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Je weiter die beiden Reisenden in das Dorf hineinfuhren, um so mehr büßte der Wind an Heftigkeit ein, um so seltener wurden die tiefen Schneewehen, bis sie sich endlich ganz behaglich fühlten.
Aus dem einen Hofe erschallte Hundegebell, und ein Weib, fest in ein warmes Tuch gehüllt, erschien auf der Schwelle, um ihre Neugierde in Bezug auf die Vorüberfahrenden zu befriedigen. Von weiter her ertönten Gesang und fröhliche Mädchenstimmen.
»Ach, wir sind ja in Grischkino!« schrie Wassilij Andrejitsch plötzlich, nachdem er Umschau gehalten.
»So wird's wohl sein,« erwiderte Nikita beistimmend.
In der That war es Grischkino. Wassilij Andrejitsch und der Knecht fanden nun heraus, daß sie zu weit links gefahren waren und ungefähr acht Werst in dieser Richtung zurückgelegt hatten. Ihrem eigentlichen Ziele waren sie durch diese Fahrt wenigstens etwas näher gekommen, denn Gorjatschkino war von Grischkino etwa nur fünf Werst entfernt.
Kurz ehe sie das Dorf verließen, hätten sie beinahe einen Mann überrannt, der mitten auf der Straße ging. Blitzschnell ergriff dieser das Pferd am Zaum und rief laut: »Wer kommt da?« Nachdem er aber Wassilij Andrejitsch erkannt hatte, ließ er den Braunen los, ging bis zum Schlitten und schwang sich auf den Kutschersitz.
Es war der Bauer Issaj, ein Bekannter von Wassilij Andrejitsch, der aber weit und breit als gewandter Pferdedieb bekannt war. Kaum hatte er den Sitz eingenommen, als die beiden Männer auch schon den Branntweinduft verspürten, der von Issaj ausströmte und der Nikita besonders verlockend in die Nase stieg.
»Nun, Wassilij Andrejitsch, wohin führt Sie Gott?« frug der Fremde freundlich.
»Wir wollen nach Gorjatschkino.«
»Da sind Sie übel irre gefahren!« versetzte der andere. »Da mußten Sie doch über Malachowo fahren.«
»Als ob wir das nicht selbst wüßten,« erwiderte Wassilij Andrejitsch. »Wir haben in dem Wetter eben den Weg verloren.« Damit hielt er den Schlitten an.
»Ja, das ist ein schönes Pferdchen!« bemerkte der Neuangekommene, indem er das Tier kritisch betrachtete und mit gewandter Hand den locker gewordenen Knoten des aufgeknüpften Schweifes straff zog und hinauf schob. »Da wollt Ihr wohl hier übernachten?«
»O nein, Brüderchen; dazu haben wir keine Zeit!«
»Ist denn das Geschäft so eilig? Aber wen haben Sie denn hier eigentlich bei sich? Ach, das ist ja Nikita Stepanitsch!«
»Nun, wer denn sonst? Beschreiben Sie uns lieber den Weg nach Gorjatschkino, liebes Seelchen, daß wir uns nicht noch einmal verirren!«
»Da kann man sich ja gar nicht verirren. Fahrt nur die Dorfstraße wieder zurück und dann, wenn Ihr aus dem Dorfe hinaus seid, immer geradeaus. Beileibe aber nicht zu früh nach links biegen – erst, wenn Ihr die Anhöhe hinauf seid, geht der Weg links ab. Dort oben seht Ihr dann schon die Sträucher und ihnen gegenüber das hohe Wegzeichen, einen Eichenzweig mit dürrem Laub.«
Mit einem kurzen Worte des Dankes ließ Wassilij Andrejitsch das Pferd umlenken, um den soeben gekommenen Weg zurückzukehren.
»Ihr thätet viel besser, hier zu übernachten!« rief ihnen Issaj noch warnend nach, erhielt jedoch keine Antwort mehr, denn Wassilij Andrejitsch meinte bei sich, fünf Werst sei doch ein Kinderspiel, besonders da der Weg größtenteils durch Wald führte, und Wind und Schneetreiben fast kaum noch zu spüren waren.
Er trieb also das Pferd an, fuhr durchs Dorf zurück und bald hatten sie auch das letzte Haus, in dessen Hof das weiße Hemd noch schrecklicher als vorher wehte, weil es sich an dem einen Aermel von der Klammer losgerissen hatte, hinter sich.
Sie fuhren wieder an der Getreidedarre und den unheimlich flüsternden Weiden vorbei und hatten auch bald wieder die große weiße Schneefläche vor sich. Da merkten sie, daß sie sich sehr getäuscht hatten: das Schneetreiben hatte nichts weniger als nachgelassen – es tobte ärger als zuvor. Keine Spur vom Wege war zu erkennen: nur mit großer Mühe konnte man hier und da ein fast ganz verwehtes Wegzeichen unterscheiden. Bald gab es Wassilij Andrejitsch ganz auf, nach solchen zu spähen, er lockerte die Zügel und überließ es seinem klugen Tiere, den Weg zu finden.
Und das war in der That das Beste, was er thun konnte. Den Biegungen des Weges folgend, lenkte der Braune bald nach rechts, bald nach links und wich nicht wieder ab.
Eine kurze Strecke von etwa zehn Minuten hatten sie so schweigend zurückgelegt, da erschien plötzlich ganz nahe vor dem Kopfe des Pferdes ein dunkler Fleck, der, von einer wirbelnden Schneemasse umgeben, sich langsam dahinbewegte. Es war ein Schlitten, der dicht mit Leuten besetzt war. Bald hatten sie ihn ganz eingeholt; man hörte, wie der Braune mit den Vorderhufen an die Schlittenkufen des Gefährtes stieß.
»Macht, daß Ihr von uns weg kommt!« erscholl es laut aus dem Schlitten.
Wassilij Andrejitsch lenkte vorbei. Nun konnte man die im Schlitten sitzenden Personen erkennen: es waren drei Männer und eine Frau – offenbar vom Fest heimkehrende Bauern. Mit einer langen Peitsche schlug der Fahrende ununterbrochen auf das kleine, struppige Pferdchen ein. Die beiden anderen gestikulierten lebhaft, schrieen und lachten, während das bis über die Ohren eingewickelte Bauernweib stumm und steif wie eine Bildsäule auf dem Rücksitz thronte.
»Woher kommt Ihr?« rief ihnen Wassilij Andrejitsch zu.
»Aus A – a – a!« Alles Uebrige verschlang der tobende Sturm.
»Woher?«
»Aus A – a – a!« brüllten die Bauern zurück, trotzdem blieb der Name des Ortes für Wassilij Andrejitsch unverständlich.
»Sie scheinen vom Feste zu kommen!«
»Fahrt vor! Vorwärts, hü!«
Im Vorüberfahren streiften sich die beiden Schlitten und kamen in Gefahr, an einander hängen zu bleiben. Schließlich machten sie sich doch von einander los, und nun gewann Wassilij Andrejitsch den Vorsprung. Das kleine, dicke, schnaubende und pustende Pferdchen schien schon sehr ermattet, denn nur mit Mühe stampfte es durch den dichten Schnee weiter, den seine kurzen Beinchen hoch aufschleuderten.
Am Maul konnte man erkennen, daß es noch jung war.
Kurze Zeit sah Nikita des Tieres Kopf mit den vor Angst weit offenen Nüstern dicht neben sich, dann verschwand er hinter ihm.
»Diese Barbaren! Wie sie das junge Pferdchen abhetzen!« sagte Nikita. »Das macht alles der verdammte Branntwein.«
Wenige Minuten noch war von hinten her das Schnauben des müden Rößleins und das Johlen der betrunkenen Männer zu hören; dann verklang beides allmählich.
Kein Laut mehr ringsum, als das Sausen und Pfeifen des Windes, und hier und da ein leises Scharren, wenn die Kufen über eine schneefreie Stelle glitten.
Durch den Zwischenfall angeregt und munterer gemacht, trieb Wassilij Andrejitsch den Braunen zu schnellerer Gangart an; er unterließ es, nach den Wegzeichen zu blicken – mochte das kluge Tier sich allein zurechtfinden.
Für Nikita war jetzt nichts zu thun. Er überließ sich daher einem leichten Schlummer, aus dem ihn plötzlich ein heftiger Ruck weckte, so daß er beinahe aus dem Schlitten gefallen wäre. Sein Herr hatte das Pferd angehalten.
»Wir sind ja wieder nicht auf dem richtigen Weg,« bemerkte Wassilij Andrejitsch.
»Das wäre!«
»Ich sehe kein Wegzeichen mehr. Wir sind falsch gefahren.«
»Dann heißt's eben den rechten Weg wieder finden,« entschied Nikita kurz, stieg aus dem Schlitten und wanderte mit seinen gekrümmten Beinen auf der Schneefläche forschend hin und her.
Lange Zeit, bald verschwindend, bald wieder auftauchend, setzte er seine Untersuchung fort, endlich aber kehrte er zum Schlitten zurück.
»Hier herum ist kein Weg; aber vielleicht kommen wir wieder darauf,« sagte er zu seinem Herrn.
Allmählich begann sich die Dämmerung herabzusenken.
Der Schneesturm war zwar nicht ärger geworden, hatte aber von seiner früheren Heftigkeit nichts eingebüßt.
»Könnten wir nur wenigstens jene Bauern fragen,« begann jetzt Wassilij Andrejitsch.
»Die sind nicht mehr zu sehen. Wir müssen weit vom Wege abgekommen sein. Kann sein, sie haben auch selbst den Weg verloren,« versetzte Nikita.
»Was nun?« fragte Wassilij mit unsicherer Stimme.
»Das Gescheiteste ist, wir lassen den Braunen gehen, wohin er will. Irgendwohin muß er uns doch bringen. Geben Sie mir die Zügel.«
Das that der Angeredete denn auch ohne weiteres, begannen doch seine Hände trotz der schönen warmen Handschuhe recht kalt und steif zu werden.
Vorsichtig ergriff Nikita die Zügel, vermied jedoch jede Bewegung derselben, um das kluge Tier ganz sich selbst zu überlassen.
Und er hatte sich nicht getäuscht. Nachdem Gelbmaul sich bald zur Linken, bald zur Rechten gewendet, jetzt das eine, dann das andere Ohr gespitzt hatte, schlug er allmählich eine andere Richtung ein.
Nun hatten sie auch den Wind im Rücken; sie froren weniger.
»Sehen Sie, sehen Sie doch, Wassilij Andrejitsch, was er thut!« flüsterte der Knecht stolz. »Ja, klug ist er. Kräftiger zwar sind die Kirgisenpferde, aber bei weitem nicht so klug. Wie er mit den Ohren arbeitet! Meiner Treu, der wittert alles auf eine Werst Entfernung.«
Und wirklich, noch war keine halbe Stunde dahin, so erblickten sie vor sich etwas Schwarzes, ein Gehölz oder ein Dorf, und nun kamen die Wegzeichen auch wieder.
Plötzlich fuhr Nikita empor. »Aber wir sind ja wieder in Grischkino!« rief er.
Er hatte recht. Denn dort erhob sich wieder die Getreidedarre, von deren Flechtwerk die Schneewehen herabgekommen waren, und bald gewahrten sie auch die Leine, auf der die steifgefrorenen Wäschestücke noch immer vom Winde hin und hergeschleudert wurden.
In den Häusern brannte bereits Licht, so dunkel war es schon. Wieder wurde es windstill und wärmer, als sie die mit Mist bedeckte Dorfstraße entlang fuhren; von fern erschallten Stimmen und Gesang; dort drüben heulte ein Hund.
In der Mitte des Dorfes stand ein großes, aus Ziegeln gebautes Haus; Wassilij Andrejitsch fuhr auf dasselbe zu und machte am Thore halt.
»Klopfe an und rufe Taraß heraus!« befahl er Nikita.
Der Mann schritt auf das Fenster, in dessen Licht die wirbelnden Schneeflocken erglänzten, zu und klopfte mit dem Peitschenstiel daran.
»Wer ist da?« ließ sich eine Stimme von innen vernehmen.
»Die Brechunows aus Kresty, lieber Freund,« gab Nikita zur Antwort. »Ich bitte Dich, komm doch einmal heraus!«
Sofort entfernte sich die Gestalt vom Fenster; man hörte, wie sich eine Thür im Innern des Hauses öffnete, dann wurde auch der Drücker der Hausthür niedergedrückt und, die letztere vor der Wucht des Windes festhaltend, erschien ein bejahrter Bauer in der schmalen Oeffnung.
Er war in ein weißes Feiertagshemd gekleidet, über welches er einen Halbpelz geworfen hatte; auf dem grauen Kopf thronte eine hohe Mütze. Hinter ihm stand ein junger Mann in rotem Hemd und Lederstiefeln.
»Seid willkommen!« begrüßte der Alte die Draußenstehenden.
»Wir haben unsern Weg verloren, lieber Bruder,« erklärte Wassilij Andrejitsch. Wir haben diesen Nachmittag nach Gorjatschkino fahren wollen und sind hierher gekommen. Man hat uns dann den rechten Weg gezeigt, aber wir haben uns noch einmal verirrt.«
»O weh, da seid Ihr übel gefahren, liebe Brüder,« antwortete der Graukopf und, sich zu dem jungen Mann in rotem Hemde wendend, fuhr er fort: »Geh, Petruschka, öffne das Thor!«
Während der Angeredete eilig davonlief, erklärte Wassilij Andrejitsch:
»Aber Bruder, wir wollen ja nicht hier übernachten!«
»Wollt Ihr zur Nachtzeit weiter fahren? Bleibt lieber bis morgen bei uns!«
»Das möchte ich wohl, aber es geht nicht.«
»Dann kommt wenigstens herein und wärmt Euch; der Samowar ist bereit!« nötigte der Hausvater.
»Wärmen? Ja, das geht, dazu langt die Zeit,« entschied Wassilij Andrejitsch. »Wenn der Mond aufgeht, werden wir sogar dann besser fahren können. Komm, Nikita, wir wollen uns auftauen!«
»Ja, das wird nichts schaden,« meinte der Angeredete, der sich nicht merken lassen wollte, wie erstarrt er war, und der doch die Aussicht, seine steifen Glieder erwärmen zu können, mit großer Freude begrüßte.
Während Wassilij Andrejitsch sich sofort mit dem Hausherrn ins Zimmer begab, brachte Nikita mit Petruschkas Hilfe erst das Pferd nach dem Stall. Dieser war so hoch mit Dünger bedeckt, daß das hohe Krummholz oben an die Decke anstieß.
Den Insassen des Stalles schien die nächtliche Störung nicht angenehm zu sein. Oben auf dem Balken begannen die Hühner unruhig zu scharren und zu gackern, und der Hahn flatterte aufgescheucht hin und her. Die Schafe blickten dumm und furchtsam um sich; sie wichen scheu zur Seite, so daß der harte Dünger unter ihren Füßen knirschte. Halb zornig, halb erschreckt sprang ein Hund laut winselnd dem Fremden entgegen.
Nikita sprach nach allen Seiten beruhigende Worte. Er bat die Hühner bescheidentlichst um Entschuldigung und versicherte ihnen, daß die Störung bald vorüber sein werde. Den Schafen machte er höfliche Vorwürfe über ihre Dummheit und Furchtsamkeit – und nachdem er auch den Hund beruhigt hatte, band er sein Pferd an.
»Das wird Dir wohl thun,« sprach er zu diesem und klopfte es zärtlich, »hörst du, wie der Wind heult?«
Immer von neuem begann der Hund zu winseln und zu knurren, und wieder wandte sich Nikita zu ihm.
»Was du dich nur aufregst! Sei doch gescheit! Als ob wir Diebe wären – wir gehören ja heute zum Haus. Hunger hast du? Nun, nun, nur Geduld, du kriegst schon dein Teil, du Dummrian! Kriegst schon was!«
»Weißt Du auch, daß man die drei Tiere die drei häuslichen Ratgeber nennt?« sprach der junge Mann, der, nachdem er den Schlitten unter das Dach des schützenden Schuppens geschoben hatte, nun in der Thür stand und Nikita zuschaute.
»Wie denn das?« frug Nikita.
»Ja, so steht im Pulsson: Wenn der Dieb zum Hause schleicht, bellt der Hund, um zu sagen: Halte die Augen offen, gieb acht! Der Hahn kräht, das heißt: Steh auf! Die Katze wäscht sich, da weiß man, daß ein lieber Gast kommt und kann Vorbereitungen zu seiner Bewirtung treffen,« erklärte der Kleine mit wichtiger Miene.
Petruschka konnte lesen und schreiben und hatte sein einziges Buch, den Pulsson, fast auswendig gelernt. Wenn er, wie heute, der Branntweinflasche zugesprochen hatte, liebte er, seine Rede mit Citaten daraus zu würzen und suchte für jeden besonderen Fall das Treffende zu finden.
»Du redest wahr,« sagte Nikita.
»Mir scheint, daß Du ganz ausgefroren bist, Onkelchen!« bemerkte Petruschka und führte, da Nikita das zugab, den Knecht durch Hof und Haustür in die Stube.