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1. Kindheit.

Der Hauslehrer Karl Iwanowitsch.

Am 12. August 18.., genau am dritten Tage nach meinem Geburtstage, an dem ich zehn Jahre alt geworden war und so wundervolle Geschenke erhalten hatte, weckte mich Karl Iwanowitsch um sieben Uhr früh auf, indem er gerade über meinem Kopfe mit einer Fliegenklappe – Zuckerhutpapier an einem Stocke – nach einer Fliege schlug. Er tat das so ungeschickt, daß er das Bildchen meines Schutzheiligen, welches an der Eichenwand meines Bettes hing, berührte, und daß mir die getötete Fliege gerade auf den Kopf fiel. Ich steckte die Nase unter der Bettdecke hervor, hielt das Heiligenbild, das noch immer hin und her schaukelte, mit der Hand an, warf die tote Fliege auf den Fußboden und blickte mit zwar verschlafenen, aber bösen Augen auf Karl Iwanowitsch. Der aber – in buntem, wattiertem Schlafrock, mit einem Gürtel aus gleichem Stoff umgürtet, ein rotes, gestricktes Käppchen mit Troddel auf dem Kopfe und weiche Ziegenlederschuhe an den Füßen – fuhr fort, an den Wänden entlang zu gehen, nach den Fliegen zu zielen und zu klatschen.

»Ich bin zwar noch klein,« dachte ich, »aber dennoch, warum stört er mich? Warum schlägt er nicht bei Wolodjas Bett nach den Fliegen? Dort sind doch so viele! Aber Wolodja ist älter als ich, und ich bin der Allerkleinste, daher quält er mich. Sein Leben lang denkt er nur nach,« murmelte ich, »wie er mir etwas Unangenehmes zufügen könnte. Er sieht sehr gut, daß er mich aufgeweckt und erschreckt hat, tut aber so, als merke er nichts ... Ein unausstehlicher Mensch! Und der Schlafrock und das Käppchen und die Troddel – alles ist unausstehlich!«

Während ich so in Gedanken meinem Ärger über Karl Iwanowitsch Ausdruck gab, trat er an sein Bett, sah nach der Uhr, die über dem Bett in einem perlgestickten Pantöffelchen hing, hing die Fliegenklappe an den Nagel und wandte sich in sichtlich ausgezeichneter Laune zu uns.

»Auf, Kinder, auf! 's ist Zeit! Die Mutter ist schon im Saal!« rief er mit seiner gutmütigen deutschen Stimme in seiner Muttersprache, dann trat er an mein Bett, setzte sich am Fußende nieder und zog die Tabaksdose aus der Tasche. Ich stellte mich schlafend. Karl Iwanowitsch nahm eine Prise, putzte seine Nase, schnalzte mit den Fingern, und dann erst widmete er sich mir. Leise lachend begann er meine Fußsohlen zu kitzeln.

»Nun, nun, Faulenzer!« sagte er.

So sehr ich auch das Kitzeln fürchtete, sprang ich doch nicht aus dem Bett und antwortete auch nicht; ich grub den Kopf noch tiefer in die Kissen, strampelte aus Leibeskräften mit den Beinen und bot alles auf, um das Lachen zu verbeißen.

»Wie er gut ist, und wie er uns liebt! Und ich konnte schlecht von ihm denken!« sagte ich mir. Ich war ärgerlich über mich selbst und über Karl Iwanowitsch; mir war halb nach Lachen und halb nach Weinen zumute: meine Nerven waren erregt.

»Ach lassen Sie, Karl Iwanowitsch!« rief ich mit Tränen in den Augen, den Kopf aus den Kissen hervorsteckend.

Karl Iwanowitsch war verwundert, ließ meine Sohlen in Ruhe und fing an, mich besorgt auszufragen: was mir fehle? Ob ich etwas Schlechtes geträumt habe? – Sein gutes deutsches Gesicht, die Teilnahme, mit welcher er sich bemühte, die Ursache meiner Tränen zu erraten, ließen diese noch reichlicher fließen: ich schämte mich, und es war mir unverständlich, wie ich einen Augenblick früher Karl Iwanowitsch nicht lieben und seinen Schlafrock, das Käppchen und die Troddel unausstehlich finden konnte; jetzt erschien mir das alles im Gegenteil außerordentlich lieb, und sogar die Troddel kam mir wie ein deutlicher Beweis seiner Güte vor. Ich erzählte ihm, daß ich wegen eines bösen Traumes weinte: ich hätte geträumt, daß maman gestorben sei und beerdigt werden sollte. Das alles erfand ich, weil ich mich gar nicht mehr erinnerte, was ich in dieser Nacht geträumt hatte. Aber als Karl Iwanowitsch, durch meine Erzählung gerührt, mich zu trösten und zu beruhigen anfing, schien es mir, als hätte ich wirklich so schrecklich geträumt, und meine Tränen strömten nun schon aus anderem Grunde.

Als Karl Iwanowitsch mich verlassen hatte und ich, im Bette aufrecht sitzend, die Strümpfe auf meine kleinen Füße zog, versiegten die Tränen allmählich, doch die trüben Gedanken an den erfundenen Traum verließen mich nicht. Unser Instruktor Nikolaj trat ein, ein kleines, reinliches Männchen, immer ernst, pünktlich, ehrerbietig und sehr befreundet mit Karl Iwanowitsch. Er brachte unsere Kleider und Schuhe: für Wolodja Stiefel, für mich immer noch die unausstehlichen Schuhe mit Schleifchen. In seiner Gegenwart hätte ich mich geschämt zu weinen, auch schien die Morgensonne so lustig durchs Fenster, und Wolodja, über die Waschschüssel gebeugt, ahmte Maria Iwanowna (die Gouvernante meiner Schwester) nach und lachte dazu so lustig und laut, daß sogar der ernste Nikolaj, der mit dem Handtuch über der Schulter, der Seife in der einen und dem Wasserkrug in der andern Hand neben ihm stand, lächelnd sagte:

»Hören Sie doch auf, Wladimir Petrowitsch; bitte, waschen Sie sich!«

Ich war ganz heiter geworden.

»Sind Sie bald fertig?« ließ sich Karl Iwanowitsch aus dem Unterrichtszimmer vernehmen. Seine Stimme klang streng und hatte nicht mehr jenen Ausdruck von Güte, der mich zu Tränen gerührt hatte. Im Schulzimmer war Karl Iwanowitsch ein ganz andrer Mensch: dort war er Lehrer. Ich zog mich schnell an, wusch mich und folgte seinem Rufe noch mit der Bürste in der Hand, meine nassen Haare glättend.

Karl Iwanowitsch saß, mit der Brille auf der Nase und einem Buche in der Hand, auf seinem gewöhnlichen Platze zwischen Tür und Fenster. Links von der Tür befanden sich zwei Bücherbretter: eines für uns Kinder, das andere für Karl Iwanowitsch – sein »eigenes«. Auf dem unsrigen standen Bücher jeder Art, Lehrbücher und Nichtlehrbücher, die einen aufrecht, die andern liegend. Nur zwei große Bände Histoire des voyages in rotem Einband lehnten würdevoll an der Wand; dann aber folgten lange, dicke, große, kleine Bücher, Deckel ohne Bücher und Bücher ohne Deckel; gewöhnlich wurde alles dort hineingestopft und -gedrückt, wenn es hieß, vor der Pause müsse die »Bibliothek« in Ordnung gebracht werden, wie Karl Iwanowitsch dieses bescheidene Bücherbrett hochtrabend nannte. Die Büchersammlung auf seinem Privatbrett war, wenn auch nicht so groß wie die unsere, so doch noch verschiedenartiger. Ich erinnere mich an drei Bücher: eine deutsche Broschüre über das Düngen von Kohlgärten – ohne Einband; einen Band der Geschichte des siebenjährigen Krieges – in Pergament, mit einer verbrannten Ecke; und ein vollständiges Lehrbuch der Hydrostatik. Karl Iwanowitsch verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit Lektüre und hatte sich dadurch sogar seine Augen verdorben, er las aber nichts andres als diese Bücher und »Die nordische Biene« Russische Zeitschrift. (Anm. d. Übers.).

Unter den Gegenständen, die auf dem Bücherbrett von Karl Iwanowitsch herumlagen, war einer, welcher ihn mir ganz besonders ins Gedächtnis ruft. Es war eine Scheibe aus Pappe in einem hölzernen Fuße, in dem sich die Scheibe durch kleine Zapfen bewegen ließ. Auf die Scheibe war ein Bild geklebt, welches die Karikatur irgend einer Dame und ihres Friseurs darstellte. Karl Iwanowitsch war sehr geschickt in Papparbeiten, und diese Scheibe hatte er selbst erfunden und zum Schutze seiner schwachen Augen gegen grelles Licht hergestellt.

Heute noch sehe ich die lange Gestalt vor mir: in wattiertem Schlafrock und mit dem roten Käppchen, unter welchem spärliche graue Haare hervorschimmern. Er sitzt neben dem Tischchen, auf welchem die Scheibe mit dem Friseur steht und sein Gesicht beschattet; in einer Hand hält er ein Buch, die andere ruht auf der Armlehne des Sessels, und neben ihm liegt eine Uhr, auf deren Zifferblatt ein Jäger gemalt ist, ein kariertes Taschentuch, eine schwarze, runde Tabaksdose, ein grünes Brillenfutteral, eine Lichtputzschere mit Untersatz. All das liegt so sittsam und ordentlich auf seinem Platz, daß man aus dieser Ordnung allein schon schließen kann, daß Karl Iwanowitsch ein reines Gewissen und Seelenfrieden besitzt.

Zuweilen, wenn ich mich unten im Saal nach Herzenslust ausgetollt hatte, stahl ich mich auf den Fußspitzen hinauf ins Unterrichtszimmer und beobachtete Karl Iwanowitsch, wie er gemütlich in seinem Lehnstuhl saß und mit ruhig erhabenem Gesichtsausdruck irgend eines seiner Lieblingsbücher las. Manchmal traf ich ihn auch in solchen Momenten, wo er nicht las: die Brille saß dann tiefer auf der großen Adlernase, die blauen, halbgeschlossenen Augen hatten einen ganz eigenen Ausdruck, und die Lippen lächelten traurig. Im Zimmer ist's still; man hört nichts als gleichmäßiges Atmen und das Ticken der Uhr mit dem Jäger.

Er bemerkte mich manchmal nicht, ich aber stand an der Tür und dachte: »Armer, armer alter Mann! Unsrer sind viele, wir spielen, wir sind lustig, aber er – ist ganz, ganz allein, und niemand liebkost ihn. Er hat recht, wenn er sich eine Waise nennt. Und seine Lebensgeschichte ist so traurig! Ich erinnere mich, wie er sie einmal Nikolaj erzählte. Es ist schrecklich, in seiner Lage zu sein!«

Und so leid tat er mir dann, daß ich zuweilen an ihn herantrat, seine Hand faßte und sagte: »Lieber Karl Iwanowitsch!« Er hatte es gern, wenn ich so zu ihm sprach; er liebkoste mich dann immer, und ich sah's ihm an, daß er gerührt war. – – –

An der andern Wand hingen Landkarten, fast alle zerrissen, aber von Karl Iwanowitsch kunstvoll unterklebt. An der dritten Wand, in deren Mitte sich die nach unten führende Tür befand, hingen an einer Seite zwei Lineale: ein stark abgenutztes – das unsere, und ein neues – das »eigene«, das mehr zur Anspornung unsres Fleißes als zum Linieren diente; an der andern Seite eine schwarze Tafel, auf welche unsere großen Vergehen mit kleinen Kreisen, unsre geringeren mit Kreuzchen vermerkt wurden. Links von der Tafel war der Winkel, in den man uns zur Strafe knien ließ.

Wie steht mir dieser Winkel im Gedächtnis! Ich erinnere mich der Ofentür und der Luftklappe darin und des Geräusches, das die Klappe verursachte, wenn man sie bewegte. Zuweilen kniete und kniete man in dem Winkel, bis Knie und Rücken schmerzten, und dachte: »Karl Iwanowitsch hat mich vergessen; ihm ist's wahrscheinlich sehr behaglich, im weichen Lehnstuhl zu sitzen und seine Hydrostatik zu lesen, aber wie ist mir?« Und um sich bemerkbar zu machen, fing man an, die Ofentür behutsam auf- und zuzumachen oder den Kalkbewurf von der Wand abzubröckeln; aber wenn plötzlich ein allzu großes Stück mit Geräusch zu Boden fiel, – wirklich, der Schreck war ärger als jede Strafe. Dann sah man sich nach Karl Iwanowitsch um, der aber saß ruhig mit dem Buche in der Hand da und schien nichts gemerkt zu haben.

Mitten im Zimmer stand der Tisch, mit zerrissenem schwarzem Wachstuch bedeckt; unter dem Wachstuch sahen an vielen Stellen die mit dem Taschenmesser zerschnittenen Ränder des Tisches hervor. Rund um den Tisch standen einige nicht angestrichene, aber durch den langen Gebrauch förmlich lackierte Holztaburetts. Die letzte Wand nahmen drei Fenster ein, aus denen man folgende Aussicht hatte: grade unter den Fenstern sah man den Weg, auf welchem mir jede ausgefahrene Stelle, jedes Steinchen, jede Radspur längst bekannt und lieb waren; jenseits des Weges – die geschorene Lindenallee, hinter welcher hier und da ein geflochtener Zaun sichtbar war; durch die Allee blickte man auf eine Wiese hinaus; an einem Ende derselben befand sich die Tenne, am andern ein Wald; in der Ferne sah man das Häuschen des Wächters. Aus dem rechten Fenster erblickte man einen Teil der Terrasse, auf welcher die Großen bis zum Mittagessen zu sitzen pflegten. Oft, während Karl Iwanowitsch das Diktat korrigierte, schaute ich hinaus, sah Mütterchens kleinen dunklen Kopf und irgend jemands Rücken und hörte undeutlich Gespräch und Lachen von unten herauf. Dann ärgerte ich mich, daß ich nicht dort sein konnte, und dachte: »Wann endlich werde ich groß sein, wann werde ich zu lernen aufhören und anstatt bei den Vokabeln zu sitzen bei denen weilen dürfen, die ich lieb habe?« Der Ärger verwandelte sich in Trauer und ich versank unversehens so tief in Gedanken, daß ich nicht einmal hörte, wie Karl Iwanowitsch sich über die Fehler ärgerte.

Karl Iwanowitsch warf den Schlafrock ab, zog den blauen Frack mit den auf den Schultern gebauschten Ärmeln an, richtete vor dem Spiegel seine Krawatte und führte uns hinunter, damit wir Mütterchen guten Morgen sagten.

 

Maman.

Mütterchen saß im Salon und goß heißes Wasser auf den Tee: mit einer Hand hielt sie die Teekanne, mit der andern den Hahn des Ssamowars, aus dem das Wasser über den Rand der Teekanne auf den Untersatz floß. Aber obgleich sie unausgesetzt hinsah, bemerkte sie das nicht, ebenso wie sie unser Hereinkommen nicht bemerkt hatte.

Es tauchen so viele Erinnerungen an die Vergangenheit auf, wenn wir uns bemühen, die Züge eines geliebten Wesens in unsrer Vorstellung auferstehen zu lassen, daß man sie wie durch Tränen nur undeutlich sieht. Es sind das die Tränen der Einbildungskraft. Wenn ich versuche, mir meine Mutter so vorzustellen, wie sie damals war, sehe ich nur ihre braunen Augen, die ihre stets gleiche Güte und Liebe ausdrückten; das kleine Muttermal am Halse, etwas unter der Stelle, wo die kleinen Härchen sich kräuselten; den weißen gestickten Kragen, die zarte, magere Hand, die mich sooft liebkoste und die ich sooft küßte, – der Gesamtausdruck aber ist mir entschwunden.

Links vom Divan stand ein alter englischer Flügel; davor saß mein schwarzbraunes Schwesterlein Ljubotschka und spielte mit ihren rosigen, eben erst mit kaltem Wasser gewaschenen Fingerchen ausdrucksvoll die Etüden von Clementi. Sie war elf Jahre alt, hatte ein kurzes Leinenkleidchen an und weiße, mit Spitzen besetzte Höschen; die Oktaven konnte sie nur arpeggio greifen. Neben ihr, halb zu ihr gewendet, saß Maria Iwanowna in einer Haube mit rosa Bändern, in himmelblauer Morgenjacke und mit rotem, bösem Gesicht, das einen noch strengeren Ausdruck annahm, als Karl Iwanowitsch ins Zimmer trat. Sie blickte ihn drohend an und fuhr – ohne auf seine Verbeugung zu achten und mit dem Fuße den Takt schlagend – fort zu zählen: un, deux, trois ... un, deux, trois, noch lauter und befehlender als zuvor.

Karl Iwanowitsch achtete nicht im geringsten darauf, sondern schritt seiner Gewohnheit gemäß mit deutschem Gruß grade auf meine Mutter los. Sie fuhr aus ihrem Sinnen auf, schüttelte schnell das Köpfchen, als wolle sie mit dieser Bewegung trübe Gedanken verscheuchen, streckte Karl Iwanowitsch die Hand entgegen und berührte seine runzelige Schläfe mit ihren Lippen, während er ihr die Hand küßte.

»Ich danke, lieber Karl Iwanowitsch!« und indem sie fortfuhr, deutsch zu sprechen, fragte sie: »Haben die Kinder gut geschlafen?«

Karl Iwanowitsch war taub auf einem Ohr, und infolge des Lärmes vom Klavier her konnte er jetzt gar nichts hören. Er neigte sich näher zum Divan, stützte sich, auf einem Fuß stehend, mit einer Hand auf den Tisch, lüftete mit einem Lächeln, das mir dazumal als der Gipfel des feinen Tones erschien, sein Käppchen und fragte:

»Sie werden mich entschuldigen, Natalia Nikolajewna?« Karl Iwanowitsch nahm, um seinen kahlen Kopf nicht zu erkälten, das rote Käppchen nie ab, doch jedesmal, wenn er in den Salon trat, bat er meine Mutter deswegen um Entschuldigung.

»Setzen Sie's nur auf, Karl Iwanowitsch. – Ich fragte Sie, ob die Kinder gut geschlafen haben?« sagte maman, näher zu ihm rückend und recht laut sprechend.

Aber er verstand sie wieder nicht, bedeckte seine Glatze mit dem roten Käppchen und lächelte noch liebenswürdiger.

»Hören Sie einen Augenblick auf, Mimi,« sagte maman lächelnd zu Maria Iwanowna, »man hört nichts.«

Wenn Mütterchen lächelte, so wurde ihr Gesicht, so schön es auch sonst war, noch unvergleichlich schöner, und rund umher schien sich alles aufzuheitern. Wenn ich in schweren Augenblicken des Lebens auch nur flüchtig dieses Lächeln sehen könnte, – ich wüßte nicht, was Kummer heißt. Ich glaube, im Lächeln allein liegt, was man die Schönheit des Gesichtes nennt; wenn das Lächeln dem Gesicht größeren Liebreiz verleiht, so ist das Gesicht schön; wenn es das Gesicht gar nicht verändert, so ist dieses gewöhnlich; wenn es das Gesicht entstellt, so ist dieses häßlich.

Als maman mich begrüßt hatte, nahm sie meinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, bog ihn zurück, sah mich aufmerksam an und sagte:

»Du hast heute geweint?«

Ich antwortete nicht. Sie küßte meine Augen und fragte deutsch:

»Warum hast du geweint?«

Wenn sie freundschaftlich mit uns plauderte, bediente sie sich immer der deutschen Sprache, die sie vollkommen beherrschte.

»Ich hab' nur im Traum geweint, maman,« erwiderte ich; der erfundene Traum fiel mir mit allen seinen Einzelheiten wieder ein, und ich erschauerte unwillkürlich.

Karl Iwanowitsch bestätigte meine Worte, verschwieg aber den Traum selbst. Nach einem Gespräch über das Wetter, an dem auch Mimi teilnahm, legte maman auf das Teebrett sechs Stückchen Zucker für einige der Auszeichnung würdige Dienstboten, erhob sich und ging zum Stickrahmen, der am Fenster stand.

»Nun, Kinder, geht jetzt zu Papa! Und sagt ihm auch, daß er auf jeden Fall zu mir kommen möge, bevor er zur Tenne geht.«

Die Musik, das Zählen und die strengen Blicke begannen wieder und wir gingen zu Papa. Nach Durchschreiten des Zimmers, das noch von Großvaters Zeiten her die Offiziantenstube hieß, traten wir ins Arbeitszimmer.

 

Papa.

Er stand neben dem Schreibtisch und erklärte, auf einige Briefumschläge, Papiere und Geldhäufchen deutend, in ärgerlichem und lebhaftem Tone irgend etwas dem Verwalter Jakob Michailowitsch, der, die Hände auf dem Rücken, aus seinem gewöhnlichen Platze zwischen der Tür und dem Barometer stand und seine Finger sehr schnell nach allen Richtungen bewegte.

Je hitziger Papa wurde, um so schneller bewegten sich die Finger, und umgekehrt, wenn Papa schwieg, wurden auch die Finger ruhig; wenn aber Jakob selbst zu sprechen begann, gerieten die Finger in die ärgste Unruhe und sprangen verzweifelt nach allen Seiten. Ich glaube, an ihren Bewegungen konnte man Jakobs geheime Gedanken erraten; sein Gesicht aber blieb immer ruhig und drückte das Bewußtsein seiner Würde und zugleich seiner Unterwürfigkeit aus, das heißt es schien zu sagen: ich habe recht, im übrigen aber – wie es Ihnen beliebt!

Als Papa uns sah, sagte er nur:

»Wartet, sogleich!« und gab durch eine Bewegung des Kopfes zu verstehen, daß einer von uns die Tür schließen solle.

»Ach du barmherziger Gott, was hast du heute nur, Jakob?« fuhr er gegen den Verwalter gewendet und achselzuckend (das war seine Gewohnheit) fort. »Dieses Kuvert mit achthundert Rubeln ...«

Jakob zog das Rechenbrett heran, schob acht Hunderter in die Höhe und heftete seinen Blick auf einen unbestimmten Punkt, auf das Weitere wartend.

»... für Wirtschaftsausgaben in meiner Abwesenheit. Verstehst du? Für die Mühle mußt du tausend Rubel bekommen ... stimmt das oder nicht? An Kautionsgeldern hast du vom Fiskus achttausend zurückzuerhalten; für das Heu, von dem wir nach deiner Berechnung siebentausend Pud 1 Pud = 40 russ. Pfund. (Anm. d. Übers.) verkaufen können, – ich rechne das Pud zu fünfundvierzig Kopeken – bekommst du dreitausend; folglich wirst du im ganzen haben? – zwölftausend ... Stimmt das oder nicht?«

»Stimmt genau,« sagte Jakob. Aber an der Schnelligkeit der Fingerbewegungen erriet ich, daß er etwas entgegnen wollte, doch Papa kam ihm zuvor:

»Also, von diesem Gelde schickst du zehntausend in die Hypothekenkasse für Petrowskoje. Dann: das Geld, das wir im Kontor haben – (Jakob warf auf dem Rechenbrett die früher angemerkten zwölf Tausender zusammen und notierte statt dessen einundzwanzigtausend) – bringst du mir und schreibst sie unter dem heutigen Datum als Ausgabe ein. (Jakob schob die Röllchen durcheinander und drehte das Rechenbrett um, als wollte er damit andeuten, daß auch die einundzwanzigtausend verloren seien.) Und diesen Geldbrief hier wirst du in meinem Namen dem Adressaten übergeben.«

Ich stand dicht neben dem Tische und blickte auf die Adresse. Da stand geschrieben: »An Karl Iwanowitsch Mauer.«

Papa hatte wohl bemerkt, daß ich etwas gelesen hatte, was ich nicht zu wissen brauchte, legte seine Hand auf meine Schulter und drehte mich mit leichter Bewegung vom Tische fort. Ich wußte nicht recht, ob das eine Liebkosung oder ein Tadel sein sollte, küßte aber auf alle Fälle die große sehnige Hand, die auf meiner Schulter lag.

»Zu Befehl,« sagte Jakob; »und was belieben Sie wegen des Geldes von Chabarowka zu verfügen?«

Chabarowka war das Gut meiner Mutter.

»Das bleibt im Kontor und darf ohne meinen Befehl unter keinen Umständen irgendwie verwendet werden.«

Jakob schwieg ein paar Sekunden; dann begannen seine Finger, sich mit verstärkter Geschwindigkeit zu drehen, und den Ausdruck gehorsamen Stumpfsinns, mit dem er die Befehle des Herrn angehört hatte, in den ihm für gewöhnlich eigenen Ausdruck spitzbübischer Aufgewecktheit verwandelnd, zog er das Rechenbrett wieder näher zu sich heran und sagte:

»Erlauben Sie zu vermelden, Peter Alexandrowitsch, was Sie auch belieben mögen, aber in die Hypothekenkasse kann zum Termin nicht eingezahlt werden. Sie beliebten zu sagen,« – fuhr er langsam und nachdrücklich fort – »daß ich die Kautionsgelder, ferner Geld fürs Heu und für die Mühle bekommen müsse. (Indem er die Posten nannte, merkte er sie auf dem Rechenbrett vor.) Ich fürchte aber, daß wir uns in der Rechnung irren könnten,« fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, wobei er Papa vielsagend ansah.

»Wieso?«

»Also belieben Sie zu sehen: was die Mühle betrifft, so war der Müller schon zweimal bei mir, um einen Aufschub zu erbitten, und schwor bei Christus dem Herrn, daß er kein Geld habe. Er ist übrigens auch jetzt hier; vielleicht belieben Sie selbst mit ihm zu sprechen?«

»Was sagt er denn?« fragte Papa, indem er durch eine Bewegung mit dem Kopfe andeutete, daß er nicht mit dem Müller sprechen wolle.

»Ach, man kennt das ja! Er sagt, er habe nichts zu mahlen gehabt, und was er an Geld besessen, habe er im Damme verbaut. Und, gnädiger Herr, wenn wir ihm kündigen, – ob wir dabei auf unsere Rechnung kommen? – Dann beliebten Sie von den Kautionsgeldern zu sprechen; mir scheint, ich habe Ihnen schon einmal gemeldet, daß unser Geldchen dort festsitzt und daß wir's wohl nicht sobald bekommen werden. Ich hab' neulich wegen dieser Angelegenheit eine Fuhre Mehl und einen Brief zu Iwan Afanassitsch in die Stadt geschickt: er antwortet halt wieder, daß er sich gern für Peter Alexandrowitsch bemühen würde, die Sache liege aber nicht in seiner Hand und allem Anschein nach werde Ihre Quittung auch nach zwei Monaten noch schwerlich herauszubekommen sein. – Sie beliebten auch vom Heu zu sprechen. Angenommen, wir verkaufen es wirklich für dreitausend ...«

Er notierte auf dem Rechenbrett drei Tausender, schwieg einen Augenblick und schaute bald auf das Rechenbrett, bald auf Papa, mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er sagen: »Sie sehen selbst, wie wenig das ist. Und auch bei dem Heu werden wir uns wieder verrechnen, wenn wir's jetzt verkaufen sollen, Sie wissen ja selbst –«

Man sah ihm an, daß er noch einen großen Vorrat an Widerlegungsgründen bereit hatte; daher wohl unterbrach Papa ihn:

»Ich werde meine Anordnungen nicht ändern,« sagte er, »wenn sich aber dem Einkassieren dieser Gelder wirklich Hindernisse in den Weg stellen, dann – nichts zu machen – nimmst du von dem Chabarowskischen Gelde soviel als nötig ist.«

»Zu Befehl.«

Dem Gesicht wie den Fingern Jakobs merkte man es an, daß die letzte Weisung ihm großes Vergnügen bereitete.

Jakob war Leibeigener, ein sehr eifriger und ergebener Mensch; wie alle guten Verwalter war er äußerst geizig für seinen Herrn und hatte von den herrschaftlichen Vorteilen die sonderbarsten Begriffe. Er sorgte beständig für die Vermehrung des Eigentums seines Herrn auf Kosten des Eigentums der Herrin, indem er sich bemühte zu beweisen, daß alle Einnahmen von ihrem Gute auf Petrowskoje (das Gut, auf dem wir lebten) verwendet werden müßten. Jetzt triumphierte er, weil ihm das so vollständig gelungen war.

Als Papa uns begrüßt hatte, sagte er, wir hätten nun lange genug auf dem Lande gefaulenzt, wir seien keine kleinen Kinder mehr, und es sei Zeit, daß wir ernstlich zu lernen anfingen.

»Ihr wißt schon, glaube ich, daß ich heute nacht nach Moskau reise und euch mitnehme,« sagte er. »Wir werden bei Großmama leben, und maman bleibt mit den Mädchen hier. Und merkt euch, ihr einziger Trost wird es sein, zu hören, daß ihr gut lernt und daß man mit euch zufrieden ist.«

Obgleich wir nach all den Vorbereitungen, welche seit einigen Tagen bemerkbar waren, schon irgend etwas Außergewöhnliches erwartet hatten, erschütterte uns diese Neuigkeit sehr. Wolodja wurde rot und richtete mit zitternder Stimme Mütterchens Auftrag aus.

»Das also hat mein Traum mir verkündet!« dachte ich; »gebe Gott, daß nicht noch etwas Schlimmeres komme!«

Um Mütterchen tat es mir sehr, sehr leid, zugleich aber freute mich der Gedanke, daß wir nun groß geworden seien.

»Wenn wir heute reisen, so werden wir wahrscheinlich keine Stunden haben, das ist herrlich!« dachte ich. »Übrigens tut mir Karl Iwanowitsch leid. Er wird wahrscheinlich verabschiedet werden, denn sonst hätte man nicht jenes Kuvert für ihn vorbereitet ... Lieber doch mein Lebenlang lernen und nicht fort müssen, sich nicht von Mütterchen trennen und den armen Karl Iwanowitsch nicht kränken! Er ist ja ohnedies sehr unglücklich.«

Solche Gedanken zogen mir blitzartig durch den Sinn; ich rührte mich nicht von der Stelle und starrte die schwarzen Schleifen meiner Schuhe an.

Nachdem Papa mit Karl Iwanowitsch ein paar Worte über das Sinken des Barometers gesprochen hatte, befahl er Jakob, die Hunde nicht zu füttern, da er am Nachmittage zum Abschied auf die Jagd fahren und die jungen Jagdhunde ausprobieren wollte, und schickte uns dann ganz gegen meine Erwartung ins Schulzimmer, tröstete uns jedoch mit dem Versprechen, uns auf die Jagd mitzunehmen.

Auf dem Wege in den oberen Stock lief ich schnell auf die Terrasse hinaus. An der Tür in der Sonne lag Milka, der Lieblingswindhund meines Vaters.

»Milotschka,« sagte ich, indem ich ihn streichelte und auf die Schnauze küßte, »wir fahren heute fort! Lebewohl, wir werden uns nie wiedersehen!«

Ich gab mich ganz meinen Gefühlen hin und fing zu weinen an.

 

Der Unterricht.

Karl Iwanowitsch war sehr schlechter Laune. Man merkte das an seinen zusammengezogenen Augenbrauen und an der Art, wie er seinen Rock in die Kommode schleuderte, wie er ärgerlich seinen Gurt festzog und wie tief er mit dem Fingernagel im Buch die Stelle anmerkte, bis zu welcher wir die Dialoge auswendig zu lernen hatten. Wolodja lernte recht gut, aber ich war so aufgeregt, daß ich wirklich gar nichts machen konnte. Lange starrte ich zerstreut ins Vokabelbuch, aber die Tränen, die mir beim Gedanken an die bevorstehende Trennung in die Augen traten, hinderten mich am Lesen. Und als die Zeit des Hersagens kam und Karl Iwanowitsch mich mit zugekniffenen Augen (das war ein schlechtes Zeichen) anhörte, grade an der Stelle, wo der eine sagt: »Wo kommen Sie her?« und der andere antwortet: »Ich komme vom Kaffeehause,« konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und vor Schluchzen nicht mehr sagen: »Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?«

Als es zum Schönschreiben kam, machte ich infolge der Tränen, die aus das Papier fielen, solche Kleckse, als wenn ich mit Wasser auf Packpapier geschrieben hätte.

Karl Iwanowitsch wurde böse, ließ mich knien, behauptete, das sei Trotz, Puppenkomödie (das war sein Lieblingswort), drohte mit dem Lineal und verlangte, ich solle um Verzeihung bitten, während ich vor Weinen kein Wort hervorbringen konnte; schließlich, wohl seine Ungerechtigkeit fühlend, ging er in Nikolajs Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Vom Schulzimmer aus hörte man das Gespräch im Zimmer des Instruktors.

»Hast du gehört, Nikolaj, daß die Kinder nach Moskau fahren?« fragte Karl Iwanowitsch, ins Zimmer tretend.

»Freilich hab' ich's gehört.«

Wahrscheinlich wollte Nikolaj sich erheben, denn Karl Iwanowitsch sagte: »Bleib sitzen, Nikolaj!«

Ich kam aus meinem Winkel hervor und ging zur Tür, um zu horchen.

»Soviel Gutes man den Menschen auch tut und soviel Anhänglichkeit man ihnen auch erweist, auf Dankbarkeit kann man, scheint's, nicht rechnen, Nikolaj!« sprach Karl Iwanowitsch mit Gefühl.

Nikolaj, der am Fenster bei einer Schusterarbeit saß, nickte bestätigend mit dem Kopfe.

»Ich lebe zwölf Jahre in diesem Hause und kann vor Gott bezeugen, Nikolaj,« fuhr Karl Iwanowitsch fort, indem er die Augen und die Schnupftabaksdose zur Stubendecke erhob, »daß ich sie liebe, und daß ich mich mit ihnen mehr beschäftigt habe, als wie wenn's meine leiblichen Kinder wären. Erinnerst du dich, Nikolaj, als Wolodjachen das hitzige Fieber hatte, erinnerst du dich, wie ich damals neun Tage, ohne ein Auge zu schließen, an seinem Bette saß? Ja, damals war ich der gute, liebe Karl Iwanowitsch, damals brauchte man mich; aber jetzt« – fügte er ironisch lächelnd hinzu – »jetzt ›sind die Kinder groß geworden, sie müssen ernstlich lernen‹. Als ob sie hier nichts lernten, Nikolaj?«

»Wie sollen sie denn anders lernen?« fragte Nikolaj, die Schusterahle beiseite legend und mit beiden Händen am Pechdraht ziehend.

»Ja, jetzt bin ich unnütz geworden, jetzt muß man mich fortjagen; und wo sind alle Versprechungen? wo ist die Dankbarkeit? Natalia Nikolajewna achte und liebe ich, Nikolaj,« sprach er, die Hand aufs Herz legend, »aber was kann sie? Ihr Wille gilt in diesem Hause nicht mehr als das!« und dabei warf er mit ausdrucksvoller Geste ein Lederschnitzel auf den Fußboden. »Ich weiß wohl, wessen Schuld es ist und weshalb ich nicht mehr nötig bin: weil ich nicht schmeichle und nicht alles gut heiße wie gewisse Leute! Ich bin gewöhnt, immer und vor allen die Wahrheit zu reden,« sagte er stolz; »Gott mit ihnen! Dadurch, daß sie mich fortschicken, werden sie nicht reich werden, ich aber – Gott ist barmherzig – ich werde wohl noch ein Stück Brot für mich finden, – nicht wahr, Nikolaj?«

Nikolaj hob den Kopf und blickte Karl Iwanowitsch so an, als wollte er sich vergewissern, ob er in der Tat noch ein Stück Brot finden könnte, sagte aber nichts.

Karl Iwanowitsch sprach noch lange und viel in diesem Sinne; er sprach davon, daß man seine Verdienste bei einem General, bei dem er früher gewesen war, besser zu würdigen gewußt hatte (es tat mir sehr weh, das zu hören), sprach von Sachsen, von seinen Eltern, von seinem Freunde, dem Schneider Schönheit usw.

Ich nahm an seinem Kummer teil und es tat mir leid, daß mein Vater und Karl Iwanowitsch, die ich beide fast gleich lieb hatte, einander nicht verstanden; ich begab mich zurück in meinen Winkel, kauerte mich nieder und dachte darüber nach, wie man zwischen ihnen ein Einverständnis erzielen könnte.

Als Karl Iwanowitsch ins Unterrichtszimmer zurückgekehrt war, befahl er mir, aufzustehen und das Diktatheft vorzunehmen. Als alles bereit war, ließ er sich majestätisch in seinem Lehnstuhl nieder und begann mit einer Stimme, die aus der Unterwelt zu kommen schien, folgendes zu diktieren: »Von al-len Lei-denschaf-ten die grau-samste ist ... Haben Sie geschrieben?« Hier machte er eine kleine Pause, nahm langsam eine Prise und fuhr dann mit frischen Kräften fort: »die grausamste ist die Un-dank-bar-keit ... Ein großes U.« Als ich das letzte Wort niedergeschrieben hatte, schaute ich in Erwartung des Weiteren zu ihm auf.

»Punktum!« sagte er mit kaum merklichem Lächeln und gab uns ein Zeichen, ihm die Hefte vorzulegen.

Mit verschiedener Betonung und mit dem Ausdruck des größten Vergnügens las er mehrmals den Satz, der das Gefühl seines Herzens ausdrückte; dann gab er uns eine Aufgabe aus der Geschichte und setzte sich ans Fenster. Sein Gesicht war nicht mehr mürrisch wie vorhin, sondern verriet die Genugtuung eines Menschen, der sich für eine ihm zugefügte Kränkung würdig gerächt hatte.

Es war dreiviertel auf eins, aber Karl Iwanowitsch schien noch gar nicht daran zu denken, uns zu entlassen; er gab uns immerzu neue Aufgaben. Langeweile und Appetit nahmen bei mir in gleichem Maße zu. Mit großer Ungeduld folgte ich allen Anzeichen, die das Nahen des Mittagessens verrieten. Da geht eine Magd mit dem Scheuerbast die Teller waschen; da hört man, wie im Speisezimmer mit dem Geschirr geklappert wird, wie der Tisch ausgezogen und die Stühle gestellt werden; da kommt auch schon Mimi mit Ljubotschka und Katjenka (Katjenka war Mimis zwölfjährige Tochter) aus dem Garten, aber Foka ist noch nicht zu sehen, der Haushofmeister Foka, der immer melden kommt, wenn das Essen fertig ist. Dann erst kann man die Bücher beiseite werfen und, ohne auf Karl Iwanowitsch zu achten, hinunterlaufen.

Jetzt hört man Schritte auf der Stiege, doch das ist nicht Foka. Ich habe mir seinen Gang genau gemerkt und erkenne stets das Knarren seiner Stiefel.

Die Tür ward geöffnet und in ihr zeigte sich eine mir ganz fremde Gestalt.

 

Der Idiot.

Ins Zimmer trat ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit blassem, pockennarbigem, länglichem Gesicht, langen grauen Haaren und einem dünnen, rötlichen Barte. Er war so groß, daß er, um durch die Tür zu kommen, nicht nur den Kopf beugen, sondern seinen ganzen Körper zusammenbiegen mußte. Er war in ein zerfetztes Gewand gehüllt, das teils einem Bauernrock, teils einem Priesterkleide glich; in der Hand trug er einen riesigen Stab. Ins Zimmer tretend, klopfte er mit diesem Stabe aus Leibeskräften auf den Fußboden, wobei er die Augenbrauen zusammenzog, den Mund übermäßig weit aufsperrte und in ein schreckliches, unnatürliches Lachen ausbrach. Auf einem Auge war er blind, und die weiße Pupille dieses Auges rollte unaufhörlich hin und her und verlieh dem ohnedies häßlichen Gesichte einen noch garstigeren Ausdruck.

»Aha, erwischt?« schrie er, mit kurzen Schritten auf Wolodja zueilend, den er beim Kopfe packte, um sorgfältig seinen Scheitel zu betrachten; dann ging er mit ganz ernster Miene von Wolodja fort, trat an den Tisch und begann, unter das Wachstuch zu blasen und das Kreuzeszeichen darüber zu machen.

»Ooo schade! ooo, tut weh! – Die Lieben werden davonfliegen!« sprach er sodann mit von Tränen zitternder Stimme, indem er Wolodja voller Herzeleid anblickte, und mit dem Ärmel die tatsächlich fallenden Tränen trocknete.

Seine Stimme war rauh und heiser, seine Bewegungen waren hastig und unregelmäßig, seine Worte sinnlos und ohne Zusammenhang (er gebrauchte niemals ein Fürwort), aber die Betonung war so rührend, und das gelbe, mißgestaltete Gesicht nahm zuweilen einen so aufrichtig betrübten Ausdruck an, daß man sich beim Zuhören eines gewissen, aus Mitleid, Angst und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühles nicht erwehren konnte.

Das war der unstät umherirrende Grischa.

Woher stammte er? wer waren seine Eltern? was hatte ihn veranlaßt, das Wanderleben, das er führte, zu erwählen? – Das wußte niemand. Ich weiß nur, daß er von seinem fünfzehnten Lebensjahre an als Narr bekannt war, der Sommer und Winter barfuß ging, die Klöster besuchte und Leuten, die er lieb gewann, kleine Heiligenbilder schenkte; daß er rätselhafte Worte sprach, welche von manchen als Weissagungen aufgefaßt wurden; daß ihn niemand je anders gekannt hatte, als er jetzt war; daß er zuweilen zu meiner Großmutter kam und daß die einen von ihm sagten, er sei der unglückliche Sohn reicher Eltern und eine unschuldsvolle Seele, und andere, er sei nichts als ein Bauer und Faulenzer.

Endlich erschien der langersehnte und pünktliche Foka, und wir gingen hinunter. Grischa folgte uns schluchzend, ohne mit seinen unsinnigen Reden aufzuhören, und stieß mit dem Stabe auf die Stufen der Treppe. – Papa und maman schritten Arm in Arm im Salon auf und nieder und sprachen miteinander. Maria Iwanowna saß würdevoll in einem Lehnstuhl, der symmetrisch in rechtem Winkel an den Diwan gerückt war, und gab den neben ihr sitzenden Mädchen mit strenger, aber gedämpfter Stimme gute Lehren. Als Karl Iwanowitsch ins Zimmer trat, blickte sie sich nach ihm um, wandte sich aber sofort wieder ab, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, den man ungefähr deuten konnte: »Ich bemerke Sie nicht, Karl Iwanowitsch!« Den Mädchen sah man's an den Augen an, daß sie sich danach sehnten, uns irgend eine sehr wichtige Mitteilung zu machen; aber vom Platze aufspringen und uns entgegengehen wäre eine Übertretung von Mimis Regeln gewesen. Zuerst mußten wir zu ihr gehen, mußten sagen: » Bonjour, Mimi« und einen Kratzfuß machen, dann erst durfte man ein Gespräch anfangen.

Was war diese Mimi doch für eine unerträgliche Person! In ihrer Gegenwart durfte man zuweilen gar nichts sprechen: sie fand alles unpassend. Überdies quälte sie uns mit ihrem unaufhörlichen: » Parlez donc français!« während wir, wie zum Trotz, gerade gern russisch geplaudert hätten; oder man wollte sich beim Mittagessen eine Speise eben so recht schmecken lassen und wünschte, von niemand gestört zu werden, da ertönt unbedingt ihr: » Mangez donc avec du pain!« oder: » Comment-c'est que vous tenez votre fourchette?« – »Was hat sie sich überhaupt um uns zu kümmern?« denkt man, »mag sie doch ihre Mädels schulmeistern, wir haben dazu doch Karl Iwanowitsch!« Ich teilte dessen Haß gegen »gewisse Leute« vollständig.

»Bitt' doch Mama, daß man uns auf die Jagd mitnehme!« flüsterte Katjenka mir zu, indem sie mich beim Rock festhielt, als die Erwachsenen ins Zimmer vorangingen.

»Gut, ich werde mir Mühe geben.«

Grischa verzehrte sein Mittagbrot im Speisezimmer, aber an einem besonderen Tischchen; er blickte von seinem Teller nicht auf, seufzte von Zeit zu Zeit, schnitt entsetzliche Grimassen und sprach wie zu sich selbst: »Schade! – fortgeflogen – die Taube wird zum Himmel fliegen – ach, auf dem Grabe liegt der Stein!« usw.

Maman war seit dem Morgen aufgeregt; die Gegenwart, die Worte und das Gebaren des Idioten verstärkten ihre Erregung merklich.

»Ach ja, fast hätte ich vergessen, dich um etwas zu bitten,« sagte sie, indem sie meinem Vater den Teller mit Suppe reichte.

»Was denn?«

»Bitte, laß deine schrecklichen Hunde einsperren; sie haben beinahe den armen Grischa zerrissen, als er über den Hof ging. Sie können ebensogut die Kinder anfallen.«

Als Grischa hörte, daß man von ihm sprach, kehrte er sich dem Eßtisch zu, zeigte die zerrissenen Schöße seines Gewandes und sprach dabei kauend:

»Wollte, daß totbeißen – Gott ließ nicht zu! Sünde, mit Hunden hetzen, große Sünde! Schlag' nicht, Großer, So nannte er alle Männer ohne Unterschied. – warum schlagen? Gott wird verzeihen – die Zeiten sind nicht so –«

»Was redet er da?« fragte Papa, ihn aufmerksam und streng betrachtend; »ich verstehe nichts.«

»Aber ich verstehe ihn.« erwiderte maman, »er hat mir erzählt, daß irgend ein Jäger absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen hat, deshalb sagte er: wollte, daß totbeißen, aber Gott ließ nicht zu, – und er bittet dich, du mögest den Jäger dafür nicht bestrafen.«

»Ach so!« sagte Papa; »woher weiß er denn, daß ich diesen Jäger bestrafen will? – Du weißt, ich bin im allgemeinen kein großer Freund dieser Herren,« fuhr er in französischer Sprache fort, »und dieser mißfällt mir ganz besonders und muß –«

»Ach, sag' das nicht, mein Freund!« unterbrach ihn maman fast erschrocken, »wie kannst du wissen?«

»Ich denke, ich habe Gelegenheit genug gehabt, diese Gattung Menschen kennen zu lernen, – es kommen ihrer so viele zu dir, – alle nach demselben Schnitt! Ewig die gleiche Geschichte –«

Man merkte, daß Mütterchen in dieser Angelegenheit völlig anderer Meinung war und nicht darüber streiten wollte.

»Reich mir, bitte, ein Pastetchen,« sagte sie, »sind sie heute gut, wie?«

»Nein, mich ärgert es,« fuhr Papa fort, indem er ein Pastetchen ergriff, aber so weit weghielt, daß maman es nicht erreichen konnte; »mich ärgert es, wenn ich sehe, daß kluge und gebildete Leute sich betrügen lassen.« Und er schlug mit der Gabel auf den Tisch.

»Ich bat dich, mir ein Pastetchen zu reichen,« wiederholte maman, die Hand ausstreckend.

»Und man tut gut daran, daß man solche Leute polizeilich einsperrt,« sprach Papa weiter, indem er seine Hand zurückzog: »sie tun nichts, als daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Leute noch mehr aufregen,« schloß er mit einem Lächeln, als er merkte, daß dieses Gespräch maman durchaus nicht gefiel, und reichte ihr das Pastetchen.

»Ich will dir darauf nur eines sagen,« erwiderte maman, »es ist schwer zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre Winter und Sommer barfuß geht und unter seinem Gewande, ohne sie je abzulegen, Ketten im Gewicht von zwei Pud trägt, der wiederholt das Anerbieten ausschlug, ruhig und mit allem versorgt zu leben, – es ist schwer zu glauben, daß ein solcher Mensch das alles nur aus Trägheit tut. Was die Weissagungen betrifft –« fügte sie mit einem Seufzer hinzu und schwieg ein Weilchen, » je suis payée pour y croire; ich hab' dir ja erzählt, glaube ich, wie Kirjuscha meinem seligen Papa Tag und Stunde seines Todes ganz genau vorhergesagt hat.«

»Ach, was hast du mir angetan!« sagte Papa lächelnd und die Hand an der Seite, wo Mimi saß, vor seinen Mund haltend. (Wenn er das tat, horchte ich stets mit gespannter Aufmerksamkeit, weil ich etwas Komisches erwartete.) »Warum hast du mich an seine bloßen Füße erinnert? Ich hab' hingeschaut und kann nun nichts mehr essen!«

Das Mittagsmahl näherte sich dem Ende. Ljubotschka und Katjenka machten uns unaufhörlich Zeichen, rutschten auf ihren Stühlen hin und her und verrieten überhaupt große Unruhe. Ihre Zeichen bedeuteten: »Warum bittet ihr denn nicht, daß man uns auf die Jagd mitnehme?« Ich stieß Wolodja mit dem Ellenbogen an, Wolodja stieß mich an, entschloß sich aber endlich: zuerst schüchtern, dann ziemlich sicher und laut erklärte er, da wir heute abreisen müßten, sei es unser Wunsch, daß die Mädchen zusammen mit uns auf die Jagd fahren dürften, und zwar auf der Liniendroschke Eine Art breiter, gepolsterter Bank auf Rädern, auf welcher man in zwei Reihen Rücken an Rücken sitzt; in Rußland auf dem Lande zu Familienausflügen, Picknicks usw. sehr beliebt. (Anm. d. Übers.). Nach einer kurzen Beratung zwischen den Erwachsenen wurde die Frage zu unsern Gunsten entschieden und – was das Schönste war – maman sagte, daß sie selbst ebenfalls mitfahren wolle.

 

Vorbereitungen zur Jagd.

Während des Desserts wurde Jakob gerufen; die Weisungen in Bezug auf die Liniendroschke, die Hunde und die Reitpferde wurden ihm mit größter Ausführlichkeit erteilt, wobei jedes Pferd beim Namen genannt wurde. Wolodjas Pferd hinkte; Papa befahl daher, für ihn ein Jagdpferd zu satteln. Dieses Wort »Jagdpferd« erschreckte maman: es schien ihr, als müsse ein Jagdpferd so etwas wie ein wildes Tier sein, und als werde es ganz bestimmt durchgehen und Wolodja ums Leben bringen. Trotz des Zuredens meines Vaters und Wolodjas – der mit staunenswerter Kurage behauptete, das mache ihm gar nichts, er habe es sehr gern, wenn das Pferd durchgeht, – hörte die arme maman nicht auf zu versichern, daß sie auf der ganzen Fahrt Angst ausstehen werde.

Das Mittagsmahl war zu Ende; die Großen begaben sich ins Kabinett Kaffee trinken, und wir liefen in den Garten, scharrten mit den Füßen in dem welken Laub, das die Wege bedeckte, und plauderten. Wir sprachen darüber, daß Wolodja auf dem Jagdpferde reiten werde, daß Ljubotschka sich schämen müsse, weil sie langsamer lief als Katjenka, daß es interessant wäre, Grischas Ketten anzuschauen usw.; über unsere Trennung aber wurde kein Wort gesprochen. Unser Gespräch wurde durch das Rollen der Liniendroschke unterbrochen, auf welcher an jeder Ecke ein Knechtsjunge saß. Hinter der Droschke ritten die Jäger mit den Hunden, hinter den Jägern der Kutscher Ignaz auf dem für Wolodja bestimmten Pferde, meinen uralten Klepper am Zügel führend. Wir stürzten alle zum Zaun, von dem aus diese interessanten Dinge zu sehen waren; dann aber liefen wir mit Gekreisch und Getrampel nach oben, um uns anzuziehen, und zwar so, daß wir einem Jäger so ähnlich sahen wie nur möglich. Eines der Hauptmittel zur Erreichung dieses Zwecks war das Hineinstecken der Hosen in die Stiefelschäfte. Ohne Zögern machten wir uns daran, um so schnell als möglich fertig zu sein, auf die Veranda hinauszulaufen und uns am Anblick der Hunde und Pferde sowie am Geplauder mit den Jägern zu ergötzen.

Es war ein heißer Tag. Weiße Wölkchen von seltsamer Form hatten sich schon am Morgen am Horizont gezeigt; ein leichter Wind hatte sie näher und näher getrieben, so daß sie zuweilen die Sonne verdeckten. Doch wie auch die Wolken hin und her zogen und dunkler und dunkler wurden, – es war ihnen nicht vergönnt, sich zu einem Gewitter zusammenzuziehen und noch zuguterletzt unser Vergnügen zu stören. Gegen Abend zerstreuten sie sich wieder: die einen wurden blaß und lang und eilten dem Horizonte zu; andere, gerade über uns stehende, verwandelten sich in weiße, durchsichtige Schuppen; nur eine große schwarze Wolke blieb im Osten stehen. Karl Iwanowitsch wußte immer schon vorher, wohin jede einzelne Wolke ziehen würde; er erklärte, daß diese Wetterwolke nach Maßlowka ziehe, daß es nicht regnen, sondern wunderschön bleiben werde.

Foka kam trotz seines vorgerückten Alters schnell und gewandt die Treppe herabgeeilt, schrie: »Vorfahren!« und stellte sich breitspurig und sicher zwischen der Stelle, wohin der Kutscher den Wagen fahren mußte, und der Türschwelle auf, mit der Haltung eines Menschen, der nicht erst an seine Pflicht erinnert zu werden braucht. Die Damen kamen die Treppe herab, und nach einer kurzen Debatte darüber, wo eine jede sitzen und an wem sie sich festhalten sollte (obgleich ich der Ansicht war, daß es gar nicht notwendig sei, sich festzuhalten), nahmen sie Platz, öffneten ihre Sonnenschirme und fuhren ab. Als die Droschke sich in Bewegung setzte, fragte maman den Kutscher mit zitternder Stimme, indem sie aus das »Jagdpferd« zeigte:

»Ist das das Pferd für Wladimir Petrowitsch?« Und als der Kutscher bejahte, machte sie eine resignierte Handbewegung und wandte sich ab.

Ich war in höchster Ungeduld, bestieg mein Pferdchen, sah zwischen seinen Ohren hindurch und führte auf dem Hof allerhand Evolutionen aus.

»Überreiten Sie die Hunde nicht, wenn's beliebt!« sagte einer der Jäger zu mir.

»Sei ruhig, ich reite nicht zum erstenmal,« erwiderte ich stolz.

Wolodja bestieg das »Jagdpferd« ungeachtet seiner Charakterfestigkeit nicht ohne einiges Zusammenzucken und fragte mehrmals, indem er das Pferd streichelte:

»Ist es sanft?«

Aber er nahm sich zu Pferde sehr gut aus, – ganz wie ein Großer. Seine in engen Beinkleidern steckenden Schenkel schlossen so fest am Sattel, daß ich neidisch war, besonders weil ich, nach meinem Schatten zu urteilen, bei weitem keine so gute Figur machte.

Jetzt erschallten Papas Schritte auf der Treppe; der Hundewärter trieb die sich umhertummelnden Hunde zusammen; die Jäger riefen ihre Windhunde und bestiegen die Pferde; der Leibjäger führte das Reitpferd vor die Freitreppe und die Hunde von Papas Koppel, die sich bisher in verschiedenen malerischen Stellungen um das Pferd gruppiert hatten, stürzten ihm entgegen. Mit einem Perlenhalsband geschmückt und mit der Schnalle klirrend, kam Milka lustig hinter Papa hergelaufen. Beim Herauskommen pflegte sie sich stets mit den Hunden aus dem Zwinger zu begrüßen: mit den einen spielte sie, mit anderen beschnüffelte sie sich knurrend, und bei noch anderen suchte sie nach Flöhen.

Papa bestieg sein Pferd, und wir brachen auf.

 

Die Jagd.

Allen voran, auf blaugrauem, krummnasigem Pferde, ritt der Pikör, der den Beinamen »der Türke« hatte, mit einer zottigen Pelzmütze auf dem Kopfe, einem riesigen Horn über der Schulter und einem Jagdmesser im Gürtel. Aus dem finstern, wilden Aussehen dieses Menschen hätte man schließen können, daß er nicht zur Jagd, sondern in einen Kampf auf Leben und Tod reite. Neben den Hinterbeinen seines Pferdes liefen in buntem, wogendem Knäuel die zusammengekoppelten Jagdhunde. Es war traurig zu sehen, welches Schicksal den unglücklichen Hund ereilte, der es sich einfallen ließ, zurückzubleiben. Mit großer Anstrengung mußte er seinen Kameraden zu sich herüberziehen, und wenn ihm dies gelungen war, schlug ihn unbedingt einer der hinterher reitenden Hundewärter mit der Hetzpeitsche und schrie ihm zu: »In die Koppel!«

Als wir das Hoftor passiert hatten, befahl Papa den Jägern und uns, die Straße entlang zu reiten, während er selbst ins Roggenfeld hineinlenkte.

Die Getreideernte war in vollem Gange. Das unübersehbare, glänzend gelbe Feld stieß nur an einer Seite an den hohen, bläulich schimmernden Wald, der mir damals als der allerentfernteste und geheimnisvollste Ort erschien, hinter welchem entweder die Welt aufhörte oder eine unbewohnbare Wildnis begann. Das ganze Feld war mit Garben und Menschen bedeckt. Im hohen und dichten Roggen sah man hier und da auf einem ausgemähten Streifen den gekrümmten Rücken einer Schnitterin, das Schwingen der Ähren, wenn sie sie zwischen den Fingern ordnete, dann eine im Schatten stehende Frau, die sich über eine Wiege beugte, und auf dem mit Kornblumen besäten Erntefelde verstreut umherliegende Garben. Auf der anderen Seite luden die Männer, nur mit Hemd und Beinkleid bekleidet und auf den Leiterwagen stehend, die Garben auf, wobei sie auf dem ausgedörrten Felde viel Staub aufwirbelten. Der Aufseher, in hohen Stiefeln, mit über die Schulter geworfenem Rocke und dem Merkholz in der Hand, hatte Papa schon von weitem bemerkt, nahm seinen aus Lämmerwolle gemachten Hut ab, trocknete sein rötliches Haupt- und Barthaar mit einem Handtuche und trieb die Weiber durch Zurufe zur Arbeit an. Der kleine Fuchs, den Papa ritt, ging leicht und tänzelnd, dann und wann den Kopf zur Brust neigend, am Zügel ziehend und mit dem dichten Schweif die Bremsen und Fliegen forttreibend, die sich gierig an ihm festsaugen wollten. Zwei Windhunde setzten graziös über die hohen Stoppeln hinter dem Pferde her, die Beine hochhebend, mit sichelförmig nach oben gekrümmtem Schweife; Milka lief voran und bog den Kopf zurück, als erwarte sie etwas. Die Stimmen der Leute, das Getrampel der Pferde, der Lärm der Wagen, der fröhliche Schlag der Wachteln, das Summen der Insekten, die in fast unbeweglichen Schwärmen in der Luft hingen, der Geruch von Wermut, Stroh und Pferdeschweiß, die tausenderlei Farben und Schatten, welche die glühende Sonne über das hellgelbe Erntefeld, die blaue Ferne des Waldes und die lichtvioletten Wolken verteilte, die weißen Sommerfäden, die in der Luft schwebten oder sich über die Stoppeln legten, – all das sah, hörte und fühlte ich.

Als wir am Kalinowschen Walde anlangten, fanden wir die Liniendroschke schon vor und außerdem – ganz unerwarteterweise – einen einspännigen Feldwagen, in welchem der Küchenmeister saß. Aus dem Heu, das den Boden des Wagens bedeckte, lugten hervor: ein Ssamowar, eine Eismaschine und einige verheißungsvolle Bündelchen und Schächtelchen. Ein Irrtum war nicht möglich: das bedeutete einen Tee im Freien mit Gefrornem und Früchten. Beim Anblick des Wagens bekundeten wir eine lärmende Freude, denn im Walde Tee zu trinken, auf dem Grase gelagert, und überhaupt an einem Orte, auf dem niemand je Tee getrunken hatte, galt uns als besonderer Genuß.

»Der Türke« kam an das Gehölz herangeritten, machte halt, hörte aufmerksam Papas genaue Weisungen an, wie man ausrücken und wo man herauskommen sollte (übrigens befolgte er diese Weisungen niemals, sondern tat, was ihm gut schien), koppelte die Hunde los, band ohne besondere Eile die Koppeln hinten an den Sattel, bestieg wieder sein Pferd und verschwand, den Hunden zupfeifend, hinter den jungen Birken.

Die losgekoppelten Jagdhunde äußerten vor allem durch Schweifwedeln ihre Freude, schüttelten und reckten sich und rannten dann in leichtem Trab schnüffelnd und schweifwedelnd nach verschiedenen Richtungen.

»Hast du ein Taschentuch?« fragte mich Papa.

Ich zog es hervor und zeigte es ihm.

»Nun, so binde diesen grauen Hund daran –«

»Den Giran?« fragte ich mit Kennermiene.

»Ja, und lauf den Weg entlang. Wenn du an die Lichtung kommst, bleibst du stehen. Und paß auf: daß du mir nicht ohne Hasen zurückkommst!«

Ich umwickelte Girans zottigen Hals mit dem Tuche und rannte Hals über Kopf der bezeichneten Stelle zu. Papa lachte und rief mir nach:

»Schneller, schneller! sonst kommst du zu spät!«

Giran blieb alle Augenblicke stehen, spitzte die Ohren und horchte auf die antreibenden Rufe der Jäger. Es fehlte mir an Kraft, ihn von der Stelle zu schleppen, und ich begann zu rufen: »Hatu! hatu!« Da stürmte er so ungestüm vorwärts, daß ich ihn kaum halten konnte und mehr als einmal hinfiel, bevor ich an Ort und Stelle kam. Nachdem ich mir am Fuße einer hohen Eiche ein schattiges und ebenes Plätzchen ausgesucht hatte, legte ich mich ins Gras, placierte Giran neben mir und wartete. Meine Phantasie eilte, wie das in ähnlichen Fällen immer zu sein pflegt, der Wirklichkeit weit voraus: ich bildete mir ein, daß ich schon den dritten Hasen hetzte, während im Walde der erste Hund Laut gab. Die Stimme des »Türken« schallte lauter und lebhafter durch den Wald; ein Jagdhund schlug an, und seine Stimme wurde öfter und öfter hörbar; bald gesellte sich eine zweite, tiefere Stimme dazu, dann eine dritte und vierte. – Zuweilen verstummten diese Stimmen, dann wieder klangen sie bunt durcheinander. Sie wurden immer lauter und anhaltender und vereinigten sich schließlich zu einem hellen, langgezogenen Getöne. Das ganze Gehölz schien von Tönen erfüllt und die Jagdlust der Meute hatte den höchsten Grad erreicht.

Als ich das alles hörte, erstarrte ich förmlich auf meinem Platze. Die Augen fest auf den Waldessaum gerichtet, stand ich da und lächelte gedankenlos; die Schweißtropfen rannen mir über das Gesicht, und obgleich sie mich im Herabrollen am Kinn kitzelten, wischte ich sie nicht ab. Mir war, als ob es keinen wichtigeren Augenblick geben könne als diesen. Eine solche Nervenanspannung war zu unnatürlich, um von Dauer zu sein. Die Jagdhunde ließen sich bald ganz in der Nähe der Lichtung hören, bald in weiterer Ferne; kein Hase zeigte sich. Ich begann mich nach allen Seiten umzuschauen. Giran machte es ähnlich wie ich: zuerst hatte er gewinselt und sich frei machen wollen, dann aber streckte er sich neben mir aus, legte die Schnauze auf mein Knie und beruhigte sich.

Rund um die bloßgelegten Wurzeln der Eiche, unter der ich saß, auf der grauen, trockenen Erde, zwischen dem dürren Eichenlaub, den Eicheln, dem vertrockneten, bemoosten Reisig, dem gelblichgrünen Moos und den spärlichen, dünnen, grünen Grashälmchen wimmelte es von Ameisen. Eine hinter der andern hasteten sie auf den von ihnen selbst gebahnten Wegen vorwärts, einige eine Last schleppend, andere unbeladen. Ich nahm einen dürren Zweig und versperrte ihnen damit den Weg. Man muß es mitangesehen haben, wie sie, jede Gefahr verachtend, entweder unter dem Hindernis durchkrochen oder es überkletterten; aber einige, besonders die beladenen, verloren alle Fassung und wußten nichts anzufangen: sie blieben stehen, suchten einen Umweg, liefen zurück oder gelangten über den Zweig bis zu meiner Hand und schienen die Absicht zu haben, in den Ärmel meines Rockes zu schlüpfen. Von diesen interessanten Beobachtungen wurde ich durch einen gelbflügeligen Schmetterling abgelenkt, der mich äußerst verlockend umgaukelte. Sobald ich ihm aber meine Aufmerksamkeit zuwandte, flog er auf etwa zwei Schritte von mir fort, umflatterte eine halbverwelkte weiße Kleeblüte und ließ sich schließlich darauf nieder. Ich weiß nicht, ob er sich in der Sonne wärmte oder ob er Saft aus der Blume sog, aber ich sah es ihm an, daß er sich ungemein wohl fühlte. Er bewegte nur zuweilen die Flügelchen und schmiegte sich fest an die Blüte; schließlich blieb er unbeweglich sitzen. Ich stützte meinen Kopf in beide Hände und betrachtete ihn mit Vergnügen.

Plötzlich heulte Giran auf und riß mich so ungestüm vorwärts, daß ich beinahe hingefallen wäre. Ich blickte mich um. Am Waldessaume – den einen Löffel gesenkt, den andern gespitzt – sprang ein Hase umher. Mir schoß das Blut zu Kopfe; alles vergessend schrie ich etwas mit wilder Stimme, gab den Hund frei und stürmte vorwärts. Aber kaum hatte ich das getan, als ich's auch schon bereute: der Hase machte ein Männchen, hüpfte hoch auf – und ich sah ihn nicht wieder.

Aber wie sehr schämte ich mich, als hinter der Meute, die jetzt laut bellend die Spur des Hasen auf die Lichtung heraus verfolgte, aus dem Gestrüpp hervortretend »der Türke« erschien! Er hatte meinen Fehler (der darin bestand, daß ich nicht stillgehalten hatte) bemerkt und sagte nur mit einem Blick voller Verachtung: »Ei, Herr!« Aber man muß wissen, wie er das sagte! Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich wie einen Hasen hinten an seinen Sattel gehängt hätte.

Lange stand ich in höchster Verzweiflung auf demselben Fleck, rief den Hund nicht zurück und sagte nur immer wieder, indem ich mich auf die Schenkel schlug:

»Mein Gott, was hab' ich angerichtet!«

Ich hörte, wie die Meute weiterjagte, wie der Lärm sich auf die andere Seite des Gehölzes hinzog, wie »der Türke« mit seinem Riesenhorne die Hunde zurückrief, – aber ich rührte mich nicht von der Stelle.

 

Spiele.

Die Jagd war zu Ende. Im Schatten der jungen Birken wurde ein Teppich ausgebreitet, auf dem sich jetzt die ganze Gesellschaft im Kreise lagerte. Gabriel, der Küchenmeister, drückte das grüne, saftige Gras neben sich nieder, wischte Teller ab und holte aus einer Schachtel in Blätter gewickelte Pflaumen und Pfirsiche hervor. Durch die grünen Zweige der jungen Birken schien die Sonne und warf auf den Teppich, auf meine Füße und sogar auf die schweißbedeckte Glatze Gabriels runde, schwankende Lichtflecken. Der leichte Wind, der durch das Laub der Bäume, durch meine Haare und über mein erhitztes Gesicht wehte, erfrischte mich außerordentlich.

Als wir unsern Anteil am Gefrornen und an den Früchten erhalten hatten, gab es für uns auf dem Teppich nichts mehr zu tun, und trotz der schräg fallenden, glühenden Strahlen der Sonne standen wir auf und gingen spielen.

»Also was spielen wir?« fragte Ljubotschka, mit den Augen blinzelnd und auf dem Grase umherhüpfend, »vielleicht Robinson?«

»Nein, das ist langweilig,« sagte Wolodja, der sich faul ins Gras geworfen hatte und an einem Blatt kaute. »Immer und ewig Robinson! Wenn ihr schon durchaus etwas tun wollt, so laßt uns lieber eine kleine Laube bauen.«

Wolodja machte sich sehr wichtig: wahrscheinlich war er stolz darauf, daß er auf einem Jagdpferde geritten war; er tat, als wäre er sehr müde. Vielleicht auch hatte er schon zu viel gesunden Verstand und zu wenig Einbildungskraft, um sich am Robinsonspiel genügend zu ergötzen. Dieses Spiel bestand in der Darstellung von Szenen aus » Robinson suisse«, den wir nicht lange zuvor gelesen hatten.

»Ach bitte, warum willst du uns nicht das Vergnügen machen?« bettelten die Mädchen; »du wirst Charles sein, oder Ernest, oder der Vater, was du willst,« sagte Katjenka, indem sie sich bemühte, ihn am Rockärmel in die Höhe zu ziehen.

»Ich mag wirklich nicht, es ist langweilig,« entgegnete Wolodja, sich reckend und mit selbstgefälligem Lächeln.

»Da wär's doch besser gewesen, zu Hause zu sitzen, wenn niemand spielen will,« stammelte Ljubotschka unter Tränen. Sie war eine schreckliche Heulliese.

»Na, so kommt, nur wein' bitte nicht, ich kann das nicht ausstehen.«

Wolodjas Herablassung bereitete uns sehr wenig Vergnügen, im Gegenteil: sein träges und gelangweiltes Aussehen zerstörte den ganzen Zauber des Spieles. Als wir uns niedersetzten und – in der Einbildung, daß wir auf den Fischfang fahren – aus allen Kräften zu rudern anfingen, saß Wolodja mit gekreuzten Armen da, in einer Stellung, die nicht die geringste Ähnlichkeit hatte mit derjenigen eines Fischers. Ich sagte ihm das, aber er antwortete, daß wir durch unser stärkeres oder schwächeres Armschwenken weder etwas gewinnen noch verlieren, da wir ja doch nicht von der Stelle kämen. Ich mußte ihm unwillkürlich recht geben. Als ich, einen Gang auf die Jagd darstellend, mit einem Stocke auf der Schulter, dem Walde zuging, legte sich Wolodja mit unterm Kopf verschränkten Händen auf den Rücken und sagte mir, ich solle annehmen, daß auch er zur Jagd gehe. Ein solches Benehmen und solche Reden wirkten abkühlend auf unseren Spieleifer und waren sehr unangenehm, um so mehr, als man im Grunde seines Herzens zugeben mußte, daß Wolodja vernünftig handelte.

Ich weiß ja selbst, daß man mit einem Stocke nicht schießen, geschweige denn einen Vogel töten kann. Es ist nur Spiel. Aber wenn man so urteilt, so kann man ja auch nicht auf Stühlen spazieren fahren, und doch weiß Wolodja noch recht gut, denke ich, wie wir an langen Winterabenden einen Lehnstuhl mit Tüchern bedeckten und aus ihm einen Wagen machten; der eine von uns spielte den Kutscher, der andere den Lakai, die Mädchen saßen in der Mitte, drei Stühle bildeten das Dreigespann – und wir machten uns auf die Reise. Und welch verschiedene Abenteuer erlebte man auf diese Art, und wie lustig und schnell vergingen die Winterabende! – Wenn man nur an die Wirklichkeit denken soll, kann kein Spiel zustande kommen. Und wenn das Spiel aufhört, was bleibt da übrig?

 

Etwas wie eine erste Liebe.

In der Einbildung, daß sie irgend welche amerikanische Früchte vom Baume pflückte, riß Ljubotschka ein Blatt mit einer riesigen Raupe ab, warf es entsetzt zu Boden, hob die Hände hoch und sprang zurück, als fürchte sie, bespritzt zu werden. Das Spiel hörte auf; wir alle warfen uns ins Gras und steckten die Köpfe zusammen, um das Wundertier anzustaunen.

Ich blickte über die Schulter Katjenkas, welche sich bemühte, die Raupe auf ein Blatt zu bringen, das sie ihr vorhielt.

Ich habe bemerkt, daß viele Mädchen die Gewohnheit haben, mit den Schultern zu zucken, um durch diese Bewegung den herabsinkenden Halsausschnitt des Kleides zurechtzurücken. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß Mimi sich über diese Bewegung immer ärgerte und oft sagte: » C'est une geste de femme de chambre.« Über die Raupe gebeugt, machte Katjenka jetzt wieder diese Bewegung, und im selben Moment lüftete der Wind das Halstuch auf ihrem weißen Hälschen, das kaum zwei Finger breit von meinen Lippen entfernt war. Ich blickte hin und drückte einen herzhaften Kuß auf Katjenkas Schulter. Sie drehte sich nicht um, aber ich bemerkte, daß sie sehr rot wurde. Wolodja sagte, ohne den Kopf zu heben, verächtlich:

»Wozu die Zärtlichkeiten?«

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich blickte Katjenka noch immer an. Ich sah ihr frisches, von blonden Locken umrahmtes Gesichtchen seit je sehr gern, heute aber erschien es mir ganz besonders lieblich.

Als wir zu den Erwachsenen zurückkehrten, eröffnete uns Papa zu unsrer großen Freude, daß unsere Abreise auf Mamas Bitten bis zum nächsten Morgen verschoben sei.

Auf dem Heimwege ritten wir neben der Liniendroschke her. Von dem Wunsche beseelt, einander durch Reiterkunststückchen und Kühnheit zu übertreffen, tummelten Wolodja und ich unsere Pferde um den Wagen herum. Mein Schatten war jetzt länger als vorhin und daher meinte ich, daß ich das Aussehen eines stattlichen Reitersmannes haben müsse; aber die Selbstzufriedenheit, die ich darüber empfand, ward bald durch folgendes Geschehnis vernichtet: Um alle auf der Droschke Sitzenden völlig für mich einzunehmen, blieb ich ein wenig zurück, trieb dann mit der Gerte und den Stiefelabsätzen mein Pferdchen an, gab mir eine ungezwungen-graziöse Haltung und wollte wie ein Wirbelwind an der Seite des Wagens, wo Katjenka saß, vorüberjagen. Nur wußte ich nicht, wie es sich besser ausnehmen würde: wenn ich schweigend vorbeiritt oder wenn ich einen wilden Schrei ausstieß? – Doch das unausstehliche Pferd hatte kaum das Droschkengespann eingeholt, als es ungeachtet all meiner Bemühungen so plötzlich stehen blieb, daß ich aus dem Sattel auf den Hals des Pferdes flog und beinahe abgeworfen worden wäre.

 

Was mein Vater für ein Mann war.

Er war ein Mann des vorigen Jahrhunderts und besaß die Charaktereigenschaften, welche der Jugend jener Zeit eigen waren: Ritterlichkeit, Unternehmungslust, Selbstvertrauen, Liebenswürdigkeit und Vergnügungssucht. Auf die Menschen unseres Jahrhunderts blickte er mit Verachtung; das kam sowohl von dem ihm angeborenen Stolz, als auch von dem heimlichen Ärger darüber, daß er in unserer Zeit nicht mehr den Einfluß und die Erfolge haben konnte, die er zu seiner Zeit gehabt hatte. Seine beiden Hauptleidenschaften waren die Karten und die Frauen. Er hatte in seinem Leben einige Millionen gewonnen und verloren und hatte Beziehungen zu unzähligen Frauen aller Stände angeknüpft.

Ein hoher, stattlicher Wuchs, ein sonderbarer, fast trippelnder Gang, die Gewohnheit, mit der Schulter zu zucken, kleine, immer lächelnde Augen, eine große Adlernase, unregelmäßige, aber gefällig gefügte Lippen, ein kleiner Sprachfehler – er lispelte – und eine große, über den ganzen Kopf gehende Glatze: das war das Äußere meines Vaters von der Zeit an, wo ich mich seiner erinnere, ein Äußeres, mit dem er es verstand, nicht nur ein Mann à bonnes fortunes zu heißen und zu sein, sondern auch allen ohne Ausnahme zu gefallen, Menschen aller Stände und Kreise und besonders denen, welchen er gefallen wollte.

Er verstand es, im Umgange mit jedem die erste Rolle zu spielen. Ohne je den »höchsten« Gesellschaftskreisen angehört zu haben, verkehrte er immer mit Leuten dieser Kreise, und zwar so, daß er von ihnen geachtet wurde. Er kannte jenes äußere Maß von Stolz und Selbstvertrauen, welches, ohne die andern zu verletzen, ihn in den Augen der Welt höher stellte. Er war originell, aber nicht immer; er gebrauchte die Originalität als ein Mittel, welches in manchen Fällen Weltgewandtheit und Reichtum ersetzt. Nichts auf Erden vermochte ihn in Verwunderung zu setzen; wie glänzend seine Lage auch sein mochte, es schien immer, als sei er in ihr geboren. Er verstand es so gut, die allbekannte, dunkle, mit kleinlichen Verdrießlichkeiten und Unannehmlichkeiten erfüllte Hälfte seines Lebens vor anderen zu verbergen und von sich selbst fernzuhalten, daß man nicht umhin konnte, ihn zu beneiden. Er war Kenner in alle dem, was Bequemlichkeit und Genuß verschaffen kann, und wußte sich dessen zu bedienen. Sein Steckenpferd waren die glänzenden Verbindungen, zu denen er teils durch den Verwandtenkreis meiner Mutter, teils durch seine Jugendfreunde gekommen war; über die letzteren ärgerte er sich im Grunde seines Herzens, weil sie es zu hohem Rang gebracht hatten, während er für immer Gardeleutnant a. D. geblieben war. Wie alle früheren Militärs verstand er es nicht, sich nach der Mode zu kleiden, aber er kleidete sich wenigstens originell und geschmackvoll. Er trug stets bequeme und leichte Kleider, schöne Wäsche, breit umgeschlagene Kragen und Manschetten. Übrigens stand ihm alles gut bei seiner stattlichen Figur, dem kahlen Kopf und den ruhigen, selbstbewußten Bewegungen. Er war gefühlvoll und sogar leicht gerührt. Wenn er beim Vorlesen an eine pathetische Stelle kam, fing seine Stimme oft an zu zittern, seine Augen füllten sich mit Tränen, und ärgerlich legte er das Buch beiseite. Er liebte die Musik und sang bisweilen – sich selbst auf dem Klavier begleitend – die Romanzen seines Freundes A..., Zigeunerlieder oder Opernmotive; klassische Musik aber hatte er nicht gern, und ohne sich um die allgemeine Meinung zu kümmern, gestand er offen, daß Beethovens Sonaten ihm Langweile und Schlaf verursachten, und daß er nichts Schöneres kannte als »Weckt mich junges Mädchen nicht«, so wie die Ssemjonowa es sang, oder das »Nicht allein« der Zigeunerin Tanjuscha. Er war einer jener Charaktere, die zu einer guten Tat unbedingt ein Publikum haben müssen. Und nur das hielt er für gut, was das Publikum gut nannte. Gott weiß, ob er überhaupt irgend welche moralische Überzeugungen hatte. Sein Leben war so ausgefüllt mit Zerstreuungen jeder Art, daß er keine Zeit fand, sich Überzeugungen zu bilden, und es verlief so glücklich, daß er auch die Notwendigkeit dazu nicht einsah. Im Alter bildeten sich in ihm zwar feste Ansichten aus, aber nur auf praktischer Grundlage: die Art des Handelns und der Lebensweise, die ihm Glück und Vergnügungen verschafft hatten, nannte er gut und fand, daß jedermann immer so handeln müßte. Er war äußerst redegewandt, und diese Fähigkeit, glaube ich, trug viel zur Unsicherheit seiner Grundsätze bei: er konnte ein und dieselbe Handlung sowohl als reizende Schelmerei wie als niedrige Gemeinheit schildern.

 

Beschäftigungen im Arbeitszimmer und im Salon.

Es dämmerte schon, als wir zu Hause ankamen. Maman setzte sich an das Klavier, wir Kinder holten Papier, Bleistifte und Farben herbei und setzten uns um den runden Tisch, um zu zeichnen. Ich hatte nur blaue Farbe, nahm mir aber trotzdem vor, die Jagd zu malen. Schnell hatte ich einen blauen Knaben auf blauem Pferd und von blauen Hunden gefolgt hingemalt, dann aber geriet ich in Zweifel, ob ich einen blauen Hasen malen könne, und lief ins Arbeitszimmer zu Papa, um mit ihm darüber zu beraten. Papa las gerade, und auf meine Frage, ob es blaue Hasen gebe, antwortete er ohne aufzusehen: »Es gibt, mein Freund, es gibt!« Zum runden Tisch zurückgekehrt, entwarf ich einen blauen Hasen, fand es dann aber doch notwendig, aus diesem blauen Hasen einen Strauch zu machen. Allein auch der Strauch gefiel mir nicht; ich verwandelte ihn in einen Baum, den Baum in einen Heuschober, den Heuschober in eine Wolke, und schließlich war das ganze Papier mit blauer Farbe verschmiert, so daß ich es ärgerlich zerriß und mich bequem in einen Lehnstuhl setzte, um zu schlummern.

Maman spielte das zweite Konzert von Field, ihrem Lehrer. Ich war im Einschlafen, und in meiner Phantasie tauchten verschiedene leichte, helle, duftige Erinnerungsbilder auf. Dann spielte sie die Sonate pathétique von Beethoven, und durch meinen Sinn zog etwas Trauriges, Schweres, Finsteres. Maman pflegte diese zwei Stücke oft zu spielen, daher erinnere ich mich genau der Empfindungen, die sie in mir wachriefen. Diese Empfindungen glichen Erinnerungen, aber Erinnerungen an was? – Es war, als erinnerte ich mich an etwas, was nie geschehen war.

Mir gegenüber befand sich die Tür zu Papas Arbeitszimmer, und ich sah, wie Jakob und einige bärtige Männer in langen Bauernröcken dort eintraten. Die Tür schloß sich sofort hinter ihnen. »Aha, jetzt beginnen die Geschäfte!« dachte ich. Mir schien es, als gebe es auf der ganzen Welt nichts Wichtigeres als die Dinge, die im Arbeitszimmer vorsichgingen; in diesem Glauben bestärkte mich noch der Umstand, daß alle, die sich der Tür des Arbeitszimmers näherten, gewöhnlich nur auf den Zehenspitzen und leise flüsternd daran vorübergingen; aus dem Zimmer heraus aber schallte Papas laute Stimme und drang Zigarrenduft, der für mich immer – ich weiß selbst nicht, warum – eine große Anziehungskraft besaß.

Im Halbschlummer vernahm ich plötzlich von der Offiziantenstube her ein mir sehr bekanntes Stiefelknarren: Karl Iwanowitsch näherte sich auf den Fußspitzen, aber mit finsterem und entschlossenem Gesichte, mit verschiedenen Zetteln in der Hand, der Tür des Arbeitszimmers und klopfte leise an. Er wurde hineingelassen und die Tür fiel wieder zu.

»Wenn nur kein Unglück geschieht!« dachte ich; »Karl Iwanowitsch ist verärgert, – er ist zu allem fähig –« Dann schlummerte ich wieder ein.

Allein es geschah keinerlei Unglück; nach einer Weile weckte mich dasselbe Stiefelknarren. Karl Iwanowitsch trat aus dem Arbeitszimmer, sich mit dem Taschentuch die Tränen von den Wangen trocknend, murmelte etwas vor sich hin und ging nach oben. Nun kam auch Papa heraus und betrat den Salon.

»Weißt du, was ich eben beschlossen habe?« fragte er in heiterem Tone, indem er maman die Hand auf die Schulter legte.

»Was denn, mein Freund?«

»Ich nehme Karl Iwanowitsch mit den Kindern nach Moskau. Im Reisewagen ist Platz genug. Sie sind an ihn gewöhnt, und er seinerseits scheint wirklich sehr an ihnen zu hängen; und siebenhundert Rubel im Jahre kommen doch gar nicht in Betracht, et puis au fond c'est un très bon diable

Ich begriff durchaus nicht, warum Papa Karl Iwanowitsch schimpfte. »Das freut mich sehr,« entgegnete maman, »für ihn und für die Kinder: er ist ein prächtiger alter Herr.«

»Wenn du gesehen hättest, wie gerührt er war, als ich ihm sagte, er möge die fünfhundert Rubel als Geschenk betrachten! Aber das Alleramüsanteste ist doch die Rechnung, die er mir gebracht hat! Die ist wirklich wert, angesehen zu werden!« fügte Papa lächelnd hinzu, indem er maman einen von Karl Iwanowitsch beschriebenen Zettel hinhielt, »wirklich prachtvoll!«

Auf dem Zettel stand in unorthographischem und ungrammatikalischem Russisch folgendes:

»Für die Kinder zwei Angeln 70 Kop.
Buntes Papier, Goldborte, Kleister und Modell für eine
Schachtel, als Geschenk 6 Rbl. 55 Kop.
Buch u. Armbrust, Geschenke f. d. Kinder 8 Rbl. 16 Kop.
Beinkleid für Nikolaj 4 Rbl. 16 Kop.
Die von Peter Alexandrowitsch i. J. 18.. versprochene
goldene Uhr aus Moskau 140 Rbl. 16 Kop.

Folglich hat Karl Mauer außer dem Gehalt zu bekommen: 159 Rbl. 79 Kop.

Beim Lesen dieser Rechnung, in welcher Karl Iwanowitsch verlangt, daß man ihm alles bezahle, was er für Geschenke ausgegeben, und daß man ihm sogar ein versprochenes Geschenk vergüte, wird jedermann denken, daß Karl Iwanowitsch nichts als ein gefühlloser und habsüchtiger Egoist gewesen sei, – und jedermann wird sich irren.

Als Karl Iwanowitsch mit den Zetteln in der Hand und einer wohlvorbereiteten Rede im Kopf das Arbeitszimmer betreten hatte, war es seine Absicht gewesen, meinem Vater in schön gesetzten Worten alle die Ungerechtigkeiten vorzuhalten, die er in unserem Hause erduldet hatte; aber als er dann zu sprechen anfing – mit rührender Stimme und der gefühlvollen Betonung, mit welcher er uns zu diktieren pflegte, – wirkte seine Beredsamkeit am stärksten auf ihn selbst, so daß er, als er an die Stelle kam, an welcher er sagen wollte: »So traurig es für mich auch sein wird, mich von den Kindern zu trennen –«, in Verwirrung geriet; seine Stimme bebte, und er war gezwungen, sein kariertes Taschentuch aus der Tasche zu ziehen.

»Ja, Peter Alexandrowitsch,« sagte er unter Tränen (diese Worte waren in der beabsichtigten Rede gar nicht vorgesehen), »ich habe mich an die Kinder so gewöhnt, daß ich nicht weiß, was ich ohne sie anfangen werde. Lieber will ich ohne Gehalt bei Ihnen bleiben,« fügte er hinzu, indem er mit einer Hand seine Tränen trocknete und mit der andern die Rechnung überreichte.

Daß Karl Iwanowitsch in diesem Augenblick aufrichtig war, das kann ich ruhig behaupten, denn ich kenne sein gutes Herz. Aber wie die Rechnung mit seinen Worten in Einklang zu bringen ist, – das bleibt mir ein Rätsel.

»Wenn es Ihnen schwer fällt, – mir wäre es noch schwerer, mich von Ihnen zu trennen,« sagte Papa, ihm auf die Schulter klopfend, »ich hab' mir's überlegt.« – – –

Kurz vor dem Abendessen trat Grischa ins Zimmer. Von dem Augenblick an, da er in unser Haus gekommen war, hatte er nicht aufgehört, zu seufzen und zu weinen, was nach der Meinung derer, die an seine Weissagungsgabe glaubten, für unser Haus irgend ein Unglück bedeuten mußte. Er verabschiedete sich und erklärte, daß er morgen früh weiterwandern werde. Ich blinzelte Wolodja zu und ging zur Tür hinaus.

»Was ist los?«

»Wenn ihr Grischas Ketten sehen wollt, so kommt gleich nach oben auf die Männerabteilung der Dienstboten. Grischa schläft im zweiten Zimmer, – in dem Verschlage daneben kann man famos sitzen, – von dort können wir alles sehen!«

»Vortrefflich! Warte hier, ich hol' die Mädels.«

Die Mädchen kamen herausgelaufen und wir begaben uns hinauf. Nicht ohne Streit entschieden wir, wer als erster in den dunklen Verschlag hinein sollte; dann setzten wir uns darin nieder und warteten.

 

Grischa.

Uns allen war in der Dunkelheit ein wenig bange; wir schmiegten uns aneinander und sprachen kein Wort. Sehr bald nach uns trat Grischa langsamen Schrittes ins Zimmer. In der einen Hand hielt er seinen Stab, in der andern einen Messingleuchter mit einem Talglichte. Wir hielten den Atem an.

»Herr Jesus Christus! Heilige Mutter Gottes! Ehre sei dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste – –« wiederholte er mehrmals seufzend mit verschiedenen Betonungen und Kürzungen, die nur denen eigen sind, welche diese Worte oft sprechen.

Nachdem er unter Gebet seinen Stab in die Ecke gestellt und sein Bett angeschaut hatte, begann er sich auszukleiden. Seinen alten schwarzen Gurt lösend, warf er langsam den zerrissenen langen Nankingrock ab, legte ihn sorgfältig zusammen und hing ihn über eine Stuhllehne. Sein Gesicht drückte jetzt nicht mehr wie gewöhnlich ängstliche Hast und Stumpfsinn aus, es war im Gegenteil ruhig, nachdenklich und sogar hoheitsvoll. Seine Bewegungen waren langsam und wohlüberlegt.

Als er die Oberkleider abgelegt hatte, ließ er sich bedächtig auf das Bett nieder, machte nach allen Seiten das Zeichen des Kreuzes darüber und rückte mit merklicher Anstrengung (denn er verzog das Gesicht dabei) die Ketten unter seinem Hemde zurecht. Er saß ein Weilchen still da und betrachtete sorgenvoll seine an einzelnen Stellen zerrissene Wäsche, dann richtete er sich auf, hob das Licht unter Gebet bis zur Höhe des Heiligenschreines, in welchem einige Heiligenbilder standen, bekreuzigte sich vor ihnen und drehte das Licht mit der Flamme nach unten. Es verlosch knisternd.

Durch die Fenster, die sich auf der Waldseite befanden, fiel das Licht des Vollmondes. Die lange, weiße Gestalt des Idioten war von einer Seite von den blassen, silberigen Mondesstrahlen beleuchtet und warf nach der andern einen langen Schatten, der über Fußboden und Wände bis zur Decke reichte. Auf dem Hofe schlug der Wächter auf die Kupferplatte.

Die großen Hände auf der Brust gefaltet, den Kopf geneigt und immer wieder schwer aufseufzend, stand Grischa stumm vor den Heiligenbildern, ließ sich dann mit Anstrengung auf die Knie nieder und begann zu beten.

Zuerst flüsterte er bekannte Gebete, indem er nur einzelne Worte stärker betonte, dann wiederholte er sie lauter und mit größerer Inbrunst. Endlich begann er mit eigenen Worten zu beten, wobei er sich eifrig bemühte, sich der Kirchensprache zu bedienen. Seine Worte waren unzusammenhängend, aber rührend. Er betete für alle seine Wohltäter (so nannte er diejenigen, die ihn bei sich aufzunehmen pflegten), darunter auch für unsere Mutter und uns selbst; er betete auch für sich, bat, Gott möge ihm seine schweren Sünden verzeihen, und wiederholte häufig: »Herr, vergib meinen Feinden!« Stöhnend und immer wieder die Gebetsworte sprechend, erhob er sich, warf sich wieder auf die Kniee nieder, erhob sich wieder und so fort, ungeachtet der schweren Ketten, die bei der Berührung mit dem Boden ein hartes, scharfes Klirren hören ließen.

Walodja kniff mich schmerzlich ins Bein, aber ich sah mich nicht einmal um, rieb nur die Stelle mit der Hand und ließ nicht ab, mit einem aus kindlichem Staunen, Mitleid und Andacht zusammengesetzten Gefühl allen Bewegungen und Worten Grischas zu folgen.

Anstatt des lustigen Spaßes, den ich beim Aufsuchen des Verschlages erwartet hatte, empfand ich Beklemmung und Herzklopfen.

Lang noch blieb Grischa in diesem Zustande religiöser Verzückung und improvisierte Gebete. Bald wiederholte er schnell nacheinander: »Herr, erbarme dich!« aber jedesmal mit neuer Kraft und stärkerer Betonung; bald flehte er: »Verzeih mir, Herr! lehre mich, was ich tun soll! O lehre mich, was ich tun soll, Herr!« mit solcher Inbrunst, als erwarte er sofort eine Antwort auf seine Worte; dann wieder hörte man nur herzbrechendes Schluchzen. – Er richtete sich auf den Knien auf, faltete die Hände über der Brust und verstummte.

Ich streckte vorsichtig den Kopf zur Tür hinaus und hielt den Atem an. Grischa rührte sich nicht; schwere Seufzer entrangen sich seiner Brust; in der trüben Pupille seines blinden, vom Monde beschienenen Auges glänzte eine Träne.

»Dein Wille geschehe!« rief er plötzlich laut mit unnachahmlichem Ausdruck, warf sich nieder, mit der Stirn den Fußboden berührend, und schluchzte wie ein Kind.

Viel Wasser ist seit jener Zeit den Berg hinabgeflossen, viele Erinnerungen an die Vergangenheit haben für mich jede Bedeutung verloren und sind zu verworrenen Schattengebilden geworden; auch der unstäte Wanderer Grischa hat längst schon seine letzte Pilgerreise vollendet; aber der Eindruck, den er auf mich gemacht hat, und das Gefühl, das er in mir erweckt hat, werden in meinem Gedächtnis nie erlöschen.

O du großer Christ Grischa! Dein Glaube war so mächtig, daß du die Nähe Gottes spürtest, deine Liebe so stark, daß die Worte wie von selbst deinen Lippen entströmten, ohne daß du sie vom Verstande abschätzen ließest. – Und welch hohes Lob brachtest du der Erhabenheit Gottes dar, als du dich wortlos zu Boden warfst und weintest! ...

 

Natalia Ssawischna.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts lief im Dorfe Chabarowka in zerrissenem Kleide ein barfüßiges, lustiges, rundliches und rotbäckiges Mädel umher: Nataschka. Um die Verdienste ihres Vaters, des Klarinettisten Ssawwa, zu belohnen, erfüllte mein Großvater dessen Bitte und nahm das Mädchen ins Herrschaftshaus, wo es den weiblichen Dienstboten meiner Großmutter zugezählt wurde. Als Stubenmädchen zeichnete Nataschka sich durch Sanftmut und Pflichteifer aus, und als meine Mutter zur Welt kam und eine Wärterin notwendig wurde, wählte man Nataschka dazu. Auch auf dem neuen Schauplatz ihrer Tätigkeit erntete sie Lob und Belohnung für ihren Fleiß, ihre Treue und ihre Anhänglichkeit an die junge Herrin. Doch die gepuderten Locken und die Schnallenschuhe des jungen, schneidigen Dieners Foka, der dienstlich oft mit Natalia zu tun hatte, nahmen ihr zwar rauhes, aber hartes Herz gefangen. Sie entschloß sich sogar, selbst zu meinem Großvater zu gehen und ihn um die Erlaubnis zu bitten, Foka heiraten zu dürfen. Mein Großvater legte diese Bitte als Undankbarkeit aus, geriet in Zorn und verbannte die arme Natalia zur Strafe auf den Viehhof eines Steppengutes. Jedoch nach sechs Monaten wurde sie – da sie durch niemand ersetzt werden konnte – ins Herrschaftshaus zurückgeholt und wieder in ihr früheres Amt eingesetzt. Aus der Verbannung zurückgekehrt, erschien sie im groben Zwillichkittel vor meinem Großvater, fiel ihm zu Füßen und bat ihn, er möge ihr seine Gnade nicht länger entziehen und die Torheit vergessen, die sie überfallen hatte, aber – wie sie unter Schwüren beteuerte – nie wiederkehren werde. Und in der Tat, sie hielt Wort.

Von der Zeit an wurde sie nicht mehr Nataschka, sondern Natalia Ssawischna genannt und trug ein Häubchen; den ganzen Vorrat an Liebe aber, der sich in ihr barg, schenkte sie nun ihrem kleinen Fräulein.

Als sie bei meiner Mutter durch eine Gouvernante abgelöst wurde, vertraute man ihr die Schlüssel zur Vorratskammer, die Wäsche und überhaupt alle Vorräte an. Auch diese neuen Pflichten erfüllte sie mit Eifer und Hingabe. Sie sorgte nur noch für Hab und Gut ihrer Herrschaft, sah überall Verschwendung, Mißbrauch und Veruntreuung und bemühte sich aus aller Kraft, dagegenzuwirken.

Als maman heiratete, wollte sie Natalia Ssawischna auf irgend eine Weise für ihre zwanzigjährigen treuen Dienste belohnen; sie rief sie zu sich und übergab ihr – nachdem sie in den schmeichelhaftesten Worten all ihre Dankbarkeit und Zuneigung ausgedrückt hatte – einen Stempelbogen, der Natalias Freilassung verkündete, und sagte ihr zugleich, daß sie – ganz einerlei, ob sie in unserer Familie weiterdienen wolle oder nicht – bis an ihr Ende eine jährliche Pension von dreihundert Rubeln erhalten werde. Natalia hörte das alles schweigend an, nahm das Papier, blickte es zornig an, murmelte etwas zwischen den Zähnen und lief aus dem Zimmer, die Tür hinter sich zuschlagend. Da maman den Grund dieses seltsamen Benehmens nicht herausfinden konnte, begab sie sich nach einer kleinen Weile in Natalias Zimmer. Diese saß mit verweinten Augen auf ihrem Koffer, zupfte und zerrte an ihrem Taschentuche und starrte auf die zu ihren Füßen verstreuten Fetzen des zerrissenen Freibriefes.

»Was haben. Sie denn nur, Herzchen, Natalia Ssawischna?« fragte maman, sie bei der Hand fassend.

»Nichts, Herrin,« antwortete Natalia, »ich bin Ihnen wahrscheinlich irgendwie zuwider, daß Sie mich vom Hofe jagen. – Gut, ich werd' halt gehen!«

Sie machte ihre Hand frei und wollte, mühsam die Tränen verhaltend, das Zimmer verlassen, Maman hielt sie zurück, schloß sie in die Arme, und beide brachen in Tränen aus.

Solange ich mich meiner selbst erinnere, kenne ich Natalia Ssawischna, ihre Liebe und Zärtlichkeit; aber erst jetzt verstehe ich sie zu würdigen, – damals kam es mir nicht zum Bewußtsein, welch ein seltenes, prächtiges Menschenkind diese Alte war. Sie sprach nicht nur niemals von sich selbst, – sie dachte auch nicht an sich, glaube ich: ihr ganzes Leben war Liebe und Selbstverleugnung. Ich war so gewöhnt an ihre uneigennützige, zärtliche Liebe zu uns, daß ich es mir gar nicht anders vorstellen konnte, gar keine Dankbarkeit gegen sie empfand und mir niemals die Frage vorlegte: ob sie wohl auch glücklich und mit ihrem Lose zufrieden ist?

Zuweilen lief ich unter dem Vorwande eines dringenden Bedürfnisses aus der Unterrichtsstunde fort und in ihr Zimmer, setzte mich behaglich zurecht und begann laut zu träumen und Luftschlösser zu bauen, ohne mich im geringsten durch ihre Anwesenheit stören zu lassen. Sie war immer mit irgend etwas beschäftigt: entweder strickte sie einen Strumpf, oder sie kramte in den Koffern, mit denen ihr Zimmer vollgestellt war, oder sie zählte und notierte die Wäsche, und dabei hörte sie auf jeden Unsinn, den ich schwatzte, wie zum Beispiel: »Wenn ich General sein werde, heirate ich eine wunderschöne Frau und kauf' mir ein schönes Pferd – einen Fuchs; dann bau' ich mir ein Haus aus lauter Glas und lasse die Verwandten von Karl Iwanowitsch aus Sachsen kommen« undsoweiter. Sie sagte zu allem dann nur: »Ja, mein Herzensjunge, ja!« Wenn ich aufstand, um fortzugehen, öffnete sie gewöhnlich einen himmelblau angestrichenen Koffer, dessen Deckel auf der Innenseite – ich weiß es noch, als sähe ich's heute! – mit dem bunten Bilde irgend eines Husaren, der Etikette einer Pomadenbüchse und einer Zeichnung von Wolodja beklebt war, holte ein Stückchen Räucherholz hervor, zündete es an, schwenkte es hin und her und sprach:

»Weihrauch ist's, mein Liebling. Als euer seliger Großvater – Gott schenke ihm die ewige Ruhe! – gegen die Türken zog, brachte er's von dort mit. Nur dies eine Stückchen ist mir noch geblieben,« setzte sie seufzend hinzu.

Die Koffer, die in ihrem Zimmer standen, enthielten einfach alles. Wenn etwas im Hause gebraucht wurde, einerlei was es war, so hieß es: »Man muß Natalia Ssawischna fragen!« Und tatsächlich: nach einigem Kramen fand sie das Gewünschte und pflegte dann zu sagen: »Es ist doch gut, daß ich's aufgehoben hab'.« In diesen Koffern gab es tausenderlei Dinge, um die kein Mensch im Hause außer ihr selbst wußte und um die sich niemand kümmerte.

Einmal war ich sehr böse auf sie. Das kam so: als ich mir beim Mittagessen Kwaß Säuerliches Getränk aus Schwarzbrotteig und Malz. (Anm. d. Übers.) einschenken wollte, ließ ich die Karaffe fallen und begoß das Tischtuch.

»Ruft doch Natalia Ssawischna, damit sie sich über ihren Liebling freue!« sagte maman.

Natalia Ssawischna kam herein und schüttelte den Kopf beim Anblick der von mir angerichteten Überschwemmung; maman sagte ihr etwas ins Ohr, und sie ging – mir mit dem Finger drohend – hinaus.

Nach dem Mittagessen hüpfte ich in lustigster Stimmung in den Saal, als plötzlich Natalia Ssawischna hinter der Tür hervorsprang, mich einfing und trotz meines verzweifelten Widerstandes mit dem nassen Tischtuch mein Gesicht zu reiben begann, wobei sie sprach: »Mach keine Tischtücher schmutzig! Mach keine Tischtücher schmutzig!« Ich fühlte mich dadurch so beleidigt, daß ich vor Wut brüllte.

»Wie!« sagte ich mir, im Saale auf und ab gehend und laut schluchzend. »Natalia Ssawischna, eine einfache ›Natalia‹, sagt zu mir du und schlägt mich noch dazu mit einem nassen Tischtuch ins Gesicht wie einen Dorfbengel! Nein, das ist entsetzlich!«

Als Natalia Ssawischna sah, daß ich böse war, lief sie sofort davon, ich aber dachte – immer noch auf und nieder gehend – darüber nach, wie ich mich an der frechen »Natalia« für die mir zugefügte Beleidigung rächen könnte.

Nach einigen Minuten kam Natalia Ssawischna wieder ins Zimmer, näherte sich mir schüchtern und begann mich zu trösten:

»Genug, mein Herzensväterchen, weinen Sie doch nicht! Verzeihen Sie mir dummen Person! Ich bin schuld, aber verzeihen Sie mir doch, mein Täubchen! Hier – nehmen Sie!«

Sie zog unter ihrem Tuch eine rote Papiertüte hervor, in welcher sich zwei Bonbons und eine Weinbeere befanden, und hielt sie mir mit zitternder Hand hin. Ich hatte nicht die Kraft, der guten Alten ins Gesicht zu sehen; halb abgewandt nahm ich das Geschenk entgegen, und meine Tränen flössen noch reichlicher, aber nicht mehr aus Zorn, sondern aus Liebe und Scham.

 

Die Trennung.

Am Tage nach den geschilderten Jagderlebnissen standen um zwölf Uhr vormittags eine große Kalesche und ein offener Wagen vor der Freitreppe. Nikolaj war reisemäßig gekleidet, das heißt er hatte die Beinkleider in die Stiefelschäfte gesteckt und den alten Überrock ganz eng umgürtet. Er stand in dem offenen Wagen und legte Mäntel und Polster auf dem Sitz zurecht; wenn ihm der Sitz zu hoch schien, setzte er sich auf die Polster und hüpfte auf und nieder, um sie niederzudrücken.

»Tun Sie mir doch den Gefallen, Nikolaj Dmitritsch, und nehmen Sie die Schatulle des gnädigen Herrn zu sich,« bat atemlos Papas Kammerdiener, indem er den Kopf aus der Kalesche hervorsteckte; »sie ist klein.«

»Hätten Sie das früher gesagt, Michej Iwanowitsch,« erwiderte Nikolaj hastig und ärgerlich, indem er mit aller Kraft ein Bündel auf den Boden des Wagens warf. »Bei Gott, man weiß ohnedies nicht, wo einem der Kopf steht, und da kommen Sie noch mit Ihren Schatullen!« Er lüftete seine Mütze und wischte die Schweißtropfen von seiner sonnverbrannten Stirn.

Die Bauern des Hofes in kurzen und langen Röcken, in Hemdärmeln, ohne Mützen, Weiber in grobgestreiften Leinenkleidern und bunten Tüchern, ihre Kinder auf den Armen haltend, und bloßfüßige Jungen und Mädchen standen an der Veranda, schauten die Equipagen an und plauderten miteinander. Einer der Kutscher, ein etwas nach vorne gebeugter Alter mit Wintermütze und warmem Rock, hielt die Deichsel der Kalesche in der Hand, rüttelte an ihr und besah mit Kennermiene den Gang. Ein anderer, ein stattlicher, junger Bursche in weißem Hemde mit roten Verzierungen und schwarzem Filzhut, den er, in seinen blonden Locken wühlend, bald auf das eine, bald auf das andere Ohr schob, legte seinen Rock auf den Kutschbock, warf die Zügel darauf und schaute – mit der kurzen, geflochtenen Peitsche spielend – bald auf seine Stiefel, bald auf die Kutscher, welche den Wagen schmierten. Einer von diesen hielt mit aller Kraft den Hebebaum, der andere schmierte, über das Rad gebeugt, sorgfältig die Achse und die Nabe, und damit der übrigbleibende Teer nicht verderbe, schmierte er ihn sogar an die Außenseite der Räder. Die verschiedenfarbigen, struppigen Postpferde standen am Gitterzaun und wehrten mit ihren Schweifen die Fliegen ab. Die einen hatten ihre zottigen, dicken Füße vorgestellt und die Augen zugedrückt und schlummerten, die andern rieben sich aus Langeweile aneinander oder zupften an den Blättern und Stengeln des harten, dunkelgrünen Farnkrautes, welches neben der Veranda wuchs. Einige Windhunde lagen keuchend in der Sonne, während andere sich in den Schatten der Wagen geflüchtet hatten und den an den Achsen hervorgequollenen Talg wegleckten. Die Luft war von staubigem Dunst erfüllt; der Horizont von grauvioletter Farbe, aber kein Wölkchen stand am Himmel. Ein starker Westwind trieb große Staubwolken von den Feldern und der Straße, beugte die Wipfel der hohen Linden und Birken des Gartens und trug die gefallenen gelben Blätter weit fort. Ich saß am Fenster und erwartete mit Ungeduld das Ende aller Vorbereitungen.

Als alle im Salon um den runden Tisch versammelt waren, um ein letztes Mal einige Minuten zusammen zu verbringen, kam es mir gar nicht in den Sinn, welch ein schwerer Augenblick uns bevorstand. Die allerunbedeutendsten Gedanken zogen durch meinen Kopf. Ich legte mir Fragen vor, wie zum Beispiel: Welcher Kutscher wird den offenen Wagen lenken und welcher die Kalesche? Wer wird mit Papa fahren und wer mit Karl Iwanowitsch? Und warum will man mich auf jeden Fall in einen Schal und eine wattierte Überjacke einwickeln? Bin ich denn ein solcher Weichling? Ich werd' schon nicht erfrieren! Wenn doch nur schon alles beendet wäre! Aufsitzen und abfahren!

»Wem befehlen Sie die Liste der Kinderwäsche zu übergeben?« fragte die mit verweinten Augen und einem Zettel in der Hand ins Zimmer tretende Natalia Ssawischna, indem sie sich an maman wandte.

»Geben Sie sie Nikolaj und kommen Sie doch nachher sich von den Kindern verabschieden.«

Die Alte wollte etwas sagen, hielt jedoch plötzlich inne, bedeckte das Gesicht mit ihrem Taschentuch, machte eine traurige Handbewegung und verließ das Zimmer. Mein Herz zog sich zusammen, als ich diese Bewegung sah; aber die Ungeduld, endlich abzufahren, war stärker als dieses Gefühl, und ich hörte wieder völlig gleichgültig dem Gespräch zwischen Vater und Mutter zu. Sie sprachen von Dingen, welche – was sehr wohl zu merken war – keinen von beiden interessierten; was für das Haus einzukaufen sei, was man der Fürstin Sofie und Madame Julie sagen solle, und ob der Weg gut sein würde.

Foka trat ein, blieb auf der Schwelle stehen und sagte im selben Ton, in welchem er zu melden pflegte, daß angerichtet sei: »Die Pferde sind bereit.« Ich merkte, daß maman zusammenzuckte und erbleichte, als käme ihr diese Meldung unerwartet.

Foka erhielt den Befehl, alle Türen im Zimmer zu schließen. Das amüsierte mich sehr, denn es war, als ob wir uns vor jemand versteckten.

Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, setzte sich auch Foka auf eine Stuhlecke. Doch kaum hatte er dies getan, als die Tür knarrte und alle sich umblickten. Natalia Ssawischna trat schnell ins Zimmer und drückte sich, ohne den Blick zu erheben, gleich bei der Tür auf denselben Stuhl, auf dem Foka saß. Wie heute sehe ich noch den Kahlkopf, das faltenreiche, unbewegliche Gesicht Fokas und die gebückte, gute, kleine Alte in der Haube, unter welcher die grauen Haare hervorsahen. Sie drücken sich auf dem Stuhl aneinander und fühlen sich beide geniert.

Ich war noch immer sorglos und ungeduldig. Die zehn Sekunden, welche wir so bei geschlossenen Türen dasaßen, erschienen mir wie eine ganze Stunde. Endlich erhoben sich alle, bekreuzigten sich und begannen Abschied zu nehmen. Papa umarmte maman und küßte sie mehrmals.

»Sei ruhig, Schatz,« sagte er, »wir trennen uns doch nicht für die Ewigkeit.«

»Schwer ist es doch,« sprach maman mit tränenerstickter Stimme.

Als ich diese Stimme hörte und Mütterchens zitternde Lippen und mit Tränen gefüllte Augen sah, vergaß ich alles und mir wurde so traurig, weh und bang zumute, daß ich lieber davongelaufen wäre, anstatt von ihr Abschied zu nehmen. Ich verstand in diesem Augenblick, daß sie, indem sie Papa umarmte, auch von uns Abschied nahm.

Sie küßte und segnete Wolodja ein über das andere Mal; in der Meinung, daß sie sich jetzt zu mir wenden würde, schob ich mich vor, aber sie machte immer und immer wieder das Zeichen des Kreuzes über ihn und drückte ihn an ihr Herz. Endlich fiel ich ihr um den Hals, klammerte mich fest an sie und weinte, weinte, ohne an etwas anderes zu denken als an meinen Kummer.

Als wir auf die Wagen zuschritten, umdrängte uns im Vorzimmer das lästige Hofgesinde. Ihre Bitte: »Reichen Sie mir doch das Händchen!« ihre lauten Küsse auf die Schulter und der Talggeruch ihrer Haare erweckten in mir ein Gefühl, das an Widerwillen grenzte. Unter dem Einflusse dieses Gefühls küßte ich Natalia Ssawischna äußerst kühl auf die Haube, als sie in Tränen zerfließend von mir Abschied nahm.

Es ist merkwürdig, daß ich noch jetzt alle Gesichter des Hofgesindes vor mir sehe und sie mit den kleinsten Einzelheiten zeichnen könnte, aber daß mamans Gesicht und Stellung meinem Gedächtnisse vollkommen entschwunden sind. Vielleicht kommt das daher, daß ich während der ganzen Zeit nicht den Mut hatte, sie anzublicken; ich glaubte, wenn ich das täte, so würde ihr und mein Schmerz sich bis ins Unerträgliche steigern.

Ich stieg als erster in die Kalesche und machte mir's auf dem Rücksitz bequem. Des aufgeschlagenen Verdeckes wegen konnte ich nichts sehen, aber ein Instinkt sagte mir, daß maman noch da war.

»Soll ich sie noch einmal anschauen oder nicht? – Gut, zum letztenmal,« sagte ich zu mir selber, beugte mich aus der Kalesche und blickte zur Veranda hinüber. Gleichzeitig war maman, die wohl denselben Gedanken gehabt hatte, von der entgegengesetzten Seite an die Kalesche herangetreten und rief mich nun bei Namen. Als ich ihre Stimme hinter mir hörte, wandte ich mich so schnell nach ihr um, daß wir mit den Köpfen zusammenstießen. Sie lächelte traurig und küßte mich fest und heiß zum letztenmal.

Als wir ein kleines Stück gefahren waren, entschloß ich mich noch einmal nach ihr zu sehen. Das hellblaue Tüchlein, das sie um den Kopf geschlungen hatte, flatterte im Winde. Gesenkten Hauptes und die Hände vors Gesicht schlagend, ging sie langsam der Veranda zu; Foka stützte sie.

Papa saß schweigend neben mir. Ich schluchzte heftig und etwas schnürte mir die Kehle zu, daß ich zu ersticken fürchtete. – Als die Wagen auf die Landstraße einbogen, sahen wir ein weißes Tuch, mit welchem uns jemand vom Balkon aus nachwinkte. Ich antwortete mit meinem Tuch, und diese Bewegung beruhigte mich ein wenig. Ich fuhr aber fort zu weinen, und der Gedanke, daß meine Tränen mein weiches Herz bekundeten, bereitete mir Trost und Vergnügen.

Nachdem wir etwa eine Werst gefahren waren, wurde ich etwas ruhiger und blickte aufmerksam auf das, was meinen Augen am nächsten war: den Hinterteil des einen Seitenpferdes. Ich schaute zu, wie dieser Schecke mit dem Schweife schlug, wie er den einen Fuß am andern streifte, wie die geflochtene Peitsche des Kutschers auf ihm tanzte und wie dann seine Beine gleichzeitig zu springen begannen, ich sah das Geschirr und die Ringe daran auf dem Pferde hin und her hüpfen und blickte so lange hin, bis sich das Lederzeug am Schweife mit Schaum bedeckte. Ich begann um mich zu schauen: auf die Felder mit wogendem, reifem Roggen, auf das dunkle Brachfeld, auf welchem hier und da ein pflügender Bauer oder eine Stute mit ihrem Füllen sichtbar wurden, auf die Meilenzeiger und auch auf den Kutschbock, um mich zu vergewissern, welcher Kutscher mit uns fahre. Mein Gesicht war noch nicht von Tränen trocken, als meine Gedanken schon weit von der Mutter waren, die ich vielleicht auf immer verlassen hatte; aber jede Erinnerung lenkte meine Gedanken zu ihr zurück. Ich erinnerte mich des Pilzes, den ich tags zuvor in der Birkenallee gefunden hatte, ich erinnerte mich, wie Ljubotschka und Katjenka gestritten hatten, wer in brechen sollte; ich dachte daran, wie sie beim Abschied geweint hatten.

»Es tut mir leid um sie und um Natalia Ssawischna und um die Birkenallee und um Foka; und sogar um die böse Mimi, ja selbst um die ist's mir leid. Um alle, alle! Ach und die arme maman!« Und die Tränen traten mir wieder in die Augen, aber nicht für lange.

 

Kindheit.

O, du glückliche, glückliche, unwiederbringliche Kinderzeit! Wie soll man die Erinnerung an dich nicht lieben und hegen! Diese Erinnerungen erquicken und erheben meine Seele und sind mir eine Quelle des reinsten Genusses.

Wenn man sich müde gelaufen hatte, saß man am Teetisch auf dem hohen Kinderstühlchen; es ist spät, man hat seine Tasse mit Zuckermilch längst geleert, der Schlaf läßt die Augen zufallen, aber man rührt sich nicht von der Stelle, sitzt da und horcht. Und wie sollte man nicht horchen? Maman spricht mit irgend jemand, und der Klang ihrer Stimme ist so süß, so lieblich; dieser Klang allein sagt meinem Herzen soviel. Mit vom Schlaf umnebelten Augen blicke ich gespannt auf ihr Gesicht, und plötzlich erscheint sie mir klein, ganz klein, ihr Gesicht ist nicht größer als ein Knopf; aber trotzdem sehe ich sie ganz genau. Ich sehe, wie sie mich anblickt und lächelt; es macht mir Vergnügen, sie so klein zu sehen, ich drücke die Augen noch mehr zusammen, und sie ist jetzt nicht größer als die Männchen in der Pupille. Da mache ich eine Bewegung, und der Zauber ist gestört; ich bemühe mich meine Augen enger zu machen, ich wende mich hierhin und dorthin und tu alles, um den Zauber wieder herzurufen, aber umsonst.

Ich stehe auf, klettere auf den Lehnstuhl und mache es mir darin bequem.

»Du wirst wieder einschlafen, Nikolenka,« sagt maman, »du solltest lieber nach oben gehen.«

»Ich will nicht schlafen, maman,« erwidere ich, und undeutliche, aber süße Träumereien erfüllen meine Phantasie, ein gesunder Kinderschlaf schließt meine Augenlider, und eine Minute später bin ich eingeschlafen und schlafe so lange, bis man mich weckt.

Im Halbschlummer fühlte ich manchmal eine zärtliche Hand, die mich berührte. An der bloßen Berührung erkannte ich sie, und noch im Schlaf griff ich unwillkürlich nach dieser Hand und drückte sie fest, fest an meine Lippen.

Die andern alle sind schon fortgegangen. Nur eine Kerze brennt im Salon. Maman hat gesagt, daß sie selbst mich wecken werde. Nun setzt sie sich auf den Lehnstuhl, auf dem ich schlafe, fährt mit ihrer schönen, zarten Hand über mein Haar, und an mein Ohr klingt die liebe, bekannte Stimme:

»Steh auf, mein Herzchen, es ist Zeit, schlafen zu gehen.«

Keine gleichgültigen Blicke stören sie jetzt und sie scheut sich nicht, all ihre Zärtlichkeit und Liebe über mich zu ergießen; ich rühre mich nicht und küsse ihre Hand nur noch fester.

»Steh doch auf, mein Engel.«

Sie faßt mich mit der andern Hand um den Hals, ihre kleinen Finger bewegen sich blitzschnell und kitzeln mich. Im Zimmer ist es still und Halbdunkel; meine Nerven sind durch das Kitzeln und Gewecktwerden erregt; maman sitzt dicht neben mir, sie streichelt mich, ich fühle ihren Atem und höre ihre Stimme. Das alles zwingt mich aufzuspringen, sie mit beiden Armen um den Hals zu fassen, meinen Kopf an ihre Brust zu drücken und atemlos zu rufen:

»Ach liebe, liebe maman, wie hab' ich dich lieb!«

Sie lächelt ihr trauriges, bezauberndes Lächeln, nimmt meinen Kopf in beide Hände, küßt mich auf die Stirn und setzt mich auf ihren Schoß.

»Du hast mich also sehr lieb?« Sie schweigt einen Augenblick und sagt dann: »Hab' mich immer so lieb, vergiß mich nie. Wenn deine maman einmal nicht mehr ist, wirst du sie nicht vergessen? Nicht wahr, Nikolenka?« Sie küßt mich noch zärtlicher.

»Hör' auf und sag' so etwas nicht, meine Herzensmama, meine Seelenmama!« rufe ich, indem ich sie küsse, und die Tränen fließen in Strömen aus meinen Augen; Tränen her Liebe und des Entzückens.

Und wenn ich dann später nach oben kam und in meinem wattierten Schlafröckchen vor den Heiligenbildern stand, welch wunderbare Gefühle empfand ich da, indem ich sprach: »Herr, beschütze Papachen und Mamachen!« In solchen Augenblicken, wenn ich die ersten Gebete wiederholte, welche meine Kinderlippen für die geliebte Mutter gestammelt hatten, flossen die Liebe zu ihr und die Liebe zu Gott in meinem Herzen in ein Gefühl zusammen.

Nach dem Gebet wickelte man sich fest in seine Decke, es war einem hell und freudig ums Herz. Ein Gedanke jagte den andern; aber woran dachte ich? Die Gedanken waren unklar, jedoch erfüllt von reiner Liebe und von Hoffnung auf ein strahlendes Glück. Ich dachte manchmal auch an Karl Iwanowitsch und sein trauriges Geschick; er war der einzige Mensch, den ich unglücklich wußte, und er tat mir so leid, ich gedachte seiner mit solcher Rührung, daß meine Augen sich mit Tränen füllten und ich wünschte: möge Gott ihn glücklich machen und mir die Möglichkeit geben, ihm zu helfen, seinen Kummer zu erleichtern; ich bin bereit, alles für ihn zu opfern. – Dann nahm ich wohl auch meine Lieblingsporzellanfigur, ein Häschen oder Hündchen, drückte es in eine Ecke des Daunenkissens und freute mich daran, wie gut, warm und gemütlich es dalag. Ich betete auch noch, daß der liebe Gott alle Menschen glücklich mache, damit alle zufrieden seien, und daß morgen gutes Wetter sei zum Spaziergang, drehte mich auf die andere Seite, die Gedanken und Träumereien verwirrten sich, und ich schlief sanft und ruhig ein, mit noch tränenfeuchtem Gesicht.

Ob sie wohl je wiederkehren, jene Frische, Sorglosigkeit, jenes Bedürfnis zu lieben und jene Glaubensstärke, die wir in der Kindheit besitzen? Welche Zeit kann besser sein als die, in welcher zwei der schönsten Tugenden: unschuldige Fröhlichkeit und das grenzenlose Bedürfnis zu. lieben, die einzigen Bewegkräfte des Lebens sind?

Wo sind sie geblieben, jene heißen Gebete, wo die schöne Gabe jener reinen Tränen der Rührung? Ein Engel des Trostes kam herbeigeflogen, trocknete lächelnd diese Tränen und schickte der unverdorbenen kindlichen Phantasie süße Träume.

Hat das Leben wirklich so tiefe Spuren in meinem Herzen hinterlassen, daß diese Tränen und Gefühlsregungen auf immer verschwunden sind? Ist wirklich nichts geblieben als die Erinnerung?

 

Das Gedicht.

Etwa einen Monat nach unserer Übersiedlung nach Moskau saß ich eines Tages im obern Stock von Großmamas Haus am großen Tisch und schrieb. Mir gegenüber saß der Zeichenlehrer und korrigierte eine Bleistiftzeichnung, den Kopf eines Türken im Turban; Wolodja stand mit gerecktem Hals hinter dem Lehrer und blickte ihm über die Schulter. Dieser Kopf war Wolodjas erste Bleistiftzeichnung und sollte heute der Großmutter als Namenstagsgeschenk überreicht werden.

»Werden sie hierher nicht noch etwas Schatten geben?« fragte Wolodja den Lehrer, indem er sich auf die Fußspitzen stellte und auf den Hals des Türken deutete.

»Nein, das ist nicht nötig,« entgegnete der Lehrer, die Stifte und die Reißfeder in das Penal legend; »jetzt ist's sehr schön, rühren Sie es nicht mehr an. Nun und Sie, Nikolenka?« fügte er hinzu, indem er sich erhob und den Türken noch von der Seite ansah; »verraten Sie uns endlich Ihr Geheimnis, was werden Sie Großmama schenken? Wirklich, ein Kopf wäre doch eigentlich auch das Beste gewesen. Leben Sie wohl, meine Herrschaften!« sagte er, nahm seinen Hut und die Stundenmarke und ging hinaus.

In jenem Augenblicke dachte auch ich, daß ein Kopf besser gewesen wäre als das, womit ich mich abmühte. Als man uns mitgeteilt hatte, daß Großmamas Namenstag nahe sei und daß wir zu diesem Tage Geschenke vorbereiten müßten, war ich auf die Idee gekommen, ihr zu dieser Gelegenheit ein Gedicht zu machen; ich fand auch gleich zwei Reime und hoffte die übrigen ebenso schnell zu finden. Ich erinnere mich gar nicht mehr, wie ich auf diesen, für ein Kind seltsamen Gedanken gekommen war, ich weiß nur, daß er mir sehr gefiel und daß ich auf alle Fragen über diese Angelegenheit antwortete, daß ich Großmama jedenfalls etwas schenken wolle, daß ich aber niemand sagen würde, worin das Geschenk bestehe.

Gegen meine Erwartung stellte es sich heraus, daß ich außer zwei Versen, die ich im ersten Eifer gefunden hatte, trotz aller Anstrengungen nichts weiter zustande bringen konnte. Ich begann die Gedichte zu lesen, die ich in unsern Büchern fand; aber weder Dmitrijew noch Dershawin konnten mir helfen, im Gegenteil, sie überzeugten mich noch mehr von meiner Unfähigkeit. Da ich wußte, daß Karl Iwanowitsch Gedichte abzuschreiben liebte, durchsuchte ich im geheimen seine Papiere und fand unter vielen deutschen Gedichten ein russisches, das wohl seiner eigenen Feder entstammte.

 

Petrowskoje, 1828, 3. Juni.

An Fräulein L...

Denken Sie nah,
Denken Sie fern,
Denken Sie meiner
Oft und gern,
Denken Sie bis an mein Grab,
Wie treu ich Sie geliebet hab'.

Karl Mauer.

Dieses Gedicht, das mit schöner Rundschrift auf feinem Postpapier geschrieben war, gefiel mir seiner Rührseligkeit wegen sehr. Ich lernte es sofort auswendig und beschloß, es als Muster zu gebrauchen; jetzt ging die Sache viel leichter. Am Namenstag war ein aus zwölf Versen bestehender Glückwunsch fertig, und im Unterrichtszimmer am Tisch sitzend, schrieb ich das Gedicht auf schönes Velinpapier ab.

Zwei Blatt Papier waren schon verdorben; nicht etwa, weil ich etwas an dem Gedichte ändern wollte, – es erschien mir ganz vorzüglich, – aber von der dritten Zeile an begannen die Enden der Zeilen sich immer mehr und mehr nach oben zu krümmen, so daß man schon von weitem sah, daß das schief geschrieben war und gar nichts taugte.

Das dritte Blatt wurde ebenso schief wie die früheren, aber ich beschloß, nicht mehr umzuschreiben. In meinem Gedichte beglückwünschte ich Großmama, wünschte ihr noch viele Jahre gesund zu verbringen und schloß folgendermaßen:

Wir wollen stets ein Trost dir sein
Und wie die eig'ne Mutter dich erfreun.

Ich glaube, das Gedicht war gar nicht so übel, nur der letzte Vers beleidigte eigentümlich mein Ohr.

»Und wie die eig'ne Mutter dich erfreun,« sprach ich vor mich hin, »ließe sich da nichts anderes finden? Ach was, es ist immer noch besser als das von Karl Iwanowitsch.«

Und ich schrieb die letzte Zeile nieder; dann las ich mir selbst im Schlafzimmer mit Ausdruck und den nötigen Gesten mein ganzes Werk vor. Die Verse kümmerten sich zwar um kein Versmaß, aber das störte mich nicht; nur der letzte Vers fiel mir jetzt noch unangenehmer auf. Ich setzte mich auf mein Bett und dachte nach.

»Warum habe ich geschrieben, wie die eigene Mutter? Sie ist doch nicht hier, folglich hätte ich sie nicht erwähnen sollen; ich liebe und achte Großmama wohl auch, aber es ist doch nicht das. Warum habe ich das geschrieben, warum habe ich gelogen? Es ist zwar nur ein Gedicht, aber es wäre dennoch nicht notwendig gewesen.«

In diesem Augenblick kam der Schneider und brachte unsere neuen Jacketts.

»Na, mag's so bleiben,« sagte ich mir ärgerlich, steckte das Gedicht unter mein Kopfkissen und lief hin, um den Moskauer Anzug zu probieren.

Es zeigte sich, daß der Moskauer Anzug vortrefflich paßte: das braune Jackett mit Bronzeknöpfen war eng anliegend und nicht aufs Wachsen berechnet, wie unsere Kleider im Dorf; die schwarzen, ebenfalls engen Beinkleider ließen die Muskeln prächtig erkennen und fielen bis auf die Stiefel hinab.

»Endlich einmal hab' auch ich Beinkleider mit Strippen wie die Erwachsenen!« dachte ich, außer mir vor Freude, von allen Seiten meine Füße betrachtend. Obgleich ich mich beengt und ungeschickt in dem neuen Anzug fühlte, verbarg ich das vor allen, behauptete im Gegenteil, daß mir sehr behaglich sei und daß der Anzug, wenn er überhaupt einen Mangel habe, höchstens ein bißchen zu weit sei. Dann stand ich sehr lange vor dem Spiegel und kämmte mein verschwenderisch pomadisiertes Haar; aber so sehr ich mich auch abmühte, ich konnte das struppige Haar am Wirbel nicht glatt bekommen: sobald ich nur, um seinen Gehorsam zu prüfen, aufhörte, es mit der Bürste niederzudrücken, stellte es sich wieder auf und starrte nach allen Richtungen, wodurch mein Gesicht einen höchst lächerlichen Ausdruck bekam.

Karl Iwanowitsch kleidete sich im Nebenzimmer an; man brachte ihm durch das Unterrichtszimmer einen blauen Frack und irgend welche weiße Toilettengegenstände. An der Tür, die nach unten führte, ertönte die Stimme eines der Stubenmädchen meiner Großmutter; ich ging hinaus, um zu erfahren, was sie wollte. Sie hielt in der Hand ein steifgestärktes Vorhemdchen und sagte mir, sie bringe das für Karl Iwanowitsch und sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen, um es zur Zeit fertig zu bekommen. Ich übernahm es, das Vorhemd weiterzugeben, und fragte, ob Großmama schon aufgestanden sei.

»Gewiß, sie hat schon Kaffee getrunken, und der Geistliche ist auch schon da. Wie schmuck sie heute sind!« fügte sie hinzu, indem sie lächelnd meinen neuen Anzug betrachtete.

Diese Bemerkung ließ mich erröten; ich drehte mich auf einem Bein herum, schnalzte mit den Fingern und machte einen Sprung, als wollte ich ihr zu verstehen geben, daß sie eigentlich noch gar nicht wisse, was für ein Prachtjunge ich war.

Als ich das Vorhemd zu Karl Iwanowitsch brachte, brauchte er es nicht mehr. Er hatte schon ein anderes umgelegt und stand eben über den kleinen Spiegel gebeugt, der auf dem Tisch aufgestellt war, hielt mit beiden Händen die prächtige Schleife seiner Halsbinde und probierte, ob sein glatt rasiertes Kinn sich bequem darin hin und her bewegen konnte. Nachdem er unsere Anzüge von allen Seiten zurechtgezupft und Nikolaj gebeten hatte, mit dem seinen dasselbe zu tun, führte er uns zu Großmama. Es belustigt mich noch in der Erinnerung, wie sehr wir drei nach Pomade dufteten, als wir die Treppe hinabgingen.

Karl Iwanowitsch hatte ein selbstgefertigtes Kästchen in der Hand, Wolodja die Zeichnung und ich mein Gedicht; jeder hatte einen Glückwunsch auf der Zunge, mit dem er sein Geschenk überreichen wollte. In dem Augenblick, als Karl Iwanowitsch die Tür des Saales öffnete, legte der Priester das Meßgewand an, und die ersten Worte des Gebetes erklangen.

Großmama war schon im Saal. Gebückt und sich auf eine Stuhllehne stützend, stand sie an der Wand und betete andächtig: neben ihr stand Papa. Er wandte sich nach uns um und lächelte, als er bemerkte, wie wir die vorbereiteten Geschenke eilig auf dem Rücken versteckten und, um nicht gesehen zu werden, gleich bei der Tür stehen blieben. Der ganze Effekt des Unerwarteten, auf den wir gerechnet hatten, war verdorben.

Als alle sich dem Kruzifix näherten, um es zu küssen, fühlte ich plötzlich, daß ich mich unter dem Einfluß einer nicht zu überwältigenden, mich ganz kopflos machenden Schüchternheit befand, und daß ich niemals den Mut haben würde, mein Geschenk zu überreichen. Ich verbarg mich hinter dem Rücken von Karl Iwanowitsch, der Großmama in den allergewähltesten Ausdrücken beglückwünschte, das Kästchen aus der rechten in die linke Hand nahm, es dann dem Namenstagskinde überreichte und einige Schritte zurücktrat, um Wolodja Platz zu machen. Großmama schien von dem Kästchen mit den goldenen Borten entzückt zu sein und gab ihrer Dankbarkeit mit freundlichem Lächeln Ausdruck. Man merkte jedoch, daß sie nicht recht wußte, wohin sie dieses Kästchen stellen sollte, und wohl deshalb gab sie es Papa und machte ihn darauf aufmerksam, wie wunderbar kunstvoll es gearbeitet sei. Nachdem Papa seine Neugierde gestillt hatte, übergab er das Kästchen dem Geistlichen, dem das Ding außerordentlich zu gefallen schien: er wiegte den Kopf hin und her und blickte voll Interesse bald auf das Kästchen, bald auf den Meister, der so etwas Schönes zustande gebracht hatte. Wolodja überreichte seinen Türken und erntete ebenfalls die schmeichelhaftesten Lobsprüche von allen Seiten. Nun kam die Reihe an mich: mit ermunterndem Lächeln wandte sich Großmama zu mir.

Wer die Schüchternheit aus Erfahrung kennt, weiß, daß dieses Gefühl sich im geraden Verhältnisse zur Zeit vergrößert, während die Entschlossenheit sich im umgekehrten Verhältnisse vermindert; das heißt, je länger dieser Zustand währt, desto unüberwindlicher wird er und desto geringer wird die Energie.

Der letzte Rest von Mut und Entschlossenheit hatte mich verlassen, als Karl Iwanowitsch und Wolodja ihre Geschenke überreichten, und meine Schüchternheit war bis zur äußersten Grenze gestiegen; ich fühlte, wie das Blut mir unaufhaltsam vom Herzen zum Kopf strömte, wie die Farben auf meinem Gesicht wechselten und wie mir auf Stirn und Nase dicke Schweißtropfen hervortraten. Meine Ohren brannten, am ganzen Körper fühlte ich Frost und kalten Schweiß; ich trat von einem Fuß auf den andern und rührte mich nicht vom Fleck.

»Na, Nikolenka, zeig' doch her, was hast denn du, ein Kästchen oder eine Zeichnung?« sagte Papa.

Es blieb mir nichts übrig als mit zitternder Hand die zerknitterte, verhängnisvolle Rolle zu überreichen, aber meine Stimme versagte vollständig den Dienst, und ich blieb stumm vor Großmama stehen. Ich konnte mich gar nicht fassen bei dem Gedanken, daß nun statt der erwarteten Zeichnung mein unglückseliges Gedicht zum Vorschein kommen und laut vorgelesen werden würde. Und dazu die Worte »wie die eigene Mutter«, aus welchen doch deutlich hervorging, daß ich sie nie geliebt und daß ich sie vergessen hatte. Wie soll ich die Qualen schildern, die ich erduldete, als Großmama nun laut mein Gedicht zu lesen begann und als sie, weil ihr das Entziffern schwer wurde, in der Mitte eines Verses anhielt und mit einem Lächeln, das mir damals spöttisch erschien, Papa anblickte; als sie nicht so betonte, wie ich gewollt hatte, und als sie, ihrer schwachen Augen wegen, ohne zu Ende zu lesen, das Papier meinem Vater übergab und ihn bat, das Ganze noch einmal von Anfang zu lesen! Mir war, als täte sie das nur, weil sie meiner schlechten und so schief geschriebenen Verse überdrüssig war, und damit Papa selbst den letzten, meine Gefühllosigkeit verratenden Vers lesen sollte. Ich glaubte, er würde mir mit dem Papier eins auf die Nase geben und sagen: »Du schlechter Bub, vergiß deine Mutter nicht! Da hast du eins dafür!« Aber von allem geschah nichts; im Gegenteil, als das ganze Gedicht verlesen war, sagte Großmama: »Scharmant!« und küßte mich auf die Stirn.

Das Kästchen, die Zeichnung und das Gedicht erhielten ihren Platz neben zwei Batisttüchern und einer Tabaksdose mit mamans Porträt auf dem Ausziehtischchen des Voltaire-Stuhles, auf dem Großmama zu sitzen pflegte.

»Die Fürstin Barbara Iljinischna,« meldete einer der zwei Lakaien, die bei Ausfahrten auf dem Trittbrett hinter Großmamas Kutsche stehen mußten.

Großmama betrachtete in Gedanken versunken das Porträt, das in die Schildpattdose eingelegt war, und antwortete nicht.

»Befehlen Euer Durchlaucht, die Fürstin hereinzubitten?« fragte der Diener.

 

Die Fürstin Kornakow.

»Bitte sie, einzutreten.« sagte Großmama, indem sie sich tiefer in den Sessel setzte.

Die Fürstin war eine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, klein, schmächtig, mit gelblichem Teint und graugrünen, unangenehmen Äuglein, deren Ausdruck dem des unnatürlich-lieblich verzogenen Mündchens direkt widersprach. Unter dem Sammethut mit Straußenfedern sah hellrotes Haar hervor; die Augenbrauen und Wimpern erschienen auf der ungesunden Gesichtsfarbe noch heller und rötlicher. Trotz alledem hatte sie – dank der Ungezwungenheit ihrer Bewegungen, der auffallenden Kleinheit der Hände und der besonderen Hagerkeit des Gesichtes – etwas Vornehmes und Energisches an sich.

Die Fürstin sprach sehr viel und gehörte daher zu jenen Leuten, die immer so reden, als ob man ihnen widerspreche, wenn auch niemand ein Wort sagt: bald erhob sie ihre Stimme, bald ließ sie sie allmählich sinken, um dann plötzlich mit neuer Kraft und Schnelligkeit weiterzureden, dabei blickte sie der Reihe nach die anwesenden, aber am Gespräch nicht teilnehmenden Personen an, als wollte sie sich durch diesen Umblick stärken.

Obgleich die Fürstin Großmama die Hand küßte und sie unaufhörlich » ma bonne tante« nannte, bemerkte ich, daß ihre Anwesenheit Großmama nicht angenehm war. Die alte Dame zog die Augenbrauen auf eine besondere Art hoch, als die Fürstin ihr erzählte, daß es dem Fürsten Michael ganz unmöglich gewesen sei, zur Gratulation zu kommen, so sehr er's gewünscht hatte; die französische Anrede der Fürstin in russischer Sprache beantwortend und die Worte eigentümlich dehnend, sagte sie:

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, meine Liebe, für Ihre Aufmerksamkeit; und daß Fürst Michael nicht gekommen ist, – was ist darüber viel zu reden, – er hat immer eine solche Unmenge von Geschäften; und schließlich, offen gesagt, was für ein Vergnügen wäre es für ihn, bei einer alten Frau zu sitzen?«

Und ohne der Fürstin Zeit zum Widerspruch zu lassen, fuhr sie fort:

»Nun, was machen Ihre Kinderchen, meine Liebe?«

»O Gott sei Dank, ma tante, sie wachsen, lernen, machen dumme Streiche! Besonders Etienne, der Älteste, wird ein solcher Taugenichts, daß man gar nicht mehr fertig wird mit ihm. Aber er ist gescheit, – un garçon qui promet. – Denken Sie sich, mon cousin,« fuhr sie fort, sich ausschließlich an Papa wendend, denn Großmama, die sich nicht im geringsten für die Kinder der Fürstin interessierte, sondern mit ihren Enkeln ein wenig prahlen wollte, holte behutsam mein Gedicht unter dem Kästchen hervor und begann das Papier aufzurollen; »denken Sie sich, mon cousin, was er neulich angestellt hat ...«

Und sich zu Papa hinüberbeugend, begann die Fürstin etwas mit großer Lebhaftigkeit zu erzählen. Nach Beendigung der Geschichte, die ich nicht verstanden hatte, begann sie sofort zu lachen, blickte Papa fragend an und sagte:

»Was für ein Junge! nicht wahr, mon cousin? Er hätte Prügel verdient, aber der Einfall war so klug und amüsant, daß ich ihm verzieh.«

Die Fürstin sah meine Großmama an, schwieg und fuhr fort zu lächeln.

»Ja schlagen Sie denn Ihre Kinder, meine Liebe?« fragte Großmama, die Augenbrauen bedeutungsvoll in die Höhe ziehend und das Wort »schlagen« besonders betonend.

»Ach, ma bonne tante,« erwiderte die Fürstin nach einem schnellen Blick auf Papa in gemacht gutmütigem Tone, »ich kenne Ihre Ansicht über diesen Punkt, aber erlauben Sie mir, in diesem Einen mit Ihnen nicht übereinzustimmen. Soviel ich auch über dieses Thema nachdachte, las oder mich mit anderen beriet, – die Erfahrung hat mich gelehrt, daß es unbedingt notwendig ist, auf die Kinder durch Furcht zu wirken. Hab' ich nicht recht, mon cousin? Und was – je vous demande un peu – was fürchten Kinder mehr als die Rute?«

Dabei blickte sie fragend auf uns, und ich gestehe, daß mir in dem Augenblick sehr unbehaglich zumute war.

»Sagen Sie, was Sie wollen, ein Knabe von zwölf, ja sogar von vierzehn Jahren ist doch immer noch ein Kind; bei einem Mädchen ist's freilich was anderes.«

»Welch ein Glück,« dachte ich mir, »daß ich nicht ihr Sohn bin!«

»Ja, das ist recht schön, meine Liebe,« sagte Großmama, indem sie mein Gedicht zusammenfaltete und wieder unter das Kästchen schob, als hielte sie die Fürstin nach dem eben Gesagten nicht mehr für würdig, ein solches Kunstwerk anzuhören; »das ist recht schön, nur sagen Sie mir bitte, wie können Sie dann von Ihren Kindern Zartgefühl erwarten?«

Und da ihr dieses Argument unwiderleglich erschien, fügte Großmama, wie um das Gespräch abzubrechen, hinzu: »Übrigens kann über diesen Punkt jeder seine eigene Meinung haben!«

Die Fürstin antwortete nicht, sondern lächelte nur nachsichtig, als wollte sie zu verstehen geben, daß sie diese seltsamen Vorurteile bei einer von ihr so hochgeachteten Persönlichkeit entschuldigen müsse.

»Ach, machen Sie mich doch mit Ihren jungen Leuten bekannt!« sagte sie dann, uns mit liebenswürdigem Lächeln ansehend.

Wir erhoben uns und blickten der Fürstin gerade ins Gesicht, wußten aber durchaus nicht, was wir tun sollten, um zu beweisen, daß wir uns »bekannt gemacht« hatten.

»Küßt doch der Fürstin die Hand!« sagte Papa.

»Ich bitte euch, die alte Tante lieb zu haben,« sprach sie, indem sie Wolodja auf den Scheitel küßte; »wenn ich auch keine nahe Verwandte bin, – ich rechne nach den freundschaftlichen Beziehungen und nicht nach den Graden der Verwandtschaft,« fügte sie hinzu, sich hauptsächlich an Großmama wendend, aber Großmama schien noch immer unzufrieden mit ihr und erwiderte:

»Ach, meine Liebe, gilt denn heutzutage eine solche Verwandtschaft überhaupt noch?«

»Dieser hier wird ein junger Weltmann,« mischte sich Papa, auf Wolodja zeigend, ins Gespräch, »und dieser ein Dichter,« setzte er hinzu, während ich die kleine, magere Hand der Fürstin küßte und mir dabei mit erschreckender Deutlichkeit in dieser Hand eine Rute, unter der Rute eine Bank usw. vorstellte.

»Welcher?« fragte die Fürstin, mich an der Hand festhaltend.

»Nun, dieser da, der Kleine mit dem struppigen Haar!« erwiderte Papa mit vergnügtem Lächeln.

»Was hat ihm mein struppiges Haar getan? Gibt's denn keinen anderen Gesprächsstoff?« dachte ich und zog mich in eine Ecke zurück.

Ich hatte die allersonderbarsten Begriffe von Schönheit, – sogar Karl Iwanowitsch hielt ich für einen der schönsten Männer der Welt; aber ich wußte sehr genau, daß ich nicht hübsch war, und darin irrte ich mich nicht; daher fühlte ich mich durch jede Anspielung auf mein Äußeres tief gekränkt.

Ich erinnere mich sehr gut, wie einst beim Mittagsmahl – ich war damals sechs Jahre alt – von meinem Äußeren gesprochen wurde und wie maman sich bemühte, irgend etwas Hübsches in meinem Gesichte zu finden; sie behauptete, ich hätte kluge Augen und ein angenehmes Lächeln, sah sich aber gezwungen, den Ausführungen meines Vaters und den Tatsachen nachzugeben und einzugestehen, daß ich häßlich sei; als ich dann nach beendetem Mahle zu ihr ging, um zu danken, klopfte sie mir auf die Wange und sagte:

»Denk daran, Nikolenka, daß dich niemand um deines Gesichtes willen lieben wird; du mußt dich daher bemühen, ein kluger und braver Junge zu werden!«

Diese Worte überzeugten mich nicht allein von meiner Häßlichkeit, sondern auch von meiner unbedingten zukünftigen Güte und Klugheit. Dennoch kamen mir oft Augenblicke der Verzweiflung: ich bildete mir ein, es gäbe auf Erden kein Glück für einen Menschen mit so breiter Nase, so dicken Lippen und so kleinen grauen Äuglein; ich flehte zu Gott, er möge ein Wunder tun und mich in einen schönen Knaben verwandeln, und alles, was ich besaß, alles, was ich in Zukunft besitzen konnte, hätte ich hingegeben für ein hübsches Gesicht.

 

Fürst Iwan Iwanowitsch.

Als die Fürstin mein Gedicht angehört und den Verfasser mit vielem Lob überschüttet hatte, wurde Großmama weicher gegen sie gestimmt, begann französisch mit ihr zu sprechen, nannte sie nicht mehr: »Sie, meine Liebe,« und lud sie ein, am Abend mit allen Kindern zu uns zu kommen. Die Fürstin nahm die Einladung an, saß noch ein Weilchen und verabschiedete sich.

Es kamen an diesem Tage so viele Gratulanten, daß den ganzen Vormittag über vor der Auffahrt auf dem Hofe mehrere Equipagen standen.

» Bon jour, chère cousine,« sagte einer der Gäste beim Eintritt ins Zimmer, indem er Großmama die Hand küßte.

Es war ein Mann von etwa siebzig Jahren, groß von Wuchs, mit ruhigem und offenem Gesicht, in einer Uniform mit breiten Epauletten, am Hals, gleich unterhalb des Kragens, ein großes, weißes Ordenskreuz. Die Ungezwungenheit und Einfachheit seiner Bewegungen setzten mich in Erstaunen. Obgleich er nur noch im Nacken einen Halbkreis spärlicher Haare hatte, und obgleich die Lage der Oberlippe das Fehlen der Zähne bewies, war sein Gesicht noch immer von bemerkenswerter Schönheit.

Der Fürst Iwan Iwanowitsch hatte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, dank seinem vornehmen Charakter, seinem hübschen Äußern, seiner großen Tapferkeit, seiner vornehmen und einflußreichen Verwandtschaft und besonders dank seinem Glück schon in jungen Jahren glänzende Karriere gemacht. Er war im Militärdienst geblieben und sehr bald war sein Ehrgeiz so befriedigt worden, daß ihm in dieser Beziehung nichts mehr zu wünschen übrig blieb. Von früher Jugend an benahm er sich so, als bereite er sich vor für die bedeutende Stellung in der Welt, in welche ihn das Schicksal später brachte. Wenngleich in seinem glänzenden und etwas prunkvollen Dasein wie bei allen Menschen auch Mißerfolge, Enttäuschungen und bittere Erfahrungen nicht ausgeblieben waren, so veränderte er doch niemals seinen stets ruhigen Charakter, seine hohe Denkungsart und ebensowenig die Grundlagen seiner religiösen und sittlichen Überzeugung; er erwarb sich die allgemeine Hochachtung nicht so sehr durch seine glänzende Stellung als durch die Folgerichtigkeit seines Denkens und die Festigkeit seines Charakters. Er besaß keinen weit umfassenden Geist, doch dank seiner Stellung, die es ihm erlaubte, auf die kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens herabzusehen, war seine Denkungsart eine hohe und weite; er war gutmütig und gefühlvoll, zeigte sich aber im Umgang kühl und etwas hochfahrend. Das kam daher, weil er sich in einer Stellung befand, in welcher er vielen nützlich sein konnte; durch seine Kälte wollte er sich vor den unaufhörlichen Bitten und Anliegen der Menschen, die seinen Einfluß ausnutzen wollten, schützen. Diese Kälte wurde übrigens gemildert durch die herablassende Höflichkeit des feinen Mannes der sehr vornehmen Welt. Er war gebildet und belesen; seine Bildung war jedoch bei dem stehen geblieben, was er sich in seiner Jugend, das heißt zu Ende des vorigen Jahrhunderts, angeeignet hatte. Er hatte alles gelesen, was im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich auf dem Gebiete der Philosophie und der schönen Literatur Bedeutendes geschrieben war; er kannte gründlich alle hervorragenden Erzeugnisse der französischen Literatur, so daß er Stellen aus Racine, Corneille, Boileau, Montaigne, Molière und Fénelon zitieren konnte und auch gern zitierte. Er besaß glänzende Kenntnisse in der Mythologie und hatte die alten Denkmäler epischer Dichtkunst in französischen Übersetzungen mit Eifer studiert; seine Kenntnisse in der Geschichte hatte er aus Ségurs Werken geschöpft. Dagegen hatte er nicht das geringste Verständnis für Mathematik, Arithmetik, Physik und die zeitgenössische Literatur; er verstand es, bei einem Gespräch klug zu schweigen oder einige allgemeine Phrasen über Goethe, Schiller, Byron zu sagen, hatte aber deren Werke nie gelesen. Ungeachtet dieser französisch klassischen Bildung, für welche es heutzutage nur mehr wenige Beispiele gibt, war seine Unterhaltung einfach, und diese Einfachheit verbarg sowohl seine Unkenntnis auf einzelnen Gebieten, als sie andererseits seiner Sprache etwas Angenehmes und Nachsichtiges verlieh. Er war ein Feind jeder Originalität und pflegte zu sagen, Originalität sei nichts als ein Kunstgriff von Leuten mit schlechten Manieren. Geselligkeit war für ihn ein Bedürfnis; wo er auch lebte, in Moskau oder im Auslande, überall hielt er offenes Haus und empfing an bestimmten Tagen die ganze Stadt bei sich. Er galt in der Stadt so viel, daß eine Einladungskarte von ihm als Passepartout für alle Salons dienen konnte, daß viele junge und hübsche Damen ihm gern ihre rosigen Wangen darboten, welche er väterlich küßte, und daß manche, augenscheinlich sehr bedeutende und ehrenhafte Leute sich vor Freude kaum fassen konnten, wenn sie an seiner Kartenpartie teilnehmen durften.

Es waren nur noch wenige Leute am Leben, die, wie meine Großmama, aus demselben Kreise stammten wie der Fürst, die gleiche Erziehung genossen hatten wie er, die gleichen Ansichten besaßen und ebenso alt waren. Daher waren ihm seine alten freundschaftlichen Beziehungen zu Großmama sehr wert und er bezeugte der alten Dame stets die größte Hochachtung.

Ich konnte mich an dem Fürsten nicht satt sehen: die Ehrfurcht, welche ihm alle bewiesen, die großen Epaulettes, die besondere Freude, welche Großmama bei seinem Erscheinen gezeigt hatte, und der Umstand, daß er allein, wie es schien, vor ihr keine Furcht hatte, sondern mit ihr ganz ungezwungen verkehrte und sogar die Kühnheit hatte, sie » ma cousine« zu nennen, flößten mir eine Ehrfurcht für ihn ein, welche ebenso groß, wenn nicht gar größer war als das Gefühl, das ich für Großmama empfand. Als man ihm mein Gedicht gezeigt hatte, rief er mich zu sich heran und sagte:

»Wer kann wissen, ma cousine, vielleicht wird aus ihm ein zweiter Dershawin.«

Dabei kniff er mich so schmerzhaft in die Wange, daß ich nur deshalb nicht aufschrie, weil ich erriet, daß das eine Liebkosung sein sollte.

Die Gäste waren fortgefahren, Papa und Wolodja hinausgegangen; im Salon blieben nur der Fürst, Großmama und ich.

»Warum ist denn unsere liebe Natalia Nikolajewna nicht gekommen?« fragte Fürst Iwan Iwanowitsch, nach minutenlangem Schweigen.

» Ah, mon cher,« erwiderte Großmama, die Stimme senkend und ihre Hand auf den Ärmel seiner Uniform legend, »sie wäre sicher gekommen, wenn sie frei wäre, zu tun, was sie will. Sie schreibt mir, Pierre habe ihr vorgeschlagen, die Reise zu machen, aber sie selbst habe darauf verzichtet, weil angeblich die Einnahmen von den Gütern in diesem Jahre sehr gering seien. Sie schreibt außerdem: warum sollte ich auch heuer mit dem ganzen Haushalt nach Moskau übersiedeln? Ljubotschka ist noch zu klein, und was die Knaben betrifft, die bei dir wohnen werden, so bin ich ihretwegen noch ruhiger, als wenn sie bei mir wären. – Das ist alles sehr schön,« fuhr Großmama in einem Tone fort, welcher deutlich bewies, daß sie es gar nicht schön fand, »die Knaben hätten schon längst hierher geschickt werden müssen, damit sie etwas lernen und sich in der Gesellschaft zu bewegen wissen, denn was für eine Erziehung konnte man ihnen auf dem Lande geben? Der ältere ist ja schon dreizehn, der jüngere elf Jahre alt. Sie haben ja gesehen, mon cousin, sie benehmen sich noch ganz wie die Wilden, verstehen nicht einmal ins Zimmer hereinzukommen.«

»Ich begreife nur nicht,« antwortete der Fürst, »was diese ewigen Klagen über die ungeordneten Vermögensverhältnisse bedeuten sollen; er hat doch ein schönes Vermögen, und Natalias Gut, Chabarowka, wo wir zwei einst in alten Zeiten zusammen Theater gespielt haben, kenne ich wie meine fünf Finger. Es ist ein herrliches Gut und muß immer einen schönen Ertrag abwerfen.«

»Ich sage Ihnen als meinem wahren Freunde,« unterbrach ihn Großmama mit trauriger Stimme, »mir scheint, das sind alles Ausreden, die er macht, damit er hier allein leben, sich in den Klubs und auf Diners und Soupers herumtreiben und Gott weiß was tun kann, und sie hat nicht den geringsten Argwohn; Sie wissen ja, wie engelsgut sie ist. Sie vertraut ihm in allem; er hat ihr weiß gemacht, daß die Knaben nach Moskau gebracht werden müssen, während sie allein mit der dummen Gouvernante auf dem Lande bleiben muß, – und sie hat es ihm geglaubt. Wenn er ihr heute sagt, man müsse die Kinder prügeln, wie die Fürstin Barbara Iljinischna es tut, sie würde, glaube ich, auch darein willigen,« sagte Großmama, im Lehnstuhl hin und her rückend, mit dem Ausdruck vollkommenster Verachtung. »Ja, mein Freund,« setzte sie nach kurzem Schweigen hinzu, indem sie mit einem der beiden Taschentücher eine Träne trocknete, die ihr ins Auge getreten war, »ich denke oft, daß er sie weder zu schätzen weiß, noch sie verstehen kann, und daß sie, trotz aller ihrer Güte, ihrer Liebe zu ihm und trotz des Bestrebens, ihren Kummer zu verbergen, – ich weiß das sehr gut, – mit ihm nicht glücklich sein kann; und denken sie an meine Worte, wenn er nicht –«

Großmama bedeckte ihr Gesicht mit dem Tuch.

» Eh, ma bonne amie,« sagte der Fürst vorwurfsvoll, »ich sehe, Sie sind durchaus nicht vernünftiger geworden. Sie weinen und grämen sich immer wieder über einen eingebildeten Kummer; schämen Sie sich denn gar nicht? Ich kenne ihn seit langem, und zwar kenne ich ihn als aufmerksamen, guten und vortrefflichen Gatten, und was die Hauptsache ist, als edelsten Menschen. Un parfait honnête homme.«

Nachdem ich das Gespräch, das nicht für meine Ohren bestimmt war, unfreiwillig mit angehört hatte, schlich ich mich auf den Fußspitzen und in großer Aufregung aus dem Zimmer.

 

Die Iwins.

»Wolodja, Wolodja! Die Iwins!« schrie ich, durch das Fenster drei Knaben in blauen Pelzröcken mit Biberkragen erblickend, welche mit einem jungen, stutzerhaften Hofmeister vom gegenüberliegenden Trottoir auf unser Haus zukamen.

Die Iwins waren mit uns verwandt und fast genau im selben Alter; bald nach unserer Ankunft in Moskau waren wir mit ihnen bekannt geworden und hatten Freundschaft geschlossen.

Der zweite Iwin – Sserjoscha – war ein brünetter, lockenköpfiger Knabe mit energischem Stumpfnäschen, sehr frischen, roten Lippen, die meist die obere, etwas vorstehende Reihe weißer Zähne sehen ließen, mit dunkelblauen, wunderschönen Augen und ungewöhnlich lebhaftem Gesichtsausdruck. Er lächelte nie, sondern sah entweder ganz ernst aus oder lachte sein helles, klares und unwiderstehliches Lachen. Seine eigenartige Schönheit fesselte mich vom ersten Augenblick an. Ich fühlte mich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Ihn sehen genügte, um mich glücklich zu machen, und eine Zeitlang konzentrierten sich alle meine Seelenkräfte in diesem einen Wunsche; wenn ich drei oder vier Tage verleben mußte, ohne ihn zu sehen, langweilte ich mich oder mir wurde gar zum Weinen traurig ums Herz. Wachend und träumend dachte ich an ihn: wenn ich mich zu Bett legte, wünschte ich, von ihm zu träumen; wenn ich die Augen schloß, sah ich ihn vor mir und ergötzte mich an diesem Trugbild. Niemand auf der Welt hätte ich von diesem Gefühle erzählen mögen, so teuer war es mir. Vielleicht war es ihm lästig, die Blicke meiner unaufhörlich an seinem Gesichte hängenden Augen zu fühlen, oder vielleicht empfand er einfach keine Sympathie zu mir, jedenfalls spielte und unterhielt er sich viel lieber mit Wolodja als mit mir; ich war trotzdem zufrieden, wünschte nichts, forderte nichts und war bereit, alles für ihn zu opfern. Außer der leidenschaftlichen Zuneigung, die er mir einflößte, erweckte seine Gegenwart in mir noch ein anderes, nicht minder starkes Gefühl: die Angst, ihn zu betrüben, durch irgend etwas zu beleidigen, ihm zu mißfallen. Ich fürchtete ihn ebenso sehr, wie ich ihn liebte, vielleicht, weil sein Gesicht einen hochmütigen Ausdruck hatte, oder weil ich, mein häßliches Äußere verachtend, die Vorzüge der Schönheit an anderen zu hoch einschätzte, oder – was das Allerwahrscheinlichste ist – weil das ein unbedingtes Merkmal der Liebe ist. Als Sserjoscha mich zum erstenmal anredete, war ich so verwirrt durch das unerwartete Glück, daß ich bald blaß, bald rot wurde und ihm keine Antwort geben konnte. Er hatte die üble Gewohnheit, wenn er nachdachte, den Blick auf einen Punkt zu richten und unaufhörlich zu blinzeln, wobei er mit Nase und Augenbrauen zuckte. Man fand allgemein, daß diese Gewohnheit ihn entstellte, mir aber gefiel sie so sehr, daß ich mich unwillkürlich daran gewöhnte, es ebenso zu machen, und einige Tage, nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, fragte Großmama, ob mich die Augen schmerzten, da ich blinzle wie eine Nachteule. Zwischen uns war nie ein zärtliches Wort gesprochen worden, doch er fühlte seine Macht über mich und nützte sie unbewußt, aber tyrannisch bei unserem kindlichen Verkehr aus; so gern ich ihm auch alles gesagt hätte, was ich auf dem Herzen hatte, so fürchtete ich ihn doch zu sehr, um mich zur Offenheit zu entschließen; ich bemühte mich, gleichgültig zu erscheinen, und unterwarf mich ihm ohne Murren. Zuweilen erschien mir sein Einfluß drückend, unerträglich, aber ich hatte nicht die Kraft, mich diesem Einflusse zu entziehen.

Es macht mich traurig, an dieses frische, schöne Gefühl uneigennütziger und unbegrenzter Zuneigung zurückzudenken, das dahinstarb, ohne sich zu offenbaren und ohne Erwiderung zu finden.

Merkwürdig: solange ich ein Knabe war, strebte ich darnach, einem Erwachsenen zu gleichen, und als ich aufhörte es zu sein, wünschte ich mir oft, so zu sein wie ein Kind. Wie oft hat dieser Wunsch, in meinem Verkehr mit Sserjoscha nicht wie ein Kind zu handeln, mich davon abgehalten, mein Gefühlsleben zu verraten, und mich gezwungen, zu heucheln! Nicht nur daß ich nicht wagte, ihm einen Kuß zu geben, ihn bei der Hand zu fassen und ihm zu sagen wie ich mich freute, ihn zu sehen, – ich wagte es auch nicht einmal, ihn Sserjoscha zu nennen, sondern sagte unbedingt Ssergej, das war nun einmal bei uns so Sitte. Jede Gefühlsäußerung galt als Kinderei und als Beweis, daß derjenige, der sie sich erlaubte, noch ein kindischer Junge sei. Ohne die bitteren Erfahrungen durchgemacht zu haben, welche die Erwachsenen zur Vorsicht und Kälte in ihren gegenseitigen Beziehungen veranlassen, beraubten wir uns der reinen Freuden der zärtlichen kindlichen Zuneigung, nur in dem einen sonderbaren Bestreben, so zu sein wie »die Großen«,

Schon im Vorzimmer begrüßte ich die Iwins und stürzte dann kopfüber zu Großmama; ich meldete ihr die Ankunft der Iwins in einem Tone, als müsse diese Nachricht sie vollkommen glücklich machen. Dann folgte ich Sserjoscha, ohne den Blick von ihm zu wenden, in den Salon und beobachtete jede seiner Bewegungen. Als Großmama ihn mit ihren durchdringenden Blicken ansah und sagte, er sei sehr gewachsen, empfand ich ein Gefühl von Furcht und Hoffnung, wie es einen Künstler beschleichen muß, wenn er von einem hochangesehenen Richter ein Urteil über sein Werk erwartet.

Der junge Hofmeister der Iwins, Herr Frost, ging mit Großmamas Erlaubnis mit uns in das Vorgärtchen, setzte sich auf eine grüne Bank, schlug malerisch ein Bein über das andere, steckte seinen Spazierstock mit Bronzeknopf dazwischen und zündete sich mit der Haltung eines Menschen, der mit all seinen Handlungen ungemein zufrieden ist, eine Zigarre an.

Herr Frost war ein Deutscher, aber ein Deutscher von ganz anderer Art als unser guter Karl Iwanowitsch: erstens sprach er korrekt russisch und mit schlechter Aussprache französisch und stand im allgemeinen und besonders bei Damen im Rufe, ein sehr gelehrter Mann zu sein; zweitens trug er einen rötlichen Schnurrbart, eine große Busennadel mit einem Rubin in der schwarzen Atlasbinde, deren Enden unter den Hosenträgern durchgesteckt waren, und hellblaue Beinkleider mit Strippen; drittens war er jung, besaß ein hübsches, selbstzufriedenes Äußeres und ungewöhnlich kräftige, muskulöse Beine, – ein Vorzug, auf den er, wie man ihm wohl anmerken konnte, sehr stolz war: ob er stand oder saß, er bemühte sich stets, die Aufmerksamkeit auf seine Beine zu lenken. Er war der Typus eines jungen Deutschrussen, der ein flotter Bursche und Courschneider sein will.

Im Vorgärtchen ging es lustig zu. Das Räuberspiel war im besten Gang, aber ein Zwischenfall hätte beinahe alles gestört. Sserjoscha war Räuber; bei der Verfolgung der Reisenden stolperte er im vollen Lauf und stürzte mit solcher Gewalt mit dem Knie gegen einen Baum, daß ich dachte, sein Bein müsse zersplittern. Obgleich ich Gendarm war und somit die Pflicht hatte, ihn zu fangen, eilte ich zu ihm und fragte teilnehmend, ob er sich wehgetan habe. Sserjoscha ärgerte sich darüber; er ballte die Fäuste, stampfte mit dem Fuße und schrie mit einer Stimme, die deutlich verriet, daß er sich schmerzlich verletzt hatte:

»Was ist denn das? das ist doch gar kein Spiel mehr! Warum fängst du mich denn nicht? Warum fängst du mich denn nicht?« wiederholte er mehrmals, indem er Seitenblicke auf Wolodja und den älteren Iwin warf, welche die Reisenden darstellend, auf dem Wege umhersprangen. Plötzlich stieß er einen gellenden Schrei aus und stürzte laut lachend davon, sie zu fangen.

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich dieses heldenhafte Benehmen in Erstaunen und Bewunderung versetzte; ungeachtet des heftigen Schmerzes hatte er nicht nur keine Tränen vergossen, sondern auch nicht einmal verraten, daß er sich wehgetan hatte, und keinen Augenblick das Spiel vergessen.

Bald darauf – nachdem Ilinka Grapp sich uns zugesellt hatte und wir in Erwartung des Mittagessens nach oben gegangen waren – hatte Sserjoscha Gelegenheit, mich durch seine bewundernswerte Männlichkeit und seine Charakterfestigkeit noch mehr zu entzücken.

Ilinka Grapp war der Sohn eines armen Ausländers, der in früheren Jahren im Hause meines Großvaters gelebt hatte, ihm für irgend etwas Dank schuldete und es jetzt für seine unabweisbare Pflicht hielt, uns sehr häufig seinen Sohn zu schicken. Wenn er vielleicht annahm, daß der Verkehr mit uns seinem Sohne irgend welche Ehren oder Genüsse verschaffte, so irrte er gründlich, denn wir behandelten Ilinka nicht nur keineswegs freundschaftlich, sondern wir beachteten ihn überhaupt nur dann, wenn wir uns über ihn lustig machen wollten. Ilinka Grapp war ein etwa dreizehnjähriger, langaufgeschossener, magerer und blasser Knabe mit einem Vogelgesichtchen und gutmütig unterwürfigem Ausdruck. Er war sehr ärmlich gekleidet, aber dafür immer so ausgiebig pomadisiert, daß wir behaupteten, an sonnigen Tagen zergehe die Pomade auf seinem Kopfe und fließe ihm hinter den Kragen. Wenn ich jetzt seiner gedenke, finde ich, daß er ein sehr gefälliger, stiller und guter Junge war; damals aber erschien er mir als ein ganz verächtliches Menschenkind, das keines Mitgefühls, ja überhaupt keines Gedankens wert sei.

Als das Räuberspiel zu Ende war und wir nach oben gegangen waren, begannen wir zu tollen und voreinander mit verschiedenen gymnastischen Kunststückchen zu prahlen. Ilinka sah uns mit einem schüchternen Lächeln der Bewunderung zu, und als wir ihm vorschlugen, es uns nachzutun, weigerte er sich und sagte, er habe gar keine Kraft. Sserjoscha war entzückend: er hatte sein Jackett abgeworfen, Gesicht und Augen glühten, er lachte unaufhörlich und erfand immer neue Späße: er sprang über drei nebeneinander gestellte Stühle, schlug Rad durch das ganze Zimmer, stellte sich auf den Kopf auf den Wörterbüchern von Tatischtschew, die er sich als Piedestal mitten im Zimmer aufgebaut hatte, und machte dabei mit den Beinen so komische Bewegungen, daß man sich unmöglich des Lachens enthalten konnte. Nach diesem letzten Kunststück wurde er nachdenklich, blinzelte mit den Augen, trat plötzlich mit ganz ernstem Gesicht an Ilinka heran und sagte:

»Versuchen Sie das zu machen, es ist wirklich nicht schwer!« Als Grapp bemerkte, daß die allgemeine Aufmerksamkeit sich ihm zuwandte, wurde er sehr rot und versicherte mit kaum hörbarer Stimme, daß er das auf keinen Fall zustande bringen könne.

»Ach was! wirklich, warum will er gar nichts zum besten geben? Er ist ja wie ein Mädchen! Er muß sich ganz unbedingt auf den Kopf stellen!«

Und Sserjoscha faßte Grapp bei der Hand.

»Unbedingt! Unbedingt! Kopf stehen!« schrieen wir alle und umringten Ilinka, der in dem Augenblick sichtlich erschrak und ganz blaß wurde; wir packten ihn an den Händen und zogen ihn zu den Wörterbüchern.

»Lassen Sie mich! Ich werde schon selbst! Sie zerreißen mir den Rock!« schrie das unglückliche Opfer. Aber diese Verzweiflungsschreie stachelten uns nur noch mehr an; wir wollten uns totlachen; das grüne Röckchen krachte in allen Nähten.

Wolodja und der älteste Iwin beugten ihm den Kopf hinab und drückten ihn auf die Wörterbücher; Sserjoscha und ich packten die dünnen, hin- und herschlenkernden Beine des armen Jungen, krempelten ihm die Hosen bis zu den Knieen auf und richteten die Beine unter lautem Lachen empor; der jüngste Iwin hielt den ganzen Körper im Gleichgewicht.

Es geschah, daß wir nach dem lärmenden Lachen plötzlich alle verstummten, und im Zimmer wurde es still, daß man nur den schweren Atem des unglücklichen Grapp hörte. In jenem Moment war ich nicht so ganz davon überzeugt, daß all dieses sehr komisch und lustig sei.

»So! jetzt ist er ein flotter Kerl!« sagte Sserjoscha, Ilinka mit der flachen Hand einen Schlag versetzend. Ilinka schwieg und schlug mit den Beinen nach allen Seiten aus, um sich freizumachen. Bei einer dieser verzweifelten Bewegungen traf er mit dem Stiefelabsatz Sserjoschas Auge so heftig, daß Sserjoscha sofort seine Beine fahren ließ, sich mit der Hand das Auge bedeckte, aus dem unfreiwillige Tränen quollen, und Ilinka aus Leibeskräften einen Stoß gab. Da Ilinka nun nicht mehr von uns gestützt wurde, fiel er zu Boden wie ein lebloser Gegenstand und konnte nur unter Tränen fragen:

»Warum tyrannisiert ihr mich?«

Die jämmerliche Figur des armen Jungen mit dem verweinten Gesicht, dem zerzausten Haar und den aufgekrempelten Hosen, unter welchen die ungeputzten Stiefelschäfte hervorsahen, machte uns stutzig; wir alle schwiegen und zwangen uns zu einem Lächeln. Sserjoscha war der erste, der sich faßte.

»So ein altes Weib! so ein Heulpeter!« sagte er, Ilinka leicht mit dem Fuße berührend, »der versteht ja gar keinen Spaß! Na, genug, – stehen Sie nur auf!«

»Ich sage dir, daß du ein nichtsnutziger Bengel bist!« erwiderte Ilinka voller Wut, wandte sich ab und begann laut zu schluchzen.

»Ach so! mit den Absätzen um sich schlagen und dann noch schimpfen!« schrie Sserjoscha, ergriff ein Wörterbuch und schwang es gegen den Kopf des Unglücklichen, der nicht einmal daran dachte, sich zu wehren, und nur seinen Kopf mit den Händen bedeckte.

»Da hast du eins! Da – und da! – Lassen wir ihn, wenn er keinen Spaß versteht! Gehen wir hinunter!« rief Sserjoscha, in unnatürliches Lachen ausbrechend.

Ich blickte voller Teilnahme auf den armen Jungen, der, auf dem Boden liegend und das Gesicht in den Blättern des Wörterbuches verbergend, so heftig weinte, daß es schien, als müsse er vergehen vor Schluchzen, das krampfartig seinen ganzen Körper erschütterte.

»Ach, Ssergej,« sagte ich, »warum hast du das getan?«

»Na, das ist gut!« rief er, »ich hab' nicht geweint, glaube ich, als ich mir heute das Bein fast bis auf den Knochen zerschlug!«

»Ja, das ist wahr,« dachte ich, »Ilinka ist wirklich nur ein Heulpeter, aber Sserjoscha – ja, das ist ein Kerl! Was für ein Prachtkerl!«

Ich begriff damals nicht, daß der Ärmste wohl weniger über den körperlichen Schmerz so weinte, als darüber, daß fünf Knaben, die er vielleicht gern hatte, sich ohne jeden Grund zusammentaten, um ihn zu hassen und zu peinigen.

Ich kann mir die Grausamkeit meines damaligen Verhaltens absolut nicht erklären. Warum ging ich nicht zu ihm hin, warum verteidigte und tröstete ich ihn nicht? Wo war das Mitleid geblieben, das mir manchmal heiße Tränen entlockte, wenn ich eine aus dem Neste gefallene Dohle sah, oder ein Hündchen, das man hinter den Zaun geworfen, oder ein Huhn, das der Küchenjunge schlachten sollte?

War dieses schöne Gefühl in mir ganz erstickt durch meine Liebe zu Sserjoscha und den Wunsch, mich als ein ebensolcher »Prachtkerl« zu zeigen, wie er einer war? Ich war wegen dieser Liebe und dieses Wunsches nicht zu beneiden: sie bilden die einzigen dunklen Flecken auf den Blättern meiner Kindheitserinnerungen.

 

Die Gäste kommen.

Die besondere Geschäftigkeit, die im Speisezimmer zu merken war, die glänzende Beleuchtung, welche allen mir schon wohlbekannten Gegenständen im Empfangszimmer und im Saal ein neues, festliches Aussehen verlieh, und besonders die Tatsache, daß Fürst Iwan Iwanowitsch seine Musikkapelle herübergeschickt hatte, – all das verriet, daß zum Abend eine größere Anzahl von Gästen erwartet wurde.

Beim Geräusch eines jeden vorüberfahrenden Wagens lief ich zum Fenster, legte die Handflächen an meine Schläfen und an die Scheiben und schaute mit Ungeduld und Neugier auf die Straße hinab. Aus der Dunkelheit, welche zuerst alles verdeckte, traten allmählich hervor: drüben der längst bekannte Laden mit der Laterne; schräg zur Seite das große Haus mit zwei erleuchteten Fenstern; mitten auf der Straße irgend eine klapperige Droschke mit zwei Insassen oder ein leerer, im Schritt heimkehrender Wagen. Nun aber fuhr eine Kutsche an unserem Hause vor, und in der festen Überzeugung, daß es Iwins seien, die früh zu kommen versprochen hatten, lief ich ins Vorzimmer, um sie zu empfangen. Doch statt der Iwins erschienen hinter dem Arme in Livree, der die Tür öffnete, zwei Wesen weiblichen Geschlechtes: eine große Dame in blauem Abendmantel mit Zobelkragen, und eine kleine, ganz in einen grünen Schal gehüllte, unter welchem nur zwei kleine Füßchen in Pelzstiefelchen hervorsahen. Ohne meine Anwesenheit im Vorzimmer zu beachten – obgleich ich es für meine Pflicht gehalten hatte, beim Erscheinen der beiden Damen eine Verbeugung zu machen, – trat die Kleine schweigend an die Große heran und stellte sich vor ihr auf. Die Große wickelte das Tuch ab, das den ganzen Kopf der Kleinen verhüllte, und knöpfte ihr den Mantel auf, und als nun der livrierte Diener die Sachen an sich genommen und ihr die Pelzstiefelchen ausgezogen hatte, da hatte sich die vermummte Gestalt in ein wunderschönes zwölfjähriges Mädchen verwandelt, in kurzem, ausgeschnittenem Musselinkleidchen, weißen Höschen und winzigen schwarzen Schuhen. Um das weiße Hälschen war ein schwarzes Sammetband geschlungen; das ganze Köpfchen war von dunkelblonden Locken umgeben, die vorne zu ihrem reizenden Gesichtchen und rückwärts zu ihren weißen Schultern so vorzüglich paßten, daß ich niemand, nicht einmal Karl Iwanowitsch, geglaubt hätte, sie seien nur dadurch entstanden, daß sie vom frühen Morgen an auf Schnitzel der »Moskauer Nachrichten« aufgewickelt und nachher mit heißem Eisen gebrannt worden waren. Es erschien mir, als sei das Mädchen mit diesem Lockenköpfchen auf die Welt gekommen.

Ein auffallender Zug in ihrem Gesichte war die ungewöhnliche Größe ihrer ein wenig hervortretenden, halb geschlossenen Augen, die einen merkwürdigen, aber angenehmen Gegensatz zu dem winzigen Mündchen bildeten. Die Lippen waren geschlossen, und die Augen blickten so ernst, daß der allgemeine Gesichtsausdruck kein Lächeln erwarten ließ, und daß ein Lächeln auf diesem Antlitz gerade daher um so bezaubernder wirkte.

Ich bemühte mich, unbemerkt zu bleiben, und schlüpfte schnell in den Saal, wo ich es nötig fand, auf- und niederzugehen und mich so zu stellen, als wäre ich ganz in Gedanken versunken und wußte gar nicht, daß Gäste angekommen. Als die Damen bis zur Mitte des Saales gelangt waren, fuhr ich gleichsam aus tiefem Nachdenken auf, machte einen Kratzfuß und meldete, daß Großmama im Empfangszimmer sei. Frau Walachin, deren Gesicht mir sehr gefiel, – besonders daher, weil es dem ihrer Tochter Ssonitschka sehr ähnlich war, – nickte mir wohlgefällig zu.

Großmama schien sehr erfreut, Ssonitschka zu sehen; sie rief sie näher zu sich heran, rückte auf ihrem Köpfchen eine Locke zurecht, die in die Stirne gefallen war, und sagte, das Kind unverwandt anblickend: » Quelle charmante enfant!« Ssonitschka lächelte, wurde rot und sah dadurch so reizend aus, daß auch ich errötete, während ich sie beobachtete.

»Ich hoffe, daß du dich bei mir nicht langweilen wirst, mein Herzchen,« sprach Großmama weiter, die Kleine unters Kinn fassend; »ich bitte dich, sei vergnügt und tanze möglichst viel! Da haben wir also schon eine Dame und zwei Herren,« fügte sie hinzu, sich an Frau Walachin wendend und die Hand nach mir ausstreckend.

Diese Bezugnahme auf mich war mir so angenehm, daß ich wieder errötete. Aber da ich fühlte, daß meine Befangenheit zunahm, und da ich das Rollen eines vorfahrenden Wagens hörte, hielt ich es für richtig, mich zu entfernen. Im Vorzimmer traf ich die Fürstin Kornakow mit einem Sohn und einer unglaublichen Zahl von Töchtern. Die Töchter hatten alle das gleiche Gesicht, ähnelten der Mutter und waren häßlich; daher lenkte keine einzige von ihnen besondere Aufmerksamkeit auf sich. Während sie ihre Mäntel und Boas ablegten, sprachen sie alle zugleich mit dünnen Stimmchen, hasteten hin und her und lachten über irgend etwas, – wahrscheinlich darüber, daß ihrer so viele waren. Etienne war ein etwa fünfzehnjähriger Knabe, groß und fleischig, aber mit energielosem, blassem Gesicht, eingefallenen, von blauen Schatten umgebenen Augen und für sein Alter riesigen Händen und Füßen. Er war plump, hatte eine unangenehme, rauhe Stimme, schien aber sehr zufrieden mit sich selbst und war ganz so, wie ein Knabe, der die Rute bekommt, nach meinen Begriffen sein mußte.

Wir standen uns eine Weile stumm gegenüber und betrachteten einander; dann näherten wir uns, als wollten wir uns einen Kuß geben; doch nachdem wir uns nochmals in die Augen gesehen hatten, besannen wir uns eines andern. Als die Kleider aller seiner Schwestern an uns vorbeigehuscht waren, fragte ich, nur um das Gespräch einzuleiten, ob sie es in der Kutsche nicht sehr eng gehabt.

»Ich weiß nicht,« antwortete er nachlässig, »ich fahre niemals im geschlossenen Wagen, denn kaum sitz' ich drin, so wird mir übel, Mamachen weiß das schon. Wenn wir abends ausfahren, sitz' ich immer auf dem Bock. Das ist viel lustiger, man sieht alles. Philipp läßt mich kutschieren, zuweilen nehme ich auch die Peitsche – und so zuweilen die Vorüberfahrenden – wissen Sie –« fügte er mit der Geste des Schlagens hinzu, »famos!«

»Ew. Durchlaucht,« sagte ein ins Vorzimmer tretender Diener, »Philipp fragt, wo Sie die Peitsche zu lassen beliebten.«

»Wieso? Was heißt das? Ich hab' sie ihm doch zurückgegeben!«

»Er sagt, Sie haben 's nicht getan.«

»Na, dann hab' ich sie an die Laterne gehängt!«

»Philipp sagt, sie sei auch dort nicht; sagen Sie doch lieber, daß sie die Peitsche genommen und verloren haben, und Philipp muß mit seinen paar Groschen für Ihre Unart aufkommen!« fuhr der Diener fort, immer mehr in Ärger geratend. Er machte den Eindruck eines ehrenwerten, sehr ernsten Mannes, nahm eifrig Philipps Partei und schien entschlossen, die Angelegenheit um jeden Preis klarzustellen. In einer unwillkürlichen Anwandlung von Zartgefühl trat ich beiseite, als hörte ich nichts, die anwesenden Lakaien aber benahmen sich ganz anders: sie rückten näher und blickten mit aufmunternder Zustimmung auf den alten Diener.

»Na, wenn ich sie verloren hab', so hab' ich sie eben verloren!« rief Etienne, weiteren Erklärungen ausweichend; »ich werd' auch zahlen, was die Peitsche kostet. – Ist das nicht lächerlich?« wandte er sich dann an mich, indem er mich der Salontür zudrängte.

»Nein, erlauben Sie, Herr, – womit werden Sie denn zahlen? Ich kenne das ja: der Maria Wassiljewna zahlen Sie auf diese Weise schon seit acht Monaten zwanzig Kopeken, – mir selbst, glaube ich, schon seit bald zwei Jahren, – dem Peter –«

»Wirst du schweigen?« schrie der junge Fürst, bleich vor Wut, »ich werde das alles erzählen –«

»Erzählen, ja, alles erzählen!« sagte der Diener, um dann mit besonderer Betonung hinzuzufügen: »Es ist nicht recht, Ew. Durchlaucht!« Und damit begab er sich mit den Mänteln zum Kleiderständer, während wir den Saal betraten.

»So recht! so recht!« hörte ich hinter uns die beifällige Stimme eines der Diener.

Großmama besaß die besondere Gabe, ihre Meinung von den Leuten dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß sie in gewissen Fällen und mit gewisser Betonung das Fürwort der zweiten Person in der Einzahl oder in der Mehrzahl gebrauchte. Obgleich sie die Wörtchen »Sie« und »du« dem allgemeinen Brauch entgegengesetzt verwendete, erhielten diese Abstufungen in ihrem Munde eine ganz eigene Bedeutung. Als der junge Fürst an sie herantrat, sprach sie ein paar Worte mit ihm, ihn mit »Sie« anredend, und blickte ihn dabei mit solcher Verachtung an, daß ich an seiner Stelle in die größte Verwirrung geraten wäre; Etienne aber war allem Anschein nach ein Knabe von anderer Art: er beachtete weder den ihm zuteil gewordenen Empfang noch auch Großmama selbst, sondern verbeugte sich vor der ganzen Gesellschaft wenn auch nicht sehr geschickt, so doch völlig ungezwungen. Ssonitschka fesselte all meine Aufmerksamkeit; ich erinnere mich, daß ich mit Vergnügen sprach, wenn ich mich bei der Unterhaltung mit Wolodja und Etienne an einer Stelle des Saales befand, wo ich Ssonitschka sehen und von ihr gesehen und gehört werden konnte; wenn ich etwas nach meiner Meinung Lustiges oder Effektmachendes sagte, so sprach ich besonders laut und schielte dabei nach der Tür des Empfangszimmers. Befanden wir uns aber an einem Platze, auf dem man uns vom Empfangszimmer aus weder sehen noch hören konnte, so schwieg ich und fand gar keinen Gefallen mehr an dem Gespräche.

Empfangszimmer und Saal füllten sich allmählich mit Gästen, unter denen – wie das bei allen Kindergesellschaften der Fall zu sein pflegt – sich auch einige große Kinder befanden, die sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, sich zu amüsieren und zu tanzen, angeblich nur, um der Frau des Hauses einen Gefallen zu tun.

Als Iwins kamen, empfand ich statt des Vergnügens, welches das Zusammentreffen mit Sserjoscha mir sonst bereitete, ein sonderbares Gefühl von Ärger und Unbehagen bei dem Gedanken, daß er Ssonitschka sehen und sich ihr zeigen werde.

 

Vor der Mazurka.

»Ei, bei euch soll ja getanzt werden, wie es scheint!« sagte Sserjoscha, indem er aus dem Empfangszimmer kam und ein Paar neue Glacéhandschuhe aus der Tasche zog, »da muß man Handschuhe anziehen.«

»Was soll ich anfangen?« dachte ich, »wir haben keine Handschuhe! Ich muß hinaufgehen und mir welche suchen!«

Aber obgleich ich alle Kommoden durchwühlte, fand ich in der einen nur – unsere grünen Reisefäustlinge, in der andern – einen Glacéhandschuh, mit dem ich nichts anfangen konnte: erstens, weil er sehr alt und schmutzig, zweitens, weil er für mich viel zu groß war, und hauptsächlich, weil der Mittelfinger fehlte; Karl Iwanowitsch hatte ihn wohl schon vor langer Zeit für einen kranken Finger abgeschnitten. Trotzdem streifte ich dieses Überbleibsel eines Handschuhes über die Hand und betrachtete aufmerksam die Stelle am Mittelfinger, die stets mit einem Tintenfleck geziert war.

»Wenn doch Natalia Ssawischna hier wäre! Bei der wären gewiß auch Handschuhe zu finden!« dachte ich; »in solcher Verfassung kann ich nicht hinuntergehen, denn was sollte ich antworten, wenn man mich fragt, warum ich nicht tanze? Und hier bleiben kann ich auch nicht, weil man mich ganz bestimmt vermissen wird. Was soll ich nur anfangen?«

»Was machst du hier?« fragte der hastig eintretende Wolodja, »komm, engagiere eine Dame, – es wird gleich anfangen!«

»Wolodja,« antwortete ich, ihm meine in dem schmutzigen Handschuh steckende Hand zeigend, mit einer Stimme, die meinen der Verzweiflung nahen Gemütszustand verriet, »Wolodja, daran hast du nicht einmal gedacht!«

»Woran?« fragte er ungeduldig, um dann, als er meine Hand bemerkte, völlig gleichmütig fortzufahren: »Ach, an Handschuhe! Das ist wahr! Man muß Großmama fragen, was sie meint.« Und ohne sich weitere Gedanken zu machen, lief er wieder nach unten.

Die Kaltblütigkeit, mit welcher er einen mir so wichtig erscheinenden Umstand behandelte, beruhigte mich, und ich eilte ins Empfangszimmer, ganz vergessend, daß ich den verstümmelten Handschuh noch auf der Hand hatte.

Vorsichtig an Großmamas Lehnstuhl herantretend und ihre Mantille leicht berührend, fragte ich flüsternd:

»Großmama, was sollen wir anfangen? Wir haben keine Handschuhe.«

»Was, mein Freundchen?«

»Wir haben keine Handschuhe!« wiederholte ich, näher und näher rückend und beide Hände auf die Armlehne des Stuhles legend.

»Und was ist denn das?« fragte Großmama, plötzlich meine behandschuhte Hand ergreifend; » Voyez, ma chère,« wandte sie sich dann an Frau Walachin, » voyez comme ce jeune komme s'est fait élégant pour danser avec votre fille!«

Großmama hielt mich an der Hand fest und blickte die Anwesenden ganz ernst, aber fragend so lange an, bis die Neugier aller Gäste befriedigt und das Gelächter allgemein geworden war.

Ich wäre sehr betrübt gewesen, wenn Sserjoscha mich gesehen hätte, wie ich, vor Scham das Gesicht verziehend, mich vergeblich abmühte, meine Hand zu befreien; jedoch vor Ssonitschka, welche so herzlich lachte, daß ihr Tränen in die Augen traten und alle Löckchen um ihr gerötetes Gesichtchen tanzten, genierte ich mich nicht im geringsten. Ich fühlte, daß ihr Lachen viel zu laut und natürlich war, um spöttisch zu sein; im Gegenteil, der Umstand, daß wir beide über dasselbe lachten und uns dabei ansahen, schien uns einander nur näher zu bringen. Der Zwischenfall mit dem Handschuh, der unangenehm hätte enden können, hatte für mich den Vorteil, daß er mir jede Befangenheit in dem Kreise nahm, der mir stets das größte Bangen verursacht hatte: im Kreise der Gäste; ich fühlte nun im Saale nicht die geringste Schüchternheit mehr.

Die Qualen der Schüchternen entspringen der Ungewißheit über die Ansicht, welche man sich von ihnen gebildet hat; sobald diese Ansicht – einerlei welcher Art sie sein möge – klar zutage tritt, hören die Qualen auf.

Wie reizend war Ssonitschka Walachin, als sie als mein Gegenüber mit dem plumpen jungen Fürsten französische Quadrille tanzte! Wie lieblich lächelte sie, als sie mir bei der » chaîne« die Hand reichte! Wie entzückend hüpften im Takt die dunkelblonden Locken auf ihrem Kopfe, wie zierlich machte sie das » jeté-assemblé« mit ihren winzigen Füßchen! Bei der fünften Figur, als meine Dame auf die andere Seite hinübergehüpft war und ich, auf den Takt wartend, mich bereit machte, das Solo zu tanzen, preßte Ssonitschka die Lippen ernst zusammen und blickte zur Seite. Sie fürchtete ganz unnützerweise für mich eine Blamage: ich vollführte kühn mein » chassé en avant«, » chassé en arrière« und » glissade«, und als ich an sie herantanzte, zeigte ich ihr schelmisch den Handschuh mit den zwei hervorschauenden Fingern. Sie lachte laut auf und trippelte noch niedlicher als zuvor mit ihren kleinen Füßchen über das Parkett. Ich erinnere mich noch, wie sie, als wir » ronde« machten und alle sich an den Händen faßten, das Köpfchen niederbeugte und, ohne ihre Hand aus der meinen zu lösen, ihr Näschen an ihrem Handschuh rieb. Alles das steht mir vor Augen, als wäre es heute erst geschehen, und ich höre noch die Quadrille aus »Donauweibchen«, unter deren Klängen das alles sich abspielte.

Es kam die zweite Quadrille, die ich mit Ssonitschka tanzte. Als ich neben ihr Platz genommen hatte, fühlte ich mich wieder sehr befangen und wußte ganz und gar nicht, wovon ich mit ihr sprechen sollte. Als mein Schweigen zu lange andauerte, bekam ich Angst, sie könnte mich für einen Dummkopf halten, und entschloß mich, ihr um jeden Preis diesen Irrtum zu nehmen.

» Vous êtes une habitante de Moscou?« fragte ich und setzte nach ihrer bejahenden Antwort hinzu: » Et moi je n'ai encore jamais fréquenté la capitale,« wobei ich besonders auf den Effekt des Wortes » fréquenté« rechnete.

Ich fühlte jedoch, daß ich trotz dieses glänzenden Anfangs, der meine großen Kenntnisse im Französischen klar bewies, nicht imstande sei, das Gespräch auf der gleichen Höhe zu erhalten. Wir waren noch lange nicht an der Reihe zu tanzen, und das Schweigen setzte wieder ein. Ich blickte sie unruhig an: ich hätte gern gewußt, welchen Eindruck ich auf sie gemacht hatte, und erwartete von ihr Hilfe.

»Wo haben Sie nur einen so urkomischen Handschuh gefunden?« fragte sie plötzlich, und diese Frage machte mir großes Vergnügen und verschaffte mir Erleichterung. Ich erklärte ihr, daß der Handschuh Karl Iwanowitsch gehöre, äußerte mich sogar in leicht ironischer Weise über die Person des guten Karl Iwanowitsch, erzählte, wie komisch er aussehe, wenn er sein rotes Käppchen abnehme, und wie er einst in einem grünen Pelzrock vom Pferde gefallen sei, gerade in eine Pfütze usw. So war das Ende der Quadrille da, ehe wir uns dessen versahen. – Das alles war recht schön, aber warum hatte ich über Karl Iwanowitsch gespöttelt? Hätte ich Ssonitschkas gute Meinung über mich vielleicht zerstört, wenn ich ihn mit all der Liebe und Achtung geschildert hätte, die ich für ihn empfand?

Als die Quadrille zu Ende war, sagte Ssonitschka mit so reizendem Ausdruck » merci«, als hätte ich tatsächlich ihren Dank verdient. Ich war entzückt, außer mir vor Freude und erkannte mich selbst nicht wieder: woher nahm ich plötzlich Sicherheit, Kühnheit, ja selbst Keckheit? »Es gibt nichts, was mich in Verlegenheit setzen könnte!« dachte ich, sorglos im Saal umherschweifend, »ich bin zu allem bereit!«

Sserjoscha schlug mir vor, sein Vis-à-vis zu sein. »Gut,« sagte ich, »ich hab' zwar noch keine Dame, aber ich find' schon eine.« Den Saal mit entschlossenem Blick überschauend, bemerkte ich, daß alle Damen bereits engagiert waren, mit Ausnahme einer erwachsenen jungen Dame, die an der Tür des Empfangszimmers stand. Eben näherte sich ihr ein hochgewachsener junger Mann, vermutlich mit der Absicht, sie zum Tanze aufzufordern. Er war kaum zwei Schritte von ihr entfernt, ich aber stand am entgegengesetzten Ende des Saales. In einem Augenblick glitt ich graziös über den Parkettboden zu ihr hin, machte meinen Kratzfuß und bat sie mit fester Stimme um den Kontretanz. Die große Dame nahm mit gönnerhaftem Lächeln meinen Arm und der junge Mann blieb ohne Tänzerin.

Ich verspürte ein solches Selbstbewußtsein, daß ich nicht einmal den Ärger des Herrn beachtete; später aber erfuhr ich, daß er gefragt hatte, wer denn der Junge mit dem struppigen Haar sei, der ihn überholt und ihm die Dame vor der Nase fortgenommen habe.

 

Die Mazurka.

Der junge Mann, dem ich die Dame entführt hatte, tanzte die Mazurka im ersten Paar. Er sprang von seinem Platze auf, seine Dame an der Hand haltend, und statt den » pas de Basques« auszuführen, den Mimi uns gelehrt hatte, lief er einfach vorwärts; in der einen Ecke angelangt, blieb er stehen, spreizte die Beine auseinander, stampfte mit dem Absatz auf, drehte sich um und lief hüpfend weiter.

Da ich für die Mazurka keine Tänzerin gefunden hatte, saß ich hinter Großmamas hohem Lehnstuhl und beobachtete.

»Was macht er nur?« dachte ich, »das ist ja gar nicht das, was Mimi uns gelehrt hat: sie versicherte doch, daß man Mazurka auf den Fußspitzen und mit gleitenden, kreisförmigen Bewegungen der Füße tanze, und nun stellt sich heraus, daß das gar nicht der Fall ist. Da tanzen auch Iwins und Etienne und alle, – aber den » pas de Basques« machen sie nicht, und auch unser Wolodja hat die neue Manier angenommen. Nicht übel! – Und was ist doch Ssonitschka für ein reizendes Dingelchen! Da tanzt sie –« Ich befand mich in fröhlichster Laune.

Die Mazurka ging zu Ende; einige der älteren Damen und Herren traten auf Großmama zu, um sich zu verabschieden; die Diener trugen, den Tanzenden geschickt ausweichend, allerlei Tischgerät in die Hinterzimmer. Großmama war sichtlich müde, sie sprach mit Unlust und sehr gedehnt; die Musikanten wiederholten zum dreißigstenmal dasselbe Motiv. Die junge Dame, mit der ich die Quadrille getanzt hatte, mußte grade eine Figur ausführen; sie hatte mich bemerkt und führte mir mit schelmischem Lächeln – wohl um Großmama für sich einzunehmen – Ssonitschka und eine der unzähligen kleinen Prinzessinnen zu. » Rose ou hortie?« fragte sie mich.

»Ach, du bist hier?« sagte Großmama, sich im Lehnstuhl umwendend, »geh nur, mein Junge, geh!«

Obgleich ich in diesem Moment lieber den Kopf unter den Lehnstuhl gesteckt hätte, statt hervorzukommen, konnte ich doch unmöglich absagen. Ich stand auf, sagte » rose« und blickte schüchtern Ssonitschka an. Ehe ich zur Besinnung gekommen war, fühlte ich eine weißbehandschuhte Hand in der meinen, und die Prinzessin hüpfte mit liebenswürdigstem Lächeln vorwärts, ohne zu ahnen, daß ich absolut nicht wußte, was ich mit meinen Füßen anfangen sollte.

Mir war klar, daß » pas de Basques« nicht am Platz war und mir sogar Verlegenheiten bereiten konnte; doch die bekannten Klänge der Mazurka wirkten auf mein Gehör, teilten den Rhythmus meinen Nerven mit, und diese wiederum übertrugen ihn auf die Füße, welche völlig unfreiwillig und zum Erstaunen aller Zuschauer die fatalen, kreisförmigen, gleitenden Tanzschritte auf den Zehenspitzen auszuführen begannen. Solange wir gradeaus tanzten, ging's noch einigermaßen, beim Wenden aber merkte ich, daß ich unbedingt vornüber stürzen würde, wenn ich mich nicht in acht nähme. Um einer solchen Unannehmlichkeit aus dem Wege zu gehen, blieb ich stehen, mit der Absicht, denselben Schnörkel auszuführen, den der junge Mann vom ersten Paare gemacht hatte. Aber in dem Moment, als ich die Beine spreizte und eben in die Höhe hüpfen wollte, blickte die eilig neben mir einhertrippelnde Prinzessin mit dem Ausdruck größter Neugier und starren Staunens auf meine Füße. Dieser Blick war mein Verderben. Ich geriet in eine solche Verwirrung, daß ich, anstatt zu tanzen, auf einem Fleck in sonderbarster Weise, ohne mich um den Takt oder sonst etwas zu kümmern, mit den Füßen stampfte und schließlich ganz stille stand. Alle blickten auf mich: die einen mit Verwunderung, die andern voller Neugier, diese mitleidig und jene spöttisch: nur Großmama allein sah vollkommen gleichgültig aus.

» Il ne fallait pas danser, si vous ne savez pas!« tönte Papas ärgerliche Stimme an mein Ohr, und mich leicht beiseite stoßend, ergriff Papa die Hand meiner Dame, tanzte mit ihr unter dem lauten Beifall der Zuschauer eine Tour nach alter Art und führte sie auf ihren Platz zurück. Gleich darauf war die Mazurka zu Ende.

»O Gott, wofür strafst du mich so furchtbar! – Alle verachten mich und werden mich immer verachten, – mir ist der Weg zu allem versperrt, zu Freundschaft, Liebe, Ehre! Alles ist verloren! Warum machte Wolodja mir Zeichen, welche von allen bemerkt wurden und mir doch nicht helfen konnten? Warum schaute diese abscheuliche Prinzessin meine Füße so an? Warum hat Ssonitschka – sie ist entzückend, aber warum hat sie gerade da gelächelt? Warum ist Papa so rot geworden, und warum hat er mich bei der Hand gepackt? Hat denn wirklich sogar er sich meiner geschämt? Ach, das ist entsetzlich! Wenn Mamachen hier gewesen wäre, sie wäre nicht ihres Nikolenkas wegen rot geworden!« Und meine Phantasie folgte diesem lieben Bilde in die Ferne. Ich dachte an den Rasenplatz vor unserm Hause, an die hohen Linden des Gartens, den klaren Teich, über dem die Schwalben kreisten, an den tiefblauen Himmel, an dem die weißen, durchsichtigen Wölkchen standen, an die duftenden Schober frischen Heus, – und noch viele stille, frohe Erinnerungen zogen durch meine aufgeregte Phantasie.

 

Nach der Mazurka.

Beim Souper setzte sich der junge Mann, der im ersten Paar getanzt hatte, zu uns an den Kindertisch und widmete mir besondere Aufmerksamkeit, was meiner Eitelkeit nicht wenig geschmeichelt hätte, wenn ich nach dem mir zugestoßenen Unglück überhaupt noch irgend etwas zu fühlen imstande gewesen wäre. Aber der junge Mann schien mich um jeden Preis aufheitern zu wollen: er scherzte mit mir, nannte mich einen flotten Burschen, und sobald keiner der Erwachsenen zu uns herübersah, füllte er mein Glas aus verschiedenen Weinflaschen und drang darauf, daß ich jedesmal austrank. Gegen Ende des Soupers, als der Diener mir nur den vierten Teil des Champagnerkelches aus der in eine Serviette gehüllten Flasche einschenkte, bestand der junge Mann darauf, daß er das Glas fülle, und beredete mich, es auf einen Zug zu leeren; da fühlte ich eine angenehme Wärme im ganzen Körper und eine besondere Freundschaft für meinen lustigen Beschützer und brach ohne rechten Grund in lautes Lachen aus.

Plötzlich ertönten aus dem Saale die Klänge des »Großvatertanzes« und man stand von der Tafel auf. Die Freundschaft zwischen mir und dem jungen Manne war sofort zu Ende: er ging zu den Erwachsenen zurück, während ich, der ich ihm nicht zu folgen wagte, mich neugierig Frau Walachin näherte, um zu hören, was sie mit ihrer Tochter sprach.

»Noch ein halbes Stündchen!« sagte Ssonitschka bittend.

»Es geht wirklich nicht, mein Engel.«

»Ach, um meinetwillen, bitte!« schmeichelte die Kleine.

»Wirst du dich denn freuen, wenn ich morgen krank sein werde?« fragte Frau Walachin und war so unvorsichtig, dabei zu lächeln.

»Ach, du erlaubst also! Nicht wahr, wir bleiben?« rief Ssonitschka, vor Freude aufhüpfend.

»Was soll ich mit dir anfangen? So geh und tanze, – da hast du gleich einen Tänzer,« sagte die Mutter, auf mich weisend.

Ssonitschka reichte mir die Hand, und wir liefen in den Saal. Der genossene Wein sowie Ssonitschkas Anwesenheit und Lustigkeit ließen mich den unglückseligen Zwischenfall bei der Mazurka ganz vergessen. Ich machte mit meinen Beinen die amüsantesten Bewegungen: bald hob ich, ein trabendes Pferd nachahmend, stolz die Beine, bald trampelte ich wie ein Schafsbock, der sich über einen Hund ärgert, dabei lachte ich laut und herzlich und bekümmerte mich nicht im geringsten um den Eindruck, den mein Benehmen auf die Zuschauer machte. Ssonitschka lachte ebenfalls unaufhörlich: sie lachte darüber, daß wir, uns bei den Händen haltend, uns im Kreise drehten; sie lachte beim Anblick eines alten Herrn, der – die Füße vorsichtig hebend – über ein Taschentuch schritt, als fiele ihm das sehr schwer; und sie verging fast vor Lachen, als ich beinahe bis zur Zimmerdecke sprang, um meine Geschicklichkeit zu zeigen.

Als ich durch Großmamas Kabinett schritt, besah ich mich im Spiegel: mein Gesicht war mit Schweiß bedeckt, das Haar zerzaust und struppiger als je; aber der Gesamtausdruck des Gesichtes war so lustig, gutmütig und gesund, daß ich mir selbst gefiel.

»Wenn ich immer so aussehen würde wie jetzt, könnte ich doch noch gefallen,« dachte ich.

Aber als ich dann wieder das liebreizende Gesichtchen meiner Dame anblickte, fand ich darin außer dem Ausdruck der Heiterkeit, Gesundheit und Sorglosigkeit, der mir in dem meinen gefiel, eine so blendende, zarte Schönheit, daß ich mich über mich selbst ärgerte: ich begriff, wie dumm es von mir sei zu hoffen, daß ich die Aufmerksamkeit dieses herrlichen Geschöpfchens auf mich lenken könne.

Ich durfte nicht auf die Erwiderung meiner Gefühle hoffen und dachte auch nicht daran: mein Herz war ohnedies übervoll von Glück. Ich begriff nicht, wie man statt des Gefühles, das mich mit Wonne erfüllte, ein noch größeres Glück verlangen, wie man überhaupt etwas anderes wünschen könne, als daß dieses Gefühl niemals aufhöre. Mir war so wohl zumute. Mein Herz klopfte fühlbar, das Blut strömte unaufhörlich zu ihm hin, und ich hätte vor Seligkeit weinen mögen.

Als wir im Korridor an dem dunklen Verschlage unter der Treppe vorbeischritten, blickte ich hin und dachte: »Was wäre es doch für ein Glück, wenn ich mein ganzes Leben mit ihr in dieser dunklen Kammer verbringen dürfte, und niemand würde wissen, daß wir da wohnen!«

»Nicht wahr, heute ist's sehr lustig?« fragte ich mit leiser, bebender Stimme und eilte weiter, denn ich erschrak – weniger über das, was ich gesagt hatte, als über das, was ich zu sagen beabsichtigte.

»Ja, sehr,« erwiderte Ssonitschka, indem sie ihr Köpfchen zu mir wandte und mich so harmlos und treuherzig ansah, daß ich alle Scheu verlor.

»Besonders nach dem Souper. – Aber wenn Sie wüßten, wie leid es mir tut, (ich wollte sagen: wie es mich schmerzt, traute mich aber nicht), daß Sie bald fortfahren und wir uns nicht mehr sehen werden!«

»Warum sollten wir uns denn nicht mehr sehen?« fragte sie, unverwandt die Spitzen ihrer Schuhe anblickend und mit ihrem Fingerchen am Gitterwerk der Wandschirme, an denen wir gerade vorübergingen, entlangfahrend; »jeden Dienstag und Freitag fahre ich mit Mama auf den Twerschen Boulevard; gehen Sie denn nicht auch spazieren?«

»Ich werde Dienstag unbedingt um die Erlaubnis bitten! Und wenn man mich nicht lassen will, laufe ich allein davon – ohne Mütze! Ich kenne den Weg.«

»Wissen Sie was?« sagte Ssonitschka plötzlich, »ich sage zu einigen Knaben, die bei uns verkehren, immer du; wollen wir zwei uns auch du sagen? Willst du?« fügte sie hinzu, das Köpfchen hebend und mir gerade in die Augen sehend.

In diesem Augenblick betraten wir wieder den Saal, und ein anderer, lebhafterer Teil des Großvatertanzes begann. »Ja, komm – en Sie!« sagte ich, in der Annahme, daß die Musik und der Lärm meine Worte vielleicht übertönen würden.

»Komm! und nicht kommen Sie,« korrigierte Ssonitschka und lachte.

Der Tanz war zu Ende und ich war nicht dazu gekommen, auch nur einen Satz mit »du« zu sagen, obgleich ich im stillen unaufhörlich Sätze formte, in denen das Wörtchen mehrere Male vorkam. Mir fehlte die Courage. »Willst du?« – »Komm!« tönte es noch immer in meinen Ohren und versetzte mich in einen Freudenrausch; ich sah nichts und niemand außer Ssonitschka. Ich sah, wie ihre Locken geordnet und hinter die Ohren zurückgeschoben wurden, so daß Stirn und Schläfen, die ich bisher noch nicht gesehen, frei wurden; ich sah, wie man sie in den grünen Schal hüllte, so fest, daß nur ihr Nasenspitzchen hervorguckte und daß sie gewiß erstickt wäre, wenn sie nicht mit ihren rosigen Fingerchen eine kleine Öffnung um den Mund freigemacht hätte; und ich sah, wie sie, neben ihrer Mutter die Treppe hinuntergehend, sich schnell nach uns umschaute, mit dem Köpfchen nickte und hinter der Tür verschwand.

Wolodja, die Iwins, der junge Fürst und ich – wir alle waren in Ssonitschka verliebt und verfolgten sie, auf der Treppe stehend, mit unseren Blicken. Wem eigentlich ihr Kopfnicken galt, weiß ich nicht, aber in jenem Augenblick war ich überzeugt, daß ich der Glückliche sei.

Als die Iwins sich verabschiedeten, sprach ich ganz ohne Scheu, ja sogar ein wenig kühl mit Sserjoscha und drückte ihm die Hand. Falls ihm damals klar wurde, daß er von dem Tage an meine Zuneigung und seine Macht über mich verloren hatte, so tat ihm das gewiß leid, obgleich er sich bemühte, ganz gleichmütig zu scheinen ...

 

Im Bett.

»Wie habe ich nur Sserjoscha so lange und so heiß lieben können?« fragte ich mich, als ich im Bette lag, »nein, er hat nie verstanden, meine Liebe zu würdigen, und war ihrer nicht wert; aber Ssonitschka, was für ein Prachtmädel! Willst du? – Du mußt anfangen.«

Ich sprang auf allen Vieren in die Höhe, während ich mir lebhaft ihr Gesichtchen vorstellte, zog die Decke über den Kopf, schob sie von allen Seiten unter meinen Körper, legte mich dann, als nirgends mehr eine Öffnung geblieben war, nieder und verfiel, eine wohlige Wärme fühlend, in süße Träumereien und Erinnerungen. Unverwandt das Futter der Steppdecke anstarrend, sah ich Ssonitschka so deutlich wie vor einer Stunde vor mir; ich unterhielt mich mit ihr in Gedanken und dieses Gespräch bereitete mir, obzwar es ganz sinnlos war, einen unbeschreiblichen Genuß, weil die Wörtchen du, dir, mit dir, dein immer wieder darin vorkamen. Diese Phantasiegebilde waren so deutlich, daß ich vor angenehmer Erregung nicht einschlafen konnte und den Wunsch empfand, das Übermaß meines Glückes mit jemand zu teilen.

»Liebster,« sagte ich fast laut, mich plötzlich auf die andere Seite werfend; »Wolodja, schläfst du?«

»Nein,« antwortete er verschlafen, »was ist denn los?«

»Ich bin verliebt, Wolodja, ich bin entschieden verliebt in Ssonitschka.«

»Na und was weiter?« antwortete er, sich reckend.

»Ach Wolodja, du kannst dir nicht vorstellen, wie mir ist. Ich lag eben in die Decke gehüllt und sah sie dabei so deutlich, so deutlich und sprach mit ihr, – es ist wirklich erstaunlich. Und weißt du was? Wenn ich so daliege und an sie denke, wird mir, Gott weiß warum, traurig zumute und ich möchte am liebsten weinen.«

Wolodja machte eine Bewegung.

»Ich wünschte mir nur eines,« fuhr ich fort, »nämlich, immer mit ihr beisammen zu sein, sie immer zu sehen, und sonst nichts. Bist du auch verliebt? Sage die Wahrheit, Wolodja, gesteh's!«

Merkwürdigerweise wünschte ich, daß alle Welt in Ssonitschka verliebt sein und von ihr sprechen möge.

»Was kümmert das dich?« sagte Wolodja, sich mit dem Gesicht zu mir wendend, »vielleicht.«

»Du willst gar nicht schlafen, du hast dich nur verstellt,« rief ich, als ich an seinen glänzenden Augen sah, daß er gar nicht ans Schlafen dachte, und warf meine Decke zurück, »laß uns lieber von ihr sprechen. Nicht wahr, sie ist entzückend? so entzückend, daß, wenn sie mir sagen würde: Nikolenka, spring zum Fenster hinaus oder stürze dich in's Feuer! – ich schwöre dir, ich würde sofort mit Freuden springen. Ach, wie ist sie entzückend,« fügte ich hinzu, indem ich mir wieder lebhaft ihr Bild vorstellte, und um es ganz zu genießen, warf ich mich schnell wieder auf die andere Seite und steckte den Kopf unter die Kissen. »Ich möchte gleich weinen, Wolodja.«

»So ein Dumpfkopf,« sagte Wolodja lächelnd und nach kurzem Schweigen, »ich bin ganz anders als du; ich denke mir, wenn es sein könnte, so möchte ich zunächst neben ihr sitzen und mit ihr sprechen –«

»Ach, du bist also auch verliebt!« unterbrach ich ihn.

»Dann,« fuhr Wolodja mit einem zärtlichen Lächeln fort, »dann möchte ich ihre Fingerchen, ihre Augen, ihr Mündchen, Näschen, Füßchen, kurz alles an ihr küssen.«

»Dummheiten!« rief ich unter dem Kissen hervor.

»Du verstehst gar nichts davon,« sagte Wolodja verächtlich.

»Nein, ich verstehe sehr gut, aber du verstehst nichts und sprichst Dummheiten,« sagte ich unter Tränen.

»Zum Weinen ist doch gar kein Grund da, du bist ein rechtes Weib!«

 

Der Brief.

Am 16. April, beinahe sechs Monate nach dem von mir beschriebenen Tage, kam Papa während der Unterrichtsstunde zu uns nach oben und teilte uns mit, daß wir noch am selben Abend mit ihm nach Hause fahren würden. Diese Nachricht bedrückte mich, und meine Gedanken flogen sofort zu maman.

Die Ursache dieser so unerwarteten Abreise war folgender Brief:

 

Petrowskoje, 12. April.

»Soeben erst, um zehn Uhr abends, erhielt ich Deinen guten Brief vom 3. April, den ich meiner Gewohnheit gemäß sofort beantworte. Fedor hat ihn schon gestern aus der Stadt mitgebracht, aber da's schon spät war, hatte er ihn erst heute früh Mimi übergeben. Mimi aber hat den Brief unter dem Vorwande, daß ich unwohl und aufgeregt sei, mir den ganzen Tag vorenthalten. Ich hatte wirklich etwas Fieber, und um Dir die Wahrheit zu gestehen, es ist heute schon der vierte Tag, daß ich nicht ganz wohl bin und das Bett nicht verlassen kann.

Bitte erschrick nicht, lieber Freund, ich fühle mich ziemlich wohl, und wenn Iwan Wassiljewitsch es erlaubt, will ich morgen aufstehen.

Am Freitag in der vorigen Woche fuhr ich mit den Kindern spazieren; aber dort, wo man auf die Landstraße hinauskommt, bei der kleinen Brücke, vor der ich mich immer fürchtete, blieben die Pferde im Kot stecken. Das Wetter war herrlich und ich kam auf den Gedanken, bis zur Landstraße zu Fuß zu gehen, während der Wagen herausgezogen wurde. Bei der Kapelle angelangt, fühlte ich mich sehr müde und setzte mich nieder, um auszuruhen. Weil es aber fast eine halbe Stunde dauerte, bis die Leute zusammenkamen, um den Wagen herauszuziehen, fing ich an zu frieren, besonders an den Füßen, denn ich hatte nur Schuhe mit dünnen Sohlen an und daher nasse Füße. Nach dem Mittagessen fühlte ich Fieber, Kälte und Hitze, ging aber in gewohnter Ordnung meinen Beschäftigungen nach und setzte mich nach dem Tee ans Klavier, um mit Ljubotschka vierhändig zu spielen. (Du wirst sie nicht wieder erkennen, solche Fortschritte hat sie gemacht!) Aber stelle Dir mein Erstaunen vor, als ich bemerkte, daß ich nicht Takt halten konnte; ich fing mehrmals zu zählen an, aber in meinem Kopf verwirrte sich alles, und ich spürte ein seltsames Brausen in den Ohren. Ich zählte: eins, zwei, drei, dann auf einmal acht, fünfzehn, und das Merkwürdigste war: ich wußte, daß ich irrte, und konnte mich doch nicht verbessern. Endlich kam Mimi mir zu Hilfe und brachte mich fast mit Gewalt zu Bett. Da hast Du also, mein Freund, einen genauen Bericht darüber, wie ich krank wurde und wie ich selbst daran schuld bin. Am Tage darauf hatte ich recht starkes Fieber, unser guter, alter Iwan Wassiljewitsch mußte kommen; er wohnt auch jetzt noch bei uns und verspricht, mich bald wieder in die schöne Gotteswelt hinauszulassen. Ein prächtiger alter Herr, dieser Iwan Wassiljewitsch! Als ich in Fieberphantasien lag, hat er die ganze Nacht, ohne ein Auge zuzutun, an meinem Bette gesessen; und jetzt, weil er weiß, daß ich schreibe, sitzt er mit den Mädchen im Divanzimmer und ich höre vom Schlafzimmer aus, wie er ihnen deutsche Märchen erzählt und wie sie beim Zuhören sich vor Lachen schütteln.

La belle Flamande, wie Du sie nennst, ist nun schon über eine Woche bei mir zu Besuch, weil ihre Mutter verreist ist, und beweist mir durch ihre Sorgfalt die aufrichtigste Anhänglichkeit. Sie vertraut mir alle ihre Herzensgeheimnisse an; bei ihrem schönen Gesicht, ihrem guten Herzen und ihrer Jugend könnte aus ihr ein in jeder Beziehung vortreffliches Mädchen werden, wenn sie in guten Händen wäre; aber in der Gesellschaft, in welcher sie lebt, geht sie, nach ihren Erzählungen zu urteilen, ganz zugrunde. Ich habe schon gedacht: wenn ich nicht so viele eigene Kinder hätte, so würde ich eine gute Tat vollbringen, wenn ich sie zu mir nähme.

Ljubotschka wollte Dir selbst schreiben, hat aber schon den dritten Briefbogen zerrissen und sagt: Ich weiß, was Papa für ein Spötter ist, wenn ich auch nur ein einziges Fehlerchen mache, so zeigt er es allen.

Katjenka ist immer gleich lieb, Mimi gleich gut und langweilig.

Nun laß uns von ernsten Dingen reden. Du schreibst mir, daß Deine Geschäfte in diesem Winter nicht gut gehen und daß Du gezwungen sein werdest, die Chabarowschen Gelder anzugreifen. Mich befremdet es, daß Du dazu erst meine Zustimmung einholst; gehört denn nicht alles, was mein ist, ebenso auch Dir?

Du bist so gut, mein Lieber, daß Du aus Angst, mich zu betrüben, mir die wirkliche Lage der Dinge verheimlichst; aber ich errate, daß Du wahrscheinlich sehr viel Geld verspielt hast, und ich schwöre Dir, ich bin darüber nicht böse. Daher, wenn sich die Sache nur gutmachen läßt, so denke, bitte, nicht daran und quäle Dich nicht unnütz. Ich habe mich daran gewöhnt, für die Kinder nicht nur nicht auf Deinen Gewinn zu rechnen, sondern – verzeihe mir – auch nicht auf dein gesamtes Vermögen; mich freut Dein Gewinn ebensowenig, wie Dein Verlust mich betrübt. Nur Deine unglückliche Leidenschaft für das Spiel macht mir Kummer, denn sie raubt mir einen Teil Deiner zärtlichen Zuneigung und zwingt mich, Dir solche bittere Wahrheiten zu sagen wie heute; aber Gott weiß, wie sehr mich das schmerzt. Ich bitte ihn unaufhörlich, daß er uns bewahre, – nicht vor Armut (was ist Armut!), aber vor jener schrecklichen Lage, wenn die Interessen der Kinder, die ich verteidigen muß, mit den unsern in Widerstreit geraten. Bis jetzt hat Gott mein Gebet erhört: Du hast die Grenzen nicht überschritten, nach welchen wir entweder das Vermögen, das nicht mehr uns, sondern unseren Kindern gehört, opfern müßten, oder – es ist schrecklich, auch nur daran zu denken, und dieses fürchterliche Unglück bedroht uns immer. Ja, es ist ein schweres Kreuz, das der Herr uns beiden auferlegt hat.

Du schreibst mir auch von den Kindern und nimmst unsern alten Streit wieder auf: Du bittest, ich möge zustimmen, daß wir sie einer Lehranstalt übergeben; Du kennst mein Vorurteil gegen eine solche Erziehung.

Ich weiß nicht, lieber Freund, ob Du mir zustimmen wirst, auf jeden Fall aber flehe ich Dich an, gib mir das Versprechen, – tu's mir zuliebe, – daß sowohl bei meinen Lebzeiten als auch nach meinem Tode, falls es Gott gefallen sollte, uns zu trennen, das nie geschehen werde.

Du schreibst mir, Du werdest unbedingt in unsern Angelegenheiten nach Petersburg reisen müssen. Gott sei mit Dir, mein Lieber! Reise nur und kehre recht bald zurück, wir alle vermissen Dich sehr. Der Frühling ist wundervoll: die Balkontür ist schon aufgemacht, der Fußpfad zum Treibhaus war vor vier Tagen schon ganz trocken, die Pfirsichbäume sind in voller Blüte, nur hier und da liegt noch etwas Schnee; die Schwalben sind schon da, und heute hat Ljubotschka mir die ersten Frühlingsblumen gebracht. Der Doktor sagt, in drei Tagen etwa werde ich ganz genesen sein, frische Luft atmen und mich in der Aprilsonne wärmen können. Lebe wohl, mein Lieber, beunruhige Dich, bitte, nicht wegen meiner Krankheit und auch nicht wegen Deines Spielverlustes; beende deine Geschäfte recht bald und komme mit den Kindern für den ganzen Sommer nach Hause. Ich mache schon herrliche Pläne, wie wir ihn verbringen wollen, und nur Du fehlst noch, um sie zu verwirklichen.«

Der folgende Teil des Briefes war französisch abgefaßt und auf einem andern Bogen unleserlich und ungleichmäßig niedergeschrieben. Ich übersetze hier Wort für Wort:

»Glaube nicht, was ich Dir über meine Krankheit geschrieben habe: niemand ahnt, wie ernst sie ist; ich aber weiß das Eine, daß ich das Bett nicht mehr verlassen werde. Verlier keine Minute, komm sofort nach Hause und bring die Kinder mit. Vielleicht kann ich sie noch einmal umarmen und segnen; das ist mein einziger und letzter Wunsch. Ich weiß, was für einen Schmerz ich Dir bereite, aber früher oder später, von mir oder von andern, mußt Du es ja doch erfahren. Bemühen wir uns, dieses Unglück mit Festigkeit und mit Vertrauen auf die Gnade Gottes zu tragen; unterwerfen wir uns seinem Willen. Denk nicht, daß das, was ich Dir schreibe, Fieberphantasien seien; im Gegenteil, meine Gedanken sind in diesem Augenblick außerordentlich klar und ich bin völlig ruhig. Tröste Dich nicht mit der vergeblichen Hoffnung, daß es trügerische, undeutliche Vorgefühle eines ängstlichen Gemütes seien. Nein, ich fühle, ich weiß, – und ich weiß es deshalb, weil Gott so gnädig war, es mir zu offenbaren, – daß ich nur noch sehr kurze Zeit zu leben habe.

Wird mit meinem Leben auch meine Liebe zu Dir und den Kindern aufhören? Ich fühle, daß es nicht möglich ist. Ich empfinde in diesem Augenblick zu stark, um zu glauben, daß das Gefühl, ohne welches ich mir mein Dasein nicht vorstellen kann, irgend wann vernichtet werden könnte. Meine Seele kann nicht weiterbestehen ohne die Liebe zu Euch, und doch weiß ich, daß sie unsterblich ist, schon deshalb, weil ein Gefühl wie meine Liebe gar nicht entstehen könnte, wenn es jemals aufhören müßte.

Ich werde nicht bei Euch sein, aber ich bin ganz sicher, daß meine Liebe Euch nie verlassen wird, und diese Gewißheit ist meinem Herzen so süß, daß ich ruhig und furchtlos den herannahenden Tod erwarte.

Ich bin ruhig, und Gott weiß, daß ich den Tod seit je als den Übergang zu einem besseren Leben angesehen habe, aber warum schnüren mir die Tränen die Kehle zusammen? Warum muß den Kindern die geliebte Mutter geraubt werden? Warum muß Dich ein so schwerer, unerwarteter Schlag treffen? Warum muß ich sterben, während doch Eure Liebe mein Leben so grenzenlos glücklich machte?

Sein heiliger Wille geschehe!

Ich kann vor Tränen nicht weiterschreiben. Vielleicht sehe ich Dich nicht wieder. So danke ich Dir denn, mein Liebster, für all das Glück, mit dem Du mich in diesem Leben umgeben hast; ich werde im Jenseits den Herrn bitten, daß er es Dir vergelte. Lebe wohl, lieber Freund. Denk daran, daß ich nicht mehr sein werde, daß aber meine Liebe Dich nie und nirgends verlassen wird. Lebe wohl, Wolodja, leb' wohl, mein Engel! Leb' wohl, Du mein Benjamin Nikolenka!

Wäre es möglich, daß sie mich jemals vergessen?!«

Diesem Brief war ein Zettelchen von Mimi beigelegt, das in französischer Sprache folgendes enthielt:

»Die traurigen Ahnungen, von denen sie Ihnen erzählt, werden durch die Worte des Doktors nur zu sehr bestätigt. Gestern nachts befahl sie, diesen Brief sofort zur Post zu schicken. Da ich glaubte, daß sie im Fieber spreche, wartete ich bis zum heutigen Morgen und entschloß mich, den Brief zu öffnen. Kaum hatte ich das getan, als Natalia Nikolajewna mich fragte, was mit dem Brief geschehen sei, und mir befahl, ihn zu verbrennen, wenn er noch nicht abgeschickt sei. Sie spricht fortwährend von dem Briefe und behauptet, er werde Sie töten. Verschieben Sie Ihre Reise nicht, wenn Sie diesen Engel sehen wollen, bevor er uns verläßt. Verzeihen Sie dieses Gekritzel. Ich habe drei Nächte nicht geschlafen. Sie wissen, wie lieb sie mir ist!«

Natalia Ssawischna, welche die ganze Nacht des 12. April in Mütterchens Schlafzimmer verbracht hatte, erzählte mir später, daß maman, nachdem sie den ersten Teil des Briefes geschrieben hatte, ihn neben sich auf das Tischchen legte und einschlief.

»Ich selbst« – erzählte Natalia Ssawischna – »war, wie ich gestehe, im Lehnstuhl eingenickt und der Strickstrumpf war meinen Händen entfallen. Halb im Schlaf höre ich – es mag so um ein Uhr gewesen sein –, daß sie spricht; ich öffne die Augen und sehe: sie, mein Täubchen, sitzt aufrecht im Bett, hat ihre Händchen so gefaltet, und die Tränen entströmen ihren Augen geradezu in Bächen. So ist denn alles zu Ende! sagt sie nur und bedeckt das Gesicht mit den Händen. Ich sprang auf, begann zu fragen: ›Was ist Ihnen?‹ – ›Ach, Natalia Ssawischna, wenn Sie wüßten, wen ich soeben gesehen habe!‹ – Und soviel ich auch fragte, sie erzählte mir nichts, befahl nur, das Tischchen näherzurücken, schrieb noch etwas, ließ den Brief vor ihren Augen versiegeln und sogleich fortschicken. Von da an ging es schlechter und schlechter mit ihr.«

 

Was uns auf dem Lande erwartete.

Am 25. April stiegen wir bei der Freitreppe von Petrowskoje aus der Reisekutsche. Bei unserer Abreise aus Moskau war Papa sehr ernst, und als Wolodja ihn fragte, ob maman am Ende krank sei, sah er ihn tiefbekümmert an und nickte mit dem Kopfe. Während der Reise wurde er merklich ruhiger, aber je näher wir unserm Hause kamen, einen desto traurigeren Ausdruck nahm sein Gesicht an, und als er beim Verlassen des Wagens den atemlos herbeieilenden Foka fragte: »Wo ist Natalia Nikolajewna?« zitterte seine Stimme und in seinen Augen standen Tränen. Der gute alte Foka warf verstohlen einen Blick auf uns Kinder, senkte dann die Augen und antwortete, indem er sich abwendete und die Tür ins Vorzimmer öffnete:

»Es ist heute der sechste Tag, daß sie nicht geruht hat, das Schlafzimmer zu verlassen.«

Milka, die – wie ich später erfuhr – von dem Tage an, an welchem maman erkrankte, nicht aufgehört hatte, kläglich zu heulen, stürzte freudig Papa entgegen, sprang an ihm in die Höhe und leckte ihm winselnd die Hände; aber er stieß sie zurück und ging durch den Salon ins Divanzimmer, von dem eine Tür direkt ins Schlafzimmer führte. Je mehr er sich diesem Zimmer näherte, um so deutlicher äußerte sich in allen seinen Bewegungen Angst und Unruhe; als er das Divanzimmer betrat, ging er auf den Fußspitzen, hielt den Atem an und bekreuzigte sich, ehe er den Mut fand, die Klinke der geschlossenen Tür zu berühren. In diesem Augenblick kam Mimi – verweint und mit zerzauster Frisur – aus dem Korridor herbeigelaufen.

»Ach, Peter Alexandritsch!« flüsterte sie mit dem Ausdruck wahrer Verzweiflung und fügte dann, als sie bemerkte, daß Papa die Türklinke in der Hand hielt, kaum hörbar hinzu: »Hier kann man nicht hinein, – der Eingang ist durch die große Tür.«

O, welch niederdrückende Wirkung hatte dies alles auf meine kindliche Einbildungskraft, die durch ein banges Vorgefühl für Kummer besonders empfänglich geworden war!

Wir begaben uns ins Mädchenzimmer. Im Korridor trafen wir den Narren Akim, der uns stets durch seine Grimassen amüsiert hatte; in jenem Augenblick aber erschien er mir nicht nur nicht komisch, sondern nichts berührte mich so schmerzlich wie der Anblick seines gedankenlos gleichgültigen Gesichtes. Im Mädchenzimmer begrüßten uns zwei Mägde, die bei irgend einer Arbeit saßen, mit so betrübten Mienen, daß mir entsetzlich bange zumute wurde. Nachdem wir noch Mimis Zimmer passiert hatten, öffnete Papa die Tür des Schlafzimmers, und wir traten ein. Rechts von der Tür befanden sich zwei Fenster, die mit Tüchern verhängt waren; an dem einen saß Natalia Ssawischna mit der Brille auf der Nase und dem Strickstrumpf in der Hand. Sie kam nicht auf uns zu, um uns zu küssen, wie sie das sonst wohl tat, sondern erhob sich nur und schaute uns über die Brille an, und dabei strömten ihr die Tränen in schweren Tropfen über das Gesicht. Mir gefiel es durchaus nicht, daß bei unserm Anblick alle in Tränen ausbrachen, während sie bis dahin ganz ruhig gewesen waren.

Links von der Tür waren Wandschirme aufgestellt und dahinter standen das Bett, ein Tischchen, ein mit Arzneiflaschen besetztes Schränkchen und ein großer Lehnstuhl, in dem der Doktor schlummerte; neben dem Bett stand ein hochblondes und auffallend hübsches junges Mädchen in weißem Morgenkleide mit ein wenig zurückgestreiften Ärmeln und machte maman Eisumschläge um den Kopf, den ich in diesem Augenblick nicht sehen konnte. Dieses Mädchen war » la belle Flamande«, von der maman in ihrem Brief gesprochen hatte und die späterhin eine so bedeutende Rolle im Leben unserer ganzen Familie spielen sollte. Als wir eintraten, zog sie eine Hand von Mamas Kopf zurück, ordnete die Falten ihres Morgenkleides auf der Brust und sagte flüsternd: »Bewußtlos!«

So bekümmert ich in jenem Augenblicke war, so bemerkte ich doch unwillkürlich jede Kleinigkeit. Im Zimmer war es heiß und beinahe finster, dabei roch es nach Pfefferminz, Eau de Cologne, Kamillentee und Hoffmannstropfen. Dieser Geruch wirkte derartig auf mich ein, daß meine Phantasie, nicht nur sobald ich ihn spüre, sondern selbst, wenn ich mich seiner nur erinnere, mich sofort in jenes düstere, dumpfe Zimmer versetzt und mir die geringsten Einzelheiten jener entsetzlichen Minute wieder ins Gedächtnis ruft.

Mamas Augen waren geöffnet, aber sie sah nichts. O, niemals werde ich diesen schrecklichen Blick vergessen! Er verriet so viel Leiden!

Man führte uns fort.

Als ich später Natalia Ssawischna nach Mütterchens letzten Augenblicken fragte, erzählte sie mir folgendes:

»Nachdem man euch fortgeführt hatte, warf sie sich noch lange im Bette hin und her, das arme Täubchen; es war, als wenn sie hier etwas drücke; dann sank ihr Köpfchen von den Kissen herab und sie schlummerte ein, so sanft und ruhig wie ein Engel des Himmels. Ich war nur hinausgegangen nachzuschauen, warum ihr Getränk noch nicht gebracht wurde, – und als ich wiederkomme, hat sie, mein Herzblatt, schon alles von sich fortgeschleudert und winkt immer Ihrem Papachen zu. Der neigt sich über sie, aber man sieht, ihre Kräfte reichen nicht mehr, um zu sagen, was sie gewollt hat: sie öffnet nur die Lippen und fängt wieder zu stöhnen an: »Mein Gott! O Herr! Die Kinder! die Kinder!« Ich wollte euch schnell holen, aber Iwan Wassiljewitsch hielt mich zurück und meinte, das werde sie noch mehr aufregen, es sei besser, ich täte es nicht. Später hob sie nur noch das Händchen und ließ es wieder sinken. Was sie damit ausdrücken wollte, weiß Gott allein! Ich denke mir, daß sie euch von ferne segnete; denn der Herr hat's ihr nicht beschieden, vor ihrem letzten Ende ihre Kinderchen zu sehen. Dann richtete sie sich auf, mein Täubchen, legte die Händchen so zusammen und fing plötzlich zu sprechen an, aber mit einer solchen Stimme, daß ich gar nicht daran denken kann: ›Mutter Gottes, verlaß sie nicht!‹ Dann kam die Krankheit wohl bis ans Herz; man sah es an ihren Augen, daß die Ärmste entsetzlich leiden mußte; sie fiel in die Kissen zurück und biß sich ins Bettuch fest, während ihre Tränen ohne Aufhör strömten.«

»Nun und dann?« fragte ich.

Natalia Ssawischna konnte nicht weiter reden, sie wandte den Kopf zur Seite und begann bitterlich zu weinen.

Maman war unter fürchterlichen Qualen verschieden.

 

Trauer.

Am Tage darauf, spät abends, packte mich das Verlangen, sie noch einmal zu sehen: ein unwillkürliches Angstgefühl überwindend, öffnete ich leise die Tür und schlich auf den Fußspitzen in den Saal.

Mitten im Zimmer, auf einem Tische, stand der Sarg, um ihn herum brennende Kerzen in hohen silbernen Leuchtern; in einer entfernten Ecke saß ein Meßdiener und las mit gedämpfter, eintöniger Stimme die Psalmen.

Ich blieb bei der Tür stehen und blickte hinüber, aber meine Augen waren so verweint und meine Nerven so erregt, daß ich nichts zu erkennen vermochte; alles floß seltsam ineinander: das Licht, der Goldbrokat, der Sammet, die großen Leuchter, das rosenfarbige, spitzenbesetzte Kissen, das Stirnband, das bändergeschmückte Häubchen und noch etwas fast Durchsichtiges, Wachsfarbenes. Ich stieg auf einen Stuhl, um ihr Gesicht zu sehen, aber dort, wo ich es suchte, fand ich wieder nur jenes Blaßgelbliche, Durchsichtige. Ich konnte nicht glauben, daß das ihr Gesicht sei. Ich blickte genauer hin und erkannte ganz allmählich die bekannten, lieben Züge. Ich fuhr vor Schreck zusammen, als mir klar wurde, daß sie es war; aber warum sind die geschlossenen Augen so eingesunken? Woher kommt diese schreckliche Blässe und woher der schwärzliche Fleck unter der durchsichtigen Haut der einen Wange? Warum ist der Ausdruck des ganzen Gesichtes so streng und so kalt? Warum sind die Lippen so blaß, und warum ist ihre Form eine so schöne, so erhabene? Warum drücken sie eine so überirdische Ruhe aus, daß mir ein kalter Schauer über Nacken und Rücken läuft, während ich sie ansehe?

Ich sah und sah und fühlte, daß eine unerklärliche, unwiderstehliche Macht meine Blicke an dieses leblose Gesicht fesselte. Ich wendete kein Auge von ihm, und meine Phantasie malte Bilder voll blühenden Lebens und voller Glück. Ich vergaß, daß der leblose Körper, welcher da vor mir lag und den ich gedankenlos anstarrte wie einen Gegenstand, der mit meinen Erinnerungen nichts Gemeinsames hatte, daß dieser Körper sie war. Ich stellte sie mir bald in diesem, bald in jenem Zustande vor: lebendig, lustig, lächelnd; dann störte mich plötzlich irgend ein Zug in dem blassen Antlitz, auf das ich meine Blicke heftete: ich besann mich auf die entsetzliche Wirklichkeit, schauerte zusammen, hörte aber nicht auf hinzusehen. Und wieder traten Träume an die Stelle der Wirklichkeit, und wieder zerstörte das Besinnen auf die Gegenwart diese Träume. Endlich ermüdete die Einbildungskraft und hörte auf, mich zu täuschen; aber auch das Bewußtsein der Gegenwart entschwand, und ich versank in eine Art von Bewußtlosigkeit. Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand dauerte, weiß nicht, worin er eigentlich bestand; ich weiß nur, daß ich für einige Zeit das Bewußtsein meiner Existenz verloren hatte und das Gefühl eines hohen, unerklärlich angenehmen, aber trauervollen Genusses empfand.

Vielleicht schaute ihre herrliche Seele auf dem Fluge zur besseren Welt traurig auf die zurück, in der sie uns zurückließ, sah meinen Schmerz, erbarmte sich meiner und schwebte auf den Fittichen der Liebe mit himmlischem Lächeln zur Erde herab, um mich zu trösten und zu segnen.

Die Tür knarrte und es trat ein anderer Meßdiener ins Zimmer, um den ersten abzulösen. Dieses Geräusch ließ mich erwachen, und mein erster Gedanke war: Da ich nicht weine und in einer nichts weniger als rührenden Stellung auf einem Stuhle stehe, könnte der Meßdiener mich für einen herzlosen Knaben halten, der aus Ungezogenheit oder Neugier auf den Stuhl geklettert ist; ich bekreuzigte mich und begann zu weinen.

Wenn ich mir jetzt die damaligen Eindrücke ins Gedächtnis rufe, finde ich, daß nur der Augenblick des Selbstvergessens echter Schmerz war. Vor und nach der Beerdigung hörte ich nicht auf zu weinen und war sehr traurig, aber ich schäme mich, an diese Traurigkeit zurückzudenken, denn es mischte sich stets ein gewisses Gefühl von Selbstsucht darunter: bald war's der Wunsch, zu zeigen, daß ich trauriger sei als alle andern, bald die Sorge um den Eindruck, den ich auf die Leute machte, dann wieder eine zwecklose Neugier, die mich zwang, Betrachtungen über Mimis Haube und die Gesichter der Anwesenden anzustellen. Ich verachtete mich selbst, weil ich nicht ausschließlich Trauer empfand, und bemühte mich, alle anderen Gefühle zu verbergen: daher war mein Schmerz unaufrichtig und unnatürlich, überdies bereitete es mir eine Art von Genuß, zu wissen, daß ich unglücklich sei, und ich strengte mich an, um das Bewußtsein des Unglücks in mir wachzuhalten, und dieses egoistische Gefühl erstickte mehr als alles andere in mir die wahre Trauer.

Nachdem ich die Nacht fest und ruhig geschlafen hatte, wie das nach heftiger Betrübnis immer zu sein pflegt, erwachte ich mit getrockneten Tränen und beruhigten Nerven. Um zehn Uhr rief man uns zum Trauergottesdienst, der vor dem Forttragen des Sarges zelebriert wurde. Das Gemach war mit dem Hofgesinde und den Dorfbewohnern angefüllt; in Tränen aufgelöst waren sie alle gekommen, von ihrer Herrin Abschied zu nehmen. Während des Gottesdienstes weinte ich nach Gebühr, machte das Kreuzeszeichen und kniete nieder, betete im Herzen aber nicht und blieb recht kaltblütig: ich machte mir Gedanken darüber, daß das neue Jackett, welches man mir angezogen hatte, mich unter den Armen drückte; ich sorgte dafür, daß ich beim Knien meine Beinkleider nicht zu sehr beschmutzte, und beobachtete verstohlen alle Anwesenden. Mein Vater stand am Kopfende des Sarges, war bleich wie ein Tuch und hielt mit sichtlicher Anstrengung die Tränen zurück. Seine hohe Gestalt im schwarzen Frack, sein blasses, ausdrucksvolles Gesicht und seine wie immer graziösen und sicheren Bewegungen, wenn er sich bekreuzte, beim Niederknien den Boden mit der Hand berührte, die Kerze aus der Hand des Geistlichen entgegennahm oder an den Sarg herantrat, waren äußerst effektvoll; aber – ich weiß nicht warum – mir mißfiel gerade, daß er in einem solchen Augenblick solchen Effekt hervorrufen konnte. Mimi stand an die Wand gelehnt und schien sich kaum aufrecht halten zu können; ihr Kleid war zerknittert und mit Bettfedern bedeckt, die Haube saß schief, die geschwollenen Augen waren gerötet, der Kopf zitterte. Sie schluchzte herzzerreißend und bedeckte ihr Gesicht fortwährend mit Taschentuch und Händen. Mir war, als täte sie das nur, um ihr Gesicht vor den Anwesenden zu verstecken und einen Augenblick von dem heuchlerischen Schluchzen auszuruhen. Ich erinnerte mich, daß sie tags zuvor zu Papa gesagt hatte, Mamas Tod sei für sie ein so entsetzlicher Schlag, daß sie nicht hoffen könne, ihn zu überstehen; er habe ihr alles geraubt, aber noch kurz vor dem Tode habe dieser Engel (so nannte sie maman) ihrer nicht vergessen und den Wunsch geäußert, ihre und ihrer Tochter Katjenka Zukunft für immer sorglos zu gestalten. Sie vergoß bittere Tränen, als sie das erzählte, und es ist möglich, daß ihre Trauer echt war, aber sie war nicht rein und nicht ohne Nebengedanken. Ljubotschka, im schwarzen Kleidchen mit Trauerbesatz, stand in Tränen aufgelöst mit gesenktem Köpfchen da und blickte zuweilen zum Sarge hinüber, wobei ihr Gesicht nur kindliche Furcht verriet. Katjenka stand neben ihrer Mutter und sah trotz des zum Weinen verzogenen Gesichtchens so rosig aus wie immer. Wolodjas offene Natur war auch im Schmerz aufrichtig: bald stand er in Gedanken versunken da, den Blick unbeweglich auf irgend einen Gegenstand geheftet, bald verzog sein Mund sich plötzlich zum Weinen und er bekreuzigte sich schnell. Alle die Fremden, die zur Beerdigung gekommen waren, erschienen mir unerträglich. Die tröstenden Phrasen, die sie zu meinem Vater sprachen, – daß sie es im Jenseits besser habe, daß sie nicht für diese Welt geschaffen gewesen, – erweckten in mir ein ärgerliches Gefühl.

Welches Recht hatten sie, von ihr zu sprechen und sie zu beweinen? Einige von ihnen nannten uns, wenn sie von uns sprachen, Waisen. Als ob wir's nicht ohne sie gewußt hatten, daß Kinder, die keine Mutter haben, so genannt werden! Wahrscheinlich machte es ihnen Freude, daß sie die ersten waren, die uns diesen Namen gaben, so wie man sich gewöhnlich beeilt, ein eben vermähltes Mädchen zum ersten Male »gnädige Frau« anzureden.

In einer entfernten Ecke des Saales, fast verdeckt von der geöffneten Tür zum Speisezimmer, kniete ein gebeugtes, weißhaariges Mütterchen. Die Hände gefaltet, die Blicke gen Himmel gerichtet, betete sie still, ohne zu weinen. Ihre Seele strebte zu Gott empor; sie flehte ihn an, er möge sie mit derjenigen vereinen, die sie hier auf Erden mehr als alles geliebt hatte, und sie hoffte zuversichtlich, daß das bald geschehen werde.

» Die hat sie wahrhaft geliebt!« dachte ich, und ich schämte mich meiner selbst.

Der Gottesdienst war zu Ende. Das Antlitz der Toten war unbedeckt, und alle Anwesenden mit Ausnahme der Familienglieder traten einer nach dem andern an den Sarg, um Abschied zu nehmen.

Eine der letzten Herantretenden war eine Bäuerin mit einem hübschen fünfjährigen Mädchen auf dem Arme; weiß Gott, warum sie das Kind mitgebracht hatte! In diesem Moment entfiel mir mein nasses Taschentuch und ich bückte mich, um es aufzuheben. Da traf ein fürchterlicher, durchdringender Schrei mein Ohr; er drückte ein solches Entsetzen aus, daß ich ihn nie vergessen werde, und wenn ich auch hundert Jahre leben sollte. Bei der bloßen Erinnerung an ihn überläuft es mich kalt. Ich hob den Kopf: auf dem Schemel vor dem Sarge stand die Bäuerin und hielt mit Mühe in ihren Armen das Kind, das – mit den Händchen abwehrend, das entsetzte Gesichtchen zurückgeworfen, die hervorgetretenen Augen auf das Antlitz der Toten gerichtet – mit schrecklicher, unnatürlicher Stimme schrie. Ich stieß einen Schrei aus, der, glaube ich, noch entsetzlicher klang als der des Kindes, und stürzte aus dem Zimmer.

In jenem Augenblicke erst hatte ich begriffen, woher der schwere, beklemmende Geruch kam, der, mit dem Duft des Weihrauchs vermischt, das Zimmer erfüllte; und der Gedanke, daß das Antlitz, welches noch vor wenigen Tagen voll Schönheit und Liebreiz gewesen, das Antlitz derjenigen, die ich mehr als alles auf der Welt geliebt hatte, Entsetzen einflößen konnte, enthüllte mir gleichsam zum erstenmal die bittere Wahrheit und füllte meine Seele mit Verzweiflung.

 

Die letzten traurigen Erinnerungen.

Maman war nicht mehr, – unser Leben aber ging seinen gewohnten Gang: wir legten uns schlafen und standen auf zu denselben Stunden und in denselben Zimmern; Frühstücks- und Nachmittagstee, Mittagsmahl, Abendessen – alles fand zur gewohnten Zeit statt; Tische und Stühle standen auf demselben Platz; nichts im Hause und in unserer Lebensweise war verändert, – nur sie war nicht mehr.

Ich hatte geglaubt, nach einem solchen Unglück müsse sich alles ändern; die gewohnte Lebensweise erschien mir wie eine Entweihung ihres Gedächtnisses und erinnerte mich zu schmerzlich an ihre Abwesenheit.

Am Tage vor der Beerdigung wollte ich nach dem Mittagessen ein wenig schlafen und ging in Natalia Ssawischnas Zimmer, um auf ihrem Bette, auf dem weichen Pfühl und unter der warmen Steppdecke ein Plätzchen zu suchen. Als ich eintrat, lag Natalia Ssawischna selbst auf ihrem Bett und schlief wohl; beim Geräusch meiner Schritte richtete sie sich auf, warf das wollene Tuch, mit dem sie ihren Kopf bedeckt hatte, um sich vor Fliegen zu schützen, zurück, schob ihre Haube gerade und setzte sich auf den Rand des Bettes.

Da ich auch früher schon oft genug nach dem Essen zu einem Mittagsschläfchen in ihr Zimmer gekommen war, erriet sie den Grund meines Erscheinens und sagte, sich vom Bett erhebend:

»Sie kommen wohl, um ein wenig zu ruhen, mein Täubchen, was? Legen Sie sich nur nieder!«

»Was fällt Ihnen ein, Natalia Ssawischna!« antwortete ich, ihre Hand ergreifend, »ich komme durchaus nicht deshalb, – sondern nur so, – Sie sind doch auch selbst müde, – bleiben Sie nur liegen!«

»Nein, Herzensväterchen, ich hab' mich schon ausgeschlafen (ich wußte, daß sie dreimal vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte!). Mir ist's jetzt auch nicht nach Schlafen zumute,« fügte sie mit tiefem Seufzer hinzu.

Ich empfand den Wunsch, mit Natalia Ssawischna über unser Unglück zu reden; ich kannte ihre Aufrichtigkeit und ihre Liebe, und es hätte mir Erleichterung gewährt, mich mit ihr auszuweinen.

»Natalia Ssawischna,« begann ich nach kurzem Schweigen, mich auf das Bett setzend, »haben Sie das erwartet?«

Die Alte sah mich fragend und neugierig an, als verstehe sie nicht, weshalb ich diese Frage gestellt hatte.

»Wer hätte das erwartet!« wiederholte ich.

»Ach, mein Väterchen,« sagte sie, mich voll zärtlichen Mitgefühls anblickend: »nicht allein, daß man's nicht erwartet hat, – ich kann's auch jetzt noch nicht fassen. Für mich alte Frau wäre es längst an der Zeit, die alten Knochen zur Ruhe zu legen, statt dessen – was hab ich alles schon erleben müssen! Den alten gnädigen Herrn, Ihren Großvater, – Gott schenke ihm die ewige Ruhe! – den Fürsten Nikolaj Michailowitsch, dann zwei Brüder, meine Schwester Anna, alle habe ich begraben, und alle waren jünger als ich, mein Herzchen, und jetzt – wohl zur Strafe für meine Sünden – muß ich auch sie überleben. Gottes heiliger Wille geschehe! Er hat sie zu sich genommen, weil sie dessen würdig war, denn er braucht die Guten auch dort oben.«

Dieser schlichte Gedanke wirkte tröstend auf mich, und ich rückte näher an Natalia Ssawischna heran. Sie faltete die Hände über der Brust und blickte gen Himmel; ihre eingesunkenen, tränenfeuchten Augen drückten eine große, aber ruhige Trauer aus. Sie hoffte fest, daß Gott sie nicht auf lange von derjenigen getrennt hatte, auf die sie so viele Jahre die ganze Kraft ihrer Liebe vereinigt hatte.

»Ja, mein Väterchen, mir ist, als wär's noch gar nicht so lange her, daß ich sie auf den Armen getragen, und daß sie mich Nascha nannte. Manch liebes Mal kam sie zu mir gelaufen, legte die Ärmchen um meinen Hals und bedeckte mein Gesicht mit Küssen und sprach liebkosend: ›Meine Nascha, du mein Schönchen, du mein Täubchen!‹ Ich neckte sie dann wohl und erwiderte: ›Es ist ja nicht wahr, Mütterchen, Sie lieben mich ja gar nicht; wenn Sie groß sein werden, werden Sie sich verheiraten und Ihre Nascha vergessen!‹ Dann wurde sie nachdenklich. ›Nein,‹ sagte sie schließlich, ›wenn ich Nascha nicht mitnehmen kann, will ich lieber nicht heiraten; ich werde Nascha niemals verlassen.‹ Und nun hat sie mich doch verlassen, hat nicht auf mich gewartet! Ja, sie hat mich sehr lieb gehabt, die Selige. Aber wen – um die Wahrheit zu sagen – hat sie denn nicht lieb gehabt? Ja, mein Liebling, Ihr Mütterchen dürfen Sie nie vergessen; sie war kein irdisches Wesen, sondern ein Engel des Himmels. Wenn ihre Seele im Himmelreich sein wird, wird sie euch auch dort noch lieben, wird sich dort über euch freuen.«

»Warum, Natalia Ssawischna, sagen Sie: wenn sie im Himmelreich sein wird?« fragte ich, »ich denke, sie ist doch jetzt schon dort?«

»Nein, Väterchen,« antwortete Natalia Ssawischna, ihre Stimme senkend und näher an mich heranrückend, »jetzt ist ihre Seele hier.«

Und sie deutete nach oben. Sie sprach fast flüsternd und mit so viel Gefühl und Überzeugungskraft, daß ich unwillkürlich nach oben blickte und das Gesimse betrachtete, als suchte ich etwas.

»Ehe die Seele des Gerechten ins Paradies einzieht, muß sie durch vierzig verschiedene Übergänge hindurch, mein Herzchen, vierzig Tage lang, und kann noch in ihrem Hause weilen.«

Lange noch sprach sie in dieser Weise und sprach mit solcher Schlichtheit und Zuversicht, als erzähle sie die allergewöhnlichsten Dinge, die sie selbst erlebt hatte und über die keinem Menschen auch nur der geringste Zweifel kommen könnte. Ich hörte mit verhaltenem Atem zu, und obgleich ich nicht ganz verstand, was sie sagte, glaubte ich ihr unbedingt.

»Ja, Herzchen, jetzt ist sie hier, sieht uns, hört vielleicht, was wir sprechen,« schloß Natalia Ssawischna, senkte den Kopf und schwieg. Da sie das Taschentuch brauchte, um die herabfallenden Tränen zu trocknen, stand sie auf, blickte mir grade ins Gesicht und sagte mit vor Aufregung zitternder Stimme:

»Um viele Stufen hat Gott mich durch dieses Ereignis näher zu sich gerückt. Was ist mir hier auf Erden noch geblieben? Für wen soll ich leben, wen lieben?«

»Lieben Sie uns denn nicht?« fragte ich vorwurfsvoll, mit Mühe die Tränen zurückhaltend.

»Gott weiß, wie ich euch liebe, ihr meine Täubchen, aber so, wie ich sie geliebt habe, hab' ich nie jemand geliebt und kann ich überhaupt nie jemand lieben.«

Sie konnte nicht weitersprechen, wandte sich von mir ab und brach in lautes Schluchzen aus.

Ich dachte nicht mehr ans Schlafen; stumm saßen wir einander gegenüber und weinten.

Foka trat ins Zimmer; unsere Erregung gewahrend, blieb er, wahrscheinlich um uns nicht zu stören, schweigend an der Tür stehen und blickte uns schüchtern an.

»Was willst du, Fokachen?« fragte Natalia Ssawischna, ihre Tränen trocknend.

»Rosinen anderthalb, Zucker vier Pfund und Reis drei Pfund zum Totenmahl.« Ein Gericht aus Reis mit Honig und Rosinen wird bei einer russischen Totenfeier zum Einsegnen in die Kirche gebracht und dann verzehrt. (Anm. d. Übers.)

»Sofort, sofort, Väterchen,« sagte Natalia Ssawischna, nahm schnell eine Prise und trippelte eilig zum Vorratskasten. Die letzten Spuren der Traurigkeit, die unser Gespräch hervorgerufen hatte, waren verschwunden, als sie sich ihren Pflichten widmete, die sie für sehr wichtig hielt.

»Warum vier Pfund?« fragte sie brummig, indem sie den Zucker auf der Handwage abwog, »dreieinhalb werden auch genug sein.«

Und sie nahm einige Stücke von der Wage herunter.

»Und was soll denn das heißen, – gestern erst hab' ich acht Pfund Reis herausgegeben, und heute wird schon wieder verlangt! Mach' was du willst, Foka Demiditsch, aber ich geb' keinen Reis her. Dieser Wanjka ist froh, daß jetzt Verwirrung im Hause herrscht, und denkt, man werde es nicht merken. Nein, auf Kosten des herrschaftlichen Hab und Gutes werd' ich euch nicht durch die Finger sehen! Hat man je so was gehört – acht Pfund!«

»Was soll ich machen? Er sagt, es sei alles verbraucht.«

»Na so nimm! Da, er soll's haben!«

Ich wunderte mich damals über diesen Übergang von der Rührung, mit welcher sie zu mir gesprochen hatte, zur Brummigkeit und kleinlichen Berechnung. Als ich später darüber nachdachte, begriff ich, daß sie ungeachtet dessen, was in ihrer Seele vorging, Geistesgegenwart genug besaß, um sich ihrer Arbeit zu widmen, und die Macht der Gewohnheit zog sie zu ihren alltäglichen Beschäftigungen. Der Schmerz wirkte so stark auf sie, daß sie es nicht für nötig fand zu verbergen, daß sie sich auch mit Nebensächlichem beschäftigen könne; sie hätte es nicht einmal verstanden, wie man auf einen solchen Gedanken kommen könne.

Die Eitelkeit ist ein Gefühl, das sich mit echter Trauer ganz und gar nicht verträgt, und dabei ist dieses Gefühl so fest verwachsen mit der menschlichen Natur, daß es selbst durch den größten Schmerz nur sehr selten ganz vertrieben wird. Eitelkeit im Schmerz äußert sich in dem Wunsche, sehr betrübt oder unglücklich oder stark zu erscheinen; und diese niedrigen Wünsche, die wir nicht eingestehen, die uns aber beinahe nie – selbst im bittersten Leide nicht – verlassen, nehmen dem Schmerz Kraft, Würde und Aufrichtigkeit. Natalia Ssawischna aber war von ihrem Unglück so niedergebeugt, daß in ihrer Seele kein einziger Wunsch geblieben war und sie nur noch ihren Gewohnheiten nachlebte.

Nachdem sie Foka den verlangten Proviant zugeteilt und ihn an die Pastete erinnert hatte, welche zur Bewirtung des Leichengefolges zu bereiten sei, entließ sie ihn, nahm ihr Strickzeug zur Hand und setzte sich wieder neben mich.

Wir sprachen wieder von unserem Unglück, wir weinten nochmals und trockneten nochmals unsere Tränen.

Diese Gespräche mit Natalia Ssawischna wiederholten sich jeden Tag; ihre stillen Tränen und ihre ruhigen, frommen Reden brachten mir Trost und Erleichterung.

Aber bald sollten wir getrennt werden: drei Tage nach der Beerdigung übersiedelten wir mit dem ganzen Hausstande nach Moskau, und es war mir nicht beschieden, die gute Alte jemals wiederzusehen.

Großmama erhielt die Schreckensnachricht erst bei unserer Ankunft, und ihr Schmerz war unbeschreiblich. Wir durften nicht zu ihr, denn sie lag eine ganze Woche bewußtlos da, und die Ärzte fürchteten für ihr Leben, um so mehr als sie nicht nur keine Arznei nehmen wollte, sondern auch mit niemand sprach, nicht schlief und keine Nahrung zu sich nahm. In ihrem Lehnstuhl sitzend begann sie zuweilen ganz plötzlich zu lachen, dann tränenlos zu schluchzen; Krämpfe befielen sie und sie schrie mit unnatürlicher Stimme sinnlose oder schreckliche Worte. Es war der erste große Schmerz, der sie traf, und dieser Schmerz brachte sie der Verzweiflung nahe. Sie mußte irgend jemand die Schuld an ihrem Unglück geben, und sie stieß mit ungewöhnlicher Heftigkeit drohende Worte aus, sprang vom Stuhle auf, ging mit schnellen, großen Schritten durchs Zimmer und fiel schließlich bewußtlos zu Boden.

Eines Tages betrat ich ihr Zimmer: sie saß wie gewöhnlich in ihrem Lehnstuhl und schien ganz ruhig zu sein; aber ihr Blick fiel mir auf. Die Augen waren weit geöffnet, blickten aber starr und leer. Sie schaute gerade zu mir herüber, sah mich aber wahrscheinlich gar nicht. Ihre Lippen begannen allmählich zu lächeln, und sie sprach mit rührender, zärtlicher Stimme: »Komm zu mir, mein Herzchen, komm, mein Engel!« Ich glaubte, sie spräche zu mir, und ging näher heran, aber sie blickte nicht auf mich. »Ach, wenn du wüßtest, mein Seelchen, wie ich mich gequält habe, und wie froh ich jetzt bin, daß du gekommen bist!« Ich merkte, daß sie sich einbildete, mit maman zu sprechen, und blieb stehen. »Und man sagte mir, du seist tot,« fuhr sie stirnrunzelnd fort, »so ein Unsinn! Als ob du vor mir sterben könntest!« Und sie brach in gräßliches hysterisches Lachen aus.

Nur jene Menschen, welche starker Liebe fähig sind, können auch starke Schmerzen empfinden; aber das Bedürfnis zu lieben, dient ihnen auch als Gegenwirkung gegen den Schmerz und macht sie wieder gesund. Daher ist die moralische Natur des Menschen noch lebenskräftiger als die physische; Schmerz tötet nie.

Nach einer Woche konnte Großmama weinen, und ihr wurde besser. Als sie wieder zu sich kam, galt ihr erster Gedanke uns, und ihre Liebe zu uns verdoppelte sich. Wir gingen nicht von ihrem Lehnstuhl fort; sie weinte still vor sich hin, sprach von maman und liebkoste uns zärtlich.

Niemand konnte es beim Anblick von Großmamas Kummer in den Sinn kommen, daß sie vielleicht übertreibe, und die Äußerungen dieses Kummers waren stark und rührend; und dennoch – ich weiß nicht, weshalb? – fühlte ich mehr mit Natalia Ssawischna, und bis zum heutigen Tage habe ich die Überzeugung, daß niemand maman so aufrichtig und rein geliebt und betrauert hat wie dieses einfache, liebende Geschöpf.

Mit dem Tode der Mutter endete für mich die glückliche Kinderzeit, und es begann ein neuer Lebensabschnitt: das Knabenalter; doch da die Erinnerung an Natalia Ssawischna, die ich nicht mehr wiedersah und die einen so starken und günstigen Einfluß auf meine Sinnesart und auf die Entwicklung meines Gefühlslebens hatte, dem ersten Lebensabschnitt angehört, will ich noch einige Worte über sie und über ihren Tod sagen.

Wie mir die auf dem Gute gebliebenen Leute später erzählten, langweilte sie sich nach unserer Abreise sehr, weil sie nichts mehr zu tun hatte. Alle Koffer und Kisten blieben zwar nach wie vor in ihrer Obhut und sie wühlte immer wieder in ihnen, kramte um, lüftete und so weiter, aber ihr fehlte der Lärm und das geschäftige Treiben eines herrschaftlichen Gutshauses, an die sie von kleinauf gewöhnt war. Der Kummer, die veränderte Lebensweise und das Fehlen der Arbeit entwickelten in ihr schnell eine bei alten Leuten häufige Krankheit, zu der sie ohnedies Anlage hatte: genau ein Jahr nach Mütterchens Tode erkrankte sie an der Wassersucht und legte sich zu Bett.

Ich glaube, es war recht schwer für Natalia Ssawischna, allein in dem leeren Herrenhause von Petrowskoje zu leben und gar zu sterben, ohne Verwandte, ohne Freunde. Alle im Hause liebten und ehrten sie, aber sie pflegte mit niemand freundschaftlichen Verkehr und war stolz darauf. Sie war der Ansicht, in ihrer Stellung als Beschließerin, die das Vertrauen der Herrschaft genoß und der so viele Kisten und Kasten mit allen möglichen Dingen in Obhut gegeben waren, müsse die Freundschaft zu irgend jemand zur Bevorzugung einzelner und zu sträflicher Nachgiebigkeit führen; daher oder vielleicht auch, weil sie mit der übrigen Dienerschaft nichts gemein hatte, hielt sie sich von allen fern und pflegte zu sagen, sie habe weder Verwandte noch Gevatter im Hause und sehe niemand auf Kosten des Herrschaftsgutes durch die Finger.

In heißem Gebete Gott ihre Empfindungen anvertrauend, suchte und fand sie Trost; manchmal jedoch in Augenblicken der Schwäche, denen wir alle unterworfen sind und in denen der beste Trost für den Menschen in Tränen und in der Teilnahme eines lebenden Wesens besteht, nahm sie ihr Hündchen, einen Mops, zu sich aufs Bett (es leckte ihr die Hände und blickte sie dabei unverwandt mit seinen gelben Augen an), sprach mit ihm und liebkoste es unter stillem Weinen. Wenn der Mops kläglich zu heulen begann, bemühte sie sich, ihn zu beruhigen, und sprach: »Schon gut! ich weiß schon ohne dich, daß ich bald sterben werde!«

Einen Monat vor ihrem Tode holte sie aus ihrem Koffer weißen Kaliko, weißen Musselin und rosa Bänder hervor; mit Hilfe ihres Mädchens nähte sie sich ein weißes Kleid und ein Häubchen und ordnete bis zur letzten Kleinigkeit alles, was zu ihrer Beerdigung notwendig war. Sie räumte auch die herrschaftlichen Kisten und Kasten auf und übergab alles mit der größten Gewissenhaftigkeit und nach genauem Verzeichnis der Verwaltersfrau; dann suchte sie zwei Seidenkleider und einen altmodischen Schal hervor – Geschenke meiner Großmama aus früheren Jahren – sowie Großvaters goldgestickte Uniform, die ebenfalls in ihren uneingeschränkten Besitz übergegangen war. Dank ihrer Sorgfalt waren Stickerei und Tressen der Uniform noch ganz frisch und das Tuch von Motten unberührt. Vor ihrem Tode äußerte sie den Wunsch, daß eines der Seidenkleider – ein rosafarbiges – Wolodja zu einem Schlafrock oder Wams übergeben werde, das andere – ein braunrot kariertes – mir zu gleichem Zwecke; der Schal sollte Ljubotschka gehören. Die Uniform vermachte sie demjenigen von uns, der zuerst Offizier sein werde. All ihr sonstiges Hab und Gut mit Ausnahme von vierzig Rubeln, die sie für die Beerdigung und die Seelenmessen bestimmte, hinterließ sie ihrem Bruder. Dieser Bruder, der schon vor langer Zeit aus der Leibeigenschaft befreit worden war, lebte in einem entfernten Gouvernement und führte ein sehr liederliches Leben; daher hatte sie bei Lebzeiten gar keine Beziehungen zu ihm unterhalten.

Als Natalia Ssawischnas Bruder später erschien, um die Erbschaft in Empfang zu nehmen, und es sich herausstellte, daß das Gesamtvermögen der Verstorbenen aus fünfundzwanzig Papierrubeln bestand, wollte er dem nicht glauben und behauptete, es sei unmöglich, daß die Alte, die sechzig Jahre in einem reichen Hause zugebracht, so vieles in ihrer Obhut gehabt, dabei geizig gelebt und für jeden Fetzen gezittert habe, nichts hinterlassen hätte. Aber es war tatsächlich so.

Natalia Ssawischna litt zwei Monate lang an ihrer Krankheit und ertrug die Leiden mit wahrhaft christlicher Geduld; sie murrte und klagte nicht und rief nur ihrer Gewohnheit gemäß unaufhörlich Gott an. Etwa eine Stunde vor ihrem Ende beichtete und kommunizierte sie und empfing mit stiller Freude die heiligen Sterbesakramente.

Alle Hausgenossen bat sie um Verzeihung für die Kränkungen, die sie ihnen vielleicht zugefügt, und ihren Beichtvater, den Vater Wassilij, ersuchte sie, uns allen mitzuteilen, daß sie gar nicht wisse, wie sie uns für alle unsere Güte danken solle, und daß sie uns um Verzeihung bitte, falls sie jemand von uns aus Dummheit irgendwie gekränkt habe, aber: »Eine Diebin war ich nie und darf wohl sagen, daß ich mich nicht einmal mit einem Fädchen, das der Herrschaft gehörte, bereichert habe.« Das war die einzige Tugend, welche sie an sich schätzte.

Nachdem sie ihr Sterbekleid und die Haube angetan hatte, lag sie, den Ellenbogen auf das Kissen gestützt, da und sprach bis zum letzten Augenblick mit dem Geistlichen; es fiel ihr ein, daß sie den Armen nichts hinterlassen habe; sie holte zehn Rubel hervor und bat ihn, das Geld in der Gemeinde zu verteilen; dann bekreuzigte sie sich, legte sich zurück und hauchte mit freudigem Lächeln und dem Namen Gottes auf den Lippen ihren letzten Seufzer aus.

Sie schied aus diesem Leben ohne Bedauern und fürchtete den Tod nicht, sondern empfing ihn wie eine Gnade. Das sagt man zwar oft, aber wie selten pflegt es wirklich der Fall zu sein! Natalia Ssawischna brauchte den Tod nicht zu fürchten, denn sie starb in unerschütterlichem Glauben, nachdem sie ihr Leben lang die Lehren des Evangeliums befolgt hatte. Ihr ganzes Leben war reine, uneigennützige Liebe und Selbstverleugnung gewesen.

Ihr Glauben hätte vielleicht geläuterter, ihr Leben auf ein höheres Ziel gerichtet sein können, – aber war diese reine Seele deshalb der Liebe und Bewunderung weniger wert?

Sie vollbrachte das Beste und Erhabenste in diesem Leben: sie starb ohne Bedauern und ohne Furcht.

Ihrem Wunsche gemäß wurde sie nicht weit von der Kapelle bestattet, die über dem Grabe meiner Mutter errichtet wurde. Der mit Brennesseln und Kletten bewachsene Hügel, unter dem sie ruht, ist von einem schwarzen Gitter umgeben, und ich vergesse beim Verlassen der Kapelle nie, zu diesem Gitter zu gehen und dort niederzuknien.

Zuweilen bleibe ich still zwischen der Kapelle und dem schwarzen Gitter stehen. In meiner Seele erwachen düstere Erinnerungen. Mir kommt der Gedanke: sollte mich die Vorsehung nur darum mit diesen beiden Wesen vereinigt haben, damit ich sie ewig betrauere?


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