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Paschenjka war längst nicht mehr Paschenjka, sondern eine alte, ausgemergelte, runzlige Praskowja Michailowna, die Schwiegermutter eines Pechvogels, des dem Trunk ergebenen Beamten Mawrikiew. Sie lebte in der Provinzstadt, in der der Schwiegersohn seine letzte Stelle gehabt hatte, und ernährte die ganze Familie: die Tochter, den kranken neurasthenischen Schwiegersohn und fünf Enkelkinder. Sie ernährte sie damit, daß sie den Kaufmannstöchtern Musikstunden gab. Sie hatte manchmal vier, manchmal fünf Stunden am Tage und verdiente so gegen sechzig Rubel im Monat. Davon lebten sie alle in Erwartung einer Anstellung für den Mann. Praskowja Michailowna schrieb Briefe an alle ihre Verwandten und Bekannten mit der Bitte um eine Stelle für den Schwiegersohn, darunter auch an Ssergij. Dieser Brief erreichte ihn aber nicht mehr.
Es war Sonnabend, und Praskowja Michailowna knetete selbst einen Hefeteig mit Rosinen, wie ihn der leibeigene Koch bei ihrem Papa so gut zu bereiten verstand. Praskowja Michailowna wollte ihren Enkelkindern am Sonntag etwas Gutes geben.
Mascha, ihre Tochter, war mit dem Kleinsten beschäftigt, die älteren Kinder, der Junge und das Mädchen, waren in der Schule. Der Schwiegersohn hatte eine schlaflose Nacht verbracht und war eben eingeschlafen. Auch Praskowja Michailowna war gestern lange nicht zu Bett gegangen, da sie sich bemüht hatte, den Zorn ihrer Tochter gegen den Mann zu beschwichtigen.
Sie sah, daß der Schwiegersohn, ein schwaches Geschöpf, unmöglich anders leben und sprechen konnte, daß alle Vorwürfe der Frau ihm nicht helfen würden, und sie wandte all ihre Kraft auf, um sie zu beschwichtigen, damit es keine Vorwürfe und nichts Böses gebe. Schlechte Beziehungen zwischen den Menschen waren ihr fast physisch unerträglich. Es war ihr so klar, daß das niemanden besser machen könne und daß alles nur schlimmer werden würde. Sie dachte nicht mal daran; sie litt einfach, wenn sie Haß sah, wie unter einem schlechten Geruch, einem schrillem Pfiff oder Schlägen.
Sie hatte soeben mit großer Freude Lukerja gezeigt, wie man Hefeteig bereitet, als Mischa, ihr sechsjähriger Enkel, mit einer Schürze, in gestopften Strümpfchen, auf seinen krummen Beinchen in die Küche gelaufen kam und mit erschrockenem Gesicht rief:
»Großmutter, ein schrecklicher Alter sucht dich.«
Lukerja sah hinaus.
»Es ist wirklich ein Pilger draußen, Gnädige.«
Praskowja Michailowna wischte ihre mageren Ellenbogen aneinander und die Hände an der Schürze ab und ging ins Zimmer, um den Beutel zu holen und dem Mann fünf Kopeken zu geben; dann erinnerte sie sich aber, daß sie bloß Zehnkopekenstücke hatte, und entschloß sich, ihm Brot zu geben. Sie kehrte zum Küchenschrank zurück, errötete aber plötzlich beim Gedanken, daß sie gegeizt habe, befahl Lukerja, eine Scheibe Brot abzuschneiden und ging außerdem hin, das Zehnkopekenstück holen, – Das ist die Strafe – sagte sie sich – jetzt mußt du doppelt so viel geben. –
Sie reichte beides unter Entschuldigungen dem Pilger und bildete sich dabei nicht nur nichts auf ihre Freigebigkeit ein, sondern schämte sich sogar, daß sie so wenig gab. So respekteinflößend sah der Pilger aus.
Obwohl er dreihundert Werst weit bettelnd gegangen und ganz abgerissen, abgemagert und sonnengebräunt war, obwohl seine Haare abgeschnitten waren, und er eine Bauernmütze und Bauernstiefel trug, obwohl er sich so bescheiden verneigte, hatte Ssergij noch immer sein respektgebietendes Aussehen, das die Leute so anzog. Aber Praskowja Michailowna erkannte ihn nicht. Sie konnte ihn auch gar nicht erkennen, da sie ihn fast zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatte.
»Nichts für ungut, Väterchen. Vielleicht wollen sie etwas essen?«
Er nahm das Brot und das Geld, und Praskowja Michailowna wunderte sich, daß er nicht wegging, sondern sie ansah.
»Paschenjka, ich bin zu dir gekommen, nimm mich auf!«
Seine schönen schwarzen Augen sahen sie unverwandt und bittend an, und in ihnen schimmerten Tränen. Seine Lippen zuckten jammervoll unter dem ergrauenden Schnurrbart.
Praskowja Michailowna griff sich an die ausgetrocknete Brust, öffnete den Mund, heftete ihre Augen auf das Gesicht des Pilgers und erstarrte.
»Es kann nicht sein! Stjopa! Ssergij! P. Ssergij!«
»Ja, ich bin es,« sagte Ssergij leise. »Aber nicht Ssergij, und nicht P. Ssergij. Sondern der große Sünder Stepan Kassatskij, ein verlorener, großer Sünder. Hilf mir, nimm mich auf.«
»Es kann nicht sein. Wie haben Sie sich so gedemütigt? Kommen Sie doch!«
Sie reichte ihm die Hand, aber er nahm sie nicht und folgte ihr.
Wohin sollte sie ihn aber führen? Die Wohnung war winzig. Anfangs hatte sie ein eigenes Zimmerchen, fast eine Kammer für sich selbst gehabt, dann aber diese Kammer der Tochter abgetreten. Mascha saß auch jetzt dort und wiegte den Jüngsten in den Schlaf.
»Setzen Sie sich her, gleich,« sagte sie zu Ssergij, ihm die Bank in der Küche zeigend.
Ssergij setzte sich sofort hin und nahm, offenbar mit gewohnter Gebärde, den Sack erst von der einen, dann von der anderen Schulter.
»Mein Gott, mein Gott, wie du dich gedemütigt hast, Väterchen. Einst dieser Ruhm und jetzt . . .«
Ssergij gab keine Antwort und lächelte nur mild, indem er den Sack neben sich auf die Bank legte.
»Mascha, weißt du, wer es ist?«
Und Praskowja Michailowna erzählte ihrer Tochter im Flüsterton, wer Ssergij sei, und sie trugen beide das Bett und die Wiege aus der Kammer und machten sie für Ssergij frei.
Praskowja Michailowna führte Ssergij in die Kammer.
»Ruhen die hier aus. Nichts für ungut. Ich muß fort.«
»Wohin?«
»Ich gebe hier Stunden, ich schäme mich es zu sagen; ich gebe Musikunterricht.«
»Musik, das ist gut. Nur noch eins, Praskowja Michailowna, ich bin ja zu Ihnen mit einem Anliegen gekommen. Wann kann ich mit Ihnen sprechen?«
»Ich werde mich glücklich schätzen. Geht es am Abend?«
»Gewiß. Aber noch eine Bitte: sagen Sie niemand, wer ich bin. Ich habe es nur Ihnen anvertraut. Niemand weiß, wohin ich gegangen bin. So muß es sein.«
»Ach, ich habe es schon meiner Tochter gesagt.«
»Nun, bitten Sie sie, daß sie es nicht weiter erzähle.«
Ssergij zog die Stiefel aus, legte sich hin und schlief nach der letzten schlaflosen Nacht und nach dem Marsch von vierzig Werst sofort ein.
*
Als Praskowja Michailowna heimkam, saß Ssergij in seiner Kammer und wartete auf sie. Er war nicht zu Tisch gekommen und hatte nur von der Suppe und vom Brei gegessen, die ihm Lukerja in die Kammer gebracht.
»Warum bist du denn früher heimgekommen, als versprochen?« fragte Ssergij. »Kann ich jetzt mit dir reden?«
»Womit habe ich nur dieses Glück verdient, daß solch ein Gast zu mir kommt? Ich habe schon eine Stunde versäumt. Später . . . Ich hatte immer die Absicht zu Ihnen zu fahren, habe Ihnen geschrieben, und plötzlich dieses Glück!«
»Paschenjka, nimm bitte die Worte, die ich dir gleich sagen werde, als eine Beichte auf, als Worte, die ich in meiner Sterbestunde zu Gott spreche. Paschenjka, ich bin kein heiliger Mann, nicht einmal ein einfacher, gewöhnlicher Mensch: ich bin ein Sünder, ein schmutziger, häßlicher, verstockter, hochmütiger Sünder, ich weiß nicht, ob schlimmer als alle, aber jedenfalls schlimmer als die schlimmsten Menschen.«
Paschenjka sah ihn erst mit weitaufgerissenen Augen an; sie glaubte ihm nicht. Später, als sie alles glaubte, berührte sie seine Hand und sagte mit einem unglücklichen Lächeln:
»Stiwa, vielleicht übertreibst du?«
»Nein, Paschenjka. Ich bin ein Wüstling, ein Mörder, ein Gotteslästerer und Betrüger.«
»Mein Gott! Was ist denn das?« sagte Praskowja Michailowna.
»Aber man muß leben. Und ich, der ich glaubte, daß ich alles wisse, und die anderen lehrte, wie man leben solle – ich weiß nichts und bitte dich, mich zu lehren.«
»Was sagst du, Stiwa! Du machst dich über mich lustig. Warum macht ihr euch alle immer über mich lustig?«
»Nun, gut, ich mache mich lustig; sag mir nur, wie du lebst und wie du dein Leben verbracht hast.«
»Ich? Ich habe das häßlichste, schlimmste Leben gelebt, und Gott straft mich jetzt mit Recht, und ich lebe so schlecht, so schlecht . . .«
»Wie hast du geheiratet? Wie hast du mit deinem Manne gelebt?«
»Alles war schlecht. Ich heiratete ihn, weil ich mich in ihn auf die schlimmste Weise verliebt hatte. Papa wollte diese Heirat nicht. Ich achtete auf nichts und nahm ihn. In der Ehe aber habe ich den Mann, statt ihm zu helfen, durch Eifersucht gequält, die ich in mir nicht niederkämpfen konnte.«
»Ich habe gehört, daß er ein Trinker war?«
»Ja, aber ich verstand ihn nicht zu beschwichtigen. Ich machte ihm Vorwürfe. Das ist aber eine Krankheit. Er konnte sich nicht beherrschen, und ich erinnere mich jetzt, wie ich ihm den Branntwein vorenthielt. Wir hatten schreckliche Szenen.«
Und sie sah mit ihren schönen, unter dieser Erinnerung leidenden Augen auf Kassatskij.
Kassatskij erinnerte sich, gehört zu haben, daß der Mann sie geschlagen habe, und als er jetzt ihren mageren, ausgetrockneten Hals mit den hinter den Ohren hervortretenden Adern und dem Büschel dünner, halb grauer, halb blonder Haare sah, glaubte er auch zu sehen, wie sich das abspielte.
»Dann blieb ich allein mit zwei Kindern und ganz ohne Mittel.«
»Ihr habt aber auch noch ein Gut gehabt.«
»Das hatten wir noch bei Waßjas Lebzeiten verkauft und alles . . . verlebt. Man mußte doch leben, ich habe aber nichts gekonnt, wie alle feinen jungen Mädchen. Ich bin sogar besonders unfähig und hilflos gewesen. So verlebten wir das Letzte. Ich unterrichtete die Kinder und lernte dabei auch selbst etwas. Mitja erkrankte in der vierten Klasse, und Gott nahm ihn zu sich. Manja verliebte sich in Wanja, meinen jetzigen Schwiegersohn. Nun, er ist ein guter Mensch, aber unglücklich, er ist krank.«
»Mama,« unterbrach die Tochter ihre Rede, »nehmen sie mir den Mischa ab, ich kann mich doch nicht entzwei reißen.«
Praskowja Michailowna fuhr zusammen, stand auf, ging in ihren schiefgetretenen Schuhen schnell ins Nebenzimmer und kam sofort mit einem zweijährigen Jungen im Arm zurück, der immer zurückfiel und mit den Händen nach ihrem Schultertuch griff.
»Ja, wo bin ich stehen geblieben? Also er hatte eine gute Stelle und einen netten Vorgesetzten, aber Manja hielt es nicht aus und nahm seinen Abschied.«
»Woran leidet er denn?«
»An Neurasthenie; es ist eine schreckliche Krankheit. Wir haben uns mit Ärzten beraten, wir sollten irgend wohin fahren, hatten aber keine Mittel. Ich hoffe, daß es so vorübergehen wird. Besondere Schmerzen hat er nicht, aber . . .«
»Lukerja!« ertönte seine döse und schwache Stimme. »Immer schickt man sie weg, wenn ich sie brauche. Mama!«
»Sofort,« unterbrach sich Praskowja Michailowna wieder. »Er hat noch nicht zu Mittag gegessen. Er kann nicht mit uns essen.«
Sie ging hinaus, machte etwas draußen und kehrte zurück, ihre verbrannten, mageren Hände abwischend.
»So lebe ich. Wir beklagen uns immer, sind immer unzufrieden, aber die Enkelkinder sind, Gott sei Dank, alle geraten und gesund, und man kann noch leben. Aber was soll ich von mir reden.«
»Nun, wovon lebt ihr denn?«
»Ich verdiene ein wenig. Früher langweilte mich die Musik, und jetzt ist sie mir zustatten gekommen.«
Sie hielt ihre kleine Hand auf der Kommode, neben der sie saß, und bewegte wie übend die mageren Finger.
»Was zahlt man Ihnen für die Stunde?«
»Man zahlt einen Rubel, auch fünfzig Kopeken, es gibt auch Stunden zu dreißig Kopeken. Sie sind alle so gut zu mir.«
»Nun, und machen sie Fortschritte?« fragte Kassatskij kaum wahrnehmbar mit den Augen lächelnd.
Praskowja Michailowna glaubte nicht sofort an die Ernsthaftigkeit dieser Frage und sah ihm fragend in die Augen.
»Sie machen auch Fortschritte. Es ist ein reizendes Mädel darunter, die Tochter eines Fleischers. Ein gutes, liebes Kind. Wenn ich eine tüchtige Frau wäre, so könnte ich wohl durch Vermittlung ihres Papas eine Stelle für meinen Schwiegersohn finden. Aber ich habe es nicht gekonnt und habe sie alle so weit gebracht.«
»Ja, ja,« sagte Kassatskij, den Kopf senkend. »Wie beteiligen Sie sich aber, Paschenjka, am kirchlichen Leben?« fragte er.
»Ach, sprechen Sie lieber nicht davon. Ich habe es furchtbar vernachlässigt. In den großen Fasten gehe ich wohl mit den Kindern in die Kirche, sonst gehe ich aber monatelang nicht, schicke nur die Kinder hin.«
»Warum gehen Sie denn selbst nicht hin?«
»Die Wahrheit zu sagen . . .« sie errötete. »Ich schäme mich vor meiner Tochter und den Enkeln abgerissen in die Kirche zu gehen, neue Kleider habe ich aber nicht. Auch bin ich einfach faul.«
»Beten Sie aber zu Hause?«
»Ja. Aber was ist das für ein Beten, ich mache es mechanisch. Ich weiß wohl, daß man es nicht so machen soll, aber ich habe kein echtes Gefühl; das einzige ist, daß ich meine ganze Verkommenheit kenne . . .«»
»Ja, ja, so, so,« sagte Kassatskij wie billigend.
»Sofort, sofort,« antwortete sie auf den Ruf des Schwiegersohns, zupfte ihr Tuch zurecht und ging aus dem Zimmer.
Diesmal blieb sie lange aus. Als sie wiederkam, saß Kassatskij in der gleichen Stellung, die Ellenbogen in die Knie gestützt und den Kopf gesenkt. Aber er hatte schon seinen Sack auf dem Rücken.
Als sie mit einem Blechlämpchen ohne Schirm eintrat, richtete er auf sie seine schönen müden Augen und seufzte tief auf.
»Ich habe ihnen nicht gesagt, wer Sie sind,« fing sie schüchtern an, »ich habe nur gesagt, Sie seien ein Pilger vornehmer Abstammung und daß ich Sie von früher her kenne. Kommen Sie doch ins Eßzimmer zum Tee.«
»Nein.«
»Nun, dann bringe ich Ihnen her.«
»Nein, ich will nichts. Gott helfe dir, Paschenjka. Ich gehe. Wenn du mit mir Mitleid hast, so sage niemand, daß du mich gesehen hast. Ich beschwöre dich beim lebendigen Gott: sag es niemand. Ich danke dir. Ich würde mich vor dir bis zum Boden verneigen, aber ich weiß, daß es dich nur verwirren wird. Ich danke dir, vergib mir um Christi willen.«
»Segnen Sie mich.«
»Gott wird dich segnen. Vergib mir um Christi willen.«
Er wollte schon gehen, aber sie ließ ihn nicht fort und brachte ihm Brot, Bretzen und Butter. Er nahm es und ging.
Es war dunkel, und er war noch keine zwei Häuser weit gegangen, als sie ihn schon aus den Augen verlor und bloß daran, daß der Hund des Protopopen ihn anbellte, erkannte, daß er weiterging.
*
– Diese Bedeutung hat also mein Traum. Paschenjka ist das, was ich hätte sein sollen und was ich nicht gewesen bin. Ich habe für die Menschen gelebt, unter dem Vorwande, daß ich für Gott lebe; sie lebt für Gott und bildet sich ein, für die Menschen zu leben.
– Ja, ein einziges gutes Werk, ein Napf Wasser, den man, ohne an den Lohn zu denken, gibt, ist mehr wert als alle Wohltaten, die ich den Menschen erwiesen. Es war aber auch etwas vom aufrichtigen Wunsche Gott zu dienen in mir? – fragte er sich, und die Antwort lautete: – Ja, aber all das war beschmutzt und von der menschlichen Eitelkeit überwuchert. Ja, es gibt keinen Gott für den, der so gelebt hat wie ich, des Ruhmes unter den Menschen wegen. Ich werde Ihn suchen. –
Und er zog weiter, so wie er zu Paschenjka gekommen war: von Dorf zu Dorf, sich an Pilger und Pilgerinnen anschließend und sich von ihnen wieder trennend und im Namen Christi um ein Stück Brot und um ein Nachtlager bettelnd. Manchmal schalt ihn eine böse Wirtin, manchmal beschimpfte ihn ein betrunkener Bauer, aber in den meisten Fällen gab man ihm zu essen und zu trinken und versorgte ihn sogar für den weiteren Weg. Sein herrschaftliches Äußere stimmte manche zu seinen Gunsten. Andere dagegen schienen sich darüber zu freuen, daß ein Herr in solche Armut gesunken war. Aber seine Milde besiegte alle.
Sehr oft, wenn er im Hause ein Evangelium fand, las er daraus vor, und die Leute waren immer gerührt und erstaunt und hörten das, was er las, als etwas Neues und zugleich Altbekanntes.
Wenn es ihm gelang, den Menschen durch einen Rat, oder indem er für die des Schreibens oder Lesens Unkundigen etwas schrieb oder las, oder die Streitenden versöhnte, zu helfen, sah er keinen Dank, denn er ging weg. Und Gott offenbarte sich allmählich in ihm.
Einmal ging er mit zwei alten Frauen und einem Soldaten. Ein Herr und eine Dame in einem mit einem Traber bespannten Wagen und ein anderer Herr und ein Fräulein zu Pferde hielten sie an. Der Mann der Dame und ihre Tochter ritten, die Dame fuhr aber im Wagen mit einem offenbar französischen Touristen.
Sie hielten sie an, um ihm »les pélérins« zu zeigen, die infolge eines, dem russischen Volke eigenen Aberglaubens, statt zu arbeiten, von Ort zu Ort ziehen. Sie sprachen französisch, da sie glaubten, die Pilger würden es nicht verstehen.
›Demandez leur,‹ sagte der Franzose, ›s'ils sont bien sûrs, de ce que leur pélérinage est agréable à Dieu.‹
Man fragte sie. Die alten Frauen antworteten:
»Wer weiß, wie Gott es aufnehmen wird. Mit den Füßen waren wir wohl dort, ob wir aber auch mit den Herzen dort waren?
Man fragte den Soldaten. Er sagte, er sei ganz allein auf der Welt und habe kein Obdach.
Man fragte Kassatskij, wer er sei.
»Ein Knecht Gottes.«
›Qu'est ce qu'il dit? Il ne répond pas.‹
›Il dit, qu'il est un serviteur de Dieu.‹
›Cela doit être un fils de prêtre. Il a de la race. Avez-vous de le la petite monnaie?‹
Der Franzose fand Kleingeld in der Tasche und gab jedem zwanzig Kopeken.
›Mais dites leur que ce n'est pas pour les cierges que je leur donne, mais pour qu'ils se régalent de thé, Tschai, Tschai!‹ rief er lächelnd: ›Pour vous, mon vieux,‹ sagte er, mit seiner behandschuhten Hand Kassatskij auf die Schulter klopfend.
»Rette euch Christus,« antwortete Kassatskij, ohne die Mütze aufzusetzen, mit seinem kahlen Kopfe nickend.
Diese Begegnung machte Kassatskij eine ganz besondere Freude, weil er die Meinung der Menschen verschmäht und das Einfachste und Leichteste getan hatte: er nahm bescheiden die zwanzig Kopeken und gab sie einem Genossen, einem blinden Bettler. Je weniger Bedeutung die Meinung der Menschen hatte, umso stärker ließ sich Gott fühlen.
*
Kassatskij zog acht Monate von Ort zu Ort; im neunten Monat hielt man ihn in einer Gouvernementsstadt, in der Herberge, in der er mit den andern Pilgern übernachtet hatte, an und brachte ihn, da er keinen Paß hatte, auf die Polizei. Auf die Fragen, wo er seinen Paß habe und wer er sei, antwortete er, er habe keinen Paß und sei ein Knecht Gottes. Man stellte ihn als einen Vagabunden vor Gericht und verschickte ihn nach Sibirien.
In Sibirien ließ er sich bei einem reichen Bauer nieder und lebt dort auch jetzt noch. Er arbeitet beim Bauer im Gemüsegarten, unterrichtet die Kinder und pflegt die Kranken.