Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Gouvernement Ufa lebte ein Baschkire namens Iljaß. Sein Vater hatte ihm kein Vermögen hinterlassen, hatte ihn nur verheiratet und war ein Jahr darauf gestorben. Das Besitztum des Baschkiren bestand damals aus sieben Stuten, zwei Kühen und zwanzig Schafen; aber Iljaß war ein guter Wirtschafter und verstand zu verdienen. Vom Morgen bis zum Abend arbeiteten er und seine Frau. Früher als alle stand er auf und später als alle legte er sich nieder. So wurde er mit jedem Jahr reicher. Fünfunddreißig Jahre hatte er in Arbeit und Mühe verlebt und hatte ein großes Vermögen erworben. Jetzt besaß er zweihundert Pferde, einhundertundfünfzig Stück Rindvieh und zwölfhundert Schafe. Knechte hüteten die Pferde und die Herden, Mägde melkten die Stuten und die Kühe und bereiteten Kumys, Butter und Käse. Iljaß besaß alles im Überfluß und wurde in der ganzen Umgegend beneidet. Die Leute sagten:
»Ein glücklicher Mensch, der Iljaß, von allem hat er eine Menge. Der braucht gar nicht zu sterben.«
Angesehene Leute lernten Iljaß kennen und verkehrten mit ihm. Von weither kamen Gäste zu ihm gefahren, und er nahm sie alle auf und bewirtete sie; wer auch kam, für alle hatte er Kumys, für alle ein Glas Tee, Suppe und Hammelfleisch. Sobald Gäste kamen, wurde sofort ein oder gar zwei Hammel geschlachtet, wenn aber sehr viele kamen, so schlachtete man auch eine Stute.
An Kindern hatte Iljaß zwei Söhne und eine Tochter. Er verheiratete die Söhne und auch die Tochter. Solange er arm gewesen war, hatten die Söhne mit ihm gearbeitet und selbst die Herden des Vaters gehütet. Als er aber reich wurde, fingen die Söhne an, die Herren zu spielen, und einer von ihnen begann zu trinken. Der älteste wurde bei einer Prügelei erschlagen, der jüngere hatte eine hochmütige Frau, wollte dem Vater nicht mehr gehorchen, und Iljaß mußte ihn abfinden und sich von ihm trennen. Er gab ihm ein Haus und einiges Vieh und dadurch wurde sein eigener Reichtum geringer. Bald darauf befiel seine Schafe eine Krankheit und viele von ihnen kamen um. Dann kam ein Hungerjahr, das Heu mißriet und während des Winters ging viel Vieh zugrunde. Schließlich nahmen ihm die Kirgisen seine besten Pferde fort. So verminderte sich sein Besitz immer mehr und mehr. Er hatte auch nicht mehr soviel Kraft wie früher, und in den Siebenzigern war er soweit gekommen, daß er seine Pelze, Teppiche, Sättel, Zelte und endlich auch das letzte Vieh verkaufen mußte, so daß er gar nichts mehr besaß. Ehe er sich's versah, war er zum Bettler geworden, und auf seine alten Tage mußte er mit seinem Weibe bei fremden Leuten Unterkunft suchen. All seine Habe bestand in den Kleidern, die er am Leibe trug: einem Pelz, einer Mütze, Saffianstrümpfen und Schuhen, und aus seiner Frau Schamschemagi, die auch schon alt war. Der Sohn war in eine ferne Gegend gezogen und die Tochter gestorben. So war niemand da, der den alten Leuten helfen konnte.
Ihr Nachbar Muhamedschah erbarmte sich der Alten. Er selbst war weder arm noch reich, hatte gerade zu leben und war ein guter Mensch. Er erinnerte sich der früheren Gastfreundschaft des Iljaß, empfand Mitleid mit ihm und sagte:
»Kommt in mein Haus, Iljaß, du und deine Alte. Im Sommer arbeite, soviel es deine Kraft erlaubt, auf dem Felde, im Winter füttere das Vieh. Schamschemagi aber kann die Stuten melken und Kumys bereiten. Ich will euch beiden Nahrung und Kleidung geben, und wenn ihr was braucht, werdet ihr's mir sagen, dann geb ich's euch.«
Iljaß bedankte sich beim Nachbarn und lebte nun mit seiner Alten als Knecht bei Muhamedschah. Anfangs schien es ihnen schwer, dann aber gewöhnten sie sich, lebten zufrieden und arbeiteten nach Kräften.
Für ihren Herrn war es vorteilhaft, solche Leute bei sich zu haben, denn sie hatten ja selbst gewirtschaftet und kannten alle Einrichtungen in einer Wirtschaft, faulenzten nicht und arbeiteten, soviel sie konnten. Nur tat es Muhamedschah leid, zu sehen, wie Leute, die einst so hoch gestanden hatten, so tief heruntergekommen waren.
Und es geschah einst, daß zu Muhamedschah von weit her Gäste kamen. Auch ein Mullah kam mit. Muhamedschah befahl Iljaß, einen Hammel zu fangen und zu schlachten. Iljaß zog dem Hammel das Fell ab, kochte ihn und ließ ihn den Gästen vorsetzen. Die Gäste aßen das Hammelfleisch, tranken Tee und machten sich an den Kumys. Es sitzen die Gäste mit dem Wirt auf Daunenkissen, auf Teppichen, trinken aus Tassen Kumys und reden miteinander. Iljaß aber war inzwischen mit seiner Arbeit fertig geworden und ging an der Tür vorbei. Muhamedschah sah ihn und sagte zu einem Gast:
»Sahst du den Alten, der an der Tür vorüberging?«
»Ich sah ihn,« antwortete der Gast, »was ist denn an ihm Besonderes?«
»Besonderes ist an ihm, daß er hier in der Gegend einst der reichste Mann war. Er heißt Iljaß. Vielleicht hast du schon von ihm gehört?«
»Wie sollte ich nicht gehört haben,« antwortete der Gast, »gesehen hatte ich ihn bisher freilich nicht, aber sein Ruf war ja weit verbreitet.«
»Na, und jetzt besitzt er gar nichts mehr; er lebt bei mir als Knecht und seine Frau melkt meine Stuten.«
Da wunderte sich der Gast, schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf und sprach:
»Ja, man sieht, das Glück dreht sich wie ein Rad. Den einen hebt es in die Höhe, den andern stürzt es hinab. Na, und grämt sich der Alte?«
»Wer weiß das? Er lebt still, friedlich und arbeitet gut.«
»Und kann man mit ihm reden? ihn nach seinem Leben ausfragen?«
»Natürlich, das kann man,« erwiderte der Wirt und rief aus dem Zelt: »Babai (d. h. auf baschkirisch Großväterchen), komm doch herein, trink eine Schale Kumys und rufe auch deine Alte.«
Und Iljaß trat mit seiner Frau herein, begrüßte die Gäste und den Herrn, sprach ein Gebet und hockte am Eingang nieder. Seine Frau aber ging hinter den Vorhang und setzte sich zur Wirtin.
Man reichte Iljaß eine Tasse Kumys. Iljaß trank den Gästen und dem Wirt zu, verneigte sich, trank ein wenig und stellte die Tasse nieder.
»O, Großväterchen,« spricht einer der Gäste zu ihm, »es muß dir doch schmerzlich sein, wenn du uns so ansiehst und dabei an dein früheres Leben denkst und wie du jetzt so in Sorge deine Tage verbringst.«
Da lächelte Iljaß und sagte: »Wenn ich dir von Glück und Unglück erzählen würde, so würdest du mir nicht glauben. Frage lieber meine Alte, sie ist ein Weib und trägt das Herz auf der Zunge. Sie wird dir die ganze Wahrheit sagen.«
Und der Gast rief hinter den Vorhang:
»Nun, Großmütterchen, sage mir, wie denkst du über dein früheres Glück und über dein jetziges Unglück?«
Und Schamschemagi sprach hinter dem Vorhang:
»Ich denke so: der Alte und ich haben fünfzig Jahre miteinander gelebt, haben das Glück gesucht und nicht gefunden, und erst jetzt seit bald zwei Jahren, seitdem wir nichts mehr besitzen und als Knechte leben, haben wir das wahre Glück gefunden und brauchen kein anderes mehr.«
Die Gäste wunderten sich und der Hausherr wunderte sich, er erhob sich sogar ein wenig und schlug den Vorhang zurück, um die Alte anzusehen. Die Alte aber steht da mit verschränkten Armen, lächelt, blickt ihren Mann an, und ihr Mann lächelt ebenfalls. Und sie wiederholt:
»Ich spreche die Wahrheit, ich scherze nicht; ein halbes Jahrhundert haben wir das Glück gesucht, solange wir reich waren, und haben es nie gefunden. Jetzt ist uns nichts mehr geblieben, bei Fremden haben wir Unterkunft gesucht, und jetzt haben wir ein Glück gefunden, wie wir kein besseres brauchen.«
»Ja, worin besteht denn jetzt euer Glück?«
»Darin besteht es: als wir reich waren, hatten mein Alter und ich keine Stunde Ruhe. Wir konnten uns nicht aussprechen, konnten nicht an uns selber denken, nicht zu Gott beten, soviel Sorge hatten wir. Wenn Gäste kamen, hatten wir zu sorgen, womit wir sie bewirten sollen, was wir ihnen schenken sollen, damit sie uns keine üble Nachrede machen. Fuhren die Gäste davon, dann mußten wir nach unsern Knechten sehen. Die hatten Lust zu ruhen, etwas Gutes zu essen, wir aber mußten achtgeben, daß nichts von unserm Hab und Gut verloren gehe, und so sündigten wir. Dann wieder kam die Sorge, daß der Wolf nicht am Ende ein Füllen oder ein Kalb fresse, daß der Dieb die Pferde nicht forttreibe. Wenn wir uns niederlegten, konnten wir nicht einschlafen aus Furcht, daß die Schafe die Lämmlein erdrücken könnten. Oft standen wir in der Nacht auf, um nach dem Rechten zu sehen, aber kaum hatten wir uns etwas beruhigt, so überfiel uns die Sorge, ob wir genug Futtervorrat für den Winter hätten. Und das ist noch nicht genug: mein Alter und ich lebten auch nicht friedlich miteinander. Er sagte, so muß man es machen, und ich sagte, nein, so; dann begannen wir zu streiten und sündigten wieder. So folgte eine Sorge der andern, eine Sünde der andern und wir sahen keine glücklichen Tage.«
»Nun und jetzt?«
»Jetzt stehen wir auf, plaudern miteinander in Liebe und Eintracht, zum Streiten haben wir ja keinen Grund, ebensowenig zum Sorgen. Unsere einzige Sorge ist, daß wir dem Herrn treu dienen. Wir arbeiten nach unsern Kräften, arbeiten mit Lust, damit der Herr keinen Schaden, sondern Vorteil habe. Kommen wir heim, so ist das Mittagessen fertig, das Nachtmahl ist fertig, Kumys ist genug da. Wenn es kalt ist, so ist getrockneter Kuhdünger zum Heizen da, und an Pelzen fehlt es uns auch nicht. Wir haben Zeit, uns auszusprechen, an unser Seelenheil zu denken und zu Gott zu beten. Fünfzig Jahre haben wir nach dem Glück gesucht, jetzt erst haben wir es gefunden.«
Die Gäste lachten. Iljaß aber sagte:
»Lacht nicht, Brüder, das ist kein Scherz, sondern so ist das menschliche Leben. Meine Alte und ich, wir waren früher auch töricht und weinten, als wir unsern Reichtum verloren, jetzt aber hat Gott uns die Wahrheit entdeckt und wir offenbaren sie euch nicht zu unserm Vergnügen, sondern zu euerem Heil.«
Der Mullah sprach: »Das ist eine kluge Rede, und Iljaß hat die volle Wahrheit gesprochen. So steht es auch in der Schrift geschrieben.«
Da hörten die Gäste zu lachen auf und wurden nachdenklich.