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Derselbe Schauplatz auf dem Lande, acht Tage später.
Die Bühne stellt einen großen Saal dar: Der Tisch ist gedeckt. Samowar, Tee und Kaffee. An der Wand ein Flügel, Notenständer. Am Tisch sitzen Maria Iwanowna, die Fürstin Tscheremschhanowna und Peter Semjonowitsch.
Marta Iwanowna. Peter Semjonowitsch und die Fürstin.
Semjonowitsch. Ja, Fürstin, es ist lange her, daß Sie die Rosine gesungen haben, und ich ... tauge nicht einmal mehr zum. Don Basilio ...
Fürstin. Jetzt könnten unsere Kinder singen. Leider haben die Zeiten sich geändert.
Semjonowitsch. Ja, man ist mehr für das Positive ... Ihre Tochter spielt übrigens sehr gut. Was treibt die Gesellschaft, schlafen sie wirklich noch?
Maria. Ja. Sind gestern bei Mondschein spazieren geritten und sehr spät heimgekehrt. Ich hörte sie, als ich den Kleinen nährte.
Semjonowitsch. Und wann wird meine glaubenstüchtige Gemahlin wieder hier sein? Habt ihr den Wagen geschickt?
Maria. Ja; sie ist schon früh fortgefahren. Muß bald zurück sein.
Fürstin. Ist sie wirklich nur hingefahren, um Pater Gerassim zu holen?
Maria. Ja. Gestern kam ihr der Gedanke, und sofort führte sie ihn aus.
Fürstin. Diese Energie. Ich bewundere sie. Semjonowitsch. O, damit sind wir reichlich versehen. (Nimmt eine Zigarre aus dem Etui). Ich werde ein wenig rauchen und mit den Hunden im Park spazieren gehen, bis die liebe Jugend aufsteht. (Er geht ab).
Fürstin: Maria Zwanowna.
Fürstin. Ich weiß nicht, liebe Maria Iwanowna, aber es kommt mir vor, als wenn Sie sich das alles zu sehr zu Herzen nehmen. Ich verstehe ihn recht gut. Er befindet sich in gehobener Stimmung. Was ist schließlich dabei, wenn er auch den Armen etwas zukommen läßt? Wir denken sowieso zu viel an uns.
Maria. Wenn es dabei sein Bewenden hätte; aber Sie kennen ihn nicht, wissen nicht alles. Das ist keine, Armenunterstützung mehr, sondern völlige Umwälzung, Vernichtung alles Bestehenden.
Fürstin. Ich möchte mich nicht in Ihr Familienleben mischen, wenn Sie aber gestatten ...
Maria. Bitte sehr. Ich rechne Sie zur Familie, besonders jetzt.
Fürstin. Dann möchte ich Ihnen raten, offen und ehrlich Ihre Forderungen auszusprechen und sich mit ihm zu einigen, bis zu welcher Grenze ...
Maria (erregt). Da gibt es keine Grenzen! Alles will er fortgeben! Verlangt, daß ich in meinen Jahren Köchin, Wäscherin werde.
Fürstin. Nicht möglich! Das ist allerdings erstaunlich!
Maria (zieht einen Brief aus der Tasche). Wir sind allein und ich freue mich, daß ich Ihnen alles sagen kann. Gestern hat er mir diesen Brief geschrieben. Ich will ihn Ihnen vorlesen.
Fürstin. Was? Er lebt mit Ihnen unter einem Dach und schreibt Ihnen Briefe? Sonderbar.
Maria. Nein, das verstehe ich schon. Er regt sich beim Reden immer so sehr auf. Ich fürchte nächstens für seine Gesundheit.
Fürstin. Was schreibt er denn?
Maria. Also: Liest. »Du machst mir den Vorwurf, ich zerstörte unser früheres Leben, setzte aber nichts Neues an die Stelle, und sagte nicht, wie ich mit der Familie zurecht kommen wollte. Wenn wir das mündlich erörtern, regen wir uns zu sehr auf deswegen schreibe ich dir. Warum ich nicht so weiterleben kann, wie bisher, habe ich schon oft gesagt; dich überzeugen, daß man so nicht leben darf, sondern christlich leben muß vermag ich brieflich nicht. Dir steht eins von beiden frei: entweder glaubst du der Wahrheit und gehst aus freien Stücken mit mir, oder du vertraust mir und folgst mir nach.« (Sie unterbricht die Lektüre). Ich kann weder das eine noch das andere. Ich glaube nicht an die Notwendigkeit: so zu leben, wie er will; die Kinder tun mir leid, ich kann ihm hierin nicht vertrauen. (Sie liest weiter). »Mein Plan ist folgender: Wir geben all unser Land den Bauern und behalten nur fünfzig Morgen, den Garten, das Gemüseland und die Kieselwiesen. Dann wollen wir sehen, daß wir das Land selbst bestellen, ohne uns oder den Kindern Zwang anzutun. Das Land, das wir behalten, kann uns immerhin fünfhundert Rubel abwerfen.«
Fürstin. Eine Familie mit sieben Kindern soll von fünfhundert Rubeln leben? Das ist unmöglich.
Maria. Dann folgt hier der ganze Plan. Das Haus soll als Schule dienen, wir selbst wohnen im Gärtnerhäuschen in zwei Zimmern.
Fürstin. Ich glaube nachgerade wirklich, das die Sache krankhaft ist. Was haben Sie ihm erwidert?
Maria. Ich sagte, ich brächte das nicht fertig. Allein würde ich ihm überallhin folgen, aber mit den Kindern ... Bedenken Sie doch nur: der Kleine bekommt ja noch die Brust. Ich sagte ihm: ich kann doch nicht alles so hinwerfen. Habe ich denn dazu geheiratet? Ich bin schwach und alt. Neun Kinder gebären und aufziehen ist doch keine Kleinigkeit.
Fürstin. Ich hätte nie geglaubt, daß die Sache schon so weit gekommen ist.
Maria. So liegen die Dinge. Ich weiß nicht, was nun wird. Gestern hat er den Bauern aus Dimitrowka den Pachtzins erlassen und will ihnen das Land ganz und gar Übergeben.
Fürstin. Meiner Meinung nach dürfen Sie das nicht zulassen. Sie haben die Pflicht, Ihre Kinder sicherzustellen. Wenn er sein Besitztum nicht mehr verwalten kann, soll er es Ihnen abtreten.
Maria. Das will ich nicht.
Fürstin. Sie sind es den Kindern schuldig. Die Besitzung kann ja auf Ihren Namen eingetragen werden.
Maria. Das hat meine Schwester Sascha ihm schon gesagt. Er erwiderte darauf, er hätte kein Recht dazu; das Land gehöre denen, die es bearbeiteten; er sei verpflichtet, es den Bauern abzutreten.
Fürstin. Ja, jetzt begreife ich, daß die Sache weit ernster ist, als ich glaubte.
Maria. Und der Priester, der Priester ist auf seiner Seite!
Fürstin. Ja, das habe ich gestern bemerkt.
Maria. Deshalb ist auch meine Schwester nach Moskau gefahren, um mit dem Notar zu sprechen und hauptsächlich, um Pater Gerassim mitzubringen, der ihn überzeugen soll.
Fürstin. Ja, ich denke auch, das Christentum besteht nicht darin, seine Familie ins Unglück zu stürzen.
Maria. Leider glaubt er auch dem Pater nicht. Er ist so bestimmt in allem, und wenn er spricht, kann ich ihm nichts erwidern. Das ist ja das Schreckliche, daß es mir stets vorkommt, als hätte er recht.
Fürstin. Das kommt daher, daß Sie ihn lieben.
Maria. Ich weiß nicht, woher es kommt; jedenfalls ist es schrecklich. Auf diese Weise bleibt alles unentschieden. Das soll nun Christentum sein.
Wärterin (ritt ein).
Die Vorigen. Wärterin.
Wärterin. Bitte, gnädige Frau. Der Kleine ist aufgewacht und schreit.
Maria. Sofort; ich bin so unruhig, und der Kleine hat Leibschmerzen. Ich komme schon.
Nikolai (ritt mit einem Schreiben in der Hand zur andern Tür ein).
Marta Iwanowna. Die Fürstin. Nikolai Iwanowitsch.
Nikolai. Nein, das darf nicht sein, das ist unmöglich!
Maria. Was denn?
Nikolai. Daß wegen dieser einen Tanne Peter ins Gefängnis kommt.
Maria. Wieso?
Nikolai. Ganz einfach. Er hat sie gefällt, wurde deswegen angeklagt und jetzt vom Friedensrichter zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Seine Frau ist da.
Maria. Nun, was ist denn dabei unmöglich?
Nikolai. Nein, es darf nicht sein! Eins kann ich: keinen Wald besitzen. Und das werde ich. Aber was weiter? Ich werde zu ihm gehen und sehen, ob ich nicht helfen kann bei dem Unglück, das wir verursacht haben. (Er geht zur Veranda und stößt auf Boris und Ljuba).
Die Vorigen, Boris und Ljuba.
Ljuba. Guten Morgen, Papa. (Sie küßt ihn). Wohin willst du?
Nikolai. Ins Dorf, wo ich war. Da wird ein hungriger Mensch ins Gefängnis geschleppt, weil er ...
Ljuba. Wirklich – Peter?
Nikolai. Ja, Peter. (Er geht ab).
Maria (folgt ihm).
Die Vorigen ohne Nikolai Iwanowitsch und Maria Iwanowna.
Boris. Ich verstehe ihn nicht. Ich weiß, daß das Volk arm, unwissend ist, daß man ihm helfen muß; aber nicht in der Art, daß man Diebe ermutigt.
Ljuba. Wodurch denn?
Boris. Durch unsere ganze Tätigkeit. Unser ganzes Wissen, alle Kenntnisse muß man in den Dienst des Volkes stellen – sein Leben darf man aber nicht hingeben.
Ljuba. Papa sagt, gerade das sei notwendig.
Boris. Das verstehe ich nicht. Man kann dem Volk dienen, ohne sein Leben zugrunde zu richten. So will ich meine Zukunft einrichten. Wenn du nur deinerseits ...
Ljuba. Ich will, was du willst. Ich fürchte mich nicht.
Boris. Und diese Ohrringe, das Kleid?
Ljuba. Die Ohrringe kann man verkaufen, das Kleid ist nicht viel wert. Trotzdem braucht man ja nicht als Vogelscheuche herumzulaufen.
Boris. Ich möchte noch mit deinem Vater sprechen. Was meinst du, bin ich ihm im Wege, wenn ich ihn im Dorf aufsuche?
Ljuba. Durchaus nicht. Ich sehe, daß er dich gern hat. Gestern wandte er sich meistens an dich.
Boris (leert seine Kaffeetasse). Also ich gehe.
Ljuba. Ja, geh nur. Ich werde Lisa und Tonja wecken.
Beide (gehen ab).
Verwandlung.
Dorfstraße. Vor feiner Hütte liegt, mit dem Schafpelz bedeckt, Iwan Sjabrem.
Iwan allein.
Iwan (ruft). Malaschka!
(Hinter der Hütte kommt ein schmächtiges, kleines Mädchen mit einem Kleinen auf dem Arm zum Vorschein. Der Kleine schreit).
Iwan. Wasser. Trinken
Malaschka. (geht in die Hütte – dort hört man das Kind lauter schreien. Sie kommt mit einem Krug voll Wasser).
Iwan. Weshalb haust du den Kleinen immer, daß er schreit. Ich sag's der Mutter.
Malaschka. Das tu nur. Er schreit, weil er hungrig ist.
Iwan (trink). Solltest bei Demkins um etwas Milch bitten.
Malaschka. Da bin ich gewesen. Die haben nichts. Da ist auch niemand zu Hause.
Iwan. Ach, wenn doch der Tod käme. Hat's zu Mittag geläutet?
Malaschka. Schon vor ein paar Stunden. Da kommt der gnädige Herr.
Nikolai Iwanowitsch (tritt auf).
Die Vorigen und Nikolai Iwanowitsch.
Nikolai. Na? Du bist hier draußen?
Iwan. Ja, wegen der Fliegen. Und dann die Hitze.
Nikolai. Ist dir jetzt warm?
Iwan. Brennt alles wie Feuer.
Nikolai. Wo ist denn Peter? zu Hause?
Iwan. Ach wo, bei solchem Wetter. Auf dem Felde ist er, um einzufahren.
Nikolai. Und da sagt man mir, er solle ins Gefängnis!
Iwan. Das stimmt; der Polizist will ihn gerade vom Felde holen.
(Ein schwangeres Weib kommt mit einer Hafergarbe und Harke und schlägt Malaschka sofort in den Nacken).
Die Vorigen und das Weib.
Weib. Weshalb läßt du den Kleinen allein! Hörst doch, wie er brüllt. Immer nur auf der Straße herumlungern!
Malaschka (heult). Ich bin gerade herausgekommen. Vater wollte trinken.
Weib. Ich werd! dich kriegen! (Sie sieht den Herrn). Ah, grüß Gott, Väterchen Nikolai Iwanowitsch. Ist das ein Leiden hier! Alles muß ich allein besorgen; hab' schon keine Kraft mehr. Und da wirft man den lebten, der noch arbeitet, ins Gefängnis. Der Taugenichts aber räkelt sich da herum.
Nikolai. Was redest du! Er ist doch krank, Weib. Schön krank! Bin ich nicht krank? Wenn's an die Arbeit geht, ist man krank. Aber faulenzen und mir die Zöpfe ausreißen – das kann er. Soll er doch verrecken wie ein Hund; was schert's mich! :
Nikolai. Das ist Sünde! Fühlst du das nicht?
Weib. Ich weiß, daß es Sünde ist, kann aber mein Herz nicht zwingen. Trag? ein Kind im Leib und arbeite für zwei. Die andern Bauern haben abgeerntet; bei uns sind zwei Viertelmorgen noch nicht gemäht. Ich müßte Garben binden, kann aber nicht. Bin zu Hause nötig, muß nach den Kindern sehen.
Nikolai. Den Hafer will ich messen lassen durch Arbeiter, binden auch.
Weib. Das Binden ist nicht schlimm – das besorge ich selbst; wenn nur erst gemäht ist. Was glauben Nikolai Iwanowitsch, muß er wohl sterben? Geht ihm doch sehr schlecht.
Nikolai. Ich weiß nicht. Gewiß steht es schlecht mit ihm. Ich denke, man bringt ihn ins Krankenhaus.
Weib. Ach Herrgott! (Sie beginnt laut zu weinen). Bring ihn nicht fort, laß ihn hier sterben. (Zu ihrem Manne). Was sagst du?
Iwan. Ins Krankenhaus will ich. Hier hab' ich's schlimmer als ein Hund.
Weib. Nun weiß ich schon gar nichts mehr. Hab' den Verstand verloren. Malaschka, mach das Mittagessen zurecht.
Nikolai. Was habt ihr denn zu essen?
Weib. Was wird's sein? Kartoffel und Brot. Und auch das reicht nicht. (Sie geht in die Hütte. Man hört ein Schwein quieken und das Kind schreien).
Die Vorigen ohne das Weib.
Iwan (stöhnt). Ach Gott, könnte ich doch sterben.
Boris (kommt).
Die Vorigen und Boris.
Boris. Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?
Nikolai. Nützlich sein? Kaum. Das Leiden sitzt zu tief. Nützlich sein können Sie nur sich selbst, indem Sie erkennen, worauf wir unser Glück begründen. Da ist eine Familie, fünf Kinder, die Frau schwanger, der Mann krank, nichts zu essen als Kartoffel. Jetzt entscheidet sich die Frage, ob man im nächsten Jahre satt wird oder nicht. Helfen kann man nicht. Womit auch? Ich besorge ihr einen Arbeiter. Wer ist aber dieser Arbeiter? Eben solch armer Teufel, dessen Wirtschaft durch Trunkenheit, Not zugrunde gegangen ist.
Boris. Verzeihung, was tun Sie denn aber hier?
Nikolai. Ich lerne meine Lage kennen, erfahre, wer unsern Garten besorgt, unser Haus baut, uns kleidet und ernährt.
Bauern mit Sensen, Weiber mit Rechen (kommen und verbeugen sich).
Die Vorigen. Bauern und Bäuerinnen.
Nikolai (hält einen an). Zermil, willst du ihnen nicht gegen Lohn den Hafer mähen?
Zermil (den Kopf schüttelnd). Ich tät's von Herzen gern, kann aber unmöglich abkommen, hab' das eigene noch nicht eingefahren. Gerade wollen wir daran. Wie steht's hier? wird der Iwan sterben?
Ein anderer Bauer. Ob Onkel Sebastian es übernehmen wird? He, Sebastian! Da wird ein Mäher gesucht!
Sebastian. Vermiet du dich doch. Heute schafft's fürs ganze Jahr.
Die Bauern (gehen weiter).
Die Vorigen ohne Bauern und Weiber.
Nikolai. Lauter halb verhungerte, kranke, oft schon alte Leute, die allein von Brot und Wasser leben. Der Greis da hat einen Bruch, der ihm viel Schmerzen macht; dabei arbeitet er von vier Uhr früh bis zehn Uhr abends und lebt kaum noch. Wir dagegen? Wie kann unsereins, der das versteht, ruhig weiterleben und sich für einen Christen halten? Was sage ich: Christen? Wilde Tiere handeln so!
Boris. Was soll man denn tun?
Nikolai. An dem Bösen nicht teilnehmen; kein Land besitzen, nicht die Frucht ihrer Arbeit verzehren. Wie das einzurichten ist, weiß ich nicht. Hier handelt es sich darum… wenigstens war das mit mir der Fall. Ich habe gelebt, ohne zu wissen, wie; ohne zu begreifen, daß ich Gottes Sohn, wie wir alle Gottes Söhne und Brüder sind. Als ich das aber begriff, daß wir alle gleiches Recht auf das Leben haben, wurde mein Leben ein ganz anderes. Doch das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären. Nur das eine will ich sagen, daß ich früher blind war, wie die Meinigen zu Hause es noch sind. Jetzt aber bin ich sehend geworden und kann nicht anders, ich muß sehen. Und weil ich sehe, kann ich nicht so weiterleben. Übrigens davon später. Jetzt ich tun, was ich kann.
Der Dorfpolizist, Peter, sein Weib und kleiner Knabe (kommen).
Die Vorigen. Der Polizist. Peter, sein Weib und sein Sohn.
Peter (fällt Nikolai Iwanowitsch zu Füßen). Verzeih mir, um Christi willen, ich gehe zugrunde! Was wird aus meinem Weibe! Könnte ich wenigstens gegen Bürgschaft freikommen.
Nikolai (zum Polizisten). Ich fahre zum Gericht und mache die Eingabe. Kannst du ihn jetzt nicht freilassen?
Polizist. Wir haben Befehl, ihn aufs Amt zu bringen.
Nikolai. Also dann geh mit, ich besorge Hilfe und tue, was ich kann. Das bin ich selbst. Wie kann man nur so leben. (Er geht ab).
Verwandlung.
Wieder auf dem Gut. Draußen Regen. Gastzimmer mit Flügel. Tonja hat eine Sonate von Schuhmann gespielt und sitzt noch am Flügel. Daneben steht Stefan.
Boris sitzt. Ljuba, Lisa, Mitrofan Jermilytsch, der Priester – alle sind vom Spiel ergriffen.
Tonja, Stefan. Boris. Ljuba. Lisa, Mitrofan. Priester. Bauern von außen.
Ljuba. Wie entzückend, das Andante.
Stefan. Nein, das Scherzo. Alles wundervoll.
Lisa. Sehr schön.
Stefan. Ich hätte Sie nie für solche Künstlerin gehalten.
Das ist wirklich meisterhaftes Spiel. Technische Schwierigkeiten existieren für Sie nicht; Sie denken nur an den Gefühlsinhalt und drücken alles wunderbar zart aus.
Ljuba. Und vornehm. Tonja, Ich fühle aber, daß es nicht so ist, wie ich möchte ... Mir fehlt noch vieles.
Lisa. Wie das möglich? Ich finde alles wunderbar Schuhmann ist schön, aber Chopin greift doch mehr ans Herz
Stefan. Er ist lyrischer.
Tonja. Man kann die beiden nicht vergleichen
Ljuba. Kennst du sein Prelude?
Sonja. Das sogenannte George Sand-Prelude? (Sie spielt den Anfang).
Ljuba. Nein, das nicht. Es ist schön, wird aber reichlich viel gespielt. Nun, spiel nur, bitte.
Tonja (spielt, soweit sie kann, bricht dann aber plötzlich ab).
Tonja. Ach, das – das ist herrlich. Es hat etwas so Elementares, Verweltliches.
Stefan (lacht). Ja, ja. Nun, spielen Sie, bitte. Aber Sie sind müde. Also haben wir wenigstens einen herrlichen Morgen verbracht – dank Ihnen. Sonja (steht auf und schaut zum Fenster hinaus). Wieder die Launen
Ljuba. Was die Musik alles vermag! Ich verstehe König Saul. Mich »quält kein böser Geist, aber ich begreife ihn. Keine Kunst läßt so alles vergessen, wie die Musik. (Sie tritt zum Fenster). Was wollt ihr?
Bauern, Wir haben Nikolai Iwanowitsch gebeten.
Ljuba. Er ist nicht hier. Wartet etwas.
Tonja. Und dabei heiratest du einen Menschen, der nichts von Musik versteht.
Ljuba. Das ist nicht möglich.
Boris (zerstreut). Musik … – Nein, ich liebe sie, oder besser, ich bin ihr nicht feind. Ziehe aber etwas Einfacheres vor, zum Beispiel ein schlichtes Lied.
Tonja. Wieso? Ist denn diese Sonate nicht reizend?
Boris. Sie scheint mir nicht wichtig. Ich beneide die Leute, die solchen Dingen Wichtigkeit beimessen. (Auf dem Tische stehen Süßigkeiten).
Alle (essen davon).
Lisa. Das finde ich nett: ein Bräutigam und dann diese Süßigkeiten ...
Boris. Daran bin ich unschuldig. Das hat Mama besorgt.
Tonja, Ich finde es sehr nett.
Ljuba. Musik ist dadurch wertvoll, daß sie ergreift, erhebt und die Wirklichkeit vergessen macht. Wie düster war vorhin alles – nun hast du gespielt, und plötzlich ist es ringsum Licht geworden. Wirklich Licht geworden.
Lisa. Die Chopinschen Walzer sind etwas abgeleiert und dennoch .
Tonja. Dieser zum Beispiel ... (Sie spielt).
Nikolai Iwanowitsch (tritt ein und begrüßt alle Anwesenden einzeln).
Die Vorigen. Nikolai Jwanowitsch.
Nikolai. Wo ist Mama?
Ljuba. Ich glaube im Kinderzimmer.
Stefan (ruft einen Diener).
Ljuba. Papa, wie wundervoll Tonja spielt. Wo warst du denn?
Nikolai. Ich war im Dorf.
Der Diener (tritt ein).
Die Vorigen. Der Diener.
Stefan. Bring noch einen Samowar.
Nikolai (begrüßt wieder den Diener mit Händedruck). Guten Tag!
Der Diener (geht verlegen ab).
Nikolai (geht ab).
Die Vorigen ohne Diener und Nikolai Jwanowitsch.
Stefan. Der unglückliche Bursche! Wie verlegen er war. Ich verstehe das nicht! Als ob wir an etwas schuld wären.
Nikolai Iwanowitsch (kehrt ins Zimmer zurück).
Die Vorigen. Nikolai Iwanowitsch.
Nikolai, Ich wäre fast in mein Zimmer gegangen, ohne euch mitzuteilen, was ich empfinde. Und das halte ich nicht für gut. (Zu Tonja). Wenn Sie, als Gast, durch meine Worte verletzt werden, so verzeihen Sie mir aber ich kann nicht anders. Du, Ljuba, sagst, die Fürstin spiele wunderschön. Ihr sitzt hier mit sieben, acht gesunden jungen Leuten, habt bis zehn Uhr geschlafen, gegessen, getrunken, eßt noch jetzt, macht Musik und unterhaltet euch darüber. Dort aber, wo ich jetzt herkomme, sind die Menschen um drei Uhr aufgestanden – einige haben draußen beim Vieh die ganze Nacht nicht geschlafen – und nun sind alte, kranke, schwache Leute, Kinder, Frauen mit Säuglingen und schwangere Frauen ununterbrochen bei der schwersten, ihre Kräfte übersteigenden Arbeit, damit wir hier die Früchte ihres Schaffens verzehren. Ja, noch mehr: soeben wird einer von ihnen, der beste, einzige Arbeiter der Familie, ins Gefängnis geschleppt, weil er im Frühjahr in »meinem« Walde – das heißt angeblich meinem – eine der dort wachsenden hunderttausend Tannen gefällt hat. Wir aber sitzen hier sauber gewaschen und gekleidet, indem wir den Dienstboten das Reinigen des Nachtgeschirrs im Schlafzimmer überlassen, essen, trinken und unterhalten uns geistreich darüber, ob Schumann oder Chopin uns mehr ergreift und besser unsere Langeweile vertreibt. Diese Gedanken kamen mir, als ich an euch vorüberging, und deswegen habe ich sie euch gesagt. Denkt einmal nach, ob man solches Leben führen kann! (Er bleibt in heftiger Erregung stehen).
Lisa. Das ist wahr, wirklich wahr.
Ljuba, Wenn man sich solche Gedanken macht, kann man nicht leben.
Stefan. Weshalb? Ich sehe nicht ein, warum man nicht über Schumann sprechen soll, wenn das Volk arm ist. Eins schließt das andere nicht aus. Wenn die Leute ...
Nikolai (zornig). Wenn man kein Herz hat, wenn man sich so hölzern ...
Stefan. Schon gut, ich schweige schon.
Tonja. Eine schreckliche Frage, die Frage unserer Zeit. Man darf sich aber nicht vor ihr fürchten, muß der Wirklichkeit mutig ins Auge sehen, um die Frage zu lösen.
Nikolai. Auf Maßregeln der Gemeinde darf man nicht warten. Jeder von uns kann heute, morgen sterben. Wie soll man mit solchem Zwiespalt im Innern weiter leben?
Boris. Es gibt nur ein Mittel: an solchem Leben nicht teilnehmen.
Nikolai. Also verzeiht, wenn ich euch wehgetan. Aber ich mußte meine Empfindungen einmal aussprechen. (Er geht ab).
Die Vorigen ohne Nikolai Iwanowitsch.
Stefan. Was heißt das: nicht teilnehmen? Unser ganzes Dasein ist ja aufs engste damit verknüpft.
Boris. Eben deswegen sagt er ja: man darf vor allen Dingen kein Eigentum haben, muß sein ganzes Leben ändern; es nicht so einrichten, daß andere uns dienen, sondern daß wir anderen dienen.
Tonja. Du bist ja schon ganz auf seiner Seite!
Boris. Ja, ich habe ihn zum erstenmal richtig verstanden. Und dann das, was ich im Dorfe sah. Man braucht nur, die Brille abzunehmen, durch die wir das Leben des Volkes betrachten, und den Zusammenhang zwischen ihren Leiden und unsern Freuden wahrzunehmen, so wird alles entschieden.
Mitrofan. Gewiß, aber das Mittel dazu besteht nicht darin, sein Leben zu ruinieren.
Stefan. Wunderbar, Mitrofan Jermilytsch und ich nehmen einen ganz verschiedenen Standpunkt ein und treffen in diesem Punkt doch zusammen: sein Leben darf man nicht ruinieren, das sind meine Worte.
Boris, Sehr begreiflich. Ihr beide wollt ein angenehmes Leben führen und trachtet daher nach Zuständen, die euch diese Annehmlichkeiten garantieren. Sie (zu Stefan) möchten die jetzige Ordnung der Dinge beibehalten, während Mitrofan Jermilytsch eine neue herbeizuführen wünscht.
Ljuba (flüstert Tonja etwas zu).
Tonja (geht zum Flügel und spielt ein Notturno von Chopin).
Alle (verstummen).
Stefan. Das ist schön. Das löst alle Fragen.
Boris. Verdunkelt alles und schiebt die Entscheidung hinaus. Maria Iwanowna und die Fürstin (sind während des Spiels leise eingetreten, haben Platz genommen und hören zu).
(Vor dem Ende des Notturnos ertönt Schellenläuten).
Die Vorigen. Maria Iwanowna und die Fürstin.
Ljuba. Da kommt Tante zurück. (Sie geht ihr entgegen).
Tonja (spielt weiter).
Alexandra Iwanowna, Pater Gerassim, ein Priester mit dem Brustkreuz, und der Notar (treten ein).
Alle (erheben sich).
Die Vorigen. Alexandra Iwanowna, Pater Gerassim und der Notar.
Pater Gerassim. Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Ich höre gern zu. Die Fürstin und der Priester (bitten um seinen Segen).
Alexandra. Was ich, mir vorgenommen, habe ich auch ausgeführt. Pater Gerassim wollte gerade nach Kursk, aber ich habe ihn beredet, mitzukommen. Und der Notar ist auch da. Alle Papiere sind fertig, es fehlt nur die Unterschrift.
Maria. Wollen die Herrschaften nicht etwas frühstücken?
Der Notar (legt die Papiere auf den Tisch und geht ab).
Die Vorigen ohne Notar.
Maria. Ich bin Pater Gerassim sehr dankbar ...
Pater Gerassim. O bitte. Der Besuch liegt zwar nicht auf meinem Reisewege, trotzdem hielt ich es für meine Christenpflicht, zu kommen.
(Alexandra Iwanowna flüstert der Jugend etwas zu. Die jungen Leute besprechen sich miteinander und gehen dann, außer Boris, sämtlich auf die Veranda. Der Priester will ebenfalls gehen).
Maria Zwanowna. Alexandra Zwanowna. Die Fürstin Pater Gerassim. Der Priester. Boris.
Pater Gerassim, Was ist denn? Bleiben Sie doch! Als Seelenhirt und Beichtvater können Sie hier sich und anderen nützen. Also bleiben Sie nur, wenn Maria Iwanowna nichts dagegen hat.
Maria. Durchaus nicht; ich habe Pater. Wassili gern und rechne ihn zur Familie. Habe mich auch oft mit ihm beraten leider besitzt er, infolge seiner Jugend, zu wenig Autorität.
Pater Gerassim. Gewiß, natürlich.
Alexandra (näher tretend). Sie sehen also, Pater Gerassim, wie die Dinge hier liegen. Sie allein können helfen und ihn zur Vernunft bringen. Er ist sonst so klug und gelehrt; aber Sie wissen, daß Gelehrsamkeit oft nur Schaden anrichtet. Ganz allmählich hat sich bei ihm eine Art geistiger Trübung entwickelt. Er behauptet, dem Christentum zufolge dürfe man kein Eigentum besitzen. Kann das sein?
Pater Gerassim. Willkür, Überhebung, Lug und Trug! Die Kirchenväter haben die Frage längst entschieden. Aber wie hat es nur so weit kommen können?
Maria. Wenn ich Ihnen alles erzählen soll, so war er zunächst, als wir heirateten, völlig gleichgültig gegen jede Religion. So lebten wir in bestem Einvernehmen die ersten zwanzig Jahre. Dann begann er zu grübeln. Vielleicht beeinflußte seine Schwester ihn, oder die Lektüre jedenfalls grübelte er viel, las das Evangelium und wurde dann plötzlich sehr religiös, ging in die Kirche und suchte Mönche auf. Dann warf er das alles plötzlich beiseite, änderte seine ganze Lebensweise, verrichtete alle Arbeit, ließ sich nicht mehr bedienen und beginnt jetzt sogar sein Hab und Gut zu verteilen. Gestern hat er ein großes Stück Wald verschenkt. Ich habe Angst wegen der sieben Kinder. Sprechen Sie mit ihm. Ich werde ihn fragen, ob er Sie sehen will. (Sie geht ab).
Die Vorigen ohne Maria Iwanowna.
Pater Gerassim. Groß ist heutzutage die Zahl der Abtrünnigen! Gehört die Besitzung ihm oder der Frau?
Fürstin. Ihm. Das ist ja das Leiden.
Pater Gerassim. Und welchen Rang bekleidet er?
Fürstin. Keinen sehr hohen. Rittmeister, glaube ich. Er war Militär.
Pater Gerassim. So fallen viele von der Kirche ab. In Odessa verschrieb sich eine Dame dem Spiritismus und richtete viel Unheil an. Trotzdem hat Gott der Herr sie in den Schoß der heiligen Kirche zurückgeführt.
Fürstin. Sie werden verstehen, um was es sich handelt. Mein Sohn heiratet die eine Tochter. Ich habe meine Einwilligung gegeben. Aber das Mädchen ist an Luxus gewöhnt und muß versorgt werden. Meinem Sohn kann ich diese Last nicht zumuten, obgleich er sehr arbeitsam ist und viel verspricht.
Maria Iwanowna und Nikolai Iwanowitsch (treten ein).
Die Vorigen. Maria Iwanowna und Nikolai Jwanowitsch. Später Stefan, Ljuba, Lisa, Tonja und Diener.
Nikolai. Guten Tag, Fürstin. Guten Tag ... Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Name?
Pater Gerassim. Meinen Segen wünschen Sie nicht?
Nikolai. Nein.
Pater Gerassim. Gerassim Fedorowitsch. Sehr angenehm.
Ein Diener (bringt Frühstück und Wein).
Pater Gerassim. Angenehme Witterung. Für die Ernte sehr günstig.
Nikolai. Ich nehme an, Sie sind auf Veranlassung meiner Schwägerin in der Absicht gekommen, mich von meinen Verirrungen zu befreien und mich wieder auf den wahren Weg des Heils zurückzuführen. Wenn das der Fall ist, wollen wir nicht wie die Katze um den beißen Brei herumgehen, sondern uns sofort ans Werk machen. Ich leugne nicht, daß im mit der Kirchenlehre nicht übereinstimme. Es war einmal der Fall: später wurde ich anderer Meinung. Doch wünsche ich von ganzer Seele die Wahrheit kennen zu lernen und nehme sie sofort an, wenn Sie sie mir zeigen.
Pater Gerassim. Wie können Sie sagen, daß Sie der Kirchenlehre nicht glauben? Woran glauben Sie, wenn nicht an die Kirche?
Nikolai. Ich glaube an Gott und sein Gebot, das uns im Evangelium gegeben ist.
Pater Gerassim, Das lehrt auch die Kirche.
Nikolai. Wenn sie es täte, würde ich ihr glauben; sie lehrt aber gerade das Gegenteil.
Pater Gerassim. Sie kann nicht das Gegenteil lehren, weil sie von dem Herrn selbst bestätigt ist. Es heißt: »Euch ist die Macht gegeben ... und auf diesen Felsen will ich meine Gemeine bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.«
Nikolai. Das hat damit nicht das geringste zu tun. Aber selbst zugegeben, daß Christus eine Kirche gegründet hat woher weiß ich denn, daß diese Kirche gerade Ihre ist?
Pater Gerassim. Weil es heißt: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«
Nikolai. Auch das hat hierauf gar keine Beziehung und beweist nicht das geringste.
Pater Gerassim. Wie kann man nur so die Kirche verwerfen, die doch allein alle Gnadenmittel besitzt.
Nikolai. Ich habe sie erst verworfen, als ich mich überzeugt hatte, daß sie alle möglichen Einrichtungen unterstützt, die dem Christentum direkt zuwiderlaufen.
Pater Gerassim. Die Kirche kann nicht irren, weil in ihr
allein die Wahrheit ist. Im Irrtum wandeln die Abtrünnigen; die Kirche aber ist heilig.
Nikolai. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich das nicht anerkenne. Ich erkenne es deswegen nicht an, weil ich – wie es im Evangelium heißt: »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,« weil ich erkannt habe, daß die Kirche den Eid, Morde und Hinrichtungen segnet.
Pater Gerassim. Die Kirche erkennt die von Gott selbst eingesetzte Obrigkeit an und segnet sie. Stefan, Ljuba, Lisa und Tonja (treten im Verlauf des Disputs nach und nach ein, setzen sich oder bleiben stehen und hören zu).
Nikolai. Ich weiß, daß es im Evangelium heißt, nicht nur: du sollst nicht töten, sondern: du sollst nicht zürnen. Die Kirche aber erteilt ganzen Armeen den Segen. Im Evangelium heißt es: du sollst nicht schwören; die Kirche läßt den Eid zu. Im Evangelium heißt es ...
Pater Gerassim. Erlauben Sie, als Pilatus sagte: »Ich beschwöre dich beim lebendigen Gotte ...« erkannte Christus den Eid an, indem er antwortete: »Ich bin es.«
Nikolai . Ach, was reden Sie da! Das ist doch einfach lächerlich.
Pater Gerassim. Deswegen erlaubt die Kirche nicht jedem einzelnen, das Evangelium auszulegen, damit er nicht in Irrtum verfällt, sondern sie sorgt für ihn, wie eine Mutter für ihr Kind, und gibt jedem die Auslegung, die für ihn paßt. Nein, lassen Sie mich zu Ende reden. Die Kirche bürdet ihren Anhängern keine unerträglichen Lasten auf, sondern verlangt nur die Erfüllung der Gebote: Liebe deinen Nächsten, du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen.
Nikolai. Jawohl: du sollst mich nicht töten, mir nicht stehlen, was ich selbst gestohlen habe. Wir alle haben das Volk bestohlen, haben ihm den Grund und Boden genommen und erlassen hinterher Gebote: Du sollst nicht stehlen. Die Kirche aber gibt allem ihren Segen.
Pater Gerassim. Arglist, Hochmut spricht aus Ihnen. Ihren Stolz müssen Sie bezwingen.
Nikolai. Durchaus nicht. Ich frage Sie, wie ich nach christlichem Gebote handeln muß. Ich habe meine Sünde erkannt, die darin liegt, daß ich das Volk des Grundes und Bodens beraube und dadurch in Knechtschaft halte. Was soll ich jetzt tun? Noch weiter Land besitzen und die Dienstleistungen hungriger Menschen für solche Dinge benutzen? (Er deutet auf den Diener, der das Frühstück und den Wein hereingebracht hat). Oder soll ich das Land denen zurückgeben, denen meine Vorfahren es geraubt haben?
Pater Gerassim. Sie müssen handeln, wie es einem Sohn der Kirche geziemt. Sie haben eine Familie und Kinder, für die Sie sorgen, die Sie standesgemäß erziehen lassen müssen.
Nikolai. Warum?
Pater Gerassim. Weil Gott Sie in diese Lage versetzt hat. Wenn Sie Wohltätigkeit üben wollen, tun Sie es, indem Sie einen Teil Ihrer Habe den Armen geben und sie durch Zuspruch trösten.
Nikolai. Dem reichen Jüngling wurde doch aber gesagt, ein Reicher könne nicht ins Himmelreich kommen.
Pater Gerassim. Mit dem Zusatz: Wenn du vollkommen sein willst.
Nikolai. Ich möchte eben vollkommen sein. Es heißt im Evangelium: Seid vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Pater Gerassim. Man muß aber auch wissen, worauf sich solche Worte beziehen.
Nikolai. Ich bemühe mich darum. Alles, was in der Bergpredigt steht, ist durchaus einfach und verständlich.
Pater Gerassim. Das sagt Ihr Hochmut.
Nikolai. Wieso Hochmut? Heißt es doch: Was den Weisen verborgen ist, wird den Unmündigen offenbar.
Pater Gerassim. Den Sanftmütigen, von Herzen Demütigen, aber nicht den Hochmütigen.
Nikolai. Wer ist denn hier hochmütig? Ich, der ich mich für genau solchen Menschen halte wie alle anderen, und der deswegen genau wie alle anderen von seiner Hände Arbeit in ebensolcher Not wie die Brüder leben will oder diejenigen, die sich als besondere Wesen, als Heilige betrachten, die im alleinigen Besitz der Wahrheit sich nicht irren können und die Worte Christi nach ihrer Art auslegen?
Pater Gerassim (gekränkt). Verzeihen Sie, Nikolai Iwanowitsch, ich hin nicht hergekommen, um mit Ihnen darüber zu streiten, wer von uns beiden recht hat, und auch nicht, um Belehrungen entgegenzunehmen, sondern ich bin auf Bitten Alexandra Iwanownas gekommen, um mit Ihnen über verschiedene Dinge Rücksprache zu nehmen. Sie wissen aber alles besser, deßwegen schließe ich lieber die Unterredung. Nur möchte ich Sie zu guter letzt im Namen Gottes noch einmal bitten: kommen Sie zur Besinnung; Sie sind in schrecklichem Irrtum befangen und richten sich zugrunde. (Er erhebt sich).
Maria. Wollen Sie nicht etwas frühstücken?
Pater Gerassim. Nein, danke. (Er geht mit Alexandra Iwanowna ab).
Die Vorigen ohne Alexandra Iwanowna und Pater Gerassim.
Maria (zum Priester). Nun, was wird jetzt?
Priester. Wieso? Meiner Meinung nach hat Nikolai Iwanowitsch ganz recht; Pater Gerassim hat ihn nicht widerlegt.
Fürstin. Er ist gar nicht zu Worte gekommen; besonders scheint es ihm mißfallen zu haben, daß hier eine Art Turnier veranstaltet wurde. Alle hörten zu. Da hat er sich aus Bescheidenheit entfernt.
Boris. Denkt nicht daran. Alles, was er sagte, war falsch. So offenkundig falsch, daß er nicht weiter wußte.
Fürstin. Ich sehe, daß du bei deinem wetterwendischen Sinn dich schon ganz auf Nikolai Iwanowitschs Seite schlägst. – Wenn du aber so denkst, darfst du eben nicht heiraten.
Boris. Ich sage nur: was wahr ist, muß wahr bleiben. In diesem Falle kann ich nicht schweigen.
Fürstin. Du hättest am allermeisten Grund zu schweigen.
Boris. Warum?
Fürstin. Weil du arm bist und nichts zu verteilen hast. Übrigens geht uns das alles nichts an. (Sie geht ab).
Alle übrigen (folgen ihr außer Nikolai Jwanowitsch und Maria Iwanowna).
Nikolai Iwanowitsch und Maria Iwanowna.
Nikolai (sitzt nachdenklich da; lächelt dann über seine Gedanken). Mascha! Wozu das? Warum hast du diesen kläglichen, im Irrtum befangenen Menschen kommen lassen? Warum mischen sich diese laute Frau und dieser Priester in unser intimstes Leben? Können wir unsere Angelegenheiten nicht selbst ordnen?
Maria. Was soll ich tun, wenn du unsere Kinder ohne alle Mittel lassen willst. Das kann ich nicht ruhig mit ansehen. Du weißt, daß ich nicht selbstsüchtig bin und für mich nichts brauche.
Nikolai. Das weiß ich und glaube ich. Das Unglück ist, daß du nicht glaubst, weder an die Wahrheit – ich weiß, daß du sie siehst, du kannst dich aber nicht entschließen, an sie zu glauben. Weder an die Wahrheit glaubst du, noch an mich. Du glaubst dem Haufen – der Fürstin und den anderen.
Maria. Ich glaube dir, habe dir stets geglaubt; wenn du aber die Kinder zu Bettlern machen willst ...
Nikolai. Das zeigt ja eben, daß du keinen Glauben hast. Meinst du, ich hätte nicht gekämpft, nicht Angst ausgestanden? Dann habe ich mich aber überzeugt, daß man so nicht nur handeln kann, sondern muß; daß es so allein für die Kinder das Notwendige, Gute ist. Du sagst immer, wenn die Kinder nicht wären, könnten wir leben wie wir wollten; dann würden wir nur uns zugrunde richten. Wir richten sie aber zugrunde.
Maria. Was soll ich tun, da ich das nicht verstehe.
Nikolai. Und was soll ich tun? Ich weiß ja, weshalb ihr diesen kläglichen Menschen im Priesterkleid mit dem Kreuz auf der Brust verschrieben, und weshalb Aline den Notar mitgebracht hat. Ich soll die Besitzung auf deinen Namen schreiben lassen. Das kann ich nicht. Zwanzig Jahre lang habe ich dich geliebt. Ich liebe dich noch und will dein, Bestes und kann deswegen das Gut nicht verschreiben. Wenn ich es tue, sollen die es haben, denen es fortgenommen ist – die Bauern. Ich kann nicht anders, ich muß es ihnen geben. Und ich freue mich, daß der Notar zugegen ist, und will das gleich jetzt tun.
Maria, Nein, das ist fürchterlich! Wie kann man nur so grausam sein. Du hältst es für sündhaft, das Gut zu behalten; so gib es doch mir. (Sie weint).
Nikolai. Du weißt nicht, was du sprichst. Wenn ich es dir gebe, kann ich nicht weiter mit dir leben, dann muß ich fort. Ich kann unter diesen Bedingungen nicht weiterleben; kann es nicht mit ansehen, daß, nicht mehr in meinem, sondern in deinem Namen, den Bauern das Mark aus den Knochen gepreßt wird und man sie ins Gefängnis wirft. Also wähle.
Maria. Wie bist du grausam! Was ist denn für ein Christentum? Das ist ja Bosheit. Ich kann doch nicht so leben, wie du willst. Kann meinen Kindern nicht alles nehmen, um es dem ersten besten zu geben. Und deshalb willst du mich verstoßen? Gut, tue es. Ich sehe, daß du mich nicht mehr liebst, und weiß auch, weshalb.
Nikolai. Also gut, ich unterschreibe. Aber du verlangst von mir etwas Unmögliches, Mascha. (Er geht zum Tisch und unterschreibt). Du hast es gewollt. Ich kann so nicht leben.