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Luzern

Aus den Aufzeichnungen des Fürsten D. Nechljudow

den 8. Juli

Gestern abend bin ich in Luzern angekommen und im besten hiesigen Hotel, dem Schweizerhof, abgestiegen. »Luzern ist eine alte Kantonsstadt, am Ufer des Vierwaldstätter Sees gelegen,« sagt Murray, »einer der romantischsten Orte der Schweiz; in dieser Stadt kreuzen sich drei wichtige Straßen; in nur einer Stunde Dampferfahrt liegt der Berg Rigi, dessen Gipfel eine der herrlichsten Aussichten der Welt bietet.«

Ich weiß nicht, ob das richtig ist oder nicht, doch auch die andern Reiseführer behaupten dasselbe; aus diesem Grunde gibt es hier eine Menge von Touristen aller Nationen, besonders aber Engländer.

Das prunkvolle fünfstöckige Haus des »Schweizerhof« ist erst vor kurzem am Kai, unmittelbar am See, erbaut worden, und zwar an derselben Stelle, wo sich in alten Zeiten eine hölzerne, krumme, überdachte Brücke mit Kapellen an den Ecken und Heiligenbildern an den Pfeilern befand. Nun hat man dank dem ungeheuren Andrang der Engländer und aus Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, ihren Geschmack und ihr Geld die alte Brücke abgebrochen und an ihrer Stelle einen schnurgeraden Sockeldamm angelegt, auf dem Damm mehrere geradlinige viereckige, fünfstöckige Häuser erbaut, vor den Häusern aber zwei Reihen Linden gepflanzt und diese mit Pfählen gestützt. Zwischen den Linden hat man, wie es überall üblich ist, grün angestrichene Bänke verteilt. Das ist die Promenade; hier ergehen sich die Engländerinnen mit schweizerischen Strohhüten und die Engländer in ihren praktischen und bequemen Anzügen, und sie freuen sich alle ihrer Schöpfung. Es ist ja möglich, daß diese Kais und Häuser, Linden und Engländer sich irgendwo anders ganz hübsch machen würden; jedenfalls aber nicht hier, inmitten dieser seltsam majestätischen und zugleich unbeschreiblich harmonischen und weichen Landschaft.

Als ich in mein Zimmer hinaufkam und das auf den See gehende Fenster öffnete, wurde ich im ersten Augenblick von der Schönheit dieses Wassers, dieser Berge und dieses Himmels buchstäblich geblendet und erschüttert. Mich überkam eine innere Unruhe und das Bedürfnis, dem Überfluß dessen, was meine Seele erfüllte, irgendwie Ausdruck zu verleihen. Ich hatte in diesem Augenblick das Verlangen, irgend jemand zu umarmen, fest zu umhalsen, zu kitzeln und sogar zu zwicken und überhaupt mit ihm oder mit mir selbst irgend etwas ganz Ungewöhnliches anzufangen.

Es war in der siebenten Abendstunde. Den ganzen Tag hindurch hatte es geregnet, doch jetzt heiterte sich das Wetter auf. Vor meinem Fenster breitete sich zwischen den abwechslungsreichen grünen Ufern der See, blau wie brennender Schwefel, von zahllosen, als kleine Punkte erscheinenden Booten und ihren sich verziehenden Spuren belebt, unbeweglich, glatt, gleichsam erhaben; er zog sich, zwischen zwei ungeheuren Bergvorsprüngen eingeengt, in die Ferne, schmiegte sich dunkelnd an die übereinandergetürmten Berge, Wolken und Gletscher und verlor sich zwischen ihnen. Im Vordergrunde lagen feuchte, hellgrüne, geschwungene Ufer mit Schilf, Wiesen, Gärten und Villen; weiter kamen dunkelgrüne, bewaldete Anhöhen mit Schloßruinen; den Hintergrund bildete die zusammengeballte, weiße und lilafarbene Gebirgskette mit seltsamen felsigen und mattweißen schneebedeckten Gipfeln; und alles war übergossen von einer zarten, durchsichtig blauen Luft und beleuchtet von den durch die zerfetzten Wolken hervorschießenden warmen Strahlen der untergehenden Sonne. Weder auf dem See, noch in den Bergen, noch am Himmel gab es eine einzige ununterbrochene Linie, eine einzige ungemischte Farbe, einen einzigen ruhigen Punkt: überall war Bewegung, Unsymmetrie, Phantastik, eine unaufhörliche Vermengung und Verschiedenheit der Schatten und Linien, und zugleich die Ruhe, Milde, Einheit und Notwendigkeit des Schönen. Und mitten in dieser unbestimmten, verworrenen und freien Schönheit lag unmittelbar vor meinem Fenster der dumme, künstliche weiße Kai mit den gestützten Lindenbäumchen und den grünen Bänken; alle diese armseligen und banalen Werke von Menschenhand waren nicht wie die fernen Villen und Ruinen in der allgemeinen Harmonie und Schönheit aufgegangen, sondern widersprachen ihr auf die gröblichste Weise. Mein Blick stieß sich immer unwillkürlich an diese gräßliche gerade Linie des Dammes, und ich wollte sie zurückstoßen und vernichten wie einen schwarzen Fleck, der einem auf der Nase unter dem Auge sitzt; doch der Kai mit den lustwandelnden Engländern blieb immer an seinem Platz, und ich begann mir unwillkürlich einen Gesichtspunkt zu suchen, von dem aus ich ihn nicht zu sehen brauchte. Es gelang mir auch, meine Augen derart einzustellen, und so genoß ich bis zur Mahlzeit ganz allein jenes unvollständige, doch um so süßere Gefühl, das der Mensch empfindet, wenn er sich ganz allein dem Naturgenuß ergibt.

Um halb acht rief man mich zum Essen. Im großen, prächtig ausgestatteten Parterresaal waren zwei lange Tische für mindestens hundert Personen gedeckt. Etwa drei Minuten dauerte das stumme Erscheinen der Gäste, das Rauschen der Damenkleider, die leichten Schritte und die leisen Unterredungen mit den ungemein höflichen und eleganten Kellnern; vor allen Gedecken saßen bald Herren und Damen, die alle sehr elegant, sogar kostbar und überhaupt ungemein sorgfältig gekleidet waren. Wie überall in der Schweiz, bestand der größte Teil der Tischgesellschaft aus Engländern; daher bestimmten den allgemeinen Ton der Table d'hote eine strenge Beachtung der gesetzlich anerkannten Anstandsregeln, eine Verschlossenheit, die nicht auf dem Stolz der Gäste, sondern auf dem Mangel eines Bedürfnisses, sich einander zu nähern, beruhte, und das Behagen, das jeder für sich in der bequemen und angenehmen Befriedigung seiner Bedürfnisse fand. Überall schimmerten schneeweiße Spitzen, schneeweiße Kragen, schneeweiße, echte und falsche Zähne und schneeweiße Gesichter und Hände. Doch die Gesichter, von denen viele auffallend schön sind, drücken nur das Bewußtsein des eigenen Wohlbehagens aus und einen vollständigen Mangel an Interesse für alles, was sie umgibt und sie nicht direkt berührt; die schneeweißen Hände mit den kostbaren Ringen und Mitaines bewegen sich nur, um den Kragen gerade zu richten, den Braten zu zerschneiden und Wein einzuschenken: alle diese Bewegungen drücken keine Spur von Seele aus. Die Angehörigen einzelner Familien tauschen nur ab und zu leise Bemerkungen aus über den angenehmen Geschmack einer Speise oder eines Weines und über die schöne Aussicht vom Rigi. Die alleinstehenden Herren und Damen sitzen schweigsam nebeneinander, ohne einander anzublicken. Wenn von diesen hundert Personen zwei zusammen reden, so kann man wetten, daß das Gespräch entweder vom Wetter oder von der Besteigung des Rigi handelt. Messer und Gabel bewegen sich kaum hörbar auf den Tellern, man nimmt sich höchst bescheidene Portionen und ißt Erbsen und andere Gemüse ausschließlich mit der Gabel; die Kellner, die sich unwillkürlich der allgemeinen Schweigsamkeit unterordnen, fragen im Flüsterton, welchen Wein man haben möchte. Bei solchen Mahlzeiten empfinde ich stets ein schweres und unangenehmes und gegen das Ende – trauriges Gefühl. Ich habe immer den Eindruck, als ob ich etwas verbrochen hätte und dafür gestraft werden müßte, wie in meiner Kindheit, wo man mich für irgendeinen Streich auf einen Stuhl setzte und ironisch sagte: »So, jetzt ruhe dich aus, mein Lieber!« – während in meinen Adern junges, wildes Blut pochte und aus dem Nebenzimmer die ausgelassenen Schreie meiner Brüder klangen. Früher versuchte ich immer, mich gegen das drückende Gefühl, das ich bei solchen Mahlzeiten empfand, aufzulehnen, doch vergeblich: alle diese leblosen Gesichter haben auf mich einen unwiderstehlichen Einfluß, und ich werde ebenso leblos wie sie. Ich will nichts, ich denke an nichts, ich beobachte sogar nicht. Anfangs machte ich noch Versuche, meine Tischnachbarn ins Gespräch zu ziehen; zur Antwort bekam ich aber nur die gleichen Phrasen, die wohl zum hunderttausendsten Mal auf der gleichen Stelle und zum hunderttausendsten Mal vom gleichen Menschen wiederholt wurden. Dabei sind sie alle doch sicher nicht dumm und nicht gefühllos; viele von diesen erfrorenen Menschen haben wohl das gleiche Innenleben wie ich, und manche ein viel interessanteres und komplizierteres. Warum verzichten sie dann auf einen der größten Genüsse im Leben, auf den Genuß aneinander, den Genuß am Menschen?

Wie anders war es doch in unserer Pariser Pension, wo wir etwa zwanzig Personen von den verschiedensten Nationen, Berufen und Eigenschaften uns unter dem Einflüsse der französischen Geselligkeit an der Table d'hote wie zu einem Vergnügen zusammenfanden! Dort wurde jedes, an irgendeinem Tischende begonnenes, mit Scherzen und Wortspielen gewürztes Gespräch, wenn auch in gebrochener Sprache geführt, sofort zu einem allgemeinen. Ein jeder redete, was ihm gerade in den Kopf kam, ohne sich um die Richtigkeit der Sprache zu kümmern; wir hatten dort unsern Philosophen, unsern Streithahn, unsern bel esprit und unsern Narren, eine ständige Zielscheibe für spöttische Bemerkungen; alles hatten wir gemeinsam. Gleich nach dem Essen rückten wir den Tisch beiseite und tanzten im Takt und auch nicht im Takt bis zum Abend Polka. Wir gaben uns dort zwar etwas kokett, nicht sehr klug und würdevoll, aber immerhin menschlich. Die spanische Gräfin mit ihren romantischen Abenteuern, der italienische Abbate, der nach dem Essen Stellen aus der Göttlichen Komödie zu deklamieren pflegte, der amerikanische Doktor, der Zutritt zu den Tuilerien hatte, der junge Dramatiker mit der langen Mähne, die Pianistin, die nach ihrer eigenen Behauptung die schönste Polka der Welt komponiert hatte, und die unglückliche schöne Witwe, die an jedem Finger drei Ringe trug – wir alle unterhielten zu einander durchaus menschliche, wenn auch etwas oberflächliche, doch freundschaftliche Beziehungen und haben teils flüchtige, teils aufrichtig herzliche Erinnerungen aneinander bewahrt. Wenn ich aber bei einer englischen Table d'hote auf alle diese Spitzen, Bänder, Ringe, pomadisierten Haare und seidenen Kleider sehe, denke ich immer daran, wie vielen lebenden Frauen dieser Schmuck und Tand Glück geben würde und die Fähigkeit, auch andere zu beglücken. So seltsam ist der Gedanke, daß hier so viele Freunde und Liebende, glückliche Freunde und glücklich Liebende, ohne es selbst zu wissen, vielleicht dicht beisammen sitzen. Und sie werden es, Gott weiß warum, nie erfahren und werden nie einander das Glück schenken, das sie so leicht schenken könnten und nach dem sie alle so sehr dürsten.

Am Ende der Mahlzeit überkam mich wie immer eine traurige Stimmung; ich ließ das Dessert stehen, verließ die Tafel und begab mich in ziemlich schlechter Laune in die Stadt. Die engen, schmutzigen, unbeleuchteten Gassen, die Läden, die eben geschlossen wurden, die Begegnungen mit betrunkenen Arbeitern und mit Frauen, die Wasser holten, und anderen Frauen, die bessere Hüte aufhatten und, sich fortwährend umblickend, an den Mauern entlang durch die Gassen huschten, vermochten meine düstere Stimmung nicht zu verscheuchen, ja, sie verstärkten sie nur. Es war schon ganz finster, als ich, ohne mich umzublicken und ohne an etwas zu denken, nach Hause ging, in der Hoffnung, mich durch den Schlaf von der düsteren Stimmung zu befreien. Ich empfand eine schreckliche innere Kälte, jenes drückende Gefühl von Einsamkeit, wie es uns oft ohne jeden ersichtlichen Grund überfällt, wenn wir auf einer Reise nach einem neuen Ort kommen.

Als ich, ohne nach rechts und links zu schauen, über den Kai zum Schweizerhof schritt, wurde ich plötzlich von den Tönen einer seltsamen, doch angenehmen und reizvollen Musik überrascht. Diese Töne übten auf mich eine augenblickliche, belebende Wirkung aus. Es war, als ob ein helles, heiteres Licht in meine Seele dränge. Mir ward so lustig und so angenehm zu Mute. Mein bereits eingeschlummertes Interesse erwachte und richtete sich von neuem auf alle mich umgebenden Gegenstände und Erscheinungen. Die Schönheit der Nacht und des Sees, gegen die ich erst eben gleichgültig gewesen, überraschte mich ganz plötzlich, wie etwas ganz Neues. Unwillkürlich erfaßte ich in einem Augenblick alles: den regnerischen Himmel mit den grauen Wolkenfetzen auf dem dunklen Blau, vom aufgehenden Mond beleuchtet; den dunkelgrünen spiegelglatten See mit den sich in ihm spiegelnden Lichtern; die fernen nebelgrauen Berge; das Quaken der Frösche aus Fröschenburg und die taufrischen Schreie der Wachteln am anderen Ufer. Doch unmittelbar vor mir, dort, wo die Töne klangen, an der Stelle, auf die sich mein Interesse hauptsächlich richtete, bemerkte ich im Halbdunkel mitten in der Straße ein Häuflein Menschen, die sich im Halbkreise drängten, und in einiger Entfernung vor ihnen ein kleines, schwarzgekleidetes Männchen. Hinter diesen Menschen hoben sich gegen den dunklen, grauen und blauen zerrissenen Himmel einige schwarze Pappeln des Gartens und die zu beiden Seiten des alten Domes ragenden strengen Türme ab.

Ich kam näher, und die Töne wurden deutlicher. Ich konnte ganz klar die fernen Akkorde einer Gitarre unterscheiden, die lieblich in der abendlichen Luft nachzitterten, und einige Stimmen, die, einander ablösend, nicht das Thema sangen, sondern nur die Hauptstellen des Themas unterstrichen und hervorhoben. Das Thema war eine Art anmutige, graziöse Masurka. Die Stimmen klangen bald in der Nähe und schienen bald aus der Ferne zu kommen; bald hörte ich einen Tenor, bald einen Baß und bald eine Fistelstimme mit gurrenden Tiroler Jodlern. Es war kein Lied, sondern die meisterhafte Skizze zu einem solchen. Ich konnte gar nicht verstehen, was es war; doch es war schön. Die wollüstigen, leisen Akkorde der Gitarre, die anmutige, leichte Melodie und die einsame Figur des schwarzen Männchens inmitten der phantastischen Szenerie des dunkelnden Sees, des durch die Wolken hindurch schimmernden Mondes, der beiden schweigsam in die Luft ragenden Türme und der schwarzen Pappeln des Gartens – all dies war seltsam, doch unaussprechlich schön, oder es schien mir wenigstens so.

Alle die verworrenen zufälligen Eindrücke des Lebens gewannen für mich plötzlich Bedeutung und Reiz. In meiner Seele war gleichsam eine frische, duftende Blume aufgegangen. An Stelle der Müdigkeit, der Zerstreutheit und der Gleichgültigkeit gegen alle Dinge in der Welt, die ich noch vor einer Minute empfunden hatte, spürte ich plötzlich ein Bedürfnis nach Liebe, eine Fülle der Hoffnung und eine grundlose Lebensfreude. Was soll ich mir noch wünschen, was soll ich noch verlangen? – sagte ich mir unwillkürlich. Da ist sie ja, die Schönheit und die Poesie, und sie tritt dir von allen Seiten entgegen. Atme sie mit vollen Zügen ein, genieße sie, soviel dir nur deine Kraft erlaubt. Was willst du noch mehr? Alles ist dein, alles ist herrlich ...

Ich trat näher heran. Das kleine Männchen schien ein fahrender Tiroler zu sein. Er stand vor den Fenstern des Hotels, ein Bein vorgestreckt, den Kopf zurückgeworfen, und sang zur Gitarre, beständig die Stimme wechselnd, ein graziöses Lied. Ich empfand sofort Sympathie mit diesem Menschen und Dankbarkeit für die innere Wandlung, die er in mir hervorgerufen hatte. Der Sänger war, soviel ich bemerken konnte, mit einem abgetragenen schwarzen Rock bekleidet, hatte kurzgeschorenes Haar und eine einfache Mütze, wie sie die Handwerker tragen. In seiner Kleidung war nichts Künstlerisches, doch seine ungezwungene, kindlich ausgelassene Haltung und sein Gebärdenspiel boten bei seinem kleinen Wuchs einen rührenden und zugleich drolligen Anblick. In der Einfahrt, in den Fenstern und auf den Balkons des glänzend erleuchteten Hotels standen die Damen in prächtigen Toiletten, mit bauschigen Röcken, die Herren mit ihren blendend weißen Kragen, der Portier und die Lakaien in goldgestickten Livreen; auf der Straße, im Halbkreise der Menge und etwas weiter zwischen den Linden der Kaianlagen, hatten sich die elegant gekleideten Kellner, die Köche mit ihren weißen Mützen und Jacken, junge Mädchen, die sich umschlungen hielten, und viele Spaziergänger versammelt. Sie alle schienen dasselbe Gefühl zu empfinden, das auch ich hatte. Sie standen schweigend um den Sänger herum und hörten ihm andächtig zu. Alles war still, und nur in den Pausen zwischen den einzelnen Strophen kamen aus der Ferne über den See her Hammerschläge und die Triller der Frösche von Fröschenburg, von den feuchten eintönigen Schreien der Wachteln übertönt.

Der kleine Mann mitten auf der dunklen Straße schmetterte wie eine Nachtigall Strophe um Strophe, Lied um Lied. Obwohl ich nun dicht an seiner Seite stand, gewährte mir sein Gesang nach wie vor großen Genuß. Seine Stimme war nicht groß, doch ungemein angenehm; der feine Geschmack, die Anmut und das Gefühl für Rhythmus, mit welchen er seine Stimme beherrschte, waren durchaus ungewöhnlich und zeugten von einer großen natürlichen Begabung. Den Refrain zu jedem Couplet sang er immer anders, und es war offenbar, daß er alle diese graziösen Variationen ganz frei und aus dem Stegreif brachte.

Durch die Menge – wie oben im Schweizerhof, so auch unten in den Anlagen – ging oft ein beifälliges Flüstern; sonst herrschte andächtiges Schweigen. Auf den Balkons und in den Fenstern erschienen immer neue schön gekleidete Herren und Damen, die im Glanze der Lichter in malerischen Posen an den Brüstungen lehnten. Die Spaziergänger blieben stehen, und im Schatten, auf dem Kai, hatten sich unter den Linden überall Gruppen von Herren und Damen gebildet. In meiner Nähe standen, etwas abseits von der großen Menge, ein Lakai und ein Koch; beide sahen wie Aristokraten aus und rauchten Zigarren. Der Koch gab sich ganz der Wirkung der Musik hin und nickte bei jedem hohen Fistelton begeistert und fragend dem Lakaien zu; er stieß ihn ab und zu mit dem Ellbogen an, als hätte er sagen wollen: »Nun, was sagst du zu diesem Gesang, he?« Der Lakai, dessen breites Lächeln davon zeugte, daß auch er den großen Genuß empfand, antwortete auf die Püffe des Kochs mit einem Achselzucken, welches besagen sollte, daß es gar nicht so leicht sei, ihn in Erstaunen zu setzen, und daß er in seinem Leben schon manches Schönere gehört habe.

In einer Pause, als der Sänger sich räusperte, fragte ich den Lakaien, wer der Sänger sei und ob er oft hierher käme.

»So an die zwei Mal im Sommer,« erwiderte der Lakai. »Er ist aus dem Kanton Aargau, er zieht so bettelnd umher.«

»Gibt es viele Leute von dieser Art?« fragte ich.

»Ja, ja,« antwortete der Lakai, der meine Frage nicht sofort begriffen hatte. Nach einigen Augenblicken begriff er sie erst und fügte hinzu: »Nein, er ist hier der einzige, andere gibt es nicht.«

Das Männchen hatte eben sein erstes Lied beendet; es drehte geschickt die Gitarre um und machte irgendeine Bemerkung in seinem Schweizerdeutsch, die ich nicht verstehen konnte, die aber im Publikum Lachen hervorrief.

»Was hat er eben gesagt?« fragte ich.

»Er sagt, daß ihm die Kehle ausgetrocknet sei und daß er gern einen Schluck Wein getrunken hätte,« übersetzte mir der Lakai.

»Er trinkt wohl gerne über den Durst?«

»Alle diese Leute sind ja vom gleichen Schlag,« erwiderte der Lakai lächelnd und mit der Hand auf den Sänger zeigend.

Der Sänger nahm die Mütze ab und ging, die Gitarre schwingend, auf das Haus zu. Er warf den Kopf zurück und wandte sich an die Herrschaften, die an den Fenstern und auf dem Balkon standen. » Messieurs et mesdames,« sagte er mit halb italienischem und halb deutschem Akzent und in dem Tone, in dem sich Gaukler gewöhnlich an ihr Publikum wenden: » si vous croyez, que je gagne quelque chose, vous vous trompez: je ne suis qu'un pauvre tiaple.« Er hielt inne und wartete; da ihm aber niemand etwas gab, schwang er wieder die Gitarre und fuhr fort: » A présent, messieurs et mesdames, je vous chanterai l'air du Righi.« Das Publikum oben verhielt sich schweigend, blieb aber in Erwartung des neuen Liedes stehen; und das Publikum unten lachte, wohl aus dem Grunde, weil er sich so sonderbar ausgedrückt hatte und weil man ihm nichts gegeben hatte. Ich schenkte ihm einige Centimes. Er warf die Münzen geschickt aus der einen Hand in die andere, steckte sie in die Westentasche, setzte sich seine Mütze wieder auf und stimmte jenes graziöse Liedchen an, das er l'air du Righi genannt hatte. Dieses Lied, das er für den Schluß aufgespart hatte, war noch schöner als alle die vorhergehenden; das Publikum, das inzwischen bedeutend angewachsen war, äußerte großen Beifall. Er war zu Ende. Wieder schwang er die Gitarre, nahm die Mütze ab, hielt sie vor sich hin, näherte sich auf zwei Schritte den Fenstern und sagte wieder den unverständlichen Satz: » Messieurs er mesdames, si vous croyez, que je gagne quelque chose«, den er offenbar für sehr geistreich und fein ersonnen hielt. Ich merkte aber in seiner Stimme und seinen Bewegungen eine gewisse Unsicherheit und kindliche Scheu, die bei seinem kleinen Wuchs einen besonders starken Eindruck machten. Das elegante Publikum lehnte noch immer im Glanze der Lampen malerisch an den Fenstern und Balkons; die einen unterhielten sich artig mit gedämpfter Stimme, offenbar über den Sänger, der mit ausgestreckter Hand vor ihnen stand; andere musterten aufmerksam und interessiert seine kleine dunkle Gestalt; auf einem der Balkons klang das helle und lustige Lachen eines jungen Mädchens. In der Menge auf dem Kai wurde immer mehr und lauter gesprochen und gelacht. Der Sänger wiederholte seinen Satz zum dritten Male, doch mit noch schwächerer Stimme; er sprach ihn sogar nicht zu Ende und streckte wieder seine Hand mit der Mütze aus, ließ sie aber sofort sinken. Und wieder fand sich unter diesen hundert glänzend gekleideten Menschen, die sich versammelt hatten, um ihm zu lauschen, niemand, der ihm auch nur einen Heller zugeworfen hätte. Die Menge unten brach in ein grausames Lachen aus. Der kleine Sänger schrumpfte gleichsam zusammen, nahm seine Gitarre in die linke Hand, lüftete mit der rechten die Mütze und sagte: » Messieurs et mesdames, je vous remercie er je vous souhaite une bonne nuit!« Dann setzte er die Mütze wieder auf. Die Menge lachte wie besessen. Die schönen Herren und Damen zogen sich allmählich in ruhigem Gespräch von den Balkons und Fenstern zurück. In den Anlagen begann man wieder zu promenieren. Die Straße, die während des Gesanges verstummt war, belebte sich wieder; nur einige Menschen beobachteten noch aus der Entfernung den Sänger und lachten. Ich hörte, wie das Männchen etwas in den Bart brummte; dann wandte er sich um, wurde noch kleiner und entfernte sich mit schnellen Schritten in der Richtung zur Stadt. Die lustigen Spaziergänger, die ihn aus der Ferne beobachtet hatten, folgten ihm lachend in einiger Entfernung ...

Ich wurde ganz verlegen. Ich begriff nicht, was das Ganze zu bedeuten hatte, und starrte, immer auf demselben Fleck stehend, in die Finsternis, auf den kleinen Mann, der mit großen Schritten auf die Stadt zuging, und auf die lachenden Spaziergänger, die ihm folgten. Ich empfand ein schmerzvolles Gefühl von Erbitterung und Scham für diesen kleinen Mann, diese Menge und für mich selbst, als ob ich es wäre, der um Geld gebettelt und nichts bekommen hatte, den man ausgelacht hatte. Ich ging mit beklommenem Herzen, ohne mich umzublicken, schnell nach Hause, auf den Schweizerhof zu. Ich gab mir noch keine Rechenschaft über die Gefühle, die mich bewegten; etwas Schweres erfüllte und bedrückte meine Seele und fand keinen Ausfluß.

In der prachtvoll erleuchteten Einfahrt begegnete ich dem Portier, der höflich beiseite trat, und einer englischen Familie. Der starke, wohlgestaltete, hochgewachsene Mann mit dem schwarzen, englischen Backenbart, schwarzem Hut, einem Plaid über dem Arme und einen wertvollen Spazierstock in der Hand, führte träge und selbstbewußt eine Dame, in einem grauen seidenen Kleid mit kostbaren Spitzen und einem Häubchen mit leuchtenden Bändern, am Arm. An ihrer Seite ging ein hübsches, frisches junges Mädchen in einem graziösen Schweizer Hut mit einer Feder à la mousquetaire, unter dem weiche, lange, hellblonde Locken hervorquollen, ihr weißes Gesicht umrahmend. Voraus hüpfte ein zehnjähriges rotwangiges Mädchen mit vollen weißen Knien, die unter den feinen Spitzenhöschen hervorschimmerten.

»Welch eine herrliche Nacht!« sagte die Dame mit süßer, glücklicher Stimme, als ich an ihr vorüberging.

»Ach!« brummte der träge Engländer, dem das Leben offenbar so sehr behagte, daß er sogar zum Sprechen zu faul war. Sie alle hatten, so schien es, ein so ruhiges, bequemes, reinliches und leichtes Leben; ihre Bewegungen und Gesichter drückten eine solche Gleichgültigkeit gegen jedes fremde Leben aus und eine so unerschütterliche Überzeugung davon, daß der Portier vor ihnen beiseite treten und sich verbeugen würde, daß sie auf ihren Zimmern saubere und bequeme Betten finden würden, daß all dies so sein müsse, und daß sie auf all dies ein Recht hätten – daß ich ihnen im Geiste unwillkürlich den fahrenden Sänger gegenüberstellte, der nun müde und vielleicht auch hungrig, beschämt vor der lachenden Menge floh; nun begriff ich, was mir so schwer auf dem Herzen lastete, und mich packte unbeschreiblicher Zorn gegen alle diese Menschen. Ich ging zweimal an dem Engländer vorbei, ohne ihm auszuweichen, und stieß ihn beide Mal mit großem Genuß mit dem Ellbogen an. Dann verließ ich das Hotel und lief in der Dunkelheit in der Richtung nach der Stadt zu, in der der kleine Mann verschwunden war.

Ich holte drei Männer ein, die zusammen gingen, und fragte sie, ob sie nicht den Sänger gesehen hätten; sie zeigten ihn mir lachend: er ging vor ihnen, ganz allein, mit schnellen Schritten; niemand näherte sich ihm, und mir schien, daß er noch immer etwas erregt vor sich hin murmelte. Ich holte ihn ein und schlug ihm vor, mit mir irgendwo einzukehren und eine Flasche Wein zu trinken. Er ging noch immer schnell weiter und blickte mich unzufrieden an; als er endlich begriffen hatte, was ich von ihm wollte, blieb er stehen.

»Nun, wenn Sie so freundlich sind, nehme ich die Einladung an,« sagte er mir. »Gleich hier in der Nähe gibt es ein kleines Café; es ist recht einfach, da könnten wir einkehren,« fügte er hinzu, auf eine Weinbude zeigend, die noch offen war.

Seine Worte vom »einfachen« Café brachten mich unwillkürlich auf den Gedanken, mit ihm nicht in das einfache Café, sondern ins Hotel Schweizerhof zu gehen, wo sich alle die Leute befanden, die ihm zugehört hatten. Obwohl er einige Mal scheu und schüchtern ablehnte, in den Schweizerhof zu gehen, weil es dort zu elegant sei, setzte ich meinen Willen doch durch. Er stellte sich so, als ob er in keiner Weise verlegen sei, schwang lustig die Gitarre und ging mit mir über den Kai zurück. Kaum hatte ich mich dem Sänger angeschlossen, als einige müßige Spaziergänger näher heranrückten, um zu horchen, was ich mit ihm sprach; nun folgten sie uns, den Fall miteinander besprechend, bis zur Hoteleinfahrt, da sie offenbar vom Tiroler noch irgendeinen lustigen Auftritt erwarteten.

Ich bestellte beim ersten Kellner, dem ich im Flur begegnete, eine Flasche Wein. Der Kellner blickte uns lächelnd an und lief vorüber, ohne zu antworten. Der Oberkellner, an den ich mich mit der gleichen Bitte wandte, hörte mich aufmerksam an, musterte die kleine schüchterne Gestalt des Sängers vom Kopf bis zu den Füßen und sagte dann mit strenger Miene dem Portier, er möchte uns in den Saal links geleiten. Dieser Saal war die Schwemme für gewöhnliches Volk. In der Ecke war eine bucklige Magd mit dem Aufwaschen von Geschirr beschäftigt, und die ganze Einrichtung bestand hier aus einfachen hölzernen Tischen ohne Tischdecken und einfachen Bänken. Der Kellner, der uns bedienen sollte, betrachtete uns mit nachsichtigem, höhnischem Lächeln und unterhielt sich, die Hände in den Taschen, mit der buckligen Küchenmagd. Er wollte uns offenbar zu verstehen geben, daß er sich in bezug auf seine gesellschaftliche Stellung und seine sonstigen Eigenschaften so unendlich erhaben über den Sänger schätzte, daß es für ihn nicht nur nicht verletzend, sondern auch wirklich amüsant sei, uns zu bedienen.

»Befehlen der Herr gewöhnlichen Wein?« fragte er mich verständnisvoll, mit einem Seitenblick auf meinen Begleiter, die Serviette aus einer Hand in die andere werfend.

»Nein, Champagner, und vom Besten,« sagte ich, indem ich mich bemühte, eine möglichst stolze und majestätische Haltung anzunehmen. Doch weder der Champagner noch meine stolze, majestätische Haltung machten auf den Kellner Eindruck: er lächelte, blieb noch eine Weile stehen, betrachtete uns, sah ruhig auf seine goldene Uhr und ging mit langsamen Schritten, als ob er spazieren ginge, aus dem Zimmer. Nach einer Weile kam er mit dem bestellten Champagner und brachte zwei andere Lakaien mit. Zwei von ihnen setzten sich in die Ecke zur Küchenmagd und sahen uns vergnügt und belustigt, mit mildem Lächeln in den Zügen zu, wie Eltern, die den niedlichen Spielen ihrer niedlichen Kinder zusehen. Nur die bucklige Küchenmagd schien uns nicht höhnisch, sondern teilnahmsvoll zu betrachten. Obgleich es mir recht schwer und unangenehm war, mich mit dem Sänger unter dem Kreuzfeuer der Lakaienblicke zu unterhalten und ihn zu bewirten, gab ich mir doch Mühe, meine Sache möglichst unbefangen zu tun. Bei Licht konnte ich ihn besser sehen. Er war ein sehr kleiner, doch proportioniert gebauter, muskulöser Mann, beinahe ein Zwerg, mit borstigen schwarzen Haaren, immer feuchten, wimperlosen, großen, schwarzen Augen und einem winzigen Mund mit rührendem Ausdruck. Er hatte einen kurzen Backenbart, kurzes Haar, und seine Kleidung war höchst einfach und dürftig. Er war unsauber, zerlumpt, wettergebräunt und sah überhaupt wie ein schwer arbeitender Mensch aus. Man könnte ihn viel eher für einen armen Hausierer als für einen Künstler halten. Nur in seinen feuchten, glänzenden Augen und seltsam gefalteten Lippen lag etwas Originelles und Rührendes. Sein Alter konnte man auf fünfundzwanzig bis vierzig Jahre schätzen; in Wirklichkeit war er achtunddreißig Jahre alt.

Er berichtete mir gutmütig und bereitwillig, offenbar auch aufrichtig Folgendes von seinem Leben. Er stammte aus dem Aargau und hatte noch in früher Kindheit Vater und Mutter verloren; andere Verwandte hatte er nicht. Ein Vermögen hatte er nie besessen. Er war anfangs bei einem Schreiner in der Lehre gewesen, aber vor zweiundzwanzig Jahren hatte er den Knochenfraß in der Hand bekommen, was die Ausübung des Schreinerhandwerks unmöglich machte. Von Kind auf hatte er Neigung zum Gesang gehabt, und nun begann er zu singen. Die Fremden gaben ihm zuweilen ein paar Rappen. Er machte sich einen Beruf daraus, kaufte sich eine Gitarre, und so wandert er seit achtzehn Jahren durch die Schweiz und Italien und singt vor den Hotels. Sein ganzes Gepäck besteht aus der Gitarre und einem Beutel; in diesem hat er augenblicklich nur anderthalb Franken, die er heute noch für sein Nachtquartier und Abendessen ausgeben wird. Alljährlich, also bereits zum achtzehnten Male, durchwandert er alle besseren und von den Fremden bevorzugten Orte der Schweiz: Zürich, Luzern, Interlaken, Chamonix usw.; er geht über den St. Bernhard nach Italien und kehrt über den St. Gotthard und durch Savoyen zurück. In der letzten Zeit fällt ihm das Herumziehen schwer, denn der Schmerz in den Beinen, der von einer Erkältung herrührt und den er Gliedersucht nennt, wird von Jahr zu Jahr unerträglicher; auch seine Augen und seine Stimme werden schwächer. Trotzdem begibt er sich jetzt nach Interlaken, Aix-les-Bains und über den Kleinen St. Bernhard nach Italien, das er ganz besonders liebt; im allgemeinen scheint er mit seinem Leben recht zufrieden zu sein. Als ich ihn fragte, warum er immer in seine Heimat zurückkehre, ob er dort Verwandte oder ein eigenes Stück Land und ein Haus habe, faltete sich sein winziges Mündchen zu einem schelmischen Lächeln, und er sagte mir:

»Oui, le sucre est bon, il est doux pour les enfants!« und dabei blinzelte er den Lakaien zu.

Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, doch in der Gruppe der Lakaien begann man zu lachen.

»Ich habe ja nichts; würde ich denn sonst so umherziehen?« suchte er es mir zu erklären. »Ich gehe alljährlich nach Hause, weil es jeden Menschen doch immer nach der Heimat zieht.«

Und er wiederholte noch einmal mit schlauer und selbstzufriedener Miene den Satz: »Oui, le sucre est bon,« und begann gutmütig zu lachen. Die Lakaien waren sehr belustigt und lachten; nur die bucklige Magd blickte mit ihren großen gutmütigen Augen ernst auf den Sänger und hob ihm die Mütze auf, die er während des Gesprächs fallen gelassen hatte. Ich habe bemerkt, daß die fahrenden Sänger, Akrobaten und sogar Schwarzkünstler sich gerne Künstler nennen, und darum ließ ich einige Male im Gespräch mit dem Sänger die Bemerkung fallen, daß er eigentlich ein Künstler sei. Er wollte aber diesen Ehrentitel auf sich gar nicht beziehen, denn er betrachtete seine Tätigkeit einfach als ein Erwerbsmittel. Als ich ihn fragte, ob er selbst der Verfasser der Lieder sei, die er singe, wunderte er sich über die sonderbare Frage und antwortete, daß er nicht das Zeug dazu habe, und daß es lauter alte Tiroler Lieder seien.

»Wie ist es denn mit dem Rigi-Lied? Das kann doch unmöglich alt sein,« sagte ich.

»Das Rigi-Lied ist vor etwa fünfzehn Jahren verfaßt worden. In Basel lebte ein Deutscher, ein sehr kluger Mann, und er hat das Lied gemacht. Es ist ein ausgezeichnetes Lied! Er hat es, müssen Sie wissen, für die Fremden verfaßt.«

Und er begann mir den Text des Liedes, das mir so gut gefallen hatte, ins Französische zu übersetzen.

»Willst du auf den Rigi steigen,
So brauchst du bis Weggis keine Schuhe
(Denn man fährt mit dem Dampfschiff);
Von Weggis nimm dir einen großen Stock,
Nimm dir auch ein Mädchen untern Arm,
Trinke noch ein Gläschen Wein,
Sollst aber nicht zu viel trinken,
Denn wenn du Wein trinken willst.
Mußt du ihn dir zuvor verdienen ...

O, es ist ein ausgezeichnetes Lied!« schloß er.

Auch die Lakaien fanden wohl das Lied sehr schön, denn sie kamen alle näher heran.

»Und wer hat die Musik gemacht?« fragte ich.

»Niemand! Wissen Sie, um vor den Fremden zu singen, braucht man immer etwas Neues.«

Als man uns Eis brachte und ich meinem Gast ein Glas Champagner einschenkte, wurde er auf einmal verlegen und begann, auf die Lakaien schielend, unruhig auf seiner Bank hin und her zu rücken. Wir stießen auf das Wohl der Künstler an; er trank ein halbes Glas und hielt es für nötig, nachdenklich zu werden und tiefsinnig die Augenbrauen zu heben.

»Schon lange habe ich keinen so guten Wein getrunken, je ne vous dis que ça. Der Asti in Italien ist ja auch sehr gut, doch dieser ist noch viel besser. Ach ja, Italien! Schön ist es dort!« fügte er hinzu.

»Ja, dort versteht man die Musik und die Künstler zu schätzen,« sagte ich mit der Absicht, das Gespräch auf seinen Mißerfolg vor dem Schweizerhof zu bringen.

»Nein,« erwiderte er, »dort kann ich mit meiner Musik niemand erfreuen. Die Italiener sind ja selbst Musiker, wie es keine ähnlichen in der Welt gibt; meine Spezialität sind aber die Tiroler Lieder, und die sind auch in Italien etwas Neues.«

»Sind dort die Herrschaften freigebiger?« fuhr ich fort, denn ich wollte ihn zwingen, meinen Groll gegen die Bewohner des Schweizerhofs zu teilen. »Dort kann es wohl nie vorkommen, daß unter hundert reichen Leuten, die in einem teuren Hotel wohnen, sich niemand findet, der einem Künstler, dem sie alle gelauscht haben, etwas gibt?«

Meine Frage wirkte ganz anders, als ich es erwartet hatte. Es fiel ihm gar nicht ein, sich gegen die Leute zu empören; im Gegenteil: in meiner Bemerkung sah er nur einen Vorwurf gegen seine Begabung, die es nicht vermocht hatte, die Leute zu einer Belohnung hinzureißen; und er begann sich vor mir zu rechtfertigen.

»Nicht immer bekommt man viel,« sagte er. »Zuweilen, wenn man müde ist, hat man gar keine Stimme; so war ich auch heute neun Stunden unterwegs und habe fast den ganzen Tag gesungen; das ist wirklich nicht leicht! Und die vornehmen Herren haben manchmal auch gar keine Lust, Tiroler Lieder zu hören.«

»Aber trotzdem, wie kann man einem nichts geben?« wiederholte ich.

Er verstand meine Frage nicht.

»Ich meine nicht das,« sagte er. »Die Hauptsache ist, on est très serré pour la police, das meine ich. Nach den hiesigen republikanischen Gesetzen ist es uns verboten zu singen; in Italien dürfen wir aber singen, soviel wir wollen, niemand wird auch ein Wort sagen. Hier können sie es einem erlauben und verbieten; und wenn sie wollen, können sie einen auch ins Gefängnis sperren.«

»Ist es denn möglich?«

»Gewiß. Wenn man Sie einmal gewarnt hat und Sie trotzdem fortfahren zu singen, darf man Sie ins Gefängnis sperren. Ich hab schon einmal drei Monate gesessen,« sagte er lächelnd, als ob es eine seiner angenehmsten Erinnerungen wäre.

»Das ist ja schrecklich!« sagte ich. »Wofür denn?«

»Das ist hier so nach den neuen republikanischen Gesetzen,« fuhr er fort, immer mehr in Schwung kommend. »Sie wollen es gar nicht begreifen, daß auch der arme Mann irgendwie leben muß. Wenn ich kein Krüppel wäre, so würde ich gewiß arbeiten. So aber muß ich singen; schade ich denn jemand damit? Was soll das heißen? Der Reiche darf leben wie er will, doch ein pauvre tiaple, wie ich, soll gar nicht mehr leben dürfen? Was sind denn das für republikanische Gesetze? Wenn so, will ich nichts von der Republik wissen. Ich habe doch recht, Herr? Wir wollen keine Republik, wir wollen ... wir wollen einfach ... wir wollen ...« Er wurde etwas verlegen. »Wir wollen natürliche Gesetze.«

Ich schenkte ihm sein Glas voll.

»Sie trinken ja gar nicht,« sagte ich zu ihm.

Er ergriff das Glas und verneigte sich gegen mich.

»Ich weiß, was Sie wollen,« sagte er, ein Auge zusammenkneifend und mit dem Finger drohend. »Sie wollen mich betrunken machen und dann sehen, was ich anfangen werde; es wird Ihnen aber nicht gelingen.«

»Warum sollte ich Sie betrunken machen wollen?« sagte ich; »ich will Ihnen nur ein Vergnügen bereiten.«

Es tat ihm offenbar leid, daß er mich eben beleidigt hatte, indem er meine Absichten falsch deutete; er wurde verlegen, richtete sich halb auf und ergriff mich am Ellbogen.

»Nein, nein,« sagte er, mich flehend mit seinen glänzenden Augen anblickend; »ich habe nur gescherzt!«

Dann ließ er einen furchtbar komplizierten und verworrenen Satz los, den ich nicht verstehen konnte, der aber wohl besagen sollte, daß ich im Grunde doch ein guter Kerl sei.

» Je ne vous dis que ça!« schloß er.

In dieser Weise fuhr ich fort mit dem Sänger zu trinken und zu plaudern; und die Lakaien fuhren fort, uns ungeniert zu beobachten und sich, wie es mir vorkam, über uns lustig zu machen. Obwohl mich die Unterhaltung mit dem Sänger sehr interessierte, konnte ich doch für keinen Augenblick die Anwesenheit der Lakaien vergessen, und ich muß gestehen, daß ich mich darüber immer mehr ärgerte. Einer der Lakaien stand auf, kam näher und begann lächelnd von oben herab den Scheitel des kleinen Sängers zu fixieren. In mir war schon ohnehin ein großer Vorrat von Haß gegen die Bewohner des Schweizerhofs aufgespeichert, und nun stachelte mich diese Lakaiengesellschaft noch mehr auf. Der Portier kam, ohne die Mütze abzunehmen, ins Zimmer, setzte sich neben mich und stemmte die Ellbogen auf den Tisch. Dieser letztere Umstand reizte im höchsten Maße meinen Stolz und meinen Ehrgeiz und brachte den Zorn, der sich in mir während des Abends angesammelt hatte, zum Ausbruch. Warum grüßt mich der Portier so demütig vor der Einfahrt, wenn ich allein bin, und setzt sich jetzt so ungezwungen an meine Seite, da ich mit dem fahrenden Sänger sitze? Ich brannte vor heißem Zorn der Entrüstung, den ich bei mir so gerne sehe und den ich zuweilen sogar anfache, weil er beruhigend auf mich wirkt und mir, wenn auch für kurze Zeit, eine ungewöhnliche Elastizität, Energie und Kraft aller meiner physischen und moralischen Fähigkeiten verleiht.

Ich sprang auf.

»Worüber lachen Sie?« schrie ich den Lakaien an, und ich fühlte mein Gesicht erblassen und meine Lippen wie im Krampfe zucken.

»Ich lache ja gar nicht,« antwortete der Lakai, vor mir zurückweichend.

»Nein, Sie lachen über diesen Herrn! Wie unterstehen Sie sich überhaupt, hier zu sitzen, wenn Gäste im Lokal sind? Sofort aufstehen!« herrschte ich ihn an.

Der Portier brummte etwas in den Bart, stand auf und ging zur Tür.

»Wie unterstehen Sie sich, über diesen Herrn zu lachen und neben ihm zu sitzen, wo er der Gast ist und Sie der Lakai sind? Warum haben Sie heute bei der Table d'hote nicht über mich gelacht und sich nicht neben mich gesetzt? Weil er schlecht gekleidet ist und auf der Straße singt, nicht wahr? Und weil ich gut gekleidet bin? Er ist zwar arm, doch tausendmal besser als Sie, davon bin ich überzeugt, denn er beleidigt niemand, und Sie beleidigen ihn.«

»Ich habe ihm ja gar nichts getan, was fällt Ihnen ein!« erwiderte schüchtern mein Feind, der Lakai. »Hindere ich ihn denn, hier zu sitzen?«

Der Lakai verstand mich nicht, und mein schönstes Deutsch machte auf ihn nicht den geringsten Eindruck. Der grobe Portier versuchte den Lakaien in Schutz zu nehmen, doch ich fiel mit solcher Wut über ihn her, daß auch der Portier sich so stellte, als ob er mich nicht verstünde, und nur mit der Hand abwinkte. Aber die bucklige Magd – ich weiß nicht, ob sie meine Ansicht teilte, oder nur meinen gereizten Zustand bemerkt hatte und einen Skandal befürchtete – nahm für mich Partei und versuchte, sich zwischen mich und den Portier zu drängen; sie redete ihm zu, er möchte doch schweigen, weil ich recht hätte, und bat mich, mich zu beruhigen. »Der Herr hat recht! Sie haben recht!« sagte sie in einem fort. Der Sänger machte ein unglückliches, erschrecktes Gesicht, begriff anscheinend nicht, warum ich so wütete und was ich wollte, und bat mich, möglichst gleich von hier fortzugehen. Doch der Haß und die Beredsamkeit loderten in mir immer stärker. Alles kam mir wieder in den Sinn: die Menge, die über ihn gelacht hatte, die Zuhörer, die ihm nichts gegeben hatten, und ich wollte mich um nichts in der Welt beruhigen. Ich glaube sogar, wenn die Kellner und der Portier nicht so nachgiebig gewesen wären, so hätte ich mit ihnen mit Hochgenuß zu raufen begonnen oder irgendein wehrloses englisches Fräulein mit meinem Stock über den Kopf geschlagen. Wäre ich in diesem Augenblick in Sewastopol gewesen, so hätte ich mich mit Wonne mit Säbel und Bajonett gegen die englischen Laufgräben gestürzt.

»Und warum haben Sie mich und den Herrn in diesen und nicht in jenen Saal geführt?« fragte ich den Portier, indem ich ihn bei der Hand festhielt, damit er mir nicht entrinne. »Was für ein Recht hatten Sie, nach dem Äußeren des Herrn zu schließen, daß er in diesem und nicht in jenem Saal sitzen muß? Sind nicht im Hotel alle Leute, die ihre Zeche bezahlen, gleich? Und zwar nicht nur in einer Republik, sondern in der ganzen Welt? Eure lausige Republik! ... So sieht eure Gleichheit aus! Sie würden sich ja nie unterstehen, einen Engländer in dieses Zimmer zu führen, einen von jenen, die diesem Herrn umsonst zugehört haben, d. h. ihm jeder einige Centimes gestohlen haben, die sie ihm hätten geben müssen. Wie haben Sie sich unterstehen können, uns diesen Saal anzuweisen?«

»Der andere Saal ist jetzt geschlossen,« antwortete der Portier.

»Nein,« fuhr ich ihn an, »es ist nicht wahr, der Saal ist gar nicht geschlossen.«

»Dann wissen Sie es besser.«

»Ich weiß nur, daß Sie lügen.«

Der Portier wandte sich halb weg.

»Was ist da noch viel zu reden!« brummte er.

»Nein, nicht reden will ich,« schrie ich wieder, »ich will, daß Sie mich sofort in den andern Saal führen!«

Trotz des Zuredens der Buckligen und aller Bitten des Sängers, lieber nach Hause zu gehen, ließ ich den Oberkellner kommen und begab mich mit meinem Gast in den andern Saal. Als der Oberkellner meine zornige Stimme hörte und mein erregtes Gesicht sah, wagte er mir nicht zu widersprechen und sagte mit verächtlicher Höflichkeit, ich möchte gehen, wohin es mir beliebt. Ich konnte dem Portier seine Lüge nicht beweisen, denn er hatte sich zurückgezogen, noch ehe ich den anderen Saal betrat.

Der Saal war tatsächlich offen und erleuchtet, und an einem der Tische saß ein englisches Paar beim Abendessen. Obwohl man uns einen besonderen Tisch angewiesen hatte, setzte ich mich mit dem schmierigen Sänger an den Tisch der Engländer und befahl, uns die noch nicht ganz geleerte Flasche herzubringen.

Die Engländer blickten den kleinen Sänger, der mehr tot als lebendig neben mir saß, erst verwundert und dann gehässig an; dann tuschelten sie miteinander, die Dame stieß ihren Teller fort, rauschte mit ihrem Seidenkleid, und beide verließen den Saal. Durch die Glastüre konnte ich sehen, wie der Engländer, aufs höchste erbost, auf den Kellner einsprach, fortwährend mit der Hand auf uns zeigend. Der Kellner steckte den Kopf durch die Türe und blickte in den Saal. Ich erwartete mit Wonne, daß man kommen würde, um uns hinauszuwerfen, und daß ich dann Gelegenheit haben würde, meinen ganzen Zorn gegen sie auszulassen. Doch zum Glück ließ man uns, wie unangenehm es mir auch war, in Ruhe.

Der Sänger, der vorhin nicht trinken wollte, trank jetzt eilig den ganzen Wein aus, der noch in der Flasche geblieben war, um so schnell als möglich fortgehen zu dürfen. Doch er bedankte sich, wie es mir schien, aufrichtig für die Bewirtung. Seine feuchten Augen wurden noch feuchter und glänzender, und er drückte mir seinen Dank in einem höchst seltsamen und verworrenen Satze aus. Seine Worte, mit denen er beiläufig sagen wollte, daß, wenn alle Leute die Künstler ebenso verehren würden wie ich, er es viel besser haben würde, und daß er mir alles Glück wünsche, gefielen mir trotzdem sehr gut. Wir traten zusammen in den Flur hinaus. Da standen die Lakaien und mein Feind, der Portier, der sich über mich zu beschweren schien. Sie alle sahen auf mich wie auf einen Verrückten. Ich ließ den kleinen Sänger ganz nahe an allen diesen Leuten vorbeikommen, zog dann, mit aller Ehrfurcht und Hochachtung, die ich nur auszudrücken vermochte, den Hut und drückte ihm die Hand mit dem steifen Finger. Die Lakaien taten so, als ob sie mir nicht die geringste Beachtung schenkten. Nur einer von ihnen brach in ein sardonisches Lachen aus.

Als der Sänger unter vielen Verbeugungen Abschied genommen hatte und in der Dunkelheit verschwunden war, begab ich mich auf mein Zimmer: ich wollte alle diese Eindrücke und die dumme kindliche Wut, die mich so unerwartet überkommen hatte, im Schlafe vergessen. Da ich mich doch zu sehr erregt fühlte, um einzuschlafen, begab ich mich wieder auf die Straße, um so lange spazieren zu gehen, bis ich mich beruhigt haben würde; ich hatte dabei, offen gesagt, noch die unklare Hoffnung, noch einmal mit dem Portier, den Lakaien oder dem Engländer zusammenzustoßen und ihnen die ganze Grausamkeit und besonders die Ungerechtigkeit ihres Gebarens zu beweisen. Doch außer dem Portier, der sich von mir sofort wegwandte, begegnete ich niemand, und so begann ich ganz allein auf dem Kai auf und ab zu gehen.

»Das ist also das sonderbare Schicksal der Poesie!« sagte ich mir, als ich mich einigermaßen beruhigt hatte. »Alle lieben sie, alle suchen sie, alle streben nach ihr im Leben, und doch will niemand ihre Macht anerkennen, sie als das höchste Gut dieser Welt würdigen. Niemand schätzt diejenigen, die dieses Gut den Menschen vermitteln, und niemand weiß ihnen Dank. Fragt doch einmal, wen ihr wollt, fragt alle Bewohner des Schweizerhofs, welches das höchste Gut in der Welt ist, und alle oder mindestens neunundneunzig von hundert werden euch mit einem sardonischen Lächeln sagen, daß das höchste Gut auf Erden das Geld sei. Man wird euch sagen: ›Vielleicht gefällt Ihnen dieser Gedanke nicht, vielleicht stimmt er mit Ihren erhabenen Idealen nicht überein, was soll man aber tun, wenn das Menschenleben schon einmal so eingerichtet ist, daß nur das Geld den Menschen glücklich machen kann? Wir können ja unseren Geist nicht hindern, die Welt so zu sehen, wie sie ist,‹ wird man noch hinzufügen, ›das heißt: die Wahrheit zu sehen.‹ Wie armselig ist das Glück, das ihr euch wünscht, wie unglücklich seid ihr, die ihr nicht wißt, was euch not tut ... Warum habt ihr alle eure Heimat, eure Familien, eure Geldgeschäfte und Berufe verlassen und euch in diesem kleinen schweizerischen Städtchen Luzern zusammengedrängt? Warum seid ihr heute abend alle auf die Balkons hinausgeeilt und habt mit andächtigem Schweigen dem Gesang des kleinen Bettlers gelauscht? Wenn er noch mehr hätte singen wollen, so hättet ihr auch noch weiter geschwiegen und gelauscht. Sagt, hätte man euch für Geld, selbst für Millionen veranlassen können, eure Heimat zu verlassen und in dieses Städtchen Luzern zusammenzuströmen? Hätte man euch für Geld zwingen können, auf die Balkons hinauszueilen und eine halbe Stunde lang schweigend und unbeweglich zu stehen? Doch nein! Denn das einzige, was euch zu all dem zwingt, und was euch ewig stärker als alle anderen Triebfedern des Lebens bewegen wird, ist das Bedürfnis nach Poesie, dessen ihr euch zwar nicht bewußt seid, das ihr aber empfindet und ewig empfinden werdet, solange an euch noch irgend etwas Menschliches ist. Das Wort Poesie erscheint euch lächerlich, ihr gebraucht es nur als einen spöttischen Vorwurf, ihr laßt euch die Liebe zur Poesie höchstens noch bei Kindern und naiven jungen Mädchen gefallen, und auch diese lacht ihr aus; denn ihr braucht das Positive. Doch die Kinder haben ein gesundes Verhältnis zum Leben; sie lieben und wissen, was der Mensch lieben muß, und was ihm Glück verleiht; euch hat aber das Leben so verwirrt und verdorben, daß ihr das, was ihr einzig und allein liebt, verlacht, und das, was ihr haßt und was euch unglücklich macht, sucht. Ihr habt euch so verirrt, daß ihr euch gar nicht eurer Pflicht gegen den armen Tiroler, der euch einen ungetrübten Genuß verschafft hat, bewußt seid und zugleich es für eure Pflicht haltet, euch umsonst, ohne Nutzen und Freude, vor irgendeinem Lord zu beugen und ihm ohne jeden Grund eure Ruhe und Bequemlichkeit zu opfern. Welch ein Unsinn, welch ein unlösbarer Widerspruch! Doch nicht das allein ist es, was mich heute abend so sehr in Erstaunen versetzt und erschüttert hat. Denn die Unkenntnis dessen, was Glück verschafft, die Unbewußtheit der poetischen Genüsse kann ich noch beinahe begreifen: ich bin ihnen so oft im Leben begegnet, daß ich mich an sie gewöhnt habe. Auch die unbewußte Roheit und Grausamkeit der Menge war mir nichts Neues; was auch die Verteidiger des gesunden Sinnes des Volkes sagen mögen, die Menge ist doch nur eine Vereinigung von Menschen, die einzeln vielleicht recht gut sind, die sich aber in ihrer Gesamtheit nur mit ihren schlechtesten und häßlichsten Eigenschaften und Trieben berühren; eine Vereinigung, die nur die Schwäche und Grausamkeit der menschlichen Natur ausdrückt. Doch wie habt ihr, Kinder eines freien und humanen Volkes, ihr, Christen, ihr, einfach Menschen – auf den reinen Genuß, den euch dieser unglückliche, um eine Gabe flehende Mensch verschafft hat, mit Kälte und Hohn antworten können? Ihr werdet sagen, daß es in eurem Lande Armenasyle gibt. – Es gibt einfach keine Bettler, es darf keine geben, es darf auch kein Mitleid geben, das die Grundlage des Bettels ist. – Er hat aber gearbeitet, er hat euch erfreut, er hat euch angefleht, ihm etwas von eurem Überfluß für seine Arbeit, die euch zugute kam, zu geben. Und ihr habt ihn mit kühlem Lächeln von euren prunkvollen hohen Sälen herab wie eine Rarität angesehen, und unter den hundert Glücklichen und Reichen hat sich nicht ein einziger Mann, nicht eine einzige Frau gefunden, die ihm etwas zugeworfen hätten! Beschämt ging er von dannen, und die törichte Menge verlachte, verfolgte und beleidigte nicht euch, sondern ihn, weil ihr kalt, grausam und ehrlos waret; weil ihr ihm den Genuß, den er euch verschafft, gestohlen habt; dafür hat die Menge ihn beleidigt.

» Am 7. Juli 1857 sang in Luzern vor dem Hotel Schweizerhof, in dem die reichen Leute absteigen, während einer halben Stunde ein armer fahrender Sänger seine Lieder zur Gitarre. Etwa hundert Menschen hörten ihm zu. Der Sänger bat sie dreimal um eine Gabe. Kein Mensch gab ihm etwas, und viele lachten über ihn.«

Dies ist keine Erfindung, sondern eine positive Tatsache, die jeder, dem es beliebt, nachprüfen kann: man braucht nur die Stammgäste des Hotels Schweizerhof zu befragen; aus den Zeitungen kann man leicht feststellen, wer die Ausländer waren, die am 7. Juli 1857 im Hotel Schweizerhof gewohnt haben.

Hier ist ein Ereignis, das die Geschichtschreiber unserer Zeit mit unauslöschlichen Flammenbuchstaben in ihre Chronik eintragen müssen. Dieses Ereignis ist viel bedeutsamer, ernsthafter und hat einen tieferen Sinn, als alle die Tatsachen, von denen die Geschichtsbücher und die Zeitungen berichten. Daß die Engländer weitere tausend Chinesen getötet haben, weil die Chinesen nichts gegen bar kaufen, während ihr Land die klingende Münze verschlingt; daß die Franzosen weitere tausend Kabylen getötet haben, weil in Afrika das Getreide gut gedeiht, und weil ein permanenter Krieg für die Ausbildung des Heeres sehr nützlich ist; daß ein Jude den Posten eines türkischen Botschafters in Neapel nicht bekleiden darf; daß Kaiser Napoleon in Plombières zu Fuß spazieren geht und durch die Presse das Volk zu überzeugen sucht, er habe den Thron nur nach dem Willen des Volkes bestiegen: – alle diese Worte verkündigen oder verschleiern lauter längst bekannte Sachen. Doch das Ereignis, das sich in Luzern am 7. Juli abgespielt hat, erscheint mir durchaus neu und höchst seltsam; es gehört nicht zu den ewig schlechten Seiten des Menschengeschlechts, sondern zu einer bestimmten Etappe in der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft. Diese Tatsache gehört nicht in die Geschichte der menschlichen Taten, sondern in die des Fortschritts und der Zivilisation.

Warum ist diese unmenschliche Tatsache, die in keinem deutschen, französischen oder italienischen Dorfe möglich wäre, hier, wo Zivilisation, Freiheit und Gleichheit ihre höchste Blüte erreicht haben, wo sich die zivilisiertesten Vertreter der zivilisiertesten Völker treffen, möglich? Warum fehlt allen diesen hochentwickelten humanen Menschen, die in ihrer Gesamtheit zu jedem ehrenvollen humanen Werk fähig sind, das gewöhnliche menschliche Gefühl für ein persönliches gutes Werk? Warum finden alle diese Menschen, die in ihren Parlamenten, Meetings und Vereinen mit solchem Eifer für die Lage der ehelosen Chinesen in Indien, für die Verbreitung des Christentums und der Zivilisation in Afrika und für die Gründung von Vereinen zur Besserung der gesamten Menschheit sorgen, in ihren Herzen nicht die einfachen, ursprünglichen Gefühle des Menschen für den Menschen? Ist denn dieses Gefühl gänzlich ausgestorben, und ist an seine Stelle der Ehrgeiz und der Eigennutz getreten, von denen sich diese Leute in ihren Parlamenten, Meetings und Vereinen leiten lassen? Widerspricht denn die Verbreitung des Prinzips eines vernünftigen und egoistischen Zusammenwirkens von Menschen, das man Zivilisation nennt, dem Bedürfnisse eines instinktiven und selbstlosen Zusammenwirkens? Ist dies wirklich jene Gleichheit, für die so viel unschuldiges Blut vergossen wurde, für die so viele Verbrechen begangen wurden? Können sich denn die Völker wie die kleinen Kinder am bloßen Klang des Wortes »Gleichheit« berauschen?

Die Gleichheit vor dem Gesetz? Wickelt sich denn das ganze Leben des Menschen im Bereiche der Gesetze ab? Nur ein Tausendstel des Lebens unterliegt dem Gesetz; der Rest liegt außerhalb des Gesetzes, im Bereiche der gesellschaftlichen Sitten und der Anschauungen. Und in der Gesellschaft ist der Lakai besser gekleidet als der Sänger und darf ihn daher ungestraft beleidigen. Ich bin wiederum besser gekleidet als der Lakai und beleidige ungestraft den Lakaien. Der Portier schätzt mich höher und den Sänger niedriger ein als sich; als ich mich zum Sänger gesellte, hielt der Portier sich für unsersgleichen und wurde grob. Ich wurde frech gegen den Portier, und der Portier betrachtete mich wieder als höher stehend. Der Lakai wurde frech gegen den Sänger, und der Sänger hielt sich für niedriger stehend. Ist das ein freier Staat, ein Staat, den die Menschen für einen absolut freien halten, wo es auch nur einen Bürger gibt, den man ins Gefängnis sperren darf, weil er, ohne jemand zu schaden, die einzige Arbeit verrichtet, die er überhaupt kann, um nicht vor Hunger zu sterben?

Welch ein unglückliches, elendes Geschöpf ist doch der Mensch, der mit seinem Bedürfnis nach positiven Lösungen in diesen ewig wogenden, uferlosen Ozean von Gut und Böse, von Tatsachen, Erwägungen und Widersprüchen hineingeworfen ist! Die Menschen mühen sich seit Jahrhunderten ab, um Gut und Böse voneinander zu scheiden. Die Jahrhunderte kommen und gehen, und was auch ein vorurteilsloser Geist auf die Wage von Gut und Böse werfen mag, die Wagschalen schwanken nie, und auf jeder Seite bleibt ebensoviel Gut wie Böse. Wenn der Mensch nur endlich gelernt hätte, nicht so scharf und entscheidend zu urteilen und zu denken, und nicht immer Antworten auf Fragen zu geben, die ihm nur darum gegeben sind, damit sie ewig Fragen bleiben! Wollte er doch begreifen, daß jeder Gedanke zugleich falsch und richtig ist! Er ist falsch, weil der Mensch einseitig ist und unmöglich die ganze Wahrheit in ihrer Gesamtheit erfassen kann; er ist richtig, weil durch ihn immer eine Seite des menschlichen Strebens ausgedrückt wird. Die Menschen haben sich in diesem ewig wogenden uferlosen, unendlich durcheinander gemischten Chaos von Gut und Böse Fächer geschaffen, haben in diesem Meer imaginäre Grenzlinien gezogen, und sie erwarten, daß das Meer sich nach diesen Linien teile. Als ob es nicht Millionen anderer Einteilungen von ganz andern Gesichtspunkten aus und in andern Ebenen gäbe! Allerdings werden solche neuen Einteilungen im Laufe von Jahrhunderten ausgearbeitet; es sind aber schon Millionen von Jahrhunderten vergangen und werden noch Millionen vergehen. Die Zivilisation ist das Gute, die Barbarei das Böse; die Freiheit ist das Gute, die Unfreiheit das Böse. Dieses imaginäre Wissen vernichtet in der menschlichen Natur das instinktive, selige, ursprüngliche Streben nach dem Guten. Wer kann definieren, was Freiheit, was Despotismus, was Zivilisation und was Barbarei ist? Wo sind die Grenzen zwischen diesen Begriffen? Wer hat in seiner Seele einen so unfehlbaren Maßstab für Gut und Böse, daß er mit ihm alle die flüchtigen und verworrenen Tatsachen zu messen vermöchte? Wessen Verstand ist so groß, daß er auch nur die Tatsachen der starren Vergangenheit umfassen und wägen könnte? Und wer hat schon je einen Zustand gesehen, wo Gut und Böse nicht miteinander vermengt wären? Und wenn ich mehr von dem einen als von dem anderen sehe, woher weiß ich denn, daß ich die Dinge vom richtigen Gesichtspunkte aus betrachte? Wer ist imstande, sich im Geiste, wenn auch nur für einen ganz kurzen Augenblick, so vollkommen vom Leben loszulösen, daß er es ganz objektiv von oben herab betrachten könnte? Wir haben nur einen unfehlbaren Führer: den Weltgeist, der uns alle und jeden einzelnen wie eine Einheit durchdringt, der einem jeden das Streben nach dem, was notwendig ist, eingegeben hat. Es ist der gleiche Geist, der dem Baume befiehlt, der Sonne entgegen zu wachsen, der der Blume befiehlt, im Herbste ihre Samen auszustreuen, und der uns befiehlt, sich unwillkürlich aneinander zu schmiegen.

Diese einzige unfehlbare, himmlische Stimme übertönt die lärmende und hastige Entwicklung der Zivilisation. Wer ist mehr Mensch, und wer mehr Barbar: jener Lord, der beim Anblick der schäbigen Kleidung des Sängers wütend vom Tische fortlief, der ihm für seine Mühe auch nicht den millionsten Teil seines Vermögens gab, und der jetzt in seinem bequemen, hellerleuchteten Zimmer ruhig über die Ereignisse in China spricht und die dort geschehenden Mordtaten gutheißt – oder der kleine Sänger, der in ständiger Gefahr, ins Gefängnis gesperrt zu werden, mit einem Franken in der Tasche seit zwanzig Jahren, ohne jemand zu schaden, Berge und Täler durchwandert, mit seinem Gesange Menschen erfreut, den man heute beleidigt und beinahe hinausgeworfen hat, und der nun müde, hungrig und beschämt irgendeiner Herberge mit faulendem Strohlager zustrebt?«

In diesem Augenblick vernahm ich von der Stadt her durch die Totenstille der Nacht aus weiter Ferne die Gitarre des kleinen Sängers und seine Stimme.

»Nein,« sagte ich mir unwillkürlich, »du hast nicht das Recht, ihn zu bemitleiden und den Lord wegen seines Wohlstandes anzuklagen. Wer hat das innere Glück abgewogen, das in der Seele eines jeden dieser Menschen ruht? Der Sänger sitzt jetzt wohl irgendwo auf einer schmutzigen Schwelle, blickt zum strahlenden Himmel empor und singt freudig in die stille, duftende Mondnacht hinaus; sein Herz kennt keine Anklage, keinen Groll, keine Reue. Und wer weiß, was jetzt in der Seele jener Menschen, die hinter den hohen, reichen Mauern wohnen, vorgeht? Wer weiß, ob in ihnen allen so viel sorglose, milde Lebensfreude und Lebensbejahung ist, als in der Seele des kleinen Männleins! Unendlich ist die Güte und die Weisheit dessen, der alle diese Widersprüche gestattet und befohlen hat. Nur dir, du elender Wurm, der du frech und verwegen seine Gesetze und seine Ratschläge zu durchdringen suchst, nur dir erscheinen sie als Widersprüche. Er schaut mild von seiner strahlenden unermeßlichen Höhe herab und freut sich der unendlichen Harmonie, in der ihr euch alle in ewigem Widerspruch bewegt. In deinem Stolze wolltest du dich von den Gesetzen der Allgemeinheit losreißen. Nein, auch du mit deinem kleinlichen, lächerlichen Zorn gegen die Lakaien, auch du hast im Einklang mit den Harmoniegesetzen des Ewigen und Unendlichen gehandelt! ...«


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