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Sewastopol im August 1855.

I.

Ende August fuhr auf der großen, felsigen Sewastopoler Straße zwischen Duwanka (der letzten Station vor Sewastopol) und Bachtschisßaraj langsam, vom dichten und heißen Staube umhüllt, ein Offizierswägelchen, jenes besondere, nirgends mehr anzutreffende Fuhrwerk, welches ein Mittelding darstellt zwischen einer Judenbritschke, einem russischen Wagen und einem Korbe.

Vorn in dem Wagen kauerte der zügelführende Offiziersbursche in einem Nankingrocke und einer ganz weich gewordenen, früheren Offiziersmütze; hinter ihm saß auf Bündeln und Ballen, die mit einem Soldatenmantel bedeckt waren, ein Infanterieoffizier im Sommermantel. Der Offizier war, soviel man bei seiner sitzenden Stellung beurteilen konnte, nicht sehr groß, aber außerordentlich stämmig und breit, weniger von Schulter zu Schulter, als von Brust zu Rücken; Hals und Rücken waren stark entwickelt. Eine sogenannte Taille – den Einschnitt in der Mitte des Rumpfes – besaß er nicht, aber ebensowenig einen Bauch, im Gegenteil, er war eher mager, besonders im Gesicht, das von einem ungesunden, gelblichen Braun war. Man hätte das Gesicht hübsch nennen können, wenn es nicht eine gewisse Verschwommenheit und große, weiche, wenn auch nicht greisenhafte Runzeln gehabt hätte, welche die Züge verwischten und vergrößerten und dem ganzen Gesichte den allgemeinen Ausdruck von etwas Unfrischem und Grobem gaben. Seine Augen waren klein, grau, außerordentlich lebhaft, sogar stechend; der Schnurrbart war sehr dicht, aber abgebissen und nicht breit, das Kinn und besonders die Kinnbacken waren mit einem sehr starken, dichten, schwarzen, zwei Tage alten Barte bedeckt. Der Offizier war am 10. Mai durch einen Bombensplitter am Kopfe verwundet worden, trug noch immer einen Verband und fuhr jetzt, da er sich schon seit einer Woche vollkommen gesund fühlte, aus dem Lazarett von Simferopol zu seinem Regimente, welches dort irgendwo stand, von wo die Schüsse tönten; ob das in Sewastopol selbst, oder auf der Nordseite, oder bei Inkerman war, hatte er bisher noch von niemand genau erfahren können. Die Schüsse hörte man schon, besonders wenn kein Berg dazwischen lag oder wenn der Wind den Schall weitertrug, außerordentlich deutlich, oft, und wie es schien, nah: bald erschütterte eine Explosion die Luft und ließ den Offizier unwillkürlich zusammenzucken, bald folgten schwächere Schüsse schnell aufeinander, daß es wie Trommelschlag klang, der zuweilen von erschütterndem Donner unterbrochen wurde; bald verschmolz alles in ein rollendes Krachen, Donnerschlägen ähnlich, wenn das Unwetter in vollem Gange ist und ein Platzregen herabströmt. Alle erzählten, daß das Bombardement entsetzlich sei. Der Offizier trieb den Burschen an, es war, als wollte er so schnell als möglich an Ort und Stelle kommen. Ihm kam ein langer Wagenzug entgegen, mit dem russische Bauern Proviant nach Sewastopol geführt hatten, und der jetzt von dort mit kranken und verwundeten Soldaten in grauen Mänteln, mit Matrosen in schwarzen Paletots, Freiwilligen in rotem Fez und bärtigen Landwehrleuten zurückkehrte. Der Offizierswagen mußte in einer dicken, unbeweglichen Staubwolke, die durch den Wagenzug aufgewühlt war, haltmachen, und der Offizier zwinkerte mit den Augen und verzog das Gesicht vor Staub, der ihm in Augen und Ohren drang, und betrachtete die Gesichter der an ihm vorüberziehenden Kranken und Verwundeten.

»Das da ist ein kranker Soldat von unserer Kompagnie,« sagte der Bursche, indem er sich zu seinem Herrn wandte und auf einen mit Verwundeten gefüllten Wagen wies, der in diesem Augenblick an ihnen vorüberfuhr. Auf dem Wagen saß vorn ein bärtiger Russe im Filzhut und band die Peitsche zusammen, deren Stiel er unter dem Arme hielt; hinter ihm im Wagen wurden etwa fünf Soldaten in verschiedenen Stellungen tüchtig gerüttelt. Einer von ihnen mit verbundenem Arm, in Hemd und umgeworfenem Mantel, saß zwar blaß und mager, aber sonst rüstig in der Mitte des Leiterwagens und wollte beim Anblick des Offiziers an die Mütze greifen, dann aber erinnerte er sich wohl, daß er verwundet war, und tat, als habe er sich nur den Kopf kratzen wollen. Ein anderer lag neben ihm auf dem Boden des Fuhrwerks; man sah nur seine beiden Hände, mit denen er sich am Wagengitter hielt, und die erhobenen Knie, die haltlos nach allen Seiten schwankten. Ein dritter mit geschwollenem Gesicht und verbundenem Kopf, auf dem eine Soldatenmütze saß, hockte seitwärts, die Beine nach außen, und schien mit auf die Knie gestützten Ellbogen zu schlummern. An diesen wandte sich der vorüberfahrende Offizier.

»Dolschnikow!« schrie er.

»Ja, ich,« antwortete der Soldat, indem er die Augen öffnete und die Mütze vom Kopfe riß, in so tiefem und lautem Baß, als wenn mindestens zwanzig Soldaten zusammenschrien.

»Wann bist du verwundet worden, Bruder?«

Die bleiernen, verschwommenen Augen des Soldaten belebten sich, er hatte offenbar seinen Offizier erkannt.

»Gesundheit zu wünschen, Euer Wohlgeboren,« sagte er mit derselben Baßstimme.

»Wo steht jetzt das Regiment?«

»In Sewastopol hat's gestanden, wollte am Mittwoch abmarschieren, Euer Wohlgeboren.«

»Wohin?«

»Unbekannt; wahrscheinlich nach der Nordseite, Euer Wohlgeboren; jetzt, Euer Wohlgeboren,« fügte er gedehnt hinzu, indem er seine Mütze wieder aufsetzte, »hat er bereits überall zu feuern angefangen; am meisten mit Bomben. Bis zur Bucht fliegen sie schon. Jetzt trifft er so, daß es ein Unglück ist, sogar –«

Man konnte nicht weiter hören, was der Soldat sagte. Aber nach dem Ausdrucke seines Gesichtes und nach seiner Haltung zu schließen, erzählte er mit der Gereiztheit eines kranken Menschen nicht gerade tröstliche Dinge.

Der reisende Offizier, Leutnant Koselzow, war kein Dutzendoffizier. Er war keiner von denen, die auf eine gewisse Weise leben und handeln, weil die andern so leben und handeln: er tat alles, wozu er Lust hatte, und die andern taten dasselbe und waren überzeugt, daß es gut sei. Er war recht reich ausgestattet mit kleinen Talenten: er sang gut, spielte die Gitarre, sprach sehr lebhaft und schrieb sehr leicht, besonders amtliche Schriftstücke, in deren Abfassung er sich als Bataillonsadjutant viel geübt hatte; am bemerkenswertesten aber war sein Charakter durch eine egoistische Energie, welche, obgleich sie vor allem auf diesen kleinen Talenten beruhte, an sich ein scharfer und auffallender Zug war. Er besaß eine Eigenliebe, die so sehr mit dem Leben verschmolzen war und die sich am häufigsten in männlichen und hauptsächlich in militärischen Kreisen entwickelt, daß er es nicht verstand, wie man etwas anderes sein konnte als der Erste oder gar nichts, und daß die Eigenliebe auch die Triebkraft seines Innenlebens war: er in eigener Person war gerne der Erste unter Leuten, denen er sich gleichstellte.

»Wie! Ich werd' mich wohl darum kümmern, was Moskau schwatzt!« In vielen Linienregimentern nennen die Offiziere in halb verächtlichem, halb schmeichelhaftem Sinne die Soldaten »Moskau« oder auch »Eid«. brummte der Leutnant, der eine gewisse schwere Apathie auf dem Herzen und eine Verschwommenheit der Gedanken empfand, Gefühle, die in ihm der Anblick der Verwundeten und die Worte des Soldaten, verstärkt und bestätigt durch die Töne des Bombardements, zurückgelassen hatten. »Lächerlich ist dieses Moskau! Vorwärts Nikolajew, rühr' dich! Bist du etwa eingeschlafen?« wandte er sich etwas mürrisch an den Burschen, indem er die Schöße seines Mantels ordnete.

Nikolajew zog die Zügel an, schnalzte mit der Zunge, und der Wagen rollte im Trabe weiter.

»Nur einen Augenblick füttern und dann gleich weiter, noch heute,« sagte der Offizier.

*

II.

Als Leutnant Koselzow bereits in die Straße von Duwanka einbog, an der die Trümmerhaufen der steinernen Mauern von Tatarenhäusern lagen, wurde er durch einen Zug von mit Bomben und Kanonenkugeln beladenen Fuhren, die für Sewastopol bestimmt waren und sich auf dem Wege zusammengedrängt hatten, aufgehalten.

Zwei Infanteriesoldaten saßen mitten im Staube auf den Steinen eines zertrümmerten Zaunes am Wege und aßen eine Wassermelone und Brot.

»Kommst du weit her, Landsmann?« fragte der eine von ihnen kauend einen Soldaten, der mit einem kleinen Sack auf den Rücken vor ihnen stehen geblieben war.

»Wir gehen zur Kompagnie und kommen aus dem Gouvernement,« antwortete der Soldat, indem er von der Wassermelone fortsah und den Sack auf seinem Rücken zurechtschob, »wir waren dort schon die dritte Woche bei dem Heu der Kompagnie, aber jetzt hat man ja alle zurückberufen und es ist gar nicht bekannt, wo das Regiment jetzt steht. Man sagt, die Unsrigen seien vergangene Woche nach der Korabeljnaja abmarschiert. Habt ihr nichts davon gehört, meine Herren?«

»In der Stadt, Bruder, steht es, in der Stadt,« antwortete der andere, ein alter Trainsoldat, der mit einem Taschenmesser in der unreifen, weißlichen Wassermelone wühlte; »wir sind ja erst seit Mittag von dort fort. Schrecklich geht's zu, mein Brüderchen.«

»Wieso denn, meine Herren?«

»Hörst du denn nicht, wie er jetzt von allen Seiten feuert? Es gibt keine unversehrte Stelle mehr; wie viele er von unsern Soldaten getötet hat, läßt sich gar nicht sagen.«

Er machte eine resignierte Handbewegung und rückte seine Mütze zurecht.

Der wandernde Soldat schüttelte sinnend den Kopf, schnalzte mit der Zunge, holte aus dem Stiefelschaft eine Pfeife hervor und stocherte, ohne sie frisch zu stopfen, den angebrannten Tabak auf, zündete ein Stückchen Feuerschwamm an der Pfeife eines rauchenden Soldaten an und lüftete die Mütze.

»Wie Gott will, meine Herren! Verzeihen Sie,« sagte er und schritt, den Sack auf dem Rücken schüttelnd, seines Weges.

»Ach, du solltest lieber abwarten,« rief zuredend der Soldat mit der Wassermelone.

»Alles eins,« brummte der andere, während er zwischen den Rädern der zusammengedrängten Wagen seinen Weg suchte.

*

III.

Die Station war voller Menschen, als Koselzow anlangte. Der Erste, der ihm schon aus der Vortreppe entgegenkam, war ein magerer, sehr junger Mensch, der Stationsvorsteher, der sich mit zwei ihm folgenden Offizieren stritt.

»Nicht nur dreimal vierundzwanzig Stunden, sondern zehnmal vierundzwanzig Stunden werden Sie warten! Auch Generäle müssen warten, Väterchen!« sagte der Vorsteher in der Absicht, die Reisenden zu kränken, »ich selbst werde mich doch nicht für Sie einspannen lassen.«

»Wenn keine Pferde da sind, darf niemand welche bekommen! Weshalb aber hat der Bediente mit den Sachen sie gekriegt?« rief der ältere der beiden Offiziere, der mit einem Glase Tee in der Hand dastand und absichtlich das Anredefürwort vermied, wodurch er zu verstehen gab, daß man zu einem Stationsvorsteher auch sehr leicht du sagen könne.

»Sie werden doch selbst einsehen, Herr Vorsteher,« sprach stotternd der andere, sehr junge Offizier, »daß wir nicht zu unserem eigenen Vergnügen reisen; wir sind doch wohl notwendig, da man uns einberufen hat. Sonst werde ich es wirklich dem General sagen. Denn was ist denn das? Sie scheinen also den Offiziersstand nicht zu achten?«

»Sie verderben immer alles,« unterbrach ihn der ältere ärgerlich, »Sie hindern mich nur; man muß mit ihm zu reden verstehen; er verliert ja alle Achtung vor uns. – Pferde, diesen Augenblick! sage ich.«

»Ich würde sie gerne geben, Väterchen, aber woher soll ich sie nehmen?«

Der Vorsteher schwieg eine Weile, dann ereiferte er sich plötzlich und sprach, mit den Händen umherfuchtelnd:

»Ich selbst, Väterchen, verstehe und weiß alles, aber was wollen Sie machen? Geben Sie mir nur – (auf den Gesichtern der Offiziere spiegelte sich Hoffnung) – geben Sie mir nur Zeit bis zum Ende des Monats, dann werde ich nicht mehr hier sein. Lieber gehe ich auf den Malachow-Hügel, als daß ich hier bleibe, bei Gott! Möge man machen, was man will. Auf der ganzen Station gibt es kein festes Fuhrwerk mehr, und die Pferde haben schon seit drei Tagen kein Büschelchen Heu gesehen.«

Und der Vorsteher verschwand hinter der Pforte.

Koselzow betrat das Zimmer mit den Offizieren zugleich.

»Was ist dabei?« sagte der ältere Offizier völlig ruhig, obgleich er vor einer Sekunde sich wütend gezeigt hatte, »drei Monate sind wir schon unterwegs, warten wir noch. Es ist kein Unglück, wir kommen schon noch zurecht.«

Das rauchige, unsaubere Zimmer war so voll von Offizieren und Reisekoffern, daß Koselzow nur mit Mühe einen Platz auf dem Fensterbrett fand, auf dem er sich niederließ; während er die Gesichter betrachtete und den Gesprächen zuhörte, begann er sich eine Zigarette zu drehen. Rechts von der Tür, an einem schiefen, schmutzigen Tische, auf welchem zwei Ssamowars aus mit Grünspan bedecktem Messing standen und Zucker in verschiedenen Papieren lag, saß die Hauptgruppe: ein junger, bartloser Offizier, in neuem, asiatischem Rocke, goß Wasser in die Teekanne; vier ebenso junge Offiziere hatten sich in den Ecken des Zimmers einen Platz gesucht; der eine, mit unter dem Kopfe zusammengerolltem Pelz, schlief auf dem Divan; ein anderer stand am Tisch und schnitt Hammelbraten für einen sitzenden Offizier, dem ein Arm fehlte. Zwei Offiziere, der eine im Adjutantenmantel, der andere in seiner Infanterieuniform mit einer Reisetasche auf der Schulter saßen auf der Ofenbank, und schon daraus, wie sie die andern ansahen und wie der mit der Reisetasche seine Zigarre rauchte, konnte man schließen, daß sie keine Infanterieoffiziere von der Linie waren, und daß sie das mit Befriedigung erfüllte. Nicht als ob ihr Wesen Geringschätzung ausgedrückt hätte, ihnen war aber eine gewisse, selbstbewußte Sicherheit anzumerken, die teils auf ihren Vermögensverhältnissen, teils auf ihren nahen Beziehungen zu den Generälen begründet war, das Bewußtsein der bevorzugten Stellung, das sogar bis zu dem Wunsche ging, sie zu verbergen. Ein noch junger Arzt mit dicken Lippen und ein Artillerist mit deutschem Gesicht saßen fast auf den Beinen des auf dem Divan schlummernden jungen Offiziers und zählten ihr Geld. Von den vier Offiziersburschen schliefen die einen, während die andern sich mit den Koffern und Bündeln an der Tür zu schaffen machten. Koselzow entdeckte unter all den Gesichtern kein einziges bekanntes, aber er begann neugierig den Gesprächen zu lauschen. Die jungen Offiziere, die, wie er auf den ersten Blick erkannte, eben erst aus dem Kadettenkorps kamen, gefielen ihm, und was die Hauptsache war, sie erinnerten ihn daran, daß sein Bruder in diesen Tagen ebenfalls direkt von der Kriegsschule auf eine der Batterien in Sewastopol kommen sollte. An dem Offizier mit der Reisetasche aber, dessen Gesicht er schon irgendwo gesehen hatte, erschien ihm alles unangenehm und hochmütig. Er ging sogar mit dem Gedanken: »Ich werd's ihm schon zeigen, wenn es ihm einfallen sollte, etwas zu sagen,« vom Fenster zur Ofenbank und setzte sich dort nieder. Als echter Liniensoldat und tüchtiger Offizier hatte er die »Stabsleute«, als welche er vom ersten Augenblick an diese zwei Offiziere erkannte, überhaupt nicht gern.

*

IV.

»Das ist aber sehr ärgerlich,« sagte einer der jungen Offiziere, »wenn man schon so nahe ist und nicht hinkommen kann; vielleicht gibt's heute etwas und wir sind nicht dabei.«

An der dünnen Stimme und den roten Flecken, die das junge Gesicht des Offiziers bedeckten, wenn er sprach, merkte man die so sympathische, jugendliche Schüchternheit eines Menschen, der beständig fürchtet, es könnte ihm ein Wort mißglücken.

Der Offizier ohne Arm sah ihn lächelnd an.

»Sie kommen schon noch zurecht, glauben Sie mir,« sagte er.

Der junge Offizier blickte voller Achtung in das magere Gesicht des Sprechers, das sich unerwartet durch ein Lächeln erhellt hatte, schwieg und beschäftigte sich wieder mit seinem Tee. Aus dem Gesicht des Offiziers ohne Arm, aus seiner Haltung und besonders aus seinem leeren Mantelärmel sprach in der Tat jener ruhige Gleichmut, den man so erklären konnte, als sagte er bei allem, was er sah oder hörte: »Das ist alles ganz schön, das alles weiß ich und das alles könnte ich tun, wenn ich nur wollte.«

»Was beschließen wir also?« sagte jetzt der junge Offizier zu seinem Kameraden in dem asiatischen Rock, »wollen wir hier übernachten oder mit unserem eigenen Pferde weiterfahren?«

Der Kamerad weigerte sich zu fahren.

»Stellen Sie sich vor, Kapitän,« fuhr der Offizier fort, der den Tee einschenkte, indem er sich an den Armlosen wandte und ein Messer aufhob, das dieser hatte fallen lassen, »man hat uns erzählt, daß die Pferde in Sewastopol entsetzlich teuer seien, daher haben wir beide gemeinsam in Simferopol ein Pferd gekauft.«

»Man wird Sie wohl gehörig gerupft haben, denke ich?«

»Ich weiß wirklich nicht, Kapitän; wir haben für Pferd und Wagen neunzig Rubel bezahlt. Ist das sehr teuer?« fügte er hinzu, zu allen, und auch zu Koselzow gewandt, der ihn ansah.

»Nicht teuer, wenn es ein junges Pferd ist,« sagte Koselzow.

»Nicht wahr? Und uns hat man gesagt, es sei teuer. Es lahmt zwar ein bißchen, doch das wird vorübergehen. Man hat uns gesagt, es sei sehr stark.«

»Aus welchem Korps sind Sie?« fragte Koselzow, der etwas von seinem Bruder hören wollte.

»Wir kommen jetzt aus dem adeligen Regiment, wir sind unser sechs und gehen alle auf unseren eigenen Wunsch nach Sewastopol,« sprach der redselige, junge Offizier, »nur wissen wir nicht, wo unsere Batterien stehen; die einen sagen in Sewastopol und die andern behaupten in Odessa.«

»Konnte man das in Simferopol nicht erfahren?« fragte Koselzow weiter.

»Niemand weiß es; stellen Sie sich vor, mein Kamerad ist dort in die Kanzlei gegangen, – Grobheiten hat man ihm gesagt. Sie können sich denken, wie unangenehm uns das war. – Wünschen Sie vielleicht eine fertige Zigarette?« fragte er gleich darauf den Offizier ohne Arm, der nach seiner Zigarrentasche suchte.

Er bediente den Armlosen mit einem gewissen leidenschaftlichen Entzücken.

»Und Sie sind auch aus Sewastopol?« fuhr er fort, »ach mein Gott, wie ist das wunderbar! Wie oft haben wir alle in Petersburg an Sie, an alle die Helden gedacht!« sagte er, indem er sich höflich und mit gutmütiger Schmeichelei an Koselzow wandte.

»Aber wie, wenn Sie zurückreisen müßten?« fragte der Leutnant.

»Das eben fürchten wir ja. Stellen Sie sich vor, nachdem wir das Pferd gekauft und uns mit allem Notwendigen versorgt hatten, – mit einer Spiritus-Kaffeemaschine und noch verschiedenen anderen, nötigen Kleinigkeiten, – ist uns gar kein Geld mehr geblieben,« sagte er leise und mit einem Blick auf seinen Kameraden, »wenn wir zurückreisen sollten, wüßten wir nicht, was anzufangen.«

»Haben Sie denn keine Reisegelder bekommen?« fragte Koselzow.

»Nein,« antwortete der andere flüsternd, »man hat uns nur versprochen, sie uns hier auszuzahlen.«

»Und haben Sie eine Bescheinigung?«

»Ich weiß, die Hauptsache ist eine Bescheinigung; aber in Moskau hat mir ein Senator – er ist mein Onkel – als ich bei ihm war, gesagt, wir würden das Geld hier bekommen, sonst hätte er selbst es mir gegeben. Wird man es uns also geben?«

»Unbedingt.«

»Ich glaube auch, daß man es tun wird,« sagte er in einem Tone, der bewies, daß er jetzt, nachdem er auf dreißig Stationen ein und dasselbe gefragt und jedesmal eine andere Antwort erhalten hatte, niemand mehr recht glaubte.

*

V.

»Wer hat die Sauerkrautsuppe bestellt?« fragte die ziemlich unsaubere Wirtin, eine dicke Frau von etwa vierzig Jahren, die mit einer Suppenschüssel ins Zimmer trat.

Das Gespräch verstummte sofort und alle im Zimmer Anwesenden richteten ihren Blick auf die Wirtin.

»Ach, Koselzow hat sie bestellt,« antwortete der junge Offizier, »man muß ihn wecken. Steh' auf, um zu essen!« rief er, indem er an den Offizier, der auf dem Divan schlief, herantrat und ihn an der Schulter rüttelte.

Ein Jüngling von etwa siebzehn Jahren mit lustigen, schwarzen Augen und roten Wangen sprang energisch vom Divan auf und blieb, sich die Augen reibend, mitten im Zimmer stehen.

»Ach, entschuldigen Sie, bitte,« sagte er zu dem Arzt, den er beim Aufstehen angestoßen hatte.

Leutnant Koselzow erkannte seinen Bruder sofort und ging auf ihn zu.

»Erkennst du mich nicht?« fragte er lächelnd.

»Ah-ah-ah!« rief der jüngere Bruder, »ist das aber merkwürdig!« und er begann den älteren zu küssen.

Sie küßten sich dreimal, aber beim dritten Male stockten sie, als wäre beiden der Gedanke gekommen: muß es denn unbedingt dreimal sein?

»Na, wie ich mich freu'!« sagte der ältere Bruder, den jüngeren betrachtend, »komm' hinaus auf die Vortreppe, wir wollen plaudern.«

»Komm, komm, ich will keine Suppe, – iß du, Federson,« rief er seinem Kameraden zu..

»Du wolltest aber doch essen.«

»Ich will nichts.«

Als sie auf der Vortreppe standen, fragte der jüngere den älteren Bruder immer wieder: »Na, wie geht's dir? was machst du? erzähle!« und wiederholte unaufhörlich, wie er sich freue, ihn wiederzusehen, erzählte aber nichts von sich selbst.

Nach etwa fünf Minuten, während welcher sie beide geschwiegen hatten, fragte der ältere Bruder den jüngeren, warum er nicht bei der Garde eingetreten sei, wie das alle von ihm erwartet hatten.

»Ich wollte schnell nach Sewastopol kommen; denn hat man hier Glück, so kann man noch schneller Karriere machen als bei der Garde: dort kommt man in zehn Jahren bis zum Oberst, und hier hat's Totleben in zwei Jahren vom Oberstleutnant zum General gebracht. Wird man aber totgeschossen, – na, nichts zu machen.«

»So bist du!« sagte der Bruder lächelnd.

»Aber was die Hauptsache ist, weißt du, Bruder,« sprach der Jüngere lächelnd und errötend weiter, als wollte er etwas Beschämendes sagen, »das alles ist Unsinn; hauptsächlich hab' ich deshalb darum gebeten, da es doch eigentlich eine Schande ist, in Petersburg zu leben, während die andern hier fürs Vaterland sterben. Und ich wollte auch gerne mit dir beisammen sein,« fügte er noch verlegener hinzu.

»Wie komisch du bist,« sagte der Ältere ohne ihn anzusehen, indem er seine Zigarettentasche hervorholte; »nur schade, daß wir nicht zusammen bleiben werden.«

»Sag' mal die Wahrheit, ist es auf den Bastionen wirklich so schrecklich?« fragte plötzlich der Jüngere.

»Anfangs schon, dann gewöhnt man sich daran und es macht einem weiter nichts; du wirst ja selbst sehen.«

»Aber sag' mir noch das eine. Wird Sewastopol genommen werden? Was denkst du? Ich glaube, es wird auf keinen Fall genommen.«

»Gott weiß!«

»Eines ärgert mich sehr, denk' dir, welches Pech: unterwegs ist uns ein ganzes Bündel gestohlen worden und ich hatte meinen Tschako darin, so daß ich jetzt in einer entsetzlichen Lage bin und nicht weiß, wie ich mich vorstellen soll.«

Der zweite Koselzow, Wladimir, war seinem Bruder Michael sehr ähnlich, aber in der Art, wie ein eben erblühender Rosenstock einem abblühenden Wildrosenstrauch ähnlich ist. Seine Haare waren ebenfalls blond, aber dicht und an den Schläfen gelockt; auf seinem weißen, zarten Nacken hatte er ein blondes Zöpfchen, – ein Zeichen des Glücks, wie die Kinderfrauen zu sagen pflegen. Auf dem zarten, weißen Gesichte lag nicht immer, sondern flammte nur von Zeit zu Zeit ein tiefes, jugendliches Rot auf, das jede Regung seiner Seele verriet. Er hatte dieselben Augen wie der Bruder, aber sie waren offener und heller, was hauptsächlich daher kam, daß sie häufig von leichter Feuchtigkeit bedeckt schienen. Ein blonder Flaum sproßte auf den Wangen und über den roten Lippen, die sich sehr oft zu einem schüchternen Lächeln kräuselten und glänzend weiße Zähne sehen ließen. Wie er so vor seinem Bruder stand, schlank und breitschulterig, im offenen Mantel, unter welchem das rote Hemd mit schrägem Kragen sichtbar wurde, die Zigarette in der Hand, auf das Geländer der Vortreppe gelehnt, mit naiver Freude in Gesicht und Haltung, war er ein so sympathischer, lieber Junge, daß man ihn immerfort hätte ansehen mögen. Er freute sich außerordentlich über den Bruder, blickte mit Achtung und Stolz auf ihn und sah in ihm einen Helden; aber in mancher Beziehung, z. B. in Hinsicht der gesellschaftlichen Bildung, des Französischsprechens, des Verkehrs mit gesellschaftlich hochstehenden Leuten, des Tanzens usw. schämte er sich seiner ein wenig, sah von oben auf ihn herab und hoffte sogar, ihn womöglich zu bilden. Alle seine Eindrücke stammten noch aus Petersburg und aus dem Hause eines Moskauer Senators, bei dem er einmal einen großen Ball mitgemacht hatte.

*

VI.

Nachdem die Brüder sich fast müde geplaudert hatten und zu dem Gefühl gelangt waren, das man oft empfindet, nämlich, daß man wenig Gemeinsames miteinander hat, obgleich man sich liebt, – schwiegen sie beide eine ganze Weile.

»So nimm deine Sachen und wir wollen gleich fahren,« sagte der Ältere.

Der Jüngere wurde rot und verlegen.

»Direkt nach Sewastopol?« fragte er nach kurzem Schweigen.

»Nun ja; du hast doch nicht viel Sachen? Ich denke, wir bringen sie unter.«

»Schön, wir wollen gleich fahren,« antwortete der Jüngere seufzend und ging ins Zimmer.

Aber ohne die Tür zu öffnen, blieb er auf dem Flur stehen, ließ betrübt den Kopf hängen und dachte:

»Gleich so direkt nach Sewastopol unter die Bomben, schrecklich! Aber einerlei, einmal muß es ja sein, und jetzt geschieht's wenigstens mit dem Bruder zusammen.«

Die Sache war die, daß erst bei dem Gedanken, daß er nach dem Besteigen des Wagens ohne weitere Unterbrechung nach Sewastopol müsse, und daß ihn jetzt kein Zufall mehr zurückhalten könne, ihm die Gefahr, die er suchte, klar vor Augen stand, und daß er bei dem bloßen Gedanken an ihre Nähe in Verwirrung geriet. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, ging er ins Zimmer. Aber eine Viertelstunde verfloß, ohne daß er zum Bruder zurückkehrte, so daß der letztere endlich die Tür öffnete, um ihn herauszurufen. Der jüngere Koselzow stand in der Stellung eines Schulbuben, der sich etwas hat zu Schulden kommen lassen, vor dem Offizier S.; als der Bruder die Tür öffnete, verlor er die Fassung gänzlich.

»Gleich, gleich komme ich,« rief er und wehrte den Bruder mit der Hand ab, »bitte, erwarte mich dort.«

Eine Minute später kam er wirklich heraus und trat mit einem tiefen Seufzer an den Bruder heran.

»Stell' dir vor, ich kann nicht mit dir fahren, Bruder,« sagte er. »Wie? Was für ein Unsinn!«

»Ich will dir die ganze Wahrheit sagen, Mischa; wir alle haben kein Geld mehr, und wir sind alle diesem Stabskapitän, den du drinnen gesehen hast, etwas schuldig. Es ist furchtbar unangenehm.«

Der ältere Bruder runzelte die Stirn und schwieg lange.

»Bist du viel schuldig?« fragte er, den Bruder von unten herauf anblickend.

»Ja, viel, – nein, nicht sehr viel, aber es ist mir so peinlich. Auf drei Stationen hat er für mich bezahlt, wir haben auch immer seinen Zucker gebraucht, – so daß ich nicht weiß – und wir haben auch Préférence gespielt, – ich bin ihm einiges schuldig geblieben.«

»Das ist häßlich, Wolodja. Was hättest du angefangen, wenn du mich nicht getroffen hättest?« sagte der ältere Bruder streng, ohne den jüngeren anzublicken.

»Ja, ich dachte, Bruder, ich würde in Sewastopol das Reisegeld ausbezahlt bekommen und dann meine Schuld zahlen; das kann man ja machen. Daher ist's besser, ich komme erst morgen mit ihm an.«

Der ältere Bruder zog seinen Geldbeutel und holte mit etwas zitternden Fingern zwei Zehnrubel- und einen Dreirubelschein heraus.

»Das ist mein ganzes Geld,« sagte er, »wieviel bist du schuldig?«

Als er sagte, daß dies all sein Geld sei, sprach Koselzow nicht die volle Wahrheit: er hatte noch vier Goldstücke, die für alle Fälle in seinen Ärmelaufschlag eingenäht waren; er hatte sich aber das Wort gegeben, sie nicht anzurühren.

Es stellte sich heraus, daß Koselzow, das Préférencespiel und den Zucker mit eingerechnet, nur acht Rubel schuldig war. Der ältere Bruder gab sie ihm und machte nur die Bemerkung, es gehe nicht an, Préférence zu spielen, wenn man kein Geld habe.

»Worauf hin hast du denn gespielt?«

Der jüngere antwortete kein Wort. Die Frage des Bruders erschien ihm wie ein Zweifel an seiner Ehrenhaftigkeit. Der Arger über sich selbst, die Scham wegen einer Handlung, die zu einem solchen Verdachte Anlaß gegeben hatte, und die Kränkung durch den Bruder, den er so sehr liebte, riefen bei seiner eindrucksfähigen Natur ein starkes Schmerzgefühl hervor, das er nicht überwinden konnte. Da er fühlte, daß er nicht im Stande sein würde, die Tränen zu unterdrücken, die ihm in die Augen stiegen, nahm er das Geld ohne hinzuschauen und ging zu den Kameraden.

*

VII.

Nikolajew, der sich in Duwanka durch zwei Maß Branntwein gestärkt, welche ein Soldat auf der Brücke ihm verkauft hatte, zupfte an den Zügeln, der Wagen holperte über die steinige, stellenweise schattige Straße, die den Belbek entlang nach Sewastopol führte, und die Brüder, die mit den Beinen immerfort aneinander stießen, schwiegen hartnäckig, obwohl sie sich in Gedanken ununterbrochen miteinander beschäftigten.

»Warum hat er mich gekränkt?« dachte der Jüngere, »konnte er nicht darüber schweigen? Es ist gerade so, als ob er glaubte, ich sei ein Dieb; und auch jetzt noch scheint er zu zürnen, so daß wir wohl für immer auseinander sind. Und wie schön wäre es gewesen, in Sewastopol zusammen zu sein! Zwei Brüder, die gut Freund miteinander sind, kämpfen gemeinsam gegen den Feind: der ältere ist wenn auch kein sehr gebildeter, so doch ein tapferer Krieger; der andere ist jung, aber ebenfalls ein braver Bursche. In meinem Gesicht wird Männlichkeit liegen, und bis dahin wird mein Schnurrbart zwar noch nicht groß, aber doch tüchtig gewachsen sein,« und er zupfte an dem Flaum, der sich über seinen Lippen zeigte. »Vielleicht geraten wir heute nach der Ankunft zusammen mit dem Bruder in ein Gefecht. Er ist gewiß ausdauernd und sehr tapfer, ein Mensch, der nicht viel spricht, aber mehr tut als die andern. Ich möchte nur wissen,« dachte er weiter, – »ob er mich mit oder ohne Absicht an den äußersten Rand des Wagens drängt; er fühlt doch gewiß, daß ich es unbequem habe, tut aber, als bemerke er es nicht. Wir kommen also heute an« – spann er seine Gedanken weiter, während er sich eng an den Wagenrand drängte und sich zu rühren fürchtete, um den Bruder nicht merken zu lassen, daß er unbequem sitze, – »und müssen plötzlich direkt auf die Bastion; ich mit den Geschützen, mein Bruder mit der Kompagnie, und wir machen uns zusammen auf den Weg. Und plötzlich stürzen die Franzosen auf uns los. Ich schieße und schieße und töte furchtbar viele, aber sie rennen trotzdem grade auf mich los. Da hilft kein Schießen mehr, und ich bin natürlich rettungslos verloren. Plötzlich aber stürzt mein Bruder mit dem Säbel in der Hand hervor, ich ergreife das Gewehr und wir laufen mit den Soldaten vorwärts. Die Franzosen stürzen sich auf meinen Bruder. Ich eile herbei, töte einen Franzosen, noch einen – und rette meinen Bruder. Ich werde an einer Hand verwundet, da fasse ich das Gewehr mit der andern Hand und laufe vorwärts. Aber mein Bruder wird neben mir von einer Kugel getroffen. Ich bleibe einen Augenblick bei ihm stehen, sehe ihn traurig an, richte mich dann auf und rufe: ›Mir nach, rächen wir ihn! ich habe meinen Bruder mehr als alles in der Welt geliebt,‹ werde ich sagen, ›und habe ihn verloren; rächen wir ihn, vernichten wir den Feind oder gehen wir alle in den Tod!‹ Alle schreien und stürzen mir nach. Da kommt die französische Armee heran mit Pelissier selbst. Wir machen sie alle nieder. Aber schließlich werde ich zum zweiten, zum dritten Male verwundet und sinke sterbend zu Boden. Da kommen alle zu mir gelaufen, Gortschakow kommt heran und fragt, was ich mir wünsche. Ich antworte, ich wünsche nichts, als daß man mich neben meinen Bruder lege, damit ich mit ihm sterben kann. Man trägt mich fort und legt mich neben dem blutigen Leichnam des Bruders nieder. Ich richte mich auf und sage nur: ›Ja, ihr habt zwei Menschen, die ihr Vaterland wahrhaft liebten, nicht zu schätzen gewußt, jetzt sind sie beide gefallen, Gott verzeihe euch!‹ Und ich sterbe.«

Wer weiß, inwieweit diese Träumereien zur Wahrheit werden!

»Sag', warst du einmal im Handgemenge?« fragte er plötzlich den Bruder, ganz vergessend, daß er mit ihm nicht hatte sprechen wollen.

»Nein, noch nie,« erwiderte der Ältere, »von unserem Regiment sind zweitausend Mann gefallen, aber alle nur bei den Arbeiten, und auch ich bin bei der Arbeit verwundet worden. Der Krieg wird ganz anders geführt, als du denkst, Wolodja.«

Das Wort Wolodja rührte den Jüngeren. Er empfand den Wunsch nach einer Aussprache mit seinem Bruder, der gar nicht daran dachte, daß er ihn gekränkt hatte.

»Du bist mir nicht böse, Mischa?« fragte er nach kurzem Schweigen.

»Weshalb?«

»Nein, nur so – weil es so war – nichts weiter.«

»Nicht im geringsten,« erwiderte der Ältere, indem er sich zu ihm wandte und ihm auf das Bein klopfte.

»So verzeih' mir, Mischa, wenn ich dich gekränkt habe.«

Und der Jüngere wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen, die ihm plötzlich in die Augen traten.

*

VIII.

»Ist das wirklich schon Sewastopol?« fragte der jüngere Bruder, als sie den Gipfel des Berges erreicht hatten.

Vor ihnen lag die Bucht, von Schiffsmasten überragt, das Meer mit der fernen, feindlichen Flotte, die weißen Strandbatterien, Kasernen, Wassergräben, Docks, die Gebäude der Stadt und die weißlich violetten Rauchwolken, die ununterbrochen von den gelben Höhen aufstiegen, welche die Stadt umgaben und sich scharf vom blauen Himmel abhoben, während die Sonne sich bereits dem Horizont des dunklen Meeres zuneigte und ihre rosafarbenen Strahlen im Wasser spiegelte.

Wolodja blickte ohne das geringste Schaudern auf den Schreckensort, an den er schon so viel gedacht hatte; im Gegenteil, er betrachtete mit ästhetischem Genusse und dem heldenmütigen Gefühl des Selbstbewußtseins, daß auch er in einer halben Stunde dort sein werde, dieses in der Tat eigenartig schöne Schauspiel, und betrachtete es mit gespannter Aufmerksamkeit bis zu dem Augenblick, wo sie auf der Nordseite beim Train des Regiments seines Bruders anlangten; hier mußten sie Gewißheit über den Standort des Regiments und der Batterie erhalten können.

Der Offizier, der den Train kommandierte, wohnte in der Nähe des sogenannten neuen Städtchens – einer Gruppe von Bretterbaracken, die von Matrosenfamilien erbaut waren – in einem Zelte, das mit einer ziemlich großen, aus noch frischgrünen Eichenzweigen errichteten Hütte verbunden war.

Die Brüder trafen den Offizier vor einem schmutzigen Tische, auf dem ein Glas kalten Tees und ein Präsentierbrett mit Schnaps und den Resten von trockenem Kaviar und Brot standen; er war mit einem gelblich schmutzigen Hemd bekleidet und zählte an einem großen Rechenbrett einen ungeheuren Haufen von Banknoten. Doch bevor wir etwas über die Persönlichkeit des Offiziers und seiner Unterhaltung sagen, müssen wir unbedingt das Innere seiner Hütte genauer betrachten und uns wenigstens etwas mit seiner Lebensweise und seiner Beschäftigung vertraut machen. Die neue Hütte war so groß, so solid gebaut und so bequem eingerichtet – mit Tischen und Bänken aus Rasen –, wie man sie nur für Generäle und Regimentskommandeure zu bauen pflegt; die Seitenwände und die Decke waren, um das Fallen der Blätter zu verhindern, mit drei Teppichen verhängt, die zwar entsetzlich häßlich, aber neu und wahrscheinlich sehr teuer waren. Auf dem eisernen Bett, das unter dem mit der Darstellung einer Amazone geschmückten Hauptteppich stand, lagen eine hellrote Plüschdecke, ein schmutziges, zerrissenes Kissen und ein Schuppenpelz; auf dem Tisch standen ein Spiegel in Silberrahmen, eine silberne, entsetzlich schmutzige Bürste, ein zerbrochener Hornkamm voll öliger Haare, ein silberner Leuchter, eine Flasche Likör mit riesiger, goldroter Etikette, eine goldene Uhr mit dem Bilde Peters des Großen, zwei goldene Federn, eine Schachtel mit irgend welchen Kapseln, eine Brotrinde und ein auseinander geworfenes altes Spiel Karten; unter dem Bett sah man volle und leere Flaschen. Dieser Offizier kommandierte den Train und verwaltete den Proviant für die Pferde. Mit ihm zusammen hauste sein Busenfreund, der Kommissionär, der die Geschäfte führte. Als die Brüder eintraten, schlief er im Zelte, während der Trainoffizier die Abrechnung der Staatsgelder zum Monatsschluß vorbereitete. Das Äußere des Offiziers war schön und kriegerisch: ein hoher Wuchs, ein großer Schnurrbart, vornehme Stattlichkeit. Unsympathisch waren an ihm nur das schweißige und aufgedunsene Gesicht, in dem die kleinen grauen Augen fast verschwanden (als ob es ganz mit Porter angefüllt gewesen wäre), und die außerordentliche Unsauberkeit, von dem dünnen, fettigen Haar bis zu den großen, nackten Füßen, die in Hermelinpantoffeln steckten.

»Geld und immer Geld!« sagte Koselzow der Ältere beim Betreten der Hütte, indem er die Augen mit unwillkürlicher Gier auf dem Haufen der Banknoten ruhen ließ; »wenn Sie mir nur die Hälfte davon leihen wollten, Wassilij Michailowitsch!«

Der Trainoffizier duckte sich beim Anblick der Gäste und grüßte ohne aufzustehen, indem er das Geld zusammenschob.

»Ach, wenn's mein Geld wäre! staatlich, Väterchen! – Und wen haben Sie da bei sich?« fragte er, das Geld in eine neben ihm stehende Schatulle legend und Wolodja anblickend.

»Das ist mein Bruder; er kommt aus dem Kadettenkorps. Wir sind nur gekommen, um von Ihnen zu erfahren, wo das Regiment steht.«

»Nehmen Sie Platz, meine Herren,« sagte er, stand auf und ging auf das Zelt zu; »wollen Sie nicht etwas trinken? vielleicht einen Schluck Porter?

»Kann nichts schaden, Wassilij Michailowitsch!«

Wolodja war überrascht von der Würde des Trainoffiziers, von seinem ungezwungenen Wesen und der achtungsvollen Höflichkeit, mit der sein Bruder ihn behandelte.

»Wahrscheinlich ist's ein besonders tüchtiger Offizier, den alle hochschätzen, wahrscheinlich ein einfacher, aber gastfreundlicher und tapferer Mann,« dachte er, während er sich bescheiden und schüchtern auf eine Bank setzte.

»Wo also steht unser Regiment?« fragte der ältere Bruder durch die Zeltwand.

»Wie?«

Er wiederholte die Frage.

»Heute war Seifer bei mir; er erzählte, sie seien auf die fünfte Bastion hinübergegangen.«

»Sicher?«

»Wenn ich's sage, wird es wohl sicher sein; übrigens, weiß der Teufel, ihm kommt's auf eine Lüge nicht an! Also was ist, trinken Sie Porter?« sprach der Trainoffizier immer noch aus dem Zelt heraus.

»Warum nicht, bitte!« antwortete Koselzow.

»Trinken Sie mit, Ossip Ignatjewitsch?« fuhr die Stimme im Zelte fort, wahrscheinlich zum schlafenden Kommissionär gewandt; »hören Sie auf zu schlafen, es ist gleich fünf Uhr.«

»Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe? Ich schlafe nicht,« antwortete ein faules, dünnes Stimmchen.

»Nun, so stehen Sie auf, ich langweile mich ohne Sie.« Und der Trainoffizier kam wieder zu seinen Gästen zurück.

»Bring von dem Porter aus Simferopol!« rief er.

Ein Bursche mit stolzem Gesichtsausdruck, wie es Wolodja schien, kam in die Hütte herein und holte den Porter unter der Bank hervor, wobei er Wolodja beiseite stieß.

Eine Flasche war schon geleert und das Gespräch war noch recht lange in derselben Art weitergeführt worden, als die Vorhänge des Zeltes sich auseinanderschoben und ein kleiner, frischer Mann in blauem Schlafrock mit Quasten und in einer Dienstmütze mit rotem Rande und Kokarde zum Vorschein kam. Er drehte beim Eintreten seinen kleinen schwarzen Schnurrbart und beantwortete den Gruß der Offiziere, an ihnen vorbeisehend, mit einer kaum merklichen Schulterbewegung.

»Laß mich auch ein Gläschen trinken!« sagte er, indem er sich an den Tisch setzte. – »Sie kommen aus Petersburg, junger Mann, was?« fuhr er fort, sich freundlich an Wolodja wendend.

»Ja, ich geh' nach Sewastopol.«

»Haben Sie selbst darum gebeten?«

»Jawohl.«

»Was haben Sie nur davon, meine Herren? Ich begreif's wirklich nicht!« sprach der Kommissionär. »Ich glaube, ich wäre jetzt bereit, zu Fuß nach Petersburg zu gehen, wenn man mich nur ließe! Ich habe, bei Gott, genug von diesem verfluchten Leben!«

»Was fehlt Ihnen denn hier?« fragte der ältere Koselzow, sich zu ihm wendend; »wenn Sie hier kein gutes Leben haben –!«

Der Kommissionär blickte ihn an und wandte sich ab.

»Diese Gefahren, Entbehrungen, nichts ist zu bekommen –« fuhr er, zu Wolodja gewandt, fort. Was Sie davon haben, meine Herren, verstehe ich absolut nicht! Wenn Sie noch irgend welche Vorteile davon hätten, aber so –! Ist's zum Beispiel angenehm, in Ihren Jahren plötzlich für Lebenszeit zum Krüppel zu werden?«

»Der eine sucht Geschäfte zu machen, der andere dient um der Ehre willen,« mischte sich mit ärgerlicher Stimme der ältere Koselzow wieder ins Gespräch.

»Eine schöne Ehre, wenn man nichts zu essen hat!« sagte der Kommissionär mit verächtlichem Lachen, zu dem Trainoffizier gewandt, der ebenfalls zu lachen begann.

»Zieh' einmal die ›Lucia‹ auf, wir werden zuhören,« sagte er, auf eine Spieldose deutend, »ich hör' das gern.«

»Ist dieser Wassilij Michailowitsch ein guter Mensch?« fragte Wolodja seinen Bruder, als sie in der Dämmerung die Hütte verließen und nach Sewastopol weiterfuhren.

»Es geht! Nur ist er geizig zum Entsetzen. Aber diesen Kommissionär kann ich nicht ausstehen, den prügle ich noch einmal durch!«

*

IX.

Wolodja war zwar nicht grade in schlechter Stimmung, als sie sich, schon fast bei Nacht, der großen, über die Bucht führenden Brücke näherten, aber er fühlte eine gewisse Beklommenheit im Herzen. Alles, was er sah und hörte, stimmte so wenig zu den früheren, kaum erst verwischten Eindrücken: zu dem hellen, großen, getäfelten Prüfungssaal, den fröhlichen, gutmütigen Stimmen und dem Lachen der Kameraden, der neuen Uniform, dem geliebten Zaren, den er sieben Jahre hindurch gesehen und der sie beim Abschied mit Tränen in den Augen seine Kinder genannt hatte, – und alles, was er jetzt sah, glich so wenig seinen schönen, bunten, hochherzigen Träumen.

»Na, da wären wir also angekommen!« sagte der ältere Bruder beim Verlassen des Wagens, als sie vor der Michailow-Batterie angelangt waren. »Wenn man uns über die Brücke läßt, gehen wir gleich in die Nikolajewsche Kaserne. Du bleibst dort bis morgen früh, und ich gehe zum Regiment, um zu erfahren, wo deine Batterie steht, und hole dich morgen ab.«

»Warum denn? laß uns lieber gleich zusammen gehen,« sagte Wolodja; »ich will mit dir auf die Bastion. Jetzt ist's doch schon einerlei: ich muß mich daran gewöhnen. Wenn du hingehst, kann ich's auch.«

»Besser wär's, du gingest nicht.«

»Nein, ich bitte dich: ich werde wenigstens sehen, wie –«

»Ich rate dir, nicht zu gehen; aber wenn du willst –«

Der Himmel war wolkenfrei und dunkel; die Sterne und die unaufhörlich hin und her fliegenden Feuer der Bomben und Schüsse leuchteten schon hell durch die Finsternis. Das große, weiße Gebäude der Batterie und der Brückenkopf traten aus der Dunkelheit hervor. Buchstäblich in jeder Sekunde erschütterten mehrere Kanonenschüsse und Explosionen, entweder schnell aufeinanderfolgend oder zusammenfallend, immer lauter und deutlicher die Luft. Und durch dieses Getöse, es gewissermaßen begleitend, klang das dumpfe Brausen des Meeres, von dem ein leichter Wind die feuchte Luft herüberwehte. Die Brüder näherten sich der Brücke. Ein Landwehrmann schlug schwerfällig mit dem Gewehr auf und rief:

»Wer da?«

»Soldat.«

»Niemand darf durch!«

»Aber wieso denn? Wir müssen durch!«

»Fragen Sie den Offizier.«

Der Offizier, der, auf einem Anker sitzend, geschlummert hatte, erhob sich und gab die Erlaubnis zum Passieren der Brücke.

»Hinüber darf man, herüber nicht. – Wo willst du hin? Alle zugleich!« schrie er einige mit Schanzkörben beladene Regimentswagen an, welche sich vor der Brücke zusammengedrängt hatten.

Als die Brüder zum ersten Ponton hinabschritten, stießen sie auf Soldaten, die in lautem Gespräch von drüben herkamen.

»Wenn er die Ausrüstungsgelder bekommen hat, hat er nichts mehr zu fordern, – so ist die Sache!«

»Ach, Brüder!« sagte eine andere Stimme, »sobald man zur Nordseite kommt, sieht man wieder die Welt, bei Gott! Eine ganz andre Luft!«

»Red' nur!« sprach der erste; »erst kürzlich ist so eine Verwünschte hierher geflogen, hat zwei Matrosen die Beine zerschmettert, also –«

Die Brüder überschritten das erste Ponton und blieben, ihren Wagen erwartend, auf dem zweiten stehen, das hier und da bereits überschwemmt war. Der Wind, der auf dem festen Lande schwach erschien, war hier sehr heftig und blies stoßweise daher; die Brücke schwankte, und die Wellen, die brausend an die Balken schlugen und sich an Ankern und Tauen brachen, ergossen sich über die Bretter. Rechts rauschte drohend das in Nebel gehüllte, dunkle Meer, das sich durch eine unbegrenzte, gleichmäßige, schwarze Linie vom gestirnten, lichtgrau schimmernden Horizonte abhob; in der Ferne glühten die Feuer der feindlichen Flotte; links dunkelte der schwarze Rumpf eines unserer Schiffe, an das die Wellen schlugen, und zeigte sich ein Dampfer, der schnell und geräuschvoll von der Nordseite herankam. Das Feuer einer in seiner Nähe platzenden Bombe beleuchtete auf einen Augenblick die hoch aufgeschichteten Schanzkörbe auf dem Verdeck, die beiden Männer, die oben standen, und den aufspritzenden weißen Schaum der grünlichen Wellen, die der Dampfer durchschnitt. Am Rande der Brücke saß, die Füße ins Wasser getaucht, ein Mann in bloßem Hemde und reparierte etwas am Ponton. Vor den beiden Brüdern, grade über Sewastopol, zuckten nach wie vor die feurigen Blitze auf, und lauter und lauter drang das entsetzliche Getöse herüber. Eine vom Meere kommende Woge überflutete die rechte Seite der Brücke und durchnäßte Wolodjas Füße; zwei Soldaten gingen, im Wasser watend, an ihm vorbei. Plötzlich beleuchtete ein laut krachendes Etwas den vorderen Brückenteil, einen darauf befindlichen Wagen und einen Reiter, und die Bombensplitter fielen ins Wasser, die sie rauschend aufspritzen ließen.

»Ah, Michael Ssemjonowitsch!« rief der Reiter, indem er sein Pferd vor dem älteren Koselzow anhielt, »sind Sie schon ganz wiederhergestellt, was?«

»Wie Sie sehen. Wohin führt Ihr Weg?«

»Auf die Nordseite, Patronen holen: ich vertrete ja heute den Regimentsadjutanten, – wir erwarten von Stunde zu Stunde einen Angriff.«

»Und wo ist Marzow?«

»Gestern ist ihm ein Fuß zerschmettert worden, – in der Stadt, – während er in seinem Zimmer schlief, – Sie kennen ihn wohl?«

»Das Regiment steht auf der Fünften, nicht wahr?«

»Ja, es ist an Stelle des M.-Regimentes hingekommen. Gehen Sie zum Verbandplatz, dort sind einige von uns, die werden Sie hinführen.«

»Na, und meine Wohnung auf der Seestraße, ist die noch ganz?«

»Ach, Väterchen! Schon längst vollständig von Bomben zertrümmert! Sie werden Sewastopol nicht mehr wiedererkennen: es gibt kein Wirtshaus, keine Musik, keine Frauen mehr, – alles ist fortgezogen. Traurig ist's jetzt bei uns! – Leben Sie wohl!«

Und der Offizier trabte weiter.

Wolodja wurde plötzlich von entsetzlicher Angst ergriffen: ihm war, als müsse gleich eine Kugel oder ein Bombensplitter dahergeflogen kommen und ihn gerade an den Kopf treffen. Diese feuchte Finsternis, diese verschiedenen Laute, besonders das grollende Plätschern der Wellen, alles schien ihm zuzuraunen, er solle nicht weitergehen, es erwarte ihn hier nichts Gutes, sein Fuß werde das Land jenseits der Bucht nie wieder betreten, er möge sofort umkehren und fliehen, einerlei wohin, nur möglichst weit von diesem furchtbaren Orte des Todes. »Aber vielleicht ist's schon zu spät, vielleicht ist's schon entschieden,« dachte er und erschauerte, teils wegen dieses Gedankens, teils weil das Wasser durch seine Stiefel gedrungen war und seine Füße feucht machte.

Wolodja seufzte tief auf und entfernte sich ein wenig von seinem Bruder.

»Herrgott, werde ich wirklich selber fallen, grade ich?« Herr, erbarme dich meiner!« flüsterte er vor sich hin und bekreuzigte sich.

»Gehen wir, Wolodja,« sagte der ältere Bruder, als ihr Wagen sie eingeholt hatte; »hast du die Bombe gesehen?«

Auf der Brücke begegneten die Brüder Fuhren mit Verwundeten, mit Schanzkörben, einen Wagen voller Möbel, den eine Frau lenkte. Auf dem jenseitigen Ufer wurden sie von niemand angehalten.

Sich instinktiv dicht an die Mauer der Nikolajewschen Batterie haltend und in tiefem Schweigen dem Lärm der Bomben, die hier direkt über ihren Köpfen zersprangen, und der von oben herabstürzenden Sprengstücke lauschend, kamen die Brüder zu der Stelle der Batterie, wo sich das Heiligenbild befand. Hier erfuhren sie, daß die fünfte leichte Batterie, der Wolodja zugeteilt war, auf der Korabeljnaja stand, und beschlossen, ungeachtet der Gefahr zusammen auf die fünfte Bastion zu gehen und dort zu übernachten, morgen aber die Batterie aufzusuchen. Nachdem sie den Gang passiert hatten, wobei sie über die Füße schlafender Soldaten schreiten mußten, gelangten sie endlich zum Verbandplatze.

*

X.

Als sie das erste Zimmer betraten, in dem Pritschen mit Verwundeten standen und das von schwerer, widerwärtiger Lazarettluft erfüllt war, kamen ihnen zwei barmherzige Schwestern entgegen.

Die eine, eine Frau von etwa fünfzig Jahren, mit schwarzen Augen und strengem Gesichtsausdruck, trug Verbandzeug und Charpie und erteilte einem jungen Burschen, einem Feldscher, Weisungen; die andere, ein sehr hübsches, etwa zwanzigjähriges Mädchen mit blassem, zartblondem Gesichtchen, das in so eigener lieblicher Hilflosigkeit unter dem weißen Häubchen hervorsah, schritt, die Hände in den Taschen der Schürze, neben der Älteren und schien sich vor dem Zurückbleiben zu fürchten.

Koselzow wandte sich an sie mit der Frage, ob sie nicht wüßten, wo Marzow liege, dem gestern ein Fuß zerschmettert worden.

»Vom P.-Regiment, glaube ich?« fragte die Ältere, »ist's ein Verwandter von Ihnen?«

»Nein, ein Kamerad.«

»Führen Sie die Herren,« sagte sie auf französisch zur jüngeren Schwester, »hierher,« – und sie trat mit dem Feldscher an einen Verwundeten heran.

»Komm! Was zögerst du?« sagte Koselzow zu Wolodja, der – die Augenbrauen mit einem leidenden Ausdruck hochgezogen, nicht imstande, den Blick abzuwenden – auf die Verwundeten starrte; »komm doch!«

Wolodja folgte dem Bruder, sah sich aber fortwährend um und wiederholte unbewußt:

»Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!«

»Er ist wohl noch nicht lange hier?« fragte die Schwester Koselzow, indem sie auf Wolodja deutete, der ihnen ächzend und seufzend durch den Korridor folgte.

»Eben erst angekommen.«

Die hübsche junge Schwester blickte Wolodja an und begann plötzlich zu weinen. »Mein Gott, mein Gott! wann wird das alles enden?« fragte sie im Tone der Verzweiflung. Sie betraten die Offiziersabteilung. Marzow lag auf dem Rücken, die sehnigen, bis zum Ellenbogen entblößten Arme über den Kopf zurückgeworfen, mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der die Zähne zusammenbeißt, um nicht vor Schmerz zu schreien. Der gesunde, mit einem Strumpf bekleidete Fuß war unter der Decke hervorgestreckt und man sah, wie die Zehen krampfhaft zuckten.

»Nun, wie geht es Ihnen?« fragte die Schwester, während sie mit ihren schlanken, zarten Fingern, an deren einem Wolodja einen goldenen Ring bemerkte, den etwas kahlen Kopf des Kranken hob und das Kissen zurechtrückte. »Sehen Sie, Ihre Kameraden sind zu Besuch gekommen.«

»Selbstverständlich hab' ich Schmerzen,« antwortete er ärgerlich: »lassen Sie doch, es ist gut so –« die Zehen im Strumpf bewegten sich noch schneller. »Guten Tag! Wie heißen Sie? Entschuldigen Sie –« wandte er sich an Koselzow, »ach ja, pardon! hier vergißt man alles!« sagte er, als der andere seinen Namen genannt hatte; »wir haben ja zusammen gewohnt,« und er blickte ohne jeden Ausdruck der Freude fragend auf Wolodja.

»Das ist mein Bruder, – heute erst aus Petersburg gekommen.«

»Hm! Und ich hab' mir also die volle Pension verdient –« sprach er, das Gesicht verziehend; »ach, wie das schmerzt! Ein schnelles Ende wäre besser!«

Er zog die Beine hoch, bewegte die Zehen noch schneller und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Man muß ihn allein lassen,« flüsterte die Schwester mit Tränen in den Augen, »es geht ihm schon sehr schlecht.«

Noch auf der Nordseite hatten die Brüder beschlossen, auf die fünfte Bastion zu gehen; aber als sie die Nikolajewsche Batterie verließen, entschlossen sie sich – als wenn sie wortlos übereingekommen wären, sich keiner unnützen Gefahr auszusetzen, – sich zu trennen.

»Aber wie wirst du dich zurechtfinden, Wolodja?« fragte der Ältere. »Übrigens, Nikolajew kann dich in die Schiffsstraße führen, und ich gehe allein und komme morgen zu dir.«

Kein weiteres Wort fiel bei diesem letzten Abschied zweier Brüder.

*

XI.

Das Kanonengedonner dauerte mit gleicher Heftigkeit fort, aber die Katharinenstraße, durch welche Wolodja, vom schweigsamen Nikolajew gefolgt, dahinschritt, war leer und still. In der Finsternis sah er nur die breite Straße mit den weißen, an vielen Stellen zertrümmerten Mauern großer Häuser, und das Steintrottoir, auf dem er ging; hier und da begegnete er Soldaten und Offizieren. Als er auf der linken Seite an dem Admiralsgebäude vorbeiging, sah er beim Scheine eines hellen, hinter der Mauer brennenden Feuers die längs des Trottoirs stehenden Akazien, von grünen Stützstäben umringt, und die armseligen, verstaubten Blätter dieser Akazien. Deutlich hörte er seine eigenen Schritte und die Nikolajews, der schwer atmend hinter ihm her ging. Er dachte an nichts Bestimmtes: die hübsche junge Schwester, Marzows Fuß mit den im Strumpf zuckenden Zehen, Bomben und verschiedene Gestalten des Todes zogen unklar durch seinen Sinn. Seine junge, eindrucksfähige Seele litt unter dem Gefühl der Einsamkeit und der allgemeinen Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal inmitten der Gefahren. »Ich werde fallen, werde Qualen erdulden, leiden, und niemand wird um mich weinen!« Und alles das statt des tatenreichen und selbstbewußten Heldendaseins, das er sich so herrlich ausgemalt hatte! Die Bomben pfiffen und zerplatzten immer näher und näher, Nikolajew seufzte immer öfter, ohne jedoch das Schweigen zu brechen. Als sie über die Brücke gingen, die zur Schiffstraße führte, sah Wolodja, daß etwas nicht weit von ihnen mit Gepfeife in die Bucht flog, die violetten Wogen für eine Sekunde purpurn beleuchtete, verschwand und dann hoch aufspritzend wieder auftauchte.

»Sieh' mal an, die ist nicht krepiert!« sagte Nikolajew heiser.

»Ja,« antwortete Wolodja, und seine Stimme nahm unwillkürlich und für ihn selbst unerwartet einen dünnen, piepsenden Klang an.

Sie begegneten Tragbahren mit Verwundeten und wieder Regimentswagen mit Schanzkörben; in der Schiffstraße kam ihnen ein Regiment entgegen; Reiter ritten vorüber. Einer von ihnen war ein von einem Kosaken begleiteter Offizier. Er ritt im Trabe, hielt aber, als er Wolodja bemerkte, vor ihm an, blickte ihm aufmerksam ins Gesicht, wandte sich ab, gab seinem Pferde einen Schlag mit der Gerte und ritt weiter. »Allein, allein! Allen ist's gleichgültig, ob ich auf der Welt bin oder nicht,« dachte der Jüngling und hatte ernstlich Lust zu weinen.

Er schritt bergauf, an einer hohen, weißen Mauer vorbei, und bog in eine Straße ein, zu deren Seiten zertrümmerte, unaufhörlich von Bomben beleuchtete kleine Häuschen zu sehen waren.

Das Herz krampfte sich dem armen Jungen immer mehr und mehr zusammen; und am dunklen Horizont flammten die Blitze immer häufiger auf, und immer häufiger pfiffen und platzten die Bomben um ihn her. Nikolajew seufzte auf und begann plötzlich mit – wie es Wolodja schien – erschreckter, gedämpfter Stimme:

»Und da hat man sich beeilt, aus dem Gouvernement herzukommen, ist gefahren und gefahren. Hat sich was mit der Eile!«

»Ja, aber wenn mein Bruder doch wieder gesund ist!« antwortete Wolodja in der Hoffnung, wenigstens durch ein Gespräch das entsetzliche Gefühl zu verscheuchen, das sich seiner bemächtigt hatte.

»Gesund! Was ist das für eine Gesundheit, wenn er noch ganz krank ist! Auch für manchen wirklich Gesunden wär's heutzutage besser, im Lazarett zu bleiben. Gibt's hier vielleicht viel Vergnügen, was? Arm oder Bein wird einem abgerissen, das ist alles! Schnell ist ein Unglück da! Hier in der Stadt ist's ja noch nicht so wie auf der Bastion, und dennoch ist's schon so schrecklich. Man tut nichts als beten, während man so dahingeht. So eine Bestie, wie sie an einem vorbeisaust!« fügte er hinzu, seine Aufmerksamkeit einem nahe vorbeifliegenden Bombensplitter zuwendend. »Jetzt,« fuhr Nikolajew fort, »hat man mir befohlen, Euer Wohlgeboren zu begleiten. Na, unsere Sache ist ja, auszuführen, was einem befohlen wird: aber der Wagen ist nun dem ersten besten Soldaten anvertraut worden, und das Bündel ist offen. Geh nur, geh, – wenn aber etwas an Sachen verloren geht, ist Nikolajew verantwortlich!«

Nach einigen weiteren Schritten gelangten sie auf einen Platz. Nikolajew schwieg und seufzte.

»Dort steht Ihre Artillerie, Euer Wohlgeboren,« sagte er plötzlich, »fragen Sie den Wachposten, er wird Ihnen den Weg zeigen.«

Und als Wolodja noch ein paar Schritte vorwärts gegangen war, hörte er Nikolajews Seufzen nicht mehr hinter sich.

Er fühlte sich mit einem Male vollständig allein. Dieses Bewußtsein der Einsamkeit in der Gefahr, vor dem Tode, wie er meinte, legte sich ihm wie ein entsetzlich schwerer, kalter Stein auf das Herz. Er blieb mitten auf dem Platze stehen, blickte sich um, ob ihn nicht jemand sehe, griff sich an den Kopf und dachte und sprach mit Entsetzen: »Herrgott, bin ich denn ein Feigling, ein gemeiner, abscheulicher, nichtswürdiger Feigling? – Für das Vaterland, für den Zaren, für den zu sterben ich noch vor kurzem mit Wonne bereit war? Nein! Ich bin ein unglückseliges, erbärmliches Geschöpf!« Und mit dem aufrichtigen Gefühl der Verzweiflung und der Selbstenttäuschung fragte Wolodja die Schildwache nach der Wohnung des Batteriechefs und entfernte sich in der Richtung, die der Posten ihm wies.

*

XII.

Die Wohnung des Batteriekommandanten war ein kleines, zweistöckiges Haus mit dem Eingang von der Hofseite. Durch ein mit Papier verklebtes Fenster schimmerte ein schwacher Lichtschein. Ein Offiziersbursche saß auf der Vortreppe und rauchte seine Pfeife. Er meldete Wolodja dem Batteriechef und führte ihn ins Zimmer. Im Zimmer stand zwischen zwei Fenstern unter einem zerbrochenen Spiegel ein mit amtlichen Papieren bedeckter Tisch, ferner sah man einige Stühle und ein eisernes, sauber aufgebettetes Bett mit einem kleinen Teppich davor.

Dicht an der Tür stand ein hübscher Mann mit starkem Schnurrbart, – der Feldwebel, – mit Seitengewehr und einem Mantel, auf dem ein Kreuz und die Medaille für den ungarischen Feldzug hingen. In der Mitte des Zimmers ging ein mittelgroßer, etwa vierzigjähriger Stabsoffizier mit verbundener, geschwollener Wange und in einem feinen, alten Mantel auf und nieder.

»Habe die Ehre, mich zu melden; zur fünften Leichten abkommandiert, Fähnrich Koselzow II.,« sagte Wolodja beim Eintritt die eingelernte Phrase her.

Der Batteriechef beantwortete trocken den Gruß und forderte Wolodja – ohne ihm die Hand zu reichen – auf, Platz zu nehmen.

Wolodja ließ sich schüchtern auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch nieder und begann mit einer Schere zu spielen, die ihm unter die Finger kam. Der Batteriechef ging, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, nur hier und da einen Blick auf die mit der Schere spielende Hand werfend, schweigend im Zimmer auf und ab, mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich an etwas zu erinnern sucht.

Der Batteriechef war ein ziemlich dicker Mann mit einer großen Glatze am Hinterkopfe, dichtem, herunterhängendem und den Mund verdeckendem Schnurrbart und sympathischen braunen Augen. Seine Hände waren schön, rein und rundlich, seine kleinen, stark nach auswärts gedrehten Füße traten sicher und etwas stutzerhaft auf und schienen dadurch anzudeuten, daß der Batteriechef kein schüchterner Mensch war.

»Ja,« sagte er, indem er vor dem Feldwebel stehen blieb, »den Geschützpferden wird man von morgen an je eine Maß mehr geben müssen, sie werden uns sonst zu mager. Was meinst du?«

»Warum nicht, Euer Hochwohlgeboren, man kann ihnen schon mehr geben. Der Hafer ist jetzt billiger geworden,« antwortete der Feldwebel, wobei er die Finger der Hände bewegte, die er an den Hosennähten hielt, die aber offenbar seine Worte durch Gebärdenspiel zu unterstützen liebten. »Unser Fourageur Frantschuk hat mir gestern auch noch aus dem Train geschrieben, Euer Hochwohlgeboren, wir sollten dort unbedingt Spreu kaufen, man sagt, sie soll billiger sein. Was belieben Sie zu befehlen?«

»Na ja, er soll nur kaufen, er hat ja Geld.« Und der Batteriechef begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen. »Und wo haben Sie Ihre Sachen?« fragte er plötzlich und blieb vor Wolodja stehen.

Der arme Wolodja war so beherrscht von dem Gedanken, er sei ein Feigling, daß er aus jedem Blick, aus jedem Wort Verachtung gegen sich, den erbärmlichen Feigling, herauslas. Es schien ihm, als habe der Batteriechef sein Geheimnis schon durchschaut und als spotte er seiner. Er antwortete verwirrt, seine Sachen seien auf der Grafskaja und sein Bruder habe versprochen, sie ihm morgen zuzustellen.

Der Oberst aber hörte gar nicht mehr auf ihn, sondern fragte den Feldwebel:

»Wo könnten wir den Fähnrich unterbringen?«

»Den Fähnrich?« wiederholte der Feldwebel und vergrößerte Wolodjas Verlegenheit durch den Blick, mit dem er ihn überflog und der die Frage auszudrücken schien: »Was ist das für ein Fähnrich?«

»Ja, Euer Hochwohlgeboren,« fuhr er nach kurzem Nachdenken fort, »unten beim Stabskapitän können Seine Wohlgeboren sich einquartieren; der Stabskapitän sind jetzt auf der Bastion, folglich ist das Bett leer.«

»So nehmen Sie vielleicht vorläufig fürlieb?« fragte der Batteriechef; »Sie sind gewiß müde, denke ich, und morgen richten wir's dann besser ein.«

Wolodja stand auf und verbeugte sich. Als er sich schon der Tür näherte, fragte der Batteriechef: »Möchten Sie nicht Tee haben? Man kann den Ssamowar aufstellen.«

Wolodja verneigte sich und ging hinaus. Der Bursche des Obersten führte ihn nach unten in ein kahles, schmutziges Zimmer, in dem allerlei Gerümpel umherlag und ein eisernes Bett ohne Bettwäsche und Decke stand. Auf diesem Bett schlief, mit einem dicken Mantel zugedeckt, ein Mensch in einem rosa Hemde. Wolodja hielt ihn für einen Soldaten.

»Peter Nikolajewitsch!« rief der Bursche, indem er den Schlafenden an der Schulter rüttelte; »hier werden sich der Fähnrich niederlegen. Das ist unser Junker,« fügte er zum Fähnrich gewandt hinzu.

»Ach bitte, lassen Sie sich nicht stören!« sagte Wolodja, doch der Junker, ein großer, starker junger Mann mit hübschem, aber sehr dummem Gesicht, erhob sich vom Bette, warf seinen Mantel um die Schultern und ging, augenscheinlich noch nicht recht wach, aus dem Zimmer.

»Macht nichts, ich leg' mich draußen nieder,« brummte er.

*

XIII.

Als Wolodja mit seinen Gedanken allein geblieben war, war sein erstes Gefühl das Entsetzen über den wirren, trostlosen Zustand, in dem seine Seele sich befand. Er hatte den Wunsch, einzuschlafen und seine ganze Umgebung, und vor allem sich selbst, zu vergessen. Er löschte das Licht, legte sich auf das Bett und zog seinen Mantel über den Kopf aus Angst vor dem Dunkeln, die ihn noch von seiner Kindheit her verfolgte. Plötzlich aber kam ihm der Gedanke, eine Bombe werde geflogen kommen, werde das Dach durchschlagen und ihn töten. Er lauschte: grade über ihm klangen die Schritte des Batteriechefs.

»Übrigens,« dachte er, »wenn auch eine geflogen käme, so würde sie zuerst oben treffen und dann erst mich, also wenigstens nicht mich allein.« Dieser Gedanke beruhigte ihn etwas und er begann einzuschlummern. »Wie aber, wenn plötzlich in der Nacht Sewastopol genommen wird und die Franzosen hier eindringen? Womit werde ich mich verteidigen?« Er stand wieder auf und ging im Zimmer umher. Die Angst vor der tatsächlichen Gefahr hatte die geheimnisvolle Furcht vor der Finsternis vertrieben. Außer einem Sattel und einem Ssamowar war im Zimmer nichts Festes zu finden. »Ich bin ein Elender, ein Feigling, ein gemeiner Feigling,« dachte er plötzlich, und wieder überkam ihn das drückende Gefühl der Verachtung, ja sogar des Abscheus vor sich selbst. Er legte sich wieder nieder und bemühte sich, an gar nichts zu denken. Da tauchten unwillkürlich die Eindrücke des Tages in seiner Phantasie auf, begleitet von dem ununterbrochenen Getöse, das die Scheiben in dem einzigen Fenster klirren ließ, und erinnerte ihn wieder an die Gefahr: bald sah er im Geiste Verwundete und Blut, bald Bomben und Splitter, die ins Zimmer zu fliegen schienen, bald die hübsche barmherzige Schwester, die ihm, dem Sterbenden, einen Verband anlegte und um seinetwillen weinte, bald seine Mutter, die ihn in die Kreisstadt begleitete und mit heißen Tränen vor dem wundertätigen Heiligenbilde betete, – und wieder schien es ihm unmöglich einzuschlafen. Plötzlich aber trat der Gedanke an Gott, den Allmächtigen, der alles bewirken und jedes Gebet erhören kann, klar vor seine Seele. Er kniete nieder, bekreuzigte sich und faltete die Hände genau so wie man ihn in der Kindheit beten gelehrt hatte. Diese Gebärde versetzte ihn mit einem Schlage in eine längst vergessene, glückliche Stimmung.

»Wenn ich sterben muß, wenn es sein muß, daß ich nicht mehr bin, so laß es geschehen, Herrgott,« dachte er, »laß es schnell geschehen! Bedarf es aber der Tapferkeit, der Festigkeit, die mir fehlen, so gib sie mir; bewahre mich vor Schande und Schmach, die ich nicht ertragen kann, und lehre mich, was ich zu tun habe, um deinen Willen zu erfüllen.«

Seine kindliche, verängstigte, kleinliche Seele erstarkte plötzlich, wurde mutig und hell und erblickte neue, weite, lichte Horizonte. Vieles noch dachte und empfand er in der kurzen Zeit, während welcher dieses Gefühl anhielt. Bald schlief er ruhig und sorglos ein, mitten unter dem fortdauernden Getöse des Bombardements und dem Klirren der Scheiben.

Großer Gott, du allein hast gehört und kennst die schlichten, aber inbrünstigen und verzweifelten Gebete der Unwissenheit, der dumpfen Reue, der Bitte um Heilung des Körpers und Erleuchtung der Seele, die von diesem entsetzlichen Orte des Todes zu dir emporstiegen, vom General angefangen, der einen Moment vorher an das Georgskreuz gedacht und plötzlich mit Bangen deine Nähe ahnt, bis zum einfachen Soldaten, der sich auf dem nackten Fußboden der Nikolajewschen Batterie niederwirft und dich anfleht, du mögest ihm im Jenseits die unbewußt vorhergeahnte Belohnung für alle seine Leiden geben!

*

XIV.

Der ältere Koselzow hatte auf der Straße einen Soldaten seines Regiments getroffen und begab sich mit ihm zusammen direkt nach der fünften Bastion.

»Halten Sie sich an die Mauer, Euer Wohlgeboren,« sagte der Soldat.

»Warum?«

»Es ist gefährlich, Euer Wohlgeboren: da fliegt eine grade herüber,« erklärte der Soldat, indem er dem Pfeifen der vorbeifliegenden Kanonenkugeln lauschte, die jenseits der Straße auf dem trockenen Boden aufschlugen.

Koselzow ging, ohne auf den Soldaten zu hören, tapfer in der Mitte der Straße.

Es waren dieselben Straßen, dasselbe, nur noch häufigere Feuern, dasselbe Stöhnen, das Vorübertragen der Verwundeten und dieselben Batterien, Brustwehren und Laufgräben wie im Frühling, als er in Sewastopol gewesen war; aber das alles war jetzt, er wußte nicht recht warum, noch trauriger und zugleich ausdrucksvoller; es gab noch mehr zertrümmerte Häuser, in den Fenstern sah man nirgends mehr Licht, außer in Kuschtschins Haus, dem Lazarett. Man traf keine Frauen auf der Straße, kurz, auf allem lag nicht mehr der frühere Charakter der Gewohnheit und Sorglosigkeit, sondern der Stempel der bangen Erwartung und Müdigkeit.

Doch da ist schon der letzte Laufgraben, da tönt auch die Stimme eines Soldaten vom P.-Regiment, der seinen früheren Kompagniechef erkannt hat, und da steht auch schon das dritte Bataillon in der Dunkelheit an die Mauer gedrückt, hier und da für einen Augenblick durch Schüsse beleuchtet und seine Gegenwart durch gedämpftes Gespräch und Klirren der Gewehre verratend.

»Wo ist der Regimentskommandant?« fragte Koselzow.

»In der Blindage bei den Seeleuten, Euer Wohlgeboren,« antwortete ein diensteifriger Soldat, »bitte, ich führe Sie hin.«

Von Laufgraben zu Laufgraben geleitete der Soldat Koselzow zu einer kleinen Vertiefung. In dieser Vertiefung saß ein Matrose und rauchte seine Pfeife; hinter ihm sah man eine Tür, durch deren Ritze ein Lichtschein drang.

»Darf man hinein?«

»Ich werde sogleich melden!« und der Soldat verschwand in der Tür, hinter welcher zwei Stimmen zu hören waren.

»Wenn Preußen die Neutralität bewahrt,« sagte die eine Stimme, »so wird auch Österreich –«

»Was kann Österreich,« sagte die andere, »wenn die slawischen Völker – – laß eintreten.«

Koselzow war noch nie in dieser Blindage gewesen. Sie überraschte ihn durch einen Anflug von Luxus. Der Fußboden war parkettiert, die Tür durch Wandschirme verdeckt; an den Wänden standen zwei Betten, in einer Ecke sah man ein großes Bild der Muttergottes in goldenem Gewande, und davor brannte ein rosa Lämpchen. Auf einem der Betten schlief ein Marineoffizier vollständig angekleidet; auf dem andern saßen vor einem Tisch, auf welchem zwei halbvolle Flaschen Wein standen, der neue Regimentschef und sein Adjutant im Gespräch. Obgleich Koselzow durchaus kein Feigling war und sich weder vor der Regierung noch vor dem Regimentskommandanten irgend etwas hatte zuschulden kommen lassen, wurde ihm doch unbehaglich zumute beim Anblick des Obersten, der vor kurzem noch sein Kamerad gewesen war: so hochmütig erhob sich dieser Oberst, um ihn anzuhören. »Seltsam,« dachte Koselzow, während er seinen Kommandanten ansah, »nur sieben Wochen sind es, daß er das Regiment bekommen hat, und wie deutlich zeigt sich schon in seiner ganzen Umgebung, in seiner Kleidung, seiner Haltung, seinem Blick, die Macht des Regimentschefs! Wie lange ist's denn her, daß dieser selbe Batrischtschew noch mit uns gezecht, an Wochentagen ein dunkles Kattunhemd getragen, und, ohne jemand zu sich einzuladen, nichts anderes als Rindfleisch und Quarkpastetchen gegessen hat, und jetzt? Im Blick dieser Ausdruck kalten Hochmutes, der zu sagen scheint: wenn ich auch als Regimentschef neuer Schule dein Kamerad bin, glaube mir, ich weiß, wie gern du dein halbes Leben hingeben würdest, nur um an meiner Stelle zu sein.«

»Sie haben sich recht lange kurieren lassen,« sagte der Oberst kalt zu Koselzow und blickte ihn an.

»Ich war krank, Oberst, auch jetzt noch ist die Wunde nicht ganz geschlossen.«

»Dann hätten Sie noch nicht kommen sollen,« meinte der Oberst mit einem mißtrauischen Blick auf die volle Gestalt des Offiziers, »Sie können aber doch den Dienst versehen?«

»Natürlich, das kann ich.«

»Nun, das freut mich. So übernehmen Sie vom Fähnrich Saizew die neunte Kompagnie – ihre frühere. Sie werden sogleich die Ordre bekommen.«

»Zu Befehl.«

»Haben Sie die Güte, wenn Sie fortgehen, den Regimentsadjutanten zu mir zu schicken,« schloß der Oberst, indem er durch eine leichte Verbeugung zu verstehen gab, daß die Audienz beendet sei.

Als Koselzow aus der Blindage heraustrat, brummte er etwas vor sich hin und zog die Schultern hoch, als empfände er über irgend etwas Schmerz, Ärger oder Unbehagen; er ärgerte sich nicht etwa über den Regimentschef (dazu war kein Grund vorhanden), aber er war gewissermaßen unzufrieden mit sich selbst und mit allem, was ihn umgab.

*

XV.

Bevor Koselzow zu den Offizieren ging, wollte er seine Kompagnie begrüßen und sehen, wo sie stand. Die aus Schanzkörben aufgeworfenen Brustwehren, die Anlage der Laufgräben, die Kanonen, an denen er vorbeiging, ja sogar die Bombensplitter und die Kugeln, über die er unterwegs stolperte, – alles das, unaufhörlich durch das Feuer der Schüsse beleuchtet, war ihm wohlbekannt; es hatte sich vor drei Monaten, während der zwei Wochen, die er ununterbrochen auf dieser selben Bastion zugebracht hatte, seinem Gedächtnis lebhaft eingeprägt. Obgleich die Erinnerung daran viel Schreckliches in sich barg, war sie doch gewissermaßen vom Zauber der Vergangenheit umhüllt, und mit Vergnügen – als wären die hier verbrachten zwei Wochen angenehm gewesen – erkannte Koselzow die bekannten Orte und Gegenstände. Die Kompagnie hatte ihren Platz an der Schutzwand gegen die sechste Bastion zu.

Koselzow betrat eine lange, von der Eingangsseite ganz offene Blindage, in welcher, wie man ihm sagte, die neunte Kompagnie stand, und die so voll von Soldaten war, daß man buchstäblich keinen fußbreit freien Platz entdecken konnte. An der einen Seite brannte eine schiefe Talgkerze, die ein liegender Soldat hielt, um ein Buch zu beleuchten, aus dem ein anderer Soldat buchstabierend vorlas. Rund um das Licht tauchten aus dem trüben Halbdunkel der Blindage Köpfe von Soldaten auf, die dem Lesenden gespannt zuhörten. Das Buch war eine Fibel. Beim Entritt in die Blindage hörte Koselzow folgendes:

»Ge–bet nach dem Un–ter–richt. Ich dan–ke dir, Schöpfer –«

»Putzt doch das Licht!« rief eine Stimme. »Das Buch ist famos!« – »Mein – Gott –« fuhr der Lesende fort.

Als Koselzow nach dem Feldwebel fragte, verstummte der Vorleser, die Soldaten bewegten sich, husteten, schnäuzten sich, wie das immer nach anhaltendem Schweigen zu sein pflegt; der Feldwebel erhob sich, seinen Rock zuknöpfend, aus der Gruppe, die den Vorleser in ihrer Mitte hatte, und trat, über die Füße und auf den Füßen derer schreitend, die ihre Beine nirgends mehr hinstrecken konnten, zu dem Offizier.

»Guten Tag, Bruder! Ist das alles unsere Kompagnie?«

»Gesundheit zu wünschen, Euer Wohlgeboren! wir gratulieren zur Ankunft!« erwiderte der Feldwebel, während er Koselzow vergnügt und freundlich anblickte; »wie steht es mit Ihrer Gesundheit, Euer Wohlgeboren? Na, Gott sei Dank! Wir haben Sie schon sehr vermißt!«

Man sah sofort, daß Koselzow bei der Kompagnie beliebt war.

Im Hintergrunde der Blindage ertönten Stimmen: »Der frühere Kompagniechef ist wieder da, der verwundet war, Koselzow, Michael Ssemjonowitsch!« und so weiter. Einige Soldaten kamen sogar zu ihm, und der Trommler begrüßte ihn.

»Guten Tag, Obantschuk,« sagte Koselzow, »unverletzt? – Guten Tag, Kinder!« rief er dann mit erhobener Stimme.

»Gesundheit wünschen wir!« erklang es tosend in der Blindage.

»Wie geht's euch, Jungens?«

»Schlecht, Euer Wohlgeboren, der Franzose kriegt uns unter! Er feuert arg hinter den Schanzen hervor, kommt aber nicht ins freie Feld heraus.«

»Vielleicht schenkt Gott mir das Glück, daß er auch ins Feld kommt, Jungens!« sagte Koselzow; »für euch und für mich wär's ja nicht das erste Mal, – wir werden ihn wieder verprügeln!«

»Stets bereit, Euer Wohlgeboren!« riefen einige Stimmen.

»Na, der ist wirklich tapfer,« sagte jemand.

»Furchtbar tapfer!« bestätigte der Trommler, nicht laut, aber so, daß man's hören konnte, einem andern Soldaten, als wollte er die Worte des Kompagniechefs rechtfertigen und den Kameraden überzeugen, daß in diesen Worten nichts Prahlerisches oder Unwahrscheinliches liege.

Von den Soldaten ging Koselzow in die Kaserne beim Defensionswinkel, zu seinen Kameraden, den Offizieren.

*

XVI.

In dem großen Zimmer der Kaserne waren eine Unmenge Leute: Marine-, Artillerie- und Infanterieoffiziere. Die einen schliefen, die andern plauderten, auf dem Pulverkasten und der Lafette einer Festungskanone sitzend, die dritten, die die größte und lauteste Gruppe bildeten, saßen hinter einem Gewölbebogen auf dem Fußboden auf zwei ausgebreiteten Filzmänteln, tranken Porter und spielten Karten.

»Ah, Koselzow! Koselzow! Gut, daß du da bist! braver Kerl! Was macht die Wunde?« ertönte es von allen Seiten. Und auch hier zeigte es sich gleich, daß man ihn gern hatte und sich über seine Ankunft freute.

Koselzow schüttelte seinen Bekannten die Hand und gesellte sich der lärmenden Gruppe der kartenspielenden Offiziere zu. Unter ihnen befanden sich auch Bekannte von ihm. Ein hübscher, magerer, brünetter Mann mit langer, dünner Nase und großem Schnurrbart hielt die Bank mit seinen weißen, mageren Fingern, auf deren einem sich ein großer Ring mit einem Wappen befand. Er warf die Karten gerade und nachlässig vor sich hin; man merkte ihm an, daß er erregt war, aber sorglos erscheinen wollte. Rechts von ihm lag, auf den Ellbogen gestützt, ein grauköpfiger Major, der mit affektiertem Gleichmut je einen halben Rubel setzte und immer sofort zahlte. Links hockte ein hübscher junger Offizier mit schweißbedecktem Gesicht, der gezwungen lächelte und scherzte. Wenn seine Karte an die Reihe kam, bewegte er die eine Hand beständig in der leeren Hosentasche. Er setzte hoch, hatte aber augenscheinlich kein bares Geld mehr, und das eben ärgerte den hübschen brünetten Herrn. Ein kahlköpfiger, magerer und blasser Offizier mit großer Nase und großem Munde ging im Zimmer auf und ab, hielt eine Menge Banknoten in der Hand, spielte stets va banque mit barem Gelde und gewann immer.

Koselzow trank einen Schnaps und setzte sich zu den Spielern.

»Pointieren Sie mit, Michael Ssemjonowitsch,« sagte der Bankhalter zu ihm, »ich denke, Sie haben eine Unmenge Geld mitgebracht?«

»Woher sollte ich's haben? Im Gegenteil, ich hab' das letzte in der Stadt gelassen!«

»Ach was! Sie haben doch gewiß in Simferopol einem etwas abgenommen!«

»Wirklich, nur wenig!« sagte Koselzow, wünschte aber offenbar gar nicht, daß man ihm Glauben schenkte, knöpfte den Rock auf und nahm die alten Karten in die Hand.

»Versuchen kann man's ja: der Teufel treibt oft sonderbare Scherze! Und auch die Mücke kann, wie Sie wissen, mancherlei ausrichten. Man muß sich nur ein wenig Mut trinken!«

Und in kurzer Zeit hatte Koselzow, nachdem er einen zweiten Schnaps und einige Glas Porter getrunken hatte, seine letzten drei Rubel verspielt.

Der kleine schwitzende Offizier war bereits mit hundertfünfzig Rubeln in der Kreide.

»Nein, ich hab' kein Glück!« sagte er, nachlässig nach einer neuen Karte greifend.

»Bitte zu bezahlen,« sprach der Bankhalter, indem er einen Moment innehielt und ihn anblickte.

»Erlauben Sie mir, es morgen zu zahlen,« erwiderte der schwitzende Offizier, stand auf und bewegte die Hand noch schneller in der leeren Tasche.

»Hm!« brummte der Bankhalter, und führte, die Karten ärgerlich nach rechts und nach links werfend, das Spiel. Dann legte er die Karten hin und sagte: »Aber das geht doch nicht an! Ich höre auf. Das geht nicht an, Sachar Iwanowitsch! Wir haben auf bar gespielt und nicht auf Kreide.«

»Trauen Sie mir vielleicht nicht, was? Das ist doch wirklich merkwürdig!«

»Von wem bekomme ich mein Geld?« brummte der Major, der etwa acht Rubel gewonnen hatte; »ich hab' schon mehr als zwanzig Rubel hingelegt, jetzt hab' ich gewonnen – und bekomme nichts!«

»Wie soll ich denn zahlen,« fragte der Bankhalter, wenn kein Geld auf dem Tische liegt?«

»Was geht das mich an?« schrie der Major, und stand auf, »ich spiele mit Ihnen und nicht mit dem da!«

Der schwitzende Offizier ereiferte sich plötzlich: »Ich hab' gesagt, daß ich morgen bezahle, wie können Sie sich also unterstehen, mir Grobheiten zu sagen?«

»Ich sage, was ich will! So handelt man nicht, – das ist's!« schrie der Major.

»Genug, genug! Feodor Feodorowitsch!« sprachen alle durcheinander, den Major zurückhaltend.

Doch senken wir schnell den Vorhang vor dieser Szene. Morgen vielleicht – oder auch noch heute – wird jeder einzelne dieser Männer stolz und guten Muts dem Tode entgegengehen und standhaft und ruhig sterben; aber der einzige Lebensgenuß in Verhältnissen, welche die kühlste Einbildungskraft entsetzen, ans Unmenschliche streifen und keine Aussicht auf Besserung lassen, – der einzige Genuß in solchen Verhältnissen ist das Vergessen, die Vernichtung des Bewußtseins. Auf dem Grunde der Seele eines jeden schlummert der edle Funke, der aus ihm einen Helden machen kann; dieser Funke wird des hellen Leuchtens müde, – wenn aber die Schicksalsstunde schlägt, lodert er zur Flamme auf und beleuchtet große Taten.

*

XVII.

Am nächsten Tage wurde das Bombardement mit gleicher Heftigkeit fortgesetzt. Gegen 11 Uhr vormittags saß Wolodja Koselzow im Kreise der Batterieoffiziere und betrachtete die fremden Gesichter, an die er sich schon ein wenig gewöhnt hatte, beobachtete, fragte und erzählte. Das bescheidene, gewissermaßen auf Gelehrsamkeit Anspruch machende Gespräch der Artillerieoffiziere flößte ihm Achtung ein und gefiel ihm. Andrerseits gewann sein schamhaftes, unschuldiges und hübsches Äußere ihm das Wohlwollen der Offiziere. Der älteste Offizier der Batterie, ein Kapitän, – ein Mann von mittlerem Wuchs mit rötlichem Haar, das auf dem Wirbel einen Schopf bildete und an den Schläfen glatt lag, der nach den alten Traditionen der Artillerie erzogen war, ein Damenfreund und angeblich ein Gelehrter, – fragte Wolodja nach seinen Kenntnissen in der Artillerie und nach neuen Erfindungen, zog ihn freundschaftlich mit seinem hübschen Gesichtchen und seiner Jugend auf, und behandelte ihn überhaupt wie ein Vater seinen Sohn, was Wolodja sehr wohltat. Unterleutnant Djadenko, ein junger Offizier, der mit kleinrussischem Akzent sprach, einen zerrissenen Mantel und verwühltes Haar hatte, sprach zwar sehr laut, fiel durch schroffe Bewegungen auf und war immer auf der Suche nach einer Gelegenheit zu hitzigem Streite, gefiel aber trotzdem Wolodja, der unter dieser rauhen Außenseite in ihm einen prächtigen, außerordentlich gutmütigen Menschen erkannte. Djadenko bot Wolodja fortwährend seine Dienste an und erklärte ihm, daß alle Geschütze in Sewastopol nicht vorschriftsmäßig aufgestellt seien. Leutnant Tschernowitzkij mit den hochgezogenen Brauen gefiel Wolodja nicht, obgleich er höflicher war als alle andern, einen ziemlich saubern, wenn auch nicht neuen, so doch sorgfältig geflickten Rock trug und auf seiner Atlasweste eine goldene Uhrkette sehen ließ. Er erkundigte sich, was der Kaiser und der Kriegsminister machen, erzählte mit erkünstelter Begeisterung von den Heldentaten, die in Sewastopol verrichtet worden waren, bedauerte, daß es so wenig wahre Patrioten gebe, und verriet überhaupt viel Kenntnisse, Verstand und vornehmes Empfinden; aber alles das erschien Wolodja, er wußte selbst nicht, warum, unsympathisch und unnatürlich. Und was die Hauptsache war: er bemerkte, daß die andern Offiziere fast gar nicht mit Tschernowitzkij sprachen. Junker Wlang, der gestern um seinetwillen aufgeweckt worden war, war auch da. Er sprach nicht, sondern saß bescheiden in einer Ecke, lachte, wenn etwas Komisches erzählt wurde, erinnerte die andern an das, was sie vergaßen, reichte Schnaps umher und drehte Zigaretten für alle Offiziere. Ob das bescheidene, höfliche Wesen Wolodjas, der ihn genau so behandelte wie die Offiziere und nicht wie einen dummen Jungen, oder sein angenehmes Äußere »Wlanga« (wie die Soldaten ihn nannten, indem sie aus seinem Namen ein Femininum bildeten) so fesselte – jedenfalls wandte er seine guten großen Augen nicht vom Gesicht des neuen Offiziers, erriet alle seine Wünsche und kam ihnen zuvor, und befand sich die ganze Zeit in einer Art Liebesextase, welche die Offiziere natürlich bemerkten und belachten.

Vor dem Mittagessen wurde der Stabskapitän von der Bastion abgelöst und schloß sich ihrer Gesellschaft an. Stabskapitän Kraut war ein blonder, hübscher, lebhafter Offizier, mit großem rotem Backen- und Schnurrbart; er sprach das Russische vorzüglich, aber zu hübsch und regelrecht für einen Russen. Im Dienst und im Leben war er ganz wie in seiner Sprache: ein tadelloser Offizier, ein prächtiger Kamerad, der zuverlässigste Mann in Geldangelegenheiten; aber als Mensch an sich fehlte ihm etwas, grade weil nichts an ihm auszusetzen war. Wie alle Deutschrussen war er in seltsamem Gegensatz zu den idealen echten Deutschen in höchstem Grade praktisch.

»Da ist er, unser Held!« sagte der Kapitän, als Kraut mit den Armen schwenkend und sporenklingend ins Zimmer trat. »Was wünschen Sie, Friedrich Christianowitsch, Tee oder Schnaps?«

»Ich habe schon befohlen, mir ein Teechen zu bereiten,« antwortete er, »aber ein Schnäpschen kann man sich ja inzwischen als Herzensstärkung gönnen. Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen; bitte uns Liebe und Gunst zu erweisen,« sagte er zu Wolodja, der aufgestanden war und sich verneigt hatte, »Stabskapitän Kraut. Ein Feuerwerker hat mir auf der Bastion erzählt, daß Sie schon gestern eingetroffen sind.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr Bett: ich hab' darin geschlafen.«

»Wenn Sie nur gut geruht haben? Der eine Fuß ist abgebrochen, und es ist niemand da, der's reparieren könnte, – wir sind eben im Belagerungszustande! – man muß immer was unterlegen.«

»Na, haben Sie glücklich zu Ende dejouriert?« fragte Djadenko.

»Ja, es geht; nur Skworzow hat was abbekommen, und eine Lafettenwand ist gestern in Trümmer geschossen worden.«

Er stand auf und begann hin und her zu gehen; man merkte es ihm an, daß er sich ganz dem Einfluß der angenehmen Gewißheit hingab, soeben einer Gefahr entronnen zu sein.

»Na, Dmitrij Gawrilowitsch,« sagte er und klopfte dem Kapitän aufs Knie, »wie geht es, Väterchen? Was ist's mit Ihren Avancementsvorschlägen? Noch keine Antwort?«

»Noch nichts.«

»Und es kommt auch nichts,« sagte Djadenko, »ich hab's Ihnen im vorhinein klar gemacht.«

»Warum sollte denn nichts kommen?«

»Weil die Relation nicht richtig abgefaßt war.«

»Ach, Sie Streithahn, Sie Streithahn!« rief Kraut mit lustigem Lächeln, »Sie sind der rechte, hartnäckige Kleinrusse! Aber warten Sie nur, Ihnen zum Trotz wird für Sie der Leutnant herauskommen!«

»Nein, gewiß nicht!«

»Wlang! bringen Sie mir doch mein Pfeifchen und stopfen Sie es mir,« rief Kraut, zum Junker gewandt, der sofort dienstbereit forteilte, die Pfeife zu holen.

Kraut brachte Leben in die Gesellschaft: er erzählte vom Bombardement, erkundigte sich, was in seiner Abwesenheit geschehen war, plauderte mit allen.

*

XVIII.

»Nun, haben Sie sich bei uns schon eingerichtet?« fragte Kraut Wolodja. »Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Vor- und Vatersname? Wissen Sie, bei uns in der Artillerie ist's einmal so Sitte. Haben Sie schon ein Reitpferdchen gekauft?«

»Nein,« antwortete Wolodja, »ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich sagte schon dem Kapitän, – ich hab' kein Pferd und auch kein Geld, so lange ich nicht die Fourage- und Reisegelder bekomme. Ich will inzwischen den Batteriechef um ein Pferd bitten, aber ich fürchte, daß er mir's abschlagen wird.«

»Apollon Ssergejewitsch?« er brachte mit den Lippen einen Laut hervor, der starken Zweifel ausdrückte, und blickte den Kapitän an, »kaum!«

»Was tut's? sagt er nein, so ist's auch kein Unglück,« meinte der Kapitän, »eigentlich braucht man hier überhaupt kein Pferd, aber man kann's ja versuchen; ich will ihn heute fragen.«

»Wie, kennen Sie ihn nicht?« mischte sich Djadenko ins Gespräch, »etwas anderes würde er abschlagen, aber das auf keinen Fall! Wollen Sie wetten?«

»Na ja, es ist ja bekannt, daß Sie immer widersprechen.«

»Ich widerspreche, weil ich weiß: in andern Dingen ist er geizig, aber das Pferd wird er hergeben, weil er von der Weigerung nichts hat.«

»Wie soll er nichts davon haben, wenn ihm hier der Hafer auf acht Rubel pro Pferd zu stehen kommt!« sagte Kraut, »er hat also einen Vorteil, wenn er keine überflüssigen Pferde hält.«

»Bitten Sie um den ›Staar‹, Wladimir Ssemjonowitsch,« sagte Wlang, der mit Krauts Pfeife zurückkam, »ein prächtiges Pferdchen!«

»Das, mit dem Sie in Ssoroki in den Graben gefallen sind, Wlanga, was?« bemerkte der Stabskapitän.

»Ach, was sprechen Sie da von acht Rubeln pro Pferd,« fuhr Djadenko fort zu streiten, »wenn er seine Rechnung zu zehneinhalb macht! Gar keine Berechnung!«

»Das wäre schön, wenn ihm nichts übrig bliebe! Wenn Sie einmal Batteriechef sein werden, wird man nicht einmal ein Pferd bekommen, um in die Stadt zu reiten!«

»Wenn ich Batteriechef sein werde, Väterchen, werden meine Pferde je vier Maß Hafer fressen; ich werde keinen Profit machen, fürchten Sie nichts!«

»Wird man sehen, wird man sehen!« sagte der Stabskapitän, »Sie werden genau so handeln, und der da auch, wenn er eine Batterie befehligen wird,« fügte er hinzu, auf Wolodja deutend.

»Warum glauben Sie denn, Friedrich Christianowitsch, daß auch er wird Profit machen wollen?« mischte sich Tschernowitzkij ein, »vielleicht hat er Vermögen, warum sollte er dann Vorteil suchen?«

»Nein, ich – entschuldigen Sie, Kapitän,« sagte Wolodja, bis über die Ohren errötend, »ich halte das für unehrenhaft.«

»Aha, wie der heikel ist!« rief Kraut.

»Das ist so – ich meine nur, wenn's nicht mein Geld ist, darf ich's nicht nehmen.«

»Ich will Ihnen was sagen, junger Mann,« begann der Stabskapitän in ernsterem Tone, »Sie müssen wissen: wenn Sie Batteriechef sind und Ihre Geschäfte richtig führen, – gut; um die Soldatenkost hat der Batteriechef sich nicht zu kümmern, das wird in der Artillerie von altersher so gehalten. Sind Sie aber ein schlechter Wirt, so behalten Sie nichts übrig. Nun haben Sie Ausgaben: erstens für das Beschlagen der Pferde (er bog einen Finger ein), zweitens für die Apotheke (er bog den zweiten Finger ein), drittens für die Kanzlei, viertens zahlen Sie für die Handpferde je fünfhundert Rubel, Väterchen, Sie müssen ferner den Soldaten neue Kragen geben, die Kohlen kosten viel, die Offiziere müssen Sie beköstigen. Wenn Sie Batteriechef sind, müssen Sie auch anständig leben, Sie müssen einen Wagen haben, einen Pelz, und dies und das und jenes und noch zehnerlei. Was ist da noch viel zu reden!«

»Und das Wichtigste, Wladimir Ssemjonowitsch«, fiel der Kapitän ein, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, »ist dies: stellen Sie sich vor, daß zum Beispiel ein Mann wie ich zwanzig Jahre lang erst mit zwei-, dann mit dreihundert Rubeln Gage dient; soll man ihm für seinen Dienst nicht einmal ein Stück Brot im Alter geben?«

»Ach, was ist da zu reden!« begann der Stabskapitän wieder, »urteilen Sie nicht voreilig, leben und dienen Sie erst eine Weile.«

Wolodja schämte sich sehr, weil er so unüberlegt gesprochen hatte, er brummte etwas vor sich hin und hörte dann schweigend zu, wie Djadenko in höchstem Eifer drauf los stritt und wieder das Gegenteil zu beweisen versuchte.

Der Streit wurde durch den Burschen des Obersten unterbrochen, der zu Tische bat.

»Sagen Sie heute Apollon Ssergejewitsch, er solle Wein hergeben,« sagte Tschernowitzkij, seinen Rock zuknöpfend, zum Kapitän; »was knausert er? Wenn wir erschossen werden, kriegt keiner was!«

»Sagen Sie's doch selbst.«

»O nein! Sie sind der älteste Offizier. Man muß immer Ordnung einhalten.«

*

XIX.

In dem Zimmer, in welchem Wolodja sich gestern beim Oberst gemeldet hatte, war der Tisch von der Wand gerückt und mit einem schmutzigen Tischtuche bedeckt. Der Batteriechef reichte ihm heute die Hand und fragte ihn über Petersburg und seine Reise aus.

»Nun, meine Herren, wer Schnaps trinkt, – bitte sich zu bedienen! Die Fähnriche trinken keinen,« fügte er lächelnd hinzu.

Überhaupt zeigte er sich heute durchaus nicht so unfreundlich wie gestern, sondern machte vielmehr den Eindruck eines gutmütigen, gastfreundlichen Hausherrn und älteren Kameraden. Trotzdem bewiesen alle Offiziere, vom alten Kapitän bis zum Unterleutnant Djadenko, ihm die größte Achtung, die sich schon darin äußerte, wie sie ihm beim Sprechen in die Augen sahen, und wie sie bescheiden einer nach dem andern herantreten Nach russischer Sitte wird vor der eigentlichen Mahlzeit an einem Nebentische stehend ein kleiner Imbiß eingenommen, wobei Schnaps oder Likör getrunken wird. (Anm. d. Übers.), um einen Schnaps zu trinken.

Das Mittagsmahl bestand aus einer großen Portion Sauerkrautsuppe, in welcher Stücke fetten Rindfleisches und sehr viel Pfefferkörner und Lorbeerblätter schwammen, aus polnischen Würsten mit Senf und fleischgefüllten Klößen mit nicht ganz frischer Butter. Servietten fehlten, die Löffel waren aus Blech und aus Holz, nur zwei Gläser waren zu sehen und auf dem Tische stand nur eine Wasserkaraffe mit abgeschlagenem Halse; aber es herrschte keine Langeweile während der Mahlzeit: das Gespräch stockte keinen Augenblick. Zuerst war die Rede von der Schlacht bei Inkermann, an der die Batterie teilgenommen hatte; jeder schilderte seine Eindrücke, gab seiner Meinung über die Ursache des Mißerfolges Ausdruck und verstummte sofort, wenn der Batteriechef selbst zu sprechen begann; dann wandte sich das Gespräch begreiflicherweise der Unzulänglichkeit der Geschütze leichten Kalibers zu, den neuen leichteren Kanonen, wobei Wolodja Gelegenheit hatte, seine artilleristischen Kenntnisse zu zeigen. Bei der gegenwärtigen, entsetzlichen Lage Sewastopols aber blieb das Gespräch nicht stehen; es war, als dächte jeder einzelne zu viel daran, um davon sprechen zu können. Auch von den Dienstpflichten, die Wolodja auf sich nehmen sollte, war zu seiner Verwunderung und zu seinem Schmerz gar nicht die Rede, als wenn er nur nach Sewastopol gekommen wäre, um vom leichten Geschütz zu erzählen und beim Batteriechef zu Mittag zu speisen. Während des Essens fiel in der Nähe des Hauses, in dem sie saßen, eine Bombe nieder. Der Fußboden und die Wände erzitterten wie bei einem Erdbeben und die Fenster wurden durch Pulverdampf verdunkelt.

»So etwas haben Sie in Petersburg wohl nicht erlebt, denke ich, hier aber gibt's derlei Überraschungen oft,« sagte der Batteriechef; »Wlang, sehen Sie nach, wo sie geplatzt ist.«

Wlang schaute hinaus und meldete: »Auf dem Platze,« und man sprach nicht mehr von der Bombe.

Kurz vor Schluß des Mittagsmahles trat ein alter Mann, der Batterieschreiber, ins Zimmer und überreichte dem Kommandanten drei versiegelte Briefe: »Dieser hier ist sehr dringend, soeben hat ihn ein Kosak vom Oberbefehlshaber der Artillerie überbracht.«

Alle Offiziere blickten in ungeduldiger Erwartung auf die in solchen Sachen geübten Finger des Batteriechefs, die das Siegel erbrachen und das »sehr dringende« Schreiben herausnahmen. »Was kann das wohl sein?« fragte sich ein jeder. Es konnte der Befehl zum Ausmarsch aus Sewastopol sein, um auszurasten, es konnte aber auch die Berufung der ganzen Batterie auf die Bastionen sein.

»Schon wieder!« sagte der Kommandant, das Papier ärgerlich auf den Tisch werfend.

»Was ist's, Apollon Ssergejewitsch?« fragte der älteste Offizier.

»Es wird ein Offizier mit Bedienungsmannschaft verlangt für eine Mörserbatterie. Ich hab' ohnedies nur vier Offiziere und die Bedienungsmannschaft ist nicht mehr vollzählig,« brummte der Batteriechef, »und da verlangt man noch was von mir! Aber – einer muß dennoch gehen, meine Herren,« schloß er nach kurzem Schweigen, »die Ordre lautet: um sieben Uhr auf der Schanze sein. – Ruf' mir den Feldwebel! – Also wer geht, meine Herren? Entscheiden Sie!«

»Nun, er ist noch nirgends gewesen,« sagte Tschernowitzkij und zeigte auf Wolodja.

Der Batteriechef antwortete nicht.

»Ich gehe gern,« sagte Wolodja, während er fühlte, wie ihm der kalte Schweiß an Rücken und Hals hervortrat.

»Nein, warum?« fiel der Kapitän ein; »selbstverständlich wird sich niemand weigern, aber es ist auch kein Grund da, sich selbst anzubieten; und wenn Apollon Ssergejewitsch die Entscheidung uns überläßt, so wollen wir losen, wie wir's neulich taten.«

Alle waren einverstanden. Kraut schnitt Papierstreifen, rollte sie zusammen und warf sie in eine Mütze. Der Kapitän machte Witze und entschloß sich sogar bei dieser Gelegenheit, den Oberst um Wein zu bitten, zur Vermehrung der Tapferkeit, wie er sagte. Djadenko blickte finster drein, Wolodja lächelte ohne Grund, Tschernowitzkij behauptete, es werde ganz gewiß ihn treffen. Kraut war völlig ruhig.

Wolodja sollte als erster ziehen. Er wählte ein langes Papierröllchen, doch dann kam er auf die Idee, es gegen ein anderes einzutauschen, das kürzer und dünner war, wickelte es aus und las: »Gehen«.

»Ich!« sagte er mit einem Seufzer.

»Nun, dann mit Gott! So bekommen Sie wenigstens gleich die Feuertaufe,« sagte der Batteriechef, indem er mit einem gutmütigen Lächeln dem Fähnrich in das verlegene Gesicht blickte; »machen Sie sich nur bald fertig. Und damit Sie sich nicht langweilen, soll Wlang als Geschützfeuerwerker mit Ihnen gehen.«

*

XX.

Wlang war mit dieser Bestimmung ungemein zufrieden; er eilte fort, um sich fertig zu machen, kam angekleidet zurück, half Wolodja und redete ihm immerfort zu, er möge doch eine Schlafbank, einen Pelz, die »Vaterländischen Annalen«, die Spiritus-Kaffeemaschine und sonstige Überflüssigkeiten mitnehmen. Der Kapitän riet Wolodja, zunächst im »Handbuch für Artillerieoffiziere« von Bezaque über das Schießen aus Mörsern nachzulesen und sofort die Tabellen herauszuschreiben. Wolodja machte sich gleich ans Werk und bemerkte zu seiner freudigen Verwunderung, daß, obgleich die Furcht vor der Gefahr und noch mehr davor, sich als Feigling zu zeigen, ihn noch etwas beunruhigte, dies doch lange nicht in dem Grade der Fall war, wie am Abend vorher. Der Grund hierfür lag zum Teil in den Eindrücken des Tages und in seiner Tätigkeit, zum Teil – und wohl hauptsächlich – darin, daß die Angst, wie überhaupt jedes starke Gefühl, nicht lange in gleicher Stärke andauern kann. Kurz, er hatte den Höhepunkt der Angst bereits glücklich überschritten. Gegen sieben Uhr, als die Sonne eben hinter der Nikolajewschen Kaserne verschwunden war, trat der Feldwebel ein und meldete, daß die Mannschaft bereit sei und warte.

»Ich hab' Wlanga das Namensverzeichnis gegeben; belieben Sie, es von ihm zu verlangen, Euer Wohlgeboren!« sagte er.

Etwa zwanzig Artilleriesoldaten mit Seitengewehren ohne Zubehör standen hinter der Ecke des Hauses. Wolodja ging mit dem Junker auf sie zu. »Soll ich eine kleine Rede halten? oder soll ich einfach sagen: Guten Tag, Jungens! oder soll ich gar nichts sagen?« dachte er. »Aber warum sollte ich nicht sagen: Guten Tag, Jungens! Das muß sogar sein!« Und er rief keck mit seiner klangvollen jungen Stimme: »Guten Tag, Jungens!« Die Soldaten antworteten fröhlich, denn die jugendfrische Stimme tönte jedem angenehm in die Ohren. Wolodja schritt flott an der Spitze seiner Soldaten dahin, und obgleich sein Herz so klopfte, als wäre er einige Werst aus Leibeskräften gelaufen, war sein Gang leicht und sein Gesicht heiter. Als sie schon dicht vor dem Malachowhügel angelangt waren und bergaufwärts schritten, bemerkte Wolodja, daß Wlang, der keinen Schritt hinter ihm zurückblieb und der sich zu Hause so tapfer gezeigt hatte, beständig auswich oder den Kopf neigte, als wenn alle Bomben und Kugeln, die hier sehr oft vorbeipfiffen, direkt auf ihn zugeflogen kämen. Einige der Soldaten machten es wie er, überhaupt drückten ihre Gesichter, wenn auch nicht Furcht, so doch Unruhe aus. Diese Tatsachen beruhigten und ermutigten Wolodja endgültig.

»So bin denn auch ich auf dem Malachowhügel, den ich mir tausendmal schrecklicher vorgestellt habe! Und ich bringe es fertig, aufrecht zu gehen, ohne mich vor den Kugeln zu bücken, und ich fürchte mich sogar viel weniger als die andern! So bin ich also kein Feigling?« dachte er mit Vergnügen, ja mit einem gewissen Entzücken des Selbstbewußtseins.

Doch dieses Gefühl wurde bald erschüttert durch das Schauspiel, das sich ihm darbot, als er in der Dämmerung auf der Kornilowbatterie den Bastionschef suchte: vier Matrosen standen an der Brustwehr, hielten einen blutigen Leichnam, ohne Stiefel und ohne Mantel, an Armen und Beinen und schwenkten ihn hin und her, in der Absicht, ihn über die Brustwehr zu werfen. (Am zweiten Tage des Bombardements fand man nicht überall Zeit, die Leichen auf den Bastionen zu sammeln, und warf sie in die Gräben, damit sie auf den Batterien nicht im Wege seien.) Wolodja stand einen Augenblick wie versteinert, als er sah, wie der Leichnam oben auf der Brustwehr aufschlug und dann in den Graben hinabrollte; doch zum Glück kam gerade der Bastionschef auf ihn zu, gab ihm die Ordre und ließ ihn durch einen Führer auf die Batterie und zur Mannschaftsblindage geleiten. Wir wollen hier nicht aufzählen, wieviel Gefahren, wieviel Enttäuschungen unser Held an diesem Abend noch durchmachte; wie er statt jener Art des Schießens, das auf dem Übungsfelde bei Wolkowo gelehrt wurde, – unter allen Bedingungen der Pünktlichkeit und Ordnung, die er auch hier anzutreffen hoffte, – zwei zerschlagene Mörser fand, von denen der eine an der Mündung von einer Kanonenkugel platt gedrückt war, während der andere auf den Trümmern einer zerschossenen Plattform stand; wie er bis zum Morgen keine Arbeiter auftreiben konnte, welche die Plattform ausgebessert hätten; wie kein einziges Geschoß das im »Handbuch« vorgeschriebene Gewicht hatte; wie zwei Soldaten seines Kommandos verwundet wurden, und wie er selbst wohl zwanzigmal um ein Haar dem Tode nahe war. Zum Glück war ihm ein Konstabelsmaat von hünenhafter Größe als Gehilfe zugeteilt, ein Seemann, der von Anbeginn der Belagerung an mit den Mörsern zu tun hatte und ihn von der Möglichkeit überzeugte, aus ihnen zu feuern; er führte Wolodja in der Nacht mit einer Laterne auf der ganzen Bastion herum, wie in seinem Gemüsegarten, und versprach, zum nächsten Tage alles instandzusetzen. Die Blindage, zu der sein Führer ihn begleitete, war eine in steinigem Boden ausgegrabene, zwei Kubikfaden große und mit ellendicken Eichenbalken bedeckte, längliche Grube. Hier quartierte Wolodja sich mit seinen Soldaten ein. Wlang war der erste, der – sobald er die nur etwas über eine Elle hohe Tür der Blindage bemerkte – allen voran spornstreichs darauf zulief, hineinstürzte, wobei er sich beinahe an den Steinen zerschlug und sich in einen Winkel drückte, aus dem er auch nicht mehr hervorkam. Als alle Soldaten sich längs der Wände auf dem Fußboden niedergelassen und einige von ihnen ihre Pfeifen angezündet hatten, schlug Wolodja in einer Ecke sein Lager auf, zündete ein Licht an und legte sich, eine Zigarette rauchend, auf die Pritsche. Über der Blindage tönten die Schüsse zwar ununterbrochen, aber nicht sehr laut; eine Ausnahme hiervon machte nur eine Kanone, welche dicht neben der Blindage stand und sie durch ihren Donner erschütterte. In der Blindage selbst war es still; die Soldaten, die in Gegenwart des neuen Offiziers noch scheu waren, sprachen nur selten miteinander: einer bat den andern, ihm Platz zu machen oder Feuer für seine Pfeife zu geben; eine Ratte nagte irgendwo zwischen den Steinen; Wlang, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und scheu um sich blickte, seufzte zuweilen laut auf. Wolodja empfand auf seinem Lager, in der stillen, menschenüberfüllten Ecke, die nur durch eine Kerze erhellt wurde, dasselbe Gefühl der Behaglichkeit und Gemütlichkeit, das er als Kind gekannt hatte, wenn er beim Versteckspiel in den Schrank oder unter das Kleid der Mutter gekrochen war und mit verhaltenem Atem gehorcht, sich vor der Finsternis gefürchtet und dabei doch ein unerklärliches Vergnügen empfunden hatte. Ihm war ein wenig bang und dennoch froh zumute.

*

XXI.

Nach etwa zehn Minuten wurden die Soldaten mutig und begannen ein Gespräch. In der Nähe des Lichtes und des Offiziersbettes hatten die bedeutenderen Persönlichkeiten Platz genommen: zwei Feuerwerker, – der eine ein grauhaariger Alter mit allen Medaillen und Kreuzen, ausgenommen das Georgskreuz; der andere, ein junger Bursche der gedrehte Zigaretten rauchte. Wie immer hatte der Trommler die Pflicht übernommen, den Offizier zu bedienen. Die Bombardiere und die Reiter saßen in der Mitte, und dort im Halbdunkel neben dem Eingang waren die »Unterwürfigen« placiert. Unter diesen begann das Gespräch. Den Anlaß dazu gab der Lärm, den ein in die Blindage stürzender Soldat verursachte.

»Na, Bruder, hast du's auf der Straße nicht ausgehalten? Singen die Mädchen nicht schön?« fragte der eine.

»Sie singen so wunderschöne Lieder, wie man sie bei uns im Dorfe niemals gehört hat,« erwiderte lachend der Neueingetretene.

»Ah, Waßin mag die Bomben nicht! ach, er mag sie gar nicht!« sagte einer aus der Aristokratenecke.

»Ach was! Wenn es sein muß, ist es ganz etwas anderes,« sprach langsam Waßin, bei dessen Worten alle übrigen zu schweigen pflegten, »am 24. haben wir im ärgsten Feuer gestanden, was war denn dabei?; aber wenn man zwecklos totgeschossen wird, hat unsereins davon nicht einmal den Dank der Obrigkeit.«

Bei diesen Worten Waßins fingen alle zu lachen an.

»Und Meljnikow sitzt wohl noch immer draußen?« fragte jemand.

»Schickt ihn doch her, den Meljnikow,« fügte der alte Feuerwerker hinzu, »er wird sonst wirklich zwecklos totgeschossen.«

»Wer ist dieser Meljnikow?« erkundigte sich Wolodja.

»Das ist so ein einfältiger, junger Soldat, Euer Wohlgeboren; er fürchtet nichts auf der Welt und spaziert jetzt immer draußen umher. Belieben Sie ihn einmal anzusehen: er sieht einem Bären ähnlich.«

»Er kann besprechen,« ertönte die langsame Stimme Waßins aus der andern Ecke.

Meljnikow trat in die Blindage. Er war sehr dick (was bei Soldaten außerordentlich selten ist), rothaarig und rotwangig, hatte eine sehr stark gewölbte Stirn und hervortretende, hellblaue Augen.

»Na, fürchtest du dich vor den Bomben?« fragte Wolodja.

»Weshalb sollte ich mich vor den Bomben fürchten?« antwortete Meljnikow, sich kratzend, »ich werde nicht durch eine Bombe sterben, das weiß ich.«

»So möchtest du ganz hier wohnen?«

»Natürlich möchte ich, hier ist's lustig,« sagte er und lachte plötzlich auf.

»O, da muß man dich zu einem Ausfall mitnehmen. Willst du, so sag' ich's dem General,« meinte Wolodja, obgleich er hier keinen einzigen General kannte.

»Warum sollt' ich's nicht wollen? Freilich will ich's!« Und Meljnikow versteckte sich hinter den andern.

»Kommt, Kinder, wir wollen ›Nase‹ spielen! Wer hat Karten?« ließ sich seine hastige Stimme vernehmen.

Und wirklich, bald begann in der hintersten Ecke das Spiel, man hörte die Schläge auf die Nase, Lachen und Trumpfen. Wolodja trank Tee aus dem Ssamowar, den ihm der Trommler aufgestellt hatte, bewirtete die Feuerwerker, plauderte und scherzte mit ihnen, um sich populär zu machen, und war sehr befriedigt von der Hochachtung, die man ihm erwies. Auch die Soldaten wurden gesprächig, als sie merkten, daß er ein leutseliger Herr war. Einer von ihnen erzählte, nun werde der Belagerungszustand für Sewastopol bald aufhören, denn ein sehr zuverlässiger Marinesoldat habe ihm gesagt, Konstantin, der Bruder des Zaren, nähere sich mit der »amerikanischen« Flotte zum Entsatz; und es werde eine Abmachung getroffen werden, daß zwei Wochen nicht gefeuert, sondern gerastet werden solle, und wer trotzdem feuerte, sollte für jeden Schuß fünfundsiebzig Kopeken bezahlen.

Alles das amüsierte Wolodja sehr. Er fühlte nicht nur keine Angst und nicht das geringste Unbehagen wegen der Enge und der schweren Luft in der Blindage, ihm war vielmehr lustig und behaglich zumute.

Viele Soldaten schnarchten schon. Wlang hatte sich ebenfalls auf den Boden ausgestreckt; der alte Feuerwerker hatte seinen Mantel ausgebreitet, bekreuzigte sich und murmelte vor dem Einschlafen Gebete, als Wolodja auf einmal Lust bekam, aus der Blindage hinauszugehen und nachzuschauen, wie es draußen stand.

»Füße weg!« riefen die Soldaten einander zu, sobald er sich erhoben hatte, zogen die Füße an sich und gaben ihm den Weg frei.

Wlang, der zu schlafen schien, hob plötzlich den Kopf und packte Wolodja an den Mantelschößen.

»Nicht doch! Gehen Sie nicht! Wie kann man nur!« sagte er in weinerlichem, überredendem Tone; »Sie kennen das noch nicht! Dort fällt ja eine Kugel nach der andern. Bleiben Sie doch lieber hier!«

Aber Wolodja hörte nicht auf Wlangs Bitten, verließ die Blindage und setzte sich auf die Schwelle, auf der schon Meljnikow saß.

Die Luft war rein und frisch – besonders im Vergleich zu der Luft in der Blindage –, die Nacht klar und still. Durch den Donner der Geschütze hindurch hörte man das Knarren der Wagen, welche Schanzkörbe herbeiführten, und die Stimmen der Leute, die im Pulverkeller arbeiteten. Über dem Haupte wölbte sich der hohe, sternbedeckte Himmel, an dem die Feuerstreifen der Bomben unaufhörlich dahinflogen; etwas weiter nach links führte eine kleine Öffnung in eine andere Blindage, in der Füße und Rücken der dort wohnenden Matrosen sichtbar und deren Stimmen hörbar waren; vor sich erblickte Wolodja die Erhöhung des Pulverkellers, an dem gebückte Gestalten vorbeihuschten, während oben auf der Wölbung, mitten unter Bomben und Kanonen, die hier unaufhörlich vorüberpfiffen, eine hohe Gestalt in schwarzem Paletot stand, die Hände in den Taschen hielt und mit den Füßen die Erde festtrampelte, die von den andern Leuten in Säcken hingetragen wurde. Oft kam eine Bombe dahergesaust und platzte ganz in der Nähe des Kellers. Die Soldaten, welche die Erde schleppten, bückten sich oder wichen zur Seite; die schwarze Gestalt aber rührte sich nicht vom Platz, sondern fuhr fort, in derselben Stellung die Erde zu treten.

»Wer ist der Schwarze da?« fragte Wolodja den Meljnikow.

»Ich weiß nicht; ich will hin und nachschauen.«

»Geh nicht! es ist nicht notwendig.«

Aber Meljnikow gehorchte nicht, stand auf, ging auf die schwarze Gestalt zu und blieb lange ebenso gleichmütig und unbeweglich neben ihr stehen.

»Es ist der Kelleraufseher, Euer Wohlgeboren,« sagte er, als er zurückkam; »eine Bombe hat den Pulverkeller beschädigt, nun schleppen Infanteristen Erde hin.«

Zuweilen schienen die Bomben direkt auf die Tür der Blindage zuzufliegen. Dann drückte Wolodja sich in die Ecke, steckte aber bald wieder den Kopf vor, um hinaufzublicken, ob sie auf die Blindage fielen. Obgleich Wlang von der Blindage aus Wolodja wiederholt anflehte, zurückzukommen, saß dieser fast drei Stunden auf der Schwelle und fand ein gewisses Vergnügen an diesem Herausfordern des Schicksals und am Beobachten der Bomben. Gegen Ende des Abends wußte er schon, wieviel Geschütze und von woher sie feuerten, und wohin ihre Geschosse trafen.

*

XXII.

Am andern Tage, dem 27. August, trat Wolodja nach zehnstündigem Schlafe frühmorgens frisch und gut gelaunt auf die Schwelle der Blindage. Wlang war mit ihm zugleich zum Vorschein gekommen, stürzte aber beim ersten Kugelpfeifen kopfüber in die Blindage zurück, unter dem allgemeinen Gelächter der zum größten Teil ebenfalls an die Luft gekommenen Soldaten. Wlang, der alte Feuerwerker und ein paar andere gingen nur selten in den Laufgraben hinaus, die übrigen aber ließen sich nicht zurückhalten: sie eilten alle aus der dumpfigen Blindage in die frische Morgenluft und lagerten sich, obgleich das Bombardement noch grade so heftig war wie am Vorabend, teils an der Schwelle, teils unter der Brustwehr. Meljnikow spazierte schon seit dem Morgengrauen auf den Batterien umher, gleichgültig nach oben blickend.

An der Schwelle saßen zwei alte Soldaten und ein junger, kraushaariger, jüdischer Soldat, der von der Infanterie abkommandiert war. Er hatte eine der umherliegenden Flintenkugeln aufgehoben, sie auf einem Steine mit einem Sprengstück plattgeschlagen und schnitt nun mit dem Messer ein Georgskreuz daraus; die andern sahen plaudernd seiner Arbeit zu. Das Kreuz wurde wirklich sehr hübsch.

»Wenn wir noch eine Weile in Sewastopol bleiben,« sagte der eine, »wird nach Friedensschluß für uns alle Zeit sein, den Abschied zu bekommen.«

»Freilich! ich hatte so wie so nur noch vier Jahre zu dienen, und jetzt stehe ich schon fünf Monate vor Sewastopol.«

»Das wird nicht gerechnet, heißt es.« In diesem Augenblick pfiff eine Kanonenkugel über die Köpfe der Sprechenden dahin und sauste kaum eine Elle weit von Meljnikow, der sich eben durch den Laufgraben näherte, zu Boden.

»Fast hätte sie Meljnikow getötet!« rief ein Soldat.

»Mich tötet sie nicht!« antwortete Meljnikow.

»Da hast du das Kreuz für deine Tapferkeit!« sprach der junge Jude, indem er das Kreuz, das er geschnitzt hatte, Meljnikow überreichte.

»Nein, Brüderchen, hier wird ein Monat für ein Jahr gerechnet, so lautet der Befehl,« wurde das Gespräch fortgesetzt.

»Wie man die Sache auch betrachtet, jedenfalls wird nach Friedensschluß eine Kaiserparade in Warschau abgehalten, und wenn wir nicht den Abschied bekommen, so werden wir auf unbestimmte Zeit beurlaubt.«

Da flog eine Kugel zischend dicht über die Köpfe der Soldaten vorüber und prallte an einen Stein.

»Paßt auf, noch vor Abend können wir den vollen Abschied erhalten!« sagte jemand.

Alle lachten auf.

Und nicht erst vor Abend: schon nach zwei Stunden hatten zwei von ihnen den »vollen Abschied« erhalten, fünf andere waren verwundet; die Übrigbleibenden aber scherzten weiter wie bisher.

Am Morgen wurden die beiden Mörser wirklich soweit instand gesetzt, daß man aus ihnen schießen konnte. Um zehn Uhr rief Wolodja auf Befehl des Bastionchefs seine Soldaten heraus und begab sich mit ihnen auf die Batterie.

Man merkte den Soldaten auch nicht eine Spur der Angst an, die sie gestern verraten hatten, sobald sie an die Arbeit gingen. Nur Wlang konnte sich nicht beherrschen: er bückte und bog sich noch wie gestern, und auch Waßin verlor ein wenig seine Ruhe, hastete vorwärts oder duckte sich nieder. Wolodja dagegen war in ungewöhnlicher Begeisterung: ihm kam gar nicht der Gedanke an eine Gefahr. Die Freude darüber, daß er seine Pflicht tue, daß er nicht feig, sondern sogar tapfer sei, das Gefühl, daß er der Anführer sei und daß zwanzig Mann ihn, wie er wußte, neugierig beobachteten, machten aus ihm einen Helden. Er prahlte sogar mit seiner Tapferkeit vor den Soldaten: er stieg wiederholt auf die Brustwehrbank und knöpfte seinen Mantel auf, damit man ihn besser bemerke. Der Bastionschef, der grade einen Rundgang durch seine Wirtschaft machte, wie er sich ausdrückte, konnte – so sehr er sich auch während der acht Monate an Tapferkeit in jeder Form gewöhnt hatte – nicht umhin, wohlgefällig den hübschen Jüngling zu betrachten, der in offenem Mantel, unter dem ein rotes, den weißen, zarten Hals umschließendes Hemd sichtbar war, mit glühenden Wangen und glänzenden Augen in die Hände klatschte, mit klangvoller Stimme kommandierte: »eins, – zwei!« und dann fröhlich die Brustwehr hinanlief, um zu sehen, wo seine Bombe einschlägt.

Um halb zwölf hörte das Schießen auf beiden Seiten auf, und punkt zwölf Uhr begann der Sturm auf den Malachowhügel, auf die zweite, dritte und fünfte Bastion.

*

XXIII.

Diesseits der Bucht, zwischen Inkermann und den nördlichen Befestigungen, auf dem Telegraphenhügel, befanden sich um die Mittagszeit zwei Marineoffiziere: der eine schaute durch ein Fernrohr nach Sewastopol hinüber, der andere war, von einem Kosaken begleitet, eben erst an die hohe Signalstange herangeritten.

Die Sonne stand hoch und hell über der Bucht, die in dem frohen und warmen Glanze mit den ruhig daliegenden Schiffen und den sich bewegenden Segeln und Böten spielte. Ein leichter Wind bewegte kaum bemerkbar die trocknenden Blätter des Eichengestrüppes neben dem Telegraphen, blähte die Segel der Bote und schaukelte die Wellen. Sewastopol, noch immer dasselbe Sewastopol mit seiner unvollendeten Kirche, seiner Säule, seinem Hafenquai, mit dem grünen Boulevard auf der Höhe und dem prächtigen Bibliotheksgebäude, mit seinen kleinen, azurblauen, von Masten bedeckten Buchten, mit den malerischen Bogen der Wasserleitung und den Wolken blauen Pulverdampfes, die zuweilen durch die rote Flamme der Schüsse beleuchtet wurden, – immer noch dasselbe schöne, festliche, stolze Sewastopol, auf der einen Seite von gelben, rauchenden Bergen umgeben, auf der andern vom leuchtend blauen, in der Sonne glitzernden Meer begrenzt, – war jenseits der Bucht sichtbar. Am Horizonte, über den sich der schwarze Rauchstreifen eines Dampfers legte, zogen lange, weiße Wolken hin, die Wind ankündigten. Auf der ganzen Linie der Befestigungen, besonders auf den Bergen der linken Seite, oft an mehreren Stellen zugleich, entstanden immer wieder unter Blitzen, die bisweilen sogar in der Mittagssonne leuchteten, dichte, zusammengeballte, weiße Rauchmassen; sie breiteten sich aus, nahmen verschiedene Formen an, stiegen auf und hoben sich dunkler vom Himmel ab. Diese Rauchwolken bildeten sich bald hier bald dort, auf den Bergen, auf den Batterien des Feindes, in der Stadt und hoch am Himmel. Das Getöse der platzenden Bomben verstummte nicht und erschütterte die Luft stets von neuem.

Gegen zwölf Uhr zeigten sich die Rauchwölkchen immer seltener und das Getöse ließ nach.

»Aber die zweite Bastion antwortet gar nicht mehr,« sagte der zu Pferde sitzende Offizier, »sie ist ganz zusammengeschossen, – schrecklich!«

»Und auch der Malachow antwortet auf drei Schüsse kaum mit einem,« sprach der, welcher durchs Fernrohr blickte, »das macht mich wütend, daß sie schweigen! Die Kugeln treffen direkt in die Kornilowbatterie, – und sie erwidern das Feuer nicht!«

»Aber sieh, – wie ich gesagt habe, – gegen zwölf Uhr hört das Bombardement immer auf. Auch heute ist's so. Gehen wir lieber frühstücken, – man erwartet uns jetzt schon, – es gibt ja nichts mehr zu sehen!«

»Wart', stör' mich nicht!« antwortete der mit dem Fernrohr, der jetzt besonders gespannt nach Sewastopol hinüberblickte.

»Was ist denn los? Was?«

»Bewegung in den Laufgräben, dichte Kolonnen rücken vor.«

»Das sieht man auch so,« sagte der andere, »sie rücken in Kolonnen heran. Wir müssen das Signal geben.«

»Sieh nur, sieh! sie haben die Laufgräben verlassen!« In der Tat, man sah auch mit bloßem Auge, wie sich dunkle Flecken bergabwärts über das Tal von den französischen Batterien zu den Bastionen bewegten. Vor diesen Flecken sah man dunkle Streifen schon dicht vor unserer Gefechtslinie. Auf den Bastionen qualmten an verschiedenen Stellen weiße Wolken von Pulverdampf auf. Der Wind trug den Lärm des beiderseitigen Gewehrfeuers herüber: es war, als prassele heftiger Regen an eine Fensterscheibe. Die schwarzen Streifen schoben sich mitten im Pulverdampf näher und näher. Das Geknatter der Schüsse wurde stärker und stärker und ging in ein ununterbrochenes, rollendes Krachen über. Der Rauch, der immer öfter aufstieg, verbreitete sich schnell über die ganze Linie und bildete schließlich eine bläuliche, auf- und abwogende Wolke, in der hier und da feurige und schwarze Punkte auftauchten; alle Töne vereinigten sich zu einem einzigen rollenden Donner.

»Sturm!« sagte der eine Offizier bleichen Antlitzes und überließ das Fernrohr dem andern.

Kosaken galoppierten über den Weg, Offiziere ritten vorüber, der Höchstkommandierende fuhr mit seiner Suite vorbei. Aus allen Gesichtern las man heftige Erregung und Erwartung.

»Es kann nicht sein, daß sie ihn genommen haben!« sagte der Offizier zu Pferde.

»Bei Gott, die Fahne! sieh doch, sieh!« rief der andere atemlos und wandte sich vom Fernrohr fort, »die französische Fahne auf dem Malachow!«

»Unmöglich!«

*

XXIV.

Der ältere Koselzow, der in der Nacht beim Kartenspiel zuerst gewonnen und dann wieder alles verloren hatte, sogar die in den Ärmelaufschlag eingenähten Goldstücke, schlief am Morgen noch einen ungesunden, schweren, aber festen Schlaf in der Verteidigungskaserne der fünften Bastion, als plötzlich, von verschiedenen Stimmen wiederholt, der verhängnisvolle Ruf ertönte:

»Alarm!«

»Was schlafen Sie, Michael Ssemjonowitsch? Alarm!« schrie ihn eine Stimme an.

»Wahrscheinlich ein Schulbube,« murmelte er, die Augen öffnend und dem Ruf nicht trauend.

Aber da sah er einen Offizier ohne erkennbaren Grund mit so bleichem Gesicht aus einer Ecke in die andere laufen, daß er alles begriff. Der Gedanke, daß man ihn für einen Feigling halten könnte, der im kritischen Augenblick nicht zu seiner Kompagnie gehen wollte, entsetzte ihn. Er lief spornstreichs zur Kompagnie. Das Geschützfeuer hatte aufgehört, das Geknatter der Gewehre aber war in vollem Gange; die Kugeln sausten nicht mehr einzeln durch die Luft, sondern flogen in Scharen wie ein Schwarm von Zugvögeln über die Köpfe dahin. Der ganze Platz, auf dem gestern sein Bataillon gestanden, war in Rauch gehüllt; man hörte verworrenes Schreien und Rufen, verwundete und nicht verwundete Soldaten kamen ihm in ganzen Gruppen entgegen. Nachdem er noch etwa dreißig Schritte gelaufen war, sah er seine Kompagnie, die sich dicht an eine Wand gedrückt aufgestellt hatte.

»Die Schwarz-Redoute ist genommen,« sagte ein junger Offizier, »alles ist verloren.«

»Unsinn!« rief Koselzow ärgerlich, zog seinen kleinen, eisernen, stumpfen Säbel und schrie:

»Vorwärts Kinder, hurra!«

Die Stimme war klangvoll und laut und regte Koselzow selbst an. Er eilte vorwärts, den Querwall entlang; etwa fünfzig Mann Soldaten liefen mit Geschrei hinter ihm her. Er stürmte hinter dem Querwall hervor auf einen offenen Platz; die Kugeln flogen buchstäblich hageldicht. Zwei davon trafen ihn, aber wo und wie, – ob sie ihn gestreift oder verwundet, – das zu entscheiden hatte er keine Zeit. Vor ihm im Pulverdampf waren bereits blaue Waffenröcke und rote Hosen zu sehen und fremde Rufe zu hören. Ein Franzose stand auf der Brustwehr, schwenkte die Mütze und schrie etwas. Koselzow war überzeugt, daß er fallen werde: das eben verlieh ihm eine solche Tapferkeit. Er stürmte vorwärts und vorwärts. Einige Soldaten überholten ihn, andere tauchten von der Seite her auf und liefen ebenfalls mit. Die blauen Uniformen blieben in stets gleicher Entfernung, indem sie vor ihm zu ihren Laufgräben zurückliefen, aber er stolperte über Verwundete und Tote. Als er bereits bis an den Außengraben gelaufen war, wurde es ihm dunkel vor den Augen und er fühlte einen Schmerz in der Brust.

Eine halbe Stunde später lag er auf einer Tragbahre bei der Nikolajewschen Kaserne und wußte, daß er verwundet sei, fühlte aber fast gar keinen Schmerz; er sehnte sich nur darnach, etwas Kaltes zu trinken und ruhig dazuliegen.

Ein kleiner, dicker Doktor mit großem, schwarzem Backenbart trat an ihn heran und knöpfte ihm den Mantel auf. Koselzow sah über das Kinn hinüber auf das, was der Doktor mit seiner Wunde machte, und auf das Gesicht des Doktors, empfand aber noch immer keinen Schmerz. Der Doktor bedeckte die Wunde mit dem Hemde, wischte sich die Finger an den Schößen seines Überrockes und ging schweigend, ohne den Verwundeten anzublicken, zu einem anderen. Koselzow verfolgte unbewußt alles, was um ihn her vorging, und als er sich erinnerte, wie es auf der fünften Bastion gewesen war, dachte er mit einem ungemein angenehmen und zufriedenen Gefühl daran, daß er seine Pflicht getreulich erfüllt hatte, daß er zum ersten Male während seiner ganzen Dienstzeit sich so gut benommen, als es überhaupt möglich war, und daß er sich nicht den geringsten Vorwurf zu machen habe. Der Doktor, der einen anderen, verwundeten Offizier verband, sagte, auf Koselzow deutend, einige Worte zu einem Geistlichen, der mit einem Kreuze in der Hand dastand.

»Werde ich sterben?« fragte Koselzow den Geistlichen, als dieser zu ihm gekommen war.

Der Geistliche antwortete nicht, sprach ein Gebet und reichte dem Verwundeten das Kreuz.

Koselzow fürchtete den Tod nicht. Er nahm mit schwacher Hand das Kreuz, drückte es an seine Lippen, und Tränen traten in seine Augen.

»Sind die Franzosen zurückgeschlagen?« fragte er den Geistlichen mit fester Stimme.

»Der Sieg ist überall unser,« antwortete der Geistliche, um den Verwundeten zu trösten, er verhehlte ihm, daß auf dem Malachowhügel schon die französische Fahne wehte.

»Gott sei Dank,« sagte der Verwundete, und fühlte nicht, wie ihm die Tränen über die Wangen rannen.

Der Gedanke an seinen Bruder tauchte für einen Augenblick in seinem Kopfe auf. »Gott gebe ihm ein gleiches Glück,« dachte er.

*

XXV.

Aber ein solches Geschick erwartete Wolodja nicht. Er lauschte gerade einem Märchen, das Waßin ihm erzählte, als plötzlich der Ruf ertönte: »Die Franzosen kommen!« Alles Blut strömte ihm einen Augenblick lang nach dem Herzen, und er fühlte, wie seine Wangen bleich und kalt wurden. Eine Sekunde blieb er unbeweglich; als er sich aber umblickte, sah er, daß die Soldaten ziemlich ruhig ihre Mäntel zuknöpften, und einer nach dem andern aus der Blindage krochen, während einer von ihnen, – ich glaube, es war Meljnikow, – scherzend sagte:

»Bringt ihm Salz und Brot als Willkommgruß entgegen, Kinder!«

Wolodja kroch mit Wlang, der keinen Schritt von ihm wich, aus der Blindage und lief zur Batterie. Das Artilleriefeuer war von beiden Seiten eingestellt. Es war weniger das ruhige Aussehen der Soldaten, als vielmehr die jämmerliche, unverhohlene Feigheit des Junkers, die ihn ermutigte. »Darf ich ihm denn gleichen?« dachte er sich, und lief fröhlich bis zur Brustwehr, an der seine Mörser standen. Er sah genau, wie die Franzosen über einen freien Platz grade auf ihn zukamen, und wie ihre Scharen mit den in der Sonne blitzenden Bajonetten sich in den nächsten Laufgräben bewegten. Einer von ihnen, ein kleiner, breitschulteriger Mann in Zuavenuniform, mit einem Degen an der Seite, lief voran und sprang über die Gräben. »Mit Kartätschen schießen!« schrie Wolodja, von der Brustwehrbank herunterspringend; doch die Soldaten waren ihm schon zuvorgekommen, und der metallische Ton einer abgeschossenen Kartätsche pfiff über seinen Kopf hin, zuerst aus einem, dann aus dem zweiten Mörser. »Den ersten, den zweiten!« kommandierte Wolodja, indem er die Linie entlang von einem Mörser zum andern lief und die Gefahr vollständig vergaß. Von der Seite her ertönte das nahe Gewehrfeuer unserer Bedeckungsmannschaft und unruhiges Geschrei.

Plötzlich erklang links, von mehreren Stimmen wiederholt, der durchdringende Verzweiflungsschrei: »Sie umzingeln uns, sie umzingeln uns!« Wolodja blickte sich auf den Ruf hin um. Etwa zwanzig Mann Franzosen zeigten sich im Rücken. Einer von ihnen, ein hübscher, schwarzbärtiger Mann, war allen voran bis auf zehn Schritte an die Batterie herangekommen, blieb dann stehen, gab einen Schuß direkt auf Wolodja ab und lief dann weiter auf ihn zu. Eine Sekunde stand Wolodja wie versteinert da und traute seinen Augen nicht. Als er zu sich kam und sich umschaute, waren vor ihm aus der Brustwehr schon blaue Uniformen, ja kaum zehn Schritte von ihm entfernt vernagelten zwei Franzosen bereits eine Kanone. Ringsumher war außer Meljnikow, der neben ihm lag, durch eine Gewehrkugel getötet, und Wlang, der einen Geschützhebel gepackt hatte und mit wütendem Gesichtsausdrucke vorwärts stürzte, niemand zu sehen. »Mir nach, Wladimir Ssemjonowitsch, mir nach!« schrie die verzweifelte Stimme Wlangs, der mit dem Hebel gegen die Franzosen ausholte, welche von hinten gekommen waren. Das wutentstellte Gesicht des Junkers machte sie stutzig. Einem von ihnen, dem Vordersten, versetzte er einen Schlag auf den Kopf, die andern blieben unwillkürlich stehen, und Wlang, der sich immer noch umsah und verzweifelt schrie: »Mir nach, Wladimir Ssemjonowitsch, warum stehen Sie? fliehen Sie!« lief zum Laufgraben, in dem unsere Infanterie lag und auf die Franzosen schoß. Als er im Laufgraben war, steckte er den Kopf wieder hervor, um zu sehen, was sein vergötterter Fähnrich mache. Auf dem Platze, wo Wolodja gestanden hatte, lag mit dem Gesicht zur Erde etwas in einen Mantel Gehülltes und der ganze Platz wimmelte von Franzosen, die auf die Unsrigen schossen.

*

XXVI.

Wlang fand seine Batterie in der zweiten Verteidigungslinie. Von den zwanzig Soldaten, die bei der Mörserbatterie gewesen waren, hatten nur acht sich gerettet.

Gegen neun Uhr abends fuhr Wlang mit der Batterie auf einem mit Soldaten, Kanonen, Pferden und Verwundeten beladenen Dampfer nach der Nordseite hinüber. Es wurde nirgends mehr geschossen. Die Sterne glänzten wie in der vergangenen Nacht hell am Himmel, aber ein heftiger Wind bewegte das Meer. Auf der ersten und zweiten Bastion flammten dicht über der Erde Blitze auf; Explosionen erschütterten die Luft und beleuchteten ringsumher schwarze, seltsame Gegenstände und in die Luft fliegende Steine. In der Nähe des Docks brannte etwas, und die rote Flamme spiegelte sich im Wasser. Die von Menschen überfüllte Brücke war durch ein auf der Nikolajewschen Batterie brennendes Feuer erhellt. Eine große Flamme schien über dem Wasser auf dem fernen Vorsprung der Alexandrowschen Batterie zu stehen und beleuchtete den unteren Teil einer Rauchwolke, die darüber lag, und wie gestern schimmerten die ruhigen, herausfordernden, fernen Feuer auf der feindlichen Flotte draußen auf dem Meer. Ein frischer Wind bewegte die See. Im Scheine der Feuerbrände sah man die Masten der versenkten russischen Schiffe, die langsam tiefer und tiefer sanken. Ein Gespräch war auf dem Verdeck des Dampfers nicht zu hören; durch das gleichmäßige Geräusch der zerteilten Wellen und des Dampfers hindurch vernahm man nur das Schnauben und Stampfen der Pferde, die Kommandoworte des Kapitäns und das Stöhnen der Verwundeten. Wlang, der den ganzen Tag nichts gegessen hatte, zog ein Stück Brot aus der Tasche und begann zu kauen. Doch plötzlich erinnerte er sich an Wolodja und schluchzte so laut auf, daß die Soldaten neben ihm es hörten.

»Schau, unser Wlanga ißt und weint zugleich,« sagte Waßin.

»Merkwürdig!« sagte ein anderer, »und sieh, jetzt haben sie auch unsere Kasernen angezündet,« fuhr er seufzend fort, »und wie viele von den Unsern sind dort gefallen! Und dennoch hat der Franzose es bekommen.«

»Kaum daß wir selbst mit dem Leben davongekommen sind; auch dafür sei dir Dank, Herrgott!« sprach Waßin.

»Aber kränkend ist es doch.«

»Ach, wieso kränkend? Wird man ihn denn hier in Ruhe lassen? Paß nur auf, die Unsrigen nehmen es ihm wieder. So viele von den Unsern dort auch umgekommen sind – so wahr Gott heilig ist –, wenn der Kaiser befiehlt, nehmen wir's zurück. Glaubst du denn, daß die Unsern es ihm so lassen? Freilich! Die nackten Wände mag er haben, die Schanzen sind alle in die Luft gesprengt; auf dem Hügel hat er sein Fähnchen zwar aufgesteckt, aber in die Stadt traut er sich nicht. Wart' nur, mit dir werden wir noch Abrechnung halten, laß uns nur Zeit,« schloß er, zu den Franzosen gewandt.

»Natürlich wird's so kommen,« erwiderte der andere mit Überzeugung.

Auf der ganzen Linie der Bastionen von Sewastopol, auf denen so viele Monate hindurch ungewöhnliches, energisches Leben geherrscht hatte, die so viele Monate hindurch mit angesehen hatten, wie die Helden einer nach dem andern starben, und die so viele Monate hindurch das Entsetzen, den Haß und schließlich das Entzücken der Feinde erregt hatten, – auf den Bastionen von Sewastopol war niemand mehr zu sehen. Alles war tot, öde, schrecklich, aber nicht still: immer noch setzte das Werk der Zerstörung sich fort. Auf der durch Explosionen aufgerissenen und zusammenstürzenden Erde lagen überall verbogene Lafetten über den Leichen der Russen wie der Franzosen; schwere, gußeiserne, auf immer verstummte Kanonen, die durch eine fürchterliche Gewalt in Gruben geworfen und halb mit Erde verschüttet waren; Bomben, Kanonenkugeln, wiederum Leichen, Gräben, Trümmer von Balken aus den Blindagen und wieder stille Leichen in grauen und blauen Uniformen. Alles dies bebte noch und wurde immer wieder von den roten Flammen der Explosionen beleuchtet, die fortgesetzt die Luft erschütterten.

Die Franzosen sahen, daß irgend etwas Unbegreifliches in dem schrecklichen Sewastopol vor sich ging. Diese Explosionen und das Todesschweigen auf den Bastionen machten sie erzittern; aber sie wagten unter dem Eindruck des starken, ruhigen Widerstandes des Tages noch nicht zu glauben, daß ihr unerschütterlicher Feind verschwunden sei, und schweigend, ohne sich zu rühren, erwarteten sie zitternd das Ende der finsteren Nacht.

Wie das Meer in stürmischer, dunkler Nacht auf und nieder wogt und in seiner ganzen Masse aufgeregt erbebt und an das Ufer schlägt, so bewegt sich das Heer von Sewastopol durch die undurchdringliche Finsternis der Nacht über die Brücke zur Nordseite hin, fort von dem Orte, an dem es so viele tapfere Brüder gelassen, von dem Orte, der mit seinem Blute ganz durchtränkt war, von dem Orte, den es elf Monate lang gegen einen doppelt so starken Feind verteidigt hatte, und den es jetzt auf Befehl ohne Kampf verlassen mußte.

Unbegreiflich und schwer war für jeden Russen der erste Eindruck dieses Befehls. Das zweite Gefühl war die Angst vor Verfolgung. Die Soldaten fühlten sich schutzlos, sobald sie die Orte verließen, auf denen sie zu kämpfen gewohnt waren, und drängten sich aufgeregt in der Finsternis an der Brücke zusammen, die von einem heftigen Winde geschaukelt wurde. Die Infanterie staute sich, mit den Bajonetten aneinander stoßend, die Regimenter, Wagen und Milizen drängten sich zusammen, die berittenen Offiziere bahnten sich – Befehle ausrufend – ihren Weg, die Einwohner und die Offiziersburschen, deren beladene Wagen nicht durchgelassen wurden, weinten und flehten. Unter Rädergerassel eilte die Artillerie zur Bucht hinaus, um sich so schnell als möglich zu retten. Trotzdem alle durch verschiedene, hastige Beschäftigungen in Anspruch genommen waren, lebte doch in der Seele eines jeden der Selbsterhaltungstrieb und der Wunsch, so schnell als möglich diesem schrecklichen Orte des Todes zu entfliehen. Dieses Gefühl hatte der tödlich verwundete Soldat, der unter fünfhundert ebensolcher Verwundeter auf dem Steinboden des Paulsquais lag und Gott um den Tod bat; und der Landwehrmann, der sich unter Aufbietung der letzten Kraft in die Menge drängte, um einem vorüberreitenden General Platz zu machen, und der General, der mit fester Stimme den Übergang leitete und die Eile der Soldaten mäßigte; und der Matrose, der in ein marschierendes Bataillon geraten war und von der wogenden Menge fast erdrückt wurde; und der verwundete Offizier, den vier Soldaten auf einer Tragbahre trugen und, durch die gestaute Menschenmasse aufgehalten, bei der Nikolajewschen Batterie zu Boden setzten; und der Artillerist, der seit sechzehn Jahren sein Geschütz bedient hatte und es auf den ihm unverständlichen Befehl der Führer mit Hilfe der Kameraden den steilen Abhang die Bucht hinabgestürzt hatte; und die Seeleute, die eben das Wasser in die Schiffe gelassen hatten und in ihren Barkassen mit kräftigem Ruderschlag davonfuhren. Fast jeder Soldat, der an das jenseitige Ufer gelangt war, nahm die Mütze vom Kopf und bekreuzigte sich. Aber hinter diesem Gefühl steckte ein anderes, schweres, nagendes und tieferes Empfinden, das der Reue, der Scham und der Wut ähnlich war. Fast jeder Soldat, der von der Nordseite aus nach dem verlassenen Sewastopol hinüberblickte, seufzte mit unsagbarer Bitterkeit im Herzen auf und drohte dem Feinde.

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