedende Strahlen über das Glas des Illuminators sausten und jeden Augenblick Schelga auf seiner Koje hoch warfen oder Garin aus dem Lehnstuhl rissen …
Garin hatte sich seit Leningrad stark verändert – er war einer jener selbstsicheren, lächelnden, wohlwollenden Menschen geworden – wie man sie nur unter klugen und überzeugten Egoisten zu finden pflegt. Es hatte den Anschein, als fließe in seinen Adern statt Blut kostbarer Champagner. Was macht das Glück nur mitunter aus dem Menschen! …
»Warum haben Sie die bequeme Gelegenheit verstreichen lassen,« fragte Schelga, »oder ist Ihnen mein Leben so außerordentlich notwendig? Ich verstehe Sie nicht …«
Garin warf den Kopf zurück und lachte lustig und offen:
»Sie sind ein Sonderling, Schelga … Warum soll ich durchaus logisch handeln? … Ich bin doch kein Mathematikprofessor! … Wo sind wir eigentlich stehen geblieben in unserer Unterredung? … Köstlich: eine ganz simple Aeußerung von Menschlichkeit – und das verstehen Sie nicht! Zerbrechen sich den Kopf: was zum Teufel, für Vorteile will er jetzt wieder für sich herausziehen, daß er einen Ertrinkenden aus dem Wasser zieht? Gar keine, alle Wetter! … Reine Sympathie! … Menschlichkeit! Basta!«
»Als Sie die Anilinwerke in die Luft sprengten, haben Sie sehr wenig von einem Menschen an sich gehabt!«
»Nein!« schrie Garin auf, »nein! Können Sie denn noch immer nicht unter den Trümmern der Moral hervorkriechen? … Ach, Schelga, Schelga … Nehmen Sie ein Abführmittel über Nacht, trinken Sie Himbeersaft und schwitzen Sie sich ordentlich aus … Es sieht aus, als hätten Sie da Stellagen an die Wand genagelt, darauf kann man lesen: das ist gut, das ist böse, wie bei einer Weinkost. Spuckt aus, kostet, spuckt aus, kaut Brotrinde, sagt: dieser Wein ist gut, jener ist schlecht. Aber in allem richtet er sich nur nach den Bläschen auf der Zunge, dieser Weinkoster. So sieht die Wirklichkeit aus. Wo ist Euer Weinkoster in moralischer Hinsicht? In bezug auf die moralischen Weinmarken? Mit welcher Zunge kostet er diese?
»Alles, was zur Errichtung der Arbeiter- und Bauernmacht führt, ist gut« sagte Schelga, »alles, was daran hinderlich ist, – ist schlecht!«
»Ausgezeichnet, wunderbar, das kenne ich … Nun – und was geht das Sie an? Sind Sie ein Bauer mit dem Pflug in der Hand? Oder ein Fabrikarbeiter? Warum verteidigen Sie die Interessen dieser Leute? Was bindet Sie an die Sowjetrepublik? Wirtschaftliche Interessen? Blödsinn! … Ich schlage Ihnen fünfzigtausend Dollar Gage vor … Ich spreche jetzt im Ernst! Wollen Sie mit mir arbeiten?«
»Nein,« sagte Schelga ruhigen Tones.
»Also darum! … Also, Sie sind nicht ökonomisch, sondern gewissermaßen an die Idee gebunden? An die Ehrlichkeit, an das Wort, eine Materie höherer Ordnung. Warum aber fürchten sich bei Ihnen alle vor diesem Wort wie vor dem Tode? Und was war es, womit alle alten Revolutionäre in die zaristische Zwangsarbeit gejagt wurden?«
»Soll ich Ihnen das politische Alphabet hersagen?«
»Schon wieder … ich kenne es auswendig … Und immer wieder sage ich: richtig, aber man kann sich nicht so engherzig daran klammern. Die Analyse stimmt gerade in dem einen Punkt, wo die Weltrevolution einzusetzen hat. Richtig. Die Frist rückt heran, die Bourgeoisie beginnt, sich ihr eigenes Grab zu graben … Gut so. Aber Revolution ist nichts als eine tobende Explosion von Ideen. Andererseits: bei klarer Wirtschaft – kommt es zu keiner Revolution. Erst wird man den Führer hängen, wie zur Zeit Pugatschews … Das heißt: er hat die Idee geführt … Und die Moral der ganzen Idee: Verbote! Und Sie sind nichts, als ein boshafter Moralist – das ist alles, was ich Ihnen beweisen wollte. Sie wollen die Welt auf den Kopf stellen, die Wirtschaftsgesetze ausmisten, feudale Festungen schleifen. Das lasse ich Ihnen, meinetwegen. Auch ich will die Welt auf den Kopf stellen, aber auf meine Art. Aber ich werde sie nur mit der Kraft meiner Energie auf den Kopf stellen!«
»Trotz alldem! Merken Sie sich das, Schelga! Hören Sie, was ist denn das eigentlich: der Mensch? Der nichtigste Mikroorganismus, sich voll Entsetzen an die tönerne Erdkugel klammernd, der mit ihr durch eisige Finsternis fliegt? Oder ist er – Gehirn, dieser göttliche Apparat zur Verarbeitung besonders geheimnisvoller Gedankenmaterien? Einer Materie, eines Mikrons, das in sich das ganze Weltall birgt … Oh, ich weiß es genau, es wird die Zeit kommen, wo diese Menschlein, diese Hirnzentren, sich von der Erde losreißen werden, von der Erde, die zu alltäglich geworden ist, und mit der Geschwindigkeit gewichtsloser Teilchen in den Weltenraum hinauszufliegen – um vollkommenere Welten aufzusuchen, wo sie sich niederlassen können …«
»Es ist selbstverständlich sehr leicht, auf einer Yacht dahinzufahren, beladen mit Geld und Koffern … da kann man sich noch ganz andere Märchen erzählen … Aber auf den Putilowwerken z. B. dürfen Sie nicht so zu mir sprechen – dort würde man Sie eines besseren belehren, wie diese Teilchen in Wirklichkeit aussehen! …«
»Man würde mich erschlagen?«
»Zweifellos würde man Sie in Stücke reißen! Für solche Reden! …
Garin lachte belustigt:
»So!? Also Sie behaupten fest und steif, daß jeder Mensch verpflichtet ist, diese oder jene Stellage zu wählen – wie ich vorhin sagte. Und Zwischenstufen – Menschen, die außerhalb der Klassen stehen, soll es überhaupt nicht geben?«
»Nein, soll es nicht geben! Pflicht hat hier nichts zu tun. Aber solche Leute kann es gar nicht geben, sie haben nie existiert. Alle, bis herunter zum letzten Dorftrottel müssen sich früher oder später an einen der beiden Elektromagneten heften – die einen an das Plus, die anderen an das Minus. Sie können nicht begreifen, warum ich mich weigere, Ihr Geldangebot anzunehmen. Nehme ich es an, dann löse ich mich von dem Milieu, das mich ernährt, von meinem Elektromagneten. Der andere Pol aber zieht mich nicht an, sondern stößt mich ab … Und ich hänge mit Ihren fünfzigtausend Dollars in einer Zwischenstufe, in der Leere – mit anderen Worten: das, was Sie mir vorschlagen, ist – der Tod!«
Garin rückte sich bequemer in seinem Sessel zurecht, sog stark an seiner Pfeife. Seine sonst stets blassen Wangen röteten sich. Ohne weiter auf Schelga zu hören, unterbrach er ihn:
»Jetzt werde ich Ihnen meine Revolution auseinandersetzen. Ja, ja – ob ich die Eurige oder die meinige – es kann keine andere geben … Die Bourgeois werden ihr Leben nur für sehr teures Geld verkaufen – oh, Ihr werdet Euch an ihnen noch die Zähne ausbeißen! Aber ihre Musik ist schon abgespielt, sie sind schon in den »Jahren des Sohnes im Himmelreich« – wie meine Kinderfrau immer gesagt hat. So. Erstens: Es ist langweilig geworden … Mein lieber Freund: ist denn die arische Rasse zu dem Zweck durch die goldene Pforte der antiken Kultur geschritten, durch die Feste der Renaissance, um im dritten Jahrtausend, nachdem dreißig Millionen Menschenseelen vernichtet worden sind, in elende mißratene Bastarde auszuarten. Es ist verteufelt langweilig, sich in dieser Welt von Kinobesuchern herumzutreiben. Zweitens: Man muß die Erde in Ordnung bringen. Vom Standpunkt der reinen Mechanik aus ist der Koeffizient nützlicher Auswirkung menschlicher Arbeit gegenwärtig niedriger als bei der ersten Maschine von Stephenson. Sie schlagen vor, alle Macht in die Hände der Bauern und Arbeiter zu legen und eine planmäßige Wirtschaft in die Wege zu leiten. Das wäre möglich. Das könnte positiv ausfallen. Das bestreite ich nicht. Aber mich persönlich berührt das so gut wie gar nicht. Was käme z. B. bei so einer Kombination für mich heraus? Hm. Irgendein Arbeitskommissariat, irgendeine leitende Stellung vermöge meiner Fachkenntnisse – oder sollte ich mich vielleicht damit begnügen, zusehen zu dürfen, wie prächtig die jungen Triebe gedeihen? Ich bin nicht sentimental. Nein – ich schlage eine andere Ordnung vor. Hören Sie zu, mein Feind! Ich erobere mir alle Wertobjekte der Erde – kein Rauchfang wird ohne meinen Befehl rauchen, kein Schiff aus dem Hafen laufen, kein Hammer in Tätigkeit sein. Alles, bis zum Recht zum Atmen, ist dem Zentrum Untertan. Im Zentrum – stehe ich! Mir gehört das gesamte Gold. Ich präge mein Profil, von einem Kranz umgeben, auf die Vorderseite, das Profil von Mme. Lamolle mit der Blume der Gesalbten auf die Rückseite meiner Münzen. Darüber wird stehen: REX. Dann wähle ich »die oberen Zehntausend« aus. Sagen wir, das werden ungefähr zwei bis drei Millionen Paare sein, welche die Patrizierklasse vorstellen sollen. Sie werden sich den erlesensten Genüssen und künstlerischem Schaffen hingeben. Für sie werden wir, nach dem Beispiel des alten Sparta, eigene Gesetze schaffen, damit sie nicht zu Alkoholikern und Impotenzlern ausarten. Dann wird festgestellt, wie viele Arbeiterhände nötig sind, um der Kultur Genüge zu tun. Es wird eine Anwerbung ausgeschrieben. Die Angeworbenen – der Höflichkeit halber wollen wir sie ›Werker‹ nennen …«
»Nun, selbstverständlich …«
»Kommen Sie mir nicht zuvor … Lachen wollen wir, bis das Gespräch zu Ende ist … Sie werden nicht revoltieren, Freundchen … Die Möglichkeit von Revolutionen wird mit der Wurzel ausgerodet. Bei jedem Werker wird nach seiner Einreihung, vor Uebergabe des Arbeitsbuches, im Gehirn eine kleine Operation, eine Art Gehirnkastration vorgenommen. Ganz unauffällig – unter einer zufälligen Narkose … Es wird ihm ein wenig schwindlig – er kommt zu sich – und ist schon Sklave … Ein kleiner Durchstich am Schädelknochen … Eine Gruppe von ihnen wird irgendwo auf der wunderschönen Insel isoliert – zu Vermehrungszwecken. Dann wird man die Uebriggebliebenen irgendwie aus dem Wege räumen müssen – da sie mit der Zeit überflüssig geworden sein dürften. Da haben Sie die Struktur der künftigen Menschheit – nach Pjotr Garin! Diese feisten Kastratenjungens werden für Verpflegung nicht minder ergeben dienen und arbeiten als die Pferde. Sie sind keine Menschen – sie haben keine andere Sorge als den Hunger. Sie fühlen sich glücklich in der Verdauung genossener Nahrung. Und die Auserwählten, die Patrizier, sind schon Halbgötter. Ich versichere Sie, mein Freund, das wird dann das echte, goldene Jahrhundert, von dem die Dichter stets geträumt haben. Der Eindruck des Entsetzens angesichts der Räumung der Erde von überflüssigen Bewohnern wird sich bald verwischen. Dafür: welch ungeahnte Perspektiven für das Genie! Die Erde verwandelt sich in einen Garten Eden. Geburten werden geregelt. Die Werbung der Besten wird durchgeführt. Es gibt keinen Kampf ums Dasein mehr – das liegt alles in grauer Vergangenheit. Es wird eine schöne und verfeinerte Rasse heranwachsen, neue Organe des Denkens und Fühlens. Während der Kommunismus schwerfällig die ganze Menschheit bis zum Gipfel der Kultur führt – bin ich in zehn Jahren am Ziel … Zum Teufel – rascher als in zehn Jahren. Uebrigens spielt das keine Rolle mehr, wie lange …«
»Eine faschistische Utopie – jedenfalls interessant …« sagte Schelga.
»Mein Lieber, das ist keine Utopie – das ist das Kuriose! Wenn der Wind nicht umschlägt, sind wir schon morgen auf der Insel. Nächste Woche schon werden Sie verstehen, daß ich nicht spaße. Sie werden interessante und unerwartete Dinge sehen …«
»Womit wollen Sie beginnen? Mit dem Geldprägen?«
»Geldprägen? – Aha, der Moralist! Nein! Ich werde mit der Verteidigung beginnen. Die Insel befestigen. Man wird zweifellos versuchen, mich zu überfallen. Und gleichzeitig – in rasendem Tempo durch den Olivingürtel dringen. Die Folge wird sein: Entwertung des amerikanischen Goldvorrats, Bedrohung der Valuta. Merken Sie sich das: ich werde Gold in beliebigen Mengen herbeischaffen können. Dann gehe ich zum Angriff über. Es wird zu einem Krieg kommen – ärger als im Jahre vierzehn. Jetzt wird es heißen: infra-rote Strahlen gegen die Gase … Mein Sieg ist gewiß. Dann: Klassifikation der Bevölkerung, Werbung – Reinemachen. Lieber Freund: einen Berührungspunkt haben wir miteinander: die Welt muß auf den Kopf gestellt werden. Es ist langweilig geworden: und ich werde sie auf den Kopf stellen! Wissen Sie, daß sogar dieser Urtropf Rolling bereits beginnt, an mich zu glauben? … Ja …, ich habe mit ihm gestern gesprochen … Stellen Sie sich vor, er sagte, ich sei ein Faschist und bei weitem kühner, als Mussolini …«
Wieder lachte Garin. Schelga schloß die Augen. Das auf dem Boulevard der professionellen Verbände begonnene Spiel wurde zu einer ernsten Sache. Es blieb ein gefährlicher, aber nur ein einziger Weg, der ihn zum Sieg führen konnte … Gut so. Es muß sein. Er setzte sich aufrecht und streckte die Hand nach den Zigaretten aus. Lächelnd beobachtete ihn Garin:
»Haben Sie sich entschlossen?«
»Ja, ich habe mich entschlossen.«
»Prächtig. Ich decke meine Karten auf: ich brauche Sie so notwendig, wie man einen Feuerstein zum Funkenschlagen braucht. Schelga! Ich bin von Raubtieren umringt. Aber meine Sache verlangt phantastischen Elan. Wir werden uns noch verteufelt in den Haaren liegen – aber ich werde es erreichen, daß – Sie mit mir arbeiten. Wenn wir auch in der ersten Hälfte gegen viele Rollings kämpfen müssen … Ja, nebenbei: ich warne Sie! … nehmen Sie sich vor Rolling in acht! Er ist eigensinnig – und wenn er sich entschlossen hat, jemand umzubringen – dann tut er es auch …«
»Ich staune darüber, daß Sie ihn noch immer nicht den Haifischen vorgeworfen haben?!«
»Ich brauche ihn … als Geisel … Aber, jedenfalls ist er nicht in der Liste meiner oberen Zehntausend …«
Schelga schwieg. Dann fragte er ruhigen Tones:
»Sagen Sie, Garin – haben Sie nie Syphilis gehabt?«
»Stellen Sie sich vor: nein! Ich habe mir's schon selbst manchmal gedacht … Ob's in meinem Schädel da vielleicht nicht ganz in Ordnung ist … War sogar beim Arzt. Nichts als erhöhte Reflexe. Nun – gehen wir zum Abendessen!«
Die Gewitterwolken verschwanden im Nordwesten. Der blaue Ozean war unermeßlich zart und einschmeichelnd geworden. Die Wellenkämme glänzten wie Glas. Delphine jagten im Kielwasser der Yacht nach, einander überholend, sich überschlagend, feucht und munter. Guttural schrieen große Möven, die über den Segeln kreisten. In der Ferne stiegen aus dem Ozean, wie hellblaue Luftspiegelungen, die Umrisse einer felsigen Insel empor.
Aus einem der Türme an Deck rief ein Matrose: »Land!« Und die auf Deck Stehenden zitterten. Das war das Land der unbekannten Zukunft. Es glich einer langgestreckten Wolke, die am Horizont lag. Mit vollen, schneeweißen Segeln steuerte die »Arizona« auf sie zu.
Die Matrosen wuschen das Deck, mit den bloßen Füßen dahinschleifend. Die altertümliche Sonne loderte in den bodenlosen Weiten von Himmel und Ozean. Garins Augen waren von tiefen Schatten umrändert. Er zupfte an seinem Bärtchen und bemühte sich, den Schleier, der vor dieser Insel-Zukunft lag, zu durchdringen. Denn das, was wir: ›es wird sein‹, nennen, das ›ist‹. Die Rolle, die dem Menschen von der Geschichte zugeteilt ist, ist vorherbestimmt, sowohl was das vergangene, als auch was das zukünftige Leben anbelangt. O, wenn man nur die Zukunft erraten könnte!
Ueber den weiten Straßenzügen der Wassilij-Insel (Leningrad) lag ein herbstlicher Sonnenuntergang. In purpurdüsterem Licht lagen Holzbarken, Schlepper und Fischerboote da, Rauch lag wirr über den siebartigen Kränen der Stapel. Wie in Feuerbrand flammten die Scheiben der leeren Paläste auf, als hätte man in allen Stockwerken drollige Lichter angezündet und als stünden dort Schatten längst vergangener Tage, fremd, vergessen, verwundert.
Ueber die Granitplatten des Kais, an den Taupflöcken vorbei, spazierten Mädchen mit ihren Matrosen. Teertriefende Steuermänner, stutzerhafte Kapitäne mit goldbetreßten Aermeln gingen vorüber. Weiber saßen den Kai entlang, mit Sonnenblumenkernen in ihren Körben, Aepfeln und Weißgebäck. Mit den Beinen beschrieb irgendein Betrunkener komplizierte Kurven auf der Straße, und zu seiner Kränkung klingelte ihn die Glocke der Tram scharf an. All das schien im Licht des Sonnenuntergangs noch langsamer, fast unbeweglich zu sein.
Von Westen, hinter den Rauchschwaden, näherten sich auf der Newa ein Schiff. Es heulte, Leningrad und damit das Ende seiner Route begrüßend. Seine Scheinwerfer spielten auf den Säulen der Bergakademie, der Marineschule, auf den Gesichtern der Spaziergänger, bis sie auf den schwimmenden roten und weißen Säulen des Zollamts stehen blieben.
Es war eines der Schiffe von Derutter aus Stettin. Es begann die übliche geschäftige Visitation. Dieses eklige Gefühl, das man hat, wenn eine viertägige Reise beendet ist, man von den festen, ruhenden Granitplatten des Kais nur durch einen Fußsteig getrennt ist und Paß-, Kofferrevision und Warten über sich ergehen lassen muß.
Der Passagier erster Klasse – nach seinem Paß Agent der französischen »Metallurgique. S.A.« stand, dunkelhäutig, böse und mit hervorstehenden Backenknochen an Bord, gleichgültig das geschäftige Hin- und Herlaufen betrachtend. Er blickte nach der Stadt hin, die langsam in der Dunkelheit verschwand. Nur auf den Kuppeln der Isaakskathedrale, auf dem Peter-Paul-Dom blieb noch ein wenig Licht. Es schien, als hätte Peter der Große diesen spitzen Turm, der den Himmel zu durchbohren schien, als Schwert erdacht, das an der Meeresgrenze Rußlands sich drohend erheben sollte. Zwei Jahrhunderte lang hatte dieser Turm gegen West und Ost gedroht. Und die Glockenspieluhr hatte täglich ihr »Kol slavenj« (altrussischer Hymnus) feierlich gespielt. Nach altem Skythenbrauch hatte sich dieses Schwert über den Särgen der Zaren erhoben. Und über die unter den Festungswällen lebend Begrabenen.
Der böse aussehende Mann reckte sogar ein wenig den Hals nach dem Turm des Domes. Es schien, als wäre er erschüttert von diesem Anblick, wie ein Wanderer, der nach langen Jahren wieder das Dach des Vaterhauses sehen kann. Und da erklang über die finsteren Ufer der Newa eine feierliche Weise: auf dem Dom der Peter-Pauls-Festung, dort, wo das Licht über dem schmalen Schwert der Zarensärge im Verlöschen war, spielte das Glockenspiel – die Internationale.
Die Hände des Mannes verkrampften sich in dem Geländer, aus seiner Kehle drang ein unterdrückter Laut, der halb röcheln, halb brüllen war. Er blinzelte um sich, wandte der Festung den Rücken. Dann mußte er von Bord auf das Zollamt gehen. Mit hängendem Kopf näherte er sich. Als man ihn nach dem Namen fragte, antwortete er barsch:
»Lewy.«
Als es Nacht geworden war, ging er, mit einer karrierten Decke um die Schultern, in der Hand ein kleines Kofferchen, entlang des Kais der Wassilij-Insel. Es war fast niemand mehr auf der Straße – keine Spaziergänger, keine Weiber mit Weißgebäck. Die herbstlichen Sterne glänzten am Himmel. Mit einem verhaltenen, tiefen Seufzer auf den Lippen, reckte er seine Gestalt, betrachtete die umliegenden schlafenden Häuser, das Schiff, auf dessen beiden Masten Lichter brannten und wo der Motor leise hämmerte. Er schritt zur Brücke.
Irgendein schlanker Mensch in einer Bluse aus Segelleinwand kam ihm langsamen Schrittes entgegen. Im Vorübergehen sah er ihm ins Gesicht und murmelte: »Mein Gott!« Plötzlich rief ihm der laut und fragend nach:
»Alexander Iwanowitsch Wolschin?!«
Der Mann, der sich im Zollamt Artur Lewy genannt hatte, stolperte, lief aber sogleich, ohne sich umzuwenden, schneller der Brücke zu.
* * *