Leo Tolstoj
Auferstehung. Bearbeitet von Carl Hartz
Leo Tolstoj

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Dritter Teil

Die Gefangenenabteilung, mit welcher die Maslowa transportiert wurde, hatte etwa fünftausend Werst zurückgelegt. Bis Permj war die Maslowa im Eisenbahnwagen und auf dem Dampfschiff mit den Kriminalverbrechern zusammen befördert worden, und erst in dieser Stadt gelang es dem Nechljudow, ihre Versetzung zu den Politischen auszuwirken, wie es ihm die Bogoduchowskaja geraten hatte, die auch mit dieser Abteilung transportiert ward.

Die Reise bis Permj fiel der Maslowa sehr schwer, sowohl physisch wie moralisch. Physisch – wegen des Gedränges, des Schmutzes und des widerwärtigen Ungeziefers, welches ihr keine Ruhe ließ, und moralisch – wegen ebenso widerwärtiger Männer, die ganz so wie die Insekten, obgleich sie mit jeder Etappe wechselten, überall gleich aufdringlich, klebrig waren und ihr keine Ruhe ließen. Zwischen Arrestantinnen und Arrestanten, Aufsehern und Eskortierenden hat sich die Gewöhnung zu zynischer Unzucht so sehr eingenistet, daß jede Frau, insbesondere jede junge, wenn sie ihre Lage als Frau nicht ausnutzen will, stets gezwungen ist, auf der Hut zu sein. Und dieser beständige Zustand der Angst und des Kampfes war sehr schwer. Die Maslowa aber war diesen Angriffen besonders ausgesetzt, sowohl ihres anziehenden Äußeren wie ihrer, allen bekannten, Vergangenheit halber. Der entschiedene Widerstand, welchen sie jetzt den sich ihr aufdrängenden Männern entgegensetzte, erschien ihnen als Beleidigung und rief in ihnen auch noch Erbitterung gegen sie hervor. Was aber ihre Lage in dieser Beziehung erleichterte, war die Nähe von Fedossija und Taraß, der, nachdem er von den Angriffen erfahren, die auf seine Frau gemacht wurden, verlangte, arretiert zu werden, um sie verteidigen zu können, und der von Nischnij ab als Arrestant mit den Gefangenen zusammen fuhr.

Die Versetzung in die Abteilung der Politischen verbesserte die Lage der Maslowa in jeder Beziehung. Der hauptsächliche Vorteil ihrer Versetzung aber bestand darin, daß sie einige Menschen kennen lernte, die auf sie einen entschiedenen und – den wohltätigsten Einfluß hatten.

Mit ihr zusammen gingen, ebenso zu Fuß, zwei Politische; Maria Pawlowna Schtschetinina und ein gewisser Simonsohn, der in die Provinz Jakutsk befördert wurde. Maria Pawlowna ging zu Fuß, weil sie ihren Platz auf dem Fuhrwerk einer Kriminalverbrecherin, einer schwangeren Frau, abgetreten hatte; Simonsohn aber – weil er es für unbillig hielt, von einem Klassenvorrecht Gebrauch zu machen.

Es war ein früher, schlackeriger Septembermorgen. Unter kalten Windstößen fiel bald Schnee, bald Regen. Alle Gefangenen der Abteilung – vierhundert Männer und etwa fünfzig Frauen – waren schon auf dem Etappenhofe und drängten sich zum Teil um den oberen Eskortesoldaten, der die Kostgelder für zwei Tage an die Ältesten verteilte; zum Teil aber handelten sie bei den auf den Etappenhof eingelassenen Hökerinnen Eßwaren ein. Es ertönte das dumpfe Stimmengemurmel der Gefangenen, die Geld zählten und Lebensmittel kauften, und das kreischende Reden der Hökerinnen.

Katjuscha und Maria Pawlowna – beide in hohen Stiefeln und Halbpelzen, mit Tüchern umbunden, – kamen aus dem Etappenraum auf den Hof und begaben sich zu den Hökerinnen, die vor dem Winde geschützt, an der nördlichen Wand des Pfahlwerks saßen und um die Wette ihre Waren anboten: frisches Feinbrot, Fische, Nudelsuppe, Grützbrei, Leber, Rindfleisch, Eier, Milch; eine hatte sogar ein gebratenes Ferkel.

Simonsohn in der Guttaperchajacke und den über den wollenen Strümpfen mit Bindfaden befestigten Gummigaloschen (er war Vegetarier und benutzte keine Felle von getöteten Tieren), war ebenfalls auf dem Hof und erwartete den Ausmarsch der Abteilung. Er stand am Hauseingang und schrieb in ein Notizbuch einen Gedanken, der ihm gekommen war. Der Gedanke bestand in folgendem: ›Wenn,‹ so schrieb er, ›eine Bakterie den Nagel eines Menschen beobachtete und untersuchte, so würde sie ihn für ein unorganisches Gebilde halten. Ebenso haben auch wir die Erdkugel nach den Beobachtungen ihrer Kruste als ein unorganisches Wesen bestimmt. Das ist nicht richtig.‹

Nachdem die Maslowa Eier, einen Kranz Brezeln, Fisch und frisches Weizenbrot erstanden, packte sie alles dies in einen Sack. Maria Pawlowna aber zahlte den Hökerinnen, als unter den Gefangenen eine Bewegung entstand. Alles ward still, und die Leute begannen sich in Reihe und Glied aufzustellen. Es kam der Offizier heraus und traf die letzten Anordnungen vor dem Abmarsch.

Alles ging vor sich wie gewöhnlich: man zählte, untersuchte die Unversehrtheit der Beinschellen und tat die Paare zusammen, die in Handfesseln gehen mußten.

 

Nach dem sittenlosen, luxuriösen und verweichlichenden Leben der letzten sechs Jahre in der Stadt, und nach den zwei Monaten im Gefängnis mit den Kriminalverbrechern erschien der Katjuscha jetzt das Leben unter den Politischen trotz aller Schwere der Bedingungen, unter denen sie sich befanden, sehr gut. Die Tagesmärsche von 20 bis 30 Werst zu Fuß bei guter Kost und bei einem Rasttage nach je zwei Tagen des Marsches kräftigten sie physisch, der Verkehr aber mit den neuen Kameraden eröffnete ihr Interessen des Lebens, von denen sie keinen Begriff gehabt. So ›wunderbare‹ Leute, wie sie zu sagen pflegte, als die waren, mit denen sie jetzt ging, hatte sie nicht nur nicht gekannt, sondern sich nicht einmal vorzustellen vermocht. »Da habe ich gemeint, daß man mich verurteilte«, sprach sie. »Ich muß ja mein Lebelang Gott dafür danken. Nun habe ich erfahren, was ich im ganzen Leben nicht erfahren hätte.« Sie begriff sehr leicht und ohne Mühe die Motive, welche diese Leute leitete, und, als ein Mensch aus dem Volke, sympathisierte sie vollkommen damit. Sie begriff, daß diese Menschen für das Volk eintraten gegen die Herren; und daß diese Leute selber Herren waren und ihre Vorrechte, ihre Freiheit, ihr Leben für das Volk opferten, ließ sie diese Menschen besonders hoch schätzen und von ihnen entzückt sein.

Sie war von allen ihren neuen Kameraden entzückt. Am meisten aber schwärmte sie für Maria Pawlowna, und sie schwärmte nicht nur, sondern sie liebte sie mit einer besonderen ehrerbietigen und begeisterten Liebe. Der Umstand setzte sie in Erstaunen, daß dies schöne Mädchen aus einem reichen Generalshause, die drei Sprachen beherrschte, sich wie die einfachste Arbeiterin benahm, alles, was ihr ihr reicher Bruder zuschickte, anderen vom Leibe weggab, und sich nicht nur einfach, sondern ärmlich kleidete und beschuhte, ohne ihrem Äußeren irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken. Dieser Zug: die vollständige Abwesenheit der Koketterie – wunderte die Maslowa besonders und entzückte sie darum. Die Maslowa sah, daß Maria Pawlowna wußte, daß sie schön sei, und daß es ihr angenehm war, sich schön zu wissen, aber daß sie sich nicht nur nicht freute über den Eindruck, welchen ihr Äußeres auf die Männer machte, sondern daß sie sich davor fürchtete und geradezu Ekel und Furcht gegenüber dem Verliebtsein empfand. Ihre Kameraden, die Männer, die es wußten, wenn sie auch einmal eine Neigung für sie fühlten, erlaubten sich doch nicht, sie ihr zu zeigen und gingen mit ihr wie mit einem Kameraden, mit einem Manne, um, unbekannte Leute aber drängten sich ihr oft auf, und vor ihnen, wie sie erzählte, rettete sie ihre große physische Kraft, auf die sie besonders stolz war.

»Einmal,« wie sie lachend Katjuscha erzählte, »hängte sich mir irgend ein Herr auf der Straße an und wollte durchaus nicht weichen; da habe ich ihn derart durchgeschüttelt, daß er erschrak und sich vor mir aus dem Staube machte.«

Eine Revolutionärin wurde sie, wie sie erzählte, weil sie von Kindheit an gegen das Herrenleben Widerwillen gefühlt, aber das Leben der einfachen Leute geliebt: man pflegte sie immer dafür zu schelten, daß sie sich im Mädchenzimmer, in der Küche, im Stall, aber nicht im Empfangszimmer aufhielt. –

»Mir war es aber bei den Köchinnen und Kutschern lustig, bei unseren Herren und Damen jedoch langweilig«, erzählte sie. »Dann, als ich die Sachen zu verstehen begann, sah ich, daß unser Leben ganz schlecht sei. Eine Mutter hatte ich nicht, den Vater liebte ich nicht, und neunzehn Jahre alt, ging ich mit einer Kameradin aus dem Hause weg und trat als Arbeiterin in eine Fabrik ein.«

Später nach der Fabrik lebte sie in einem Dorf, dann siedelte sie in eine Stadt über und wurde in der Wohnung, wo die geheime Druckerei war, festgenommen und zur Zwangsarbeit verurteilt. Maria Pawlowna erzählte selber nie davon, aber Katjuscha erfuhr es von den anderen, daß sie zur Zwangsarbeit verurteilt worden, weil sie einen Schuß auf sich genommen hatte, welcher während der Haussuchung in der Dunkelheit von einem Revolutionär abgefeuert worden.

Als die Maslowa zu ihnen kam, empfand die Maria Pawlowna gegen sie Widerwillen, Ekel. Katjuscha bemerkte das, dann aber bemerkte sie auch, wie Maria Pawlowna sich bezwang und mit ihr besonders freundlich und gut wurde. Und diese Güte und Freundlichkeit seitens eines so ungewöhnlichen Wesens rührten die Maslowa so sehr, daß sie sich ihr mit ganzer Seele ergab, indem sie unbewußt sich ihre Ansichten aneignete und unwillkürlich ihr in allem nachahmte.

Diese ergebene Liebe seitens der Katjuscha rührte Maria Pawlowna, und auch sie gewann die Katjuscha lieb. Auch der Widerwille, den sie beide gegen die Geschlechtsliebe empfanden, brachte diese Frauen einander näher. Die eine haßte diese Liebe, weil sie das ganze Grausen derselben erfahren hatte; die andere, weil sie, ohne sie kennen gelernt zu haben, sie als etwas Unbegreifliches und Abscheuliches und die Menschenwürde Beleidigendes betrachtete.

 

Die eine Beeinflussung, der die Maslowa nachgab, ging von der Maria Pawlowna aus. Sie rührte daher, daß die Maslowa die Maria Pawlowna lieb gewann. Der andere Einfluß kam von Simonsohn. Und dieser Einfluß rührte daher, daß Simonsohn die Maslowa lieb gewann.

Nachdem er, noch als Gymnasiast, zu dem Schluß gekommen, daß, was sein Vater, ein gewesener Intendanzbeamter, erworben hatte, unehrlich erworben war, erklärte er dem Vater, daß man dieses Vermögen dem Volk abgeben müsse. Als aber der Vater ihm nicht nur nicht gehorchte, sondern ihn schimpfte, ging er aus dem Hause weg und hörte auf, von dem Vater Mittel anzunehmen. Nachdem er zu dem Schluß gelangt war, daß alles existierende Übel von der Unaufgeklärtheit des Volkes herrühre, schloß er sich, nachdem er die Universität verlassen, den Narodniki an, übernahm in einem Dorf eine Lehrstelle und predigte kühn, sowohl seinen Schülern, als auch den Bauern, alles, was er für billig hielt, und leugnete, was er für falsch hielt.

Man nahm ihn fest und stellte ihn vor Gericht.

Während der Gerichtsverhandlung kam er zu dem Schluß, daß die Richter kein Recht hätten, über ihn zu Gericht zu sitzen und sagte ihnen das grade heraus. Da aber die Richter nicht mit ihm einverstanden waren und fortfuhren, über ihn zu Gericht zu sitzen, beschloß er, ihnen nicht zu antworten und schwieg auf alle ihre Fragen. Man verschickte ihn ins Gouvernement Archangeljsk. Dort bildete er sich eine Religionslehre, die seine gesamte Tätigkeit bestimmte. Diese Religionslehre bestand darin, daß alles in der Welt lebendig sei, daß Totes nicht existiere, daß alle Dinge, die wir für tot, unorganisch halten, nur Teile eines ungeheueren organischen Körpers seien, den wir nicht fassen können, und daß deswegen die Aufgabe des Menschen, als eines Teilchens dieses Organismus, in der Unterhaltung des Lebens dieses Organismus und aller seiner lebendigen Teile bestehe. Und darum hielt er es für ein Verbrechen, Lebendiges zu vernichten: er war gegen den Krieg, gegen die Todesstrafen, gegen jegliche Tötung, nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere. In bezug auf die Ehe hatte er auch eine eigene Theorie, darin bestehend, daß die Fortpflanzung des Menschen nur eine niedere menschliche Funktion sei, daß die höhere aber darin bestehe, dem schon existierenden Lebendigen zu dienen.

Seine Liebe zu Katjuscha verletzte diese Theorie nicht, weil er sie platonisch liebte.

Aber außer, daß er die moralischen Fragen nach seiner Art zu entscheiden pflegte, entschied er auch die meisten praktischen Fragen nach seiner Art. Er hatte für alle praktischen Sachen seine Theorien: er hatte Regeln, wieviel Stunden man arbeiten, wie viele man ausruhen, wie man sich ernähren, bekleiden, wie man die Öfen heizen, wie beleuchten solle.

Gleichzeitig war Simonsohn außerordentlich schüchtern und bescheiden gegenüber den Menschen. Aber wenn er einmal etwas beschlossen, konnte ihn auch nichts mehr zurückhalten.

Und dieser Mensch nun hatte einen entschiedenen Einfluß auf die Maslowa dadurch, daß er sie lieb gewann. Die Maslowa mit ihrem Fraueninstinkt erriet es sehr bald, und das Bewußtsein, daß sie in einem so ungewöhnlichen Menschen Liebe für sich hervorrufen konnte, hob sie in ihrer eigenen Meinung. Nechljudow bot ihr die Ehe aus Großmut und wegen dessen, was früher geschehen; Simonsohn aber liebte sie so, wie sie jetzt war, und liebte sie einfach, weil er sie liebte. Außerdem fühlte sie, daß Simonsohn sie für eine ungewöhnliche, sich von allen auszeichnende Frau hielt, die besondere, hohe, moralische Eigenschaften hatte. Sie wußte nicht genau, welche Eigenschaften er ihr zuschrieb, aber auf jeden Fall, um ihn nicht zu täuschen, bemühte sie sich aus allen Kräften, in sich die besten Eigenschaften, welche sie sich nur vorzustellen vermochte, hervorzurufen, und das veranlaßte sie, sich Mühe zu geben, so gut zu sein, wie sie nur konnte.

Es begann noch im Gefängnis, als bei der allgemeinen Zusammenkunft der Politischen sie den besonders hartnäckigen Blick seiner unschuldigen, guten, dunkelblauen Augen bemerkte, den er unter der überhängenden Stirn und den Brauen hervor auf sie richtete. Schon damals fiel es ihr auf, daß es ein eigentümlicher Mensch sei, und daß er sie eigentümlich ansähe, sie bemerkte auch die unwillkürlich überraschende Vereinigung in demselben Gesicht, die Rauhheit, welche die gesträubten Haare und die zusammengezogenen Augenbrauen ihm gaben, und die kindliche Güte und Unschuld des Blickes. Nachher in Tomsk, als man sie zu den Politischen versetzte, sah sie ihn wieder, und trotzdem kein einziges Wort zwischen ihnen gesagt ward, lag in den Blicken, die sie wechselten, das Geständnis, daß sie einander nicht vergessen hatten, und daß sie einander wichtig seien. Ihre Annäherung begann besonders seit der Zeit, als er zu Fuß mit den Kriminalverbrechern ging.

 

Von Nischnij bis Permj gelang es dem Nechljudow nur zweimal, Katjuscha zu sehen: einmal in Nischnij, vor der Einschiffung der Gefangenen auf eine von einem Drahtnetz umzogene Barke, – und ein anderes Mal in Permj, im Gefängnisbureau. Und bei diesen beiden Zusammenkünften fand er sie verschlossen und unfreundlich. Auf seine Fragen: ob es ihr gut gehe, und ob sie etwas brauche, antwortete sie ausweichend, befangen und mit jenem, wie es ihm schien, feindseligen Gefühl des Vorwurfs, das auch früher manchmal in ihr zum Vorschein gekommen war. Und diese ihre finstere Stimmung, die nur von den Verfolgungen seitens der Männer herrührte, denen sie während dieser Zeit ausgesetzt war, quälte den Nechljudow. Er befürchtete, daß sie unter dem Einfluß der schweren und sittlich verderbenden Bedingungen, in welchen sie sich während der Reise befand, wieder in jenen früheren Zustand des Zwiespalts mit sich selber und der Verzweiflung am Leben verfallen möchte, den Zustand, in dem sie gegen ihn aufgebracht zu sein und eifrig zu rauchen und Branntwein zu trinken pflegte, um sich zu vergessen. Aber er konnte ihr auf keine Weise helfen, weil er während dieser ganzen ersten Zeit des Weges keine Möglichkeit hatte, sie zu sehen. Erst nach ihrer Versetzung zu den Politischen überzeugte er sich, daß seine Befürchtungen unbegründet gewesen, und nicht nur das, sondern er begann im Gegenteil, bei jeder Zusammenkunft mit ihr, jene immer mehr hervortretende innere Umwandlung zu bemerken, die er in ihr so sehr zu sehen wünschte. Schon bei der ersten Zusammenkunft in Tomsk ward sie wieder dieselbe, die sie vor der Abreise gewesen. Sie runzelte die Stirn nicht und wurde nicht befangen, im Gegenteil, sie empfing ihn freudig und einfach, indem sie ihm dafür dankte, was er für sie getan, und besonders dafür, daß er sie mit den Leuten zusammengebracht hatte, unter welchen sie sich jetzt befand.

Nach zwei Monaten des Etappenmarsches kam die in ihr stattgefundene Umwandlung auch in ihrem Äußeren zum Vorschein. Sie ließ die Haare nicht mehr in die Stirn hängen, sondern band sich ein Tuch um den Kopf, und es gab weder in der Kleidung noch in der Frisur, noch im Benehmen Anzeichen mehr der früheren Koketterie. Und diese in ihr stattgefundene und stattfindende Umwandlung rief in Nechljudow fortwährend ein besonders freudiges Gefühl hervor.

Er hatte jetzt ein Gefühl gegen sie, das er früher nie empfunden hatte. Es hatte nichts zu tun mit dem Gefühl der erfüllten Pflicht und der Selbstgefälligkeit, das er nach dem Gericht gehabt hatte, als er sie zu heiraten beschlossen. Es war dasselbe einfache Gefühl des Mitleids und der Rührung, welches er zuerst bei der Zusammenkunft mit ihr im Gefängnis und dann mit neuer Kraft nach der im Krankenhause empfunden hatte, als er, nachdem er seinen Widerwillen bezwungen, ihr die vermeintliche Geschichte mit dem Heilgehilfen verziehen (die Unrichtigkeit derselben wurde später aufgeklärt). Woran er jetzt auch denken, was er auch tun mochte, seine allgemeine Stimmung war beherrscht von diesem Gefühl des Mitleids und der Rührung, nicht nur für sie, sondern für alle Menschen.

Während der ganzen Reise fühlte sich Nechljudow in einem Zustand der Aufregung, in welchem er unwillkürlich teilnehmend und aufmerksam gegen alle Menschen war, von dem Fuhrmann und dem Eskortesoldaten bis zu dem Gefängnischef und dem Gouverneur, an die er Anliegen hatte.

Während dieser Zeit mußte Nechljudow, infolge der Versetzung der Maslowa zu den Politischen, viele Politische kennen lernen, zuerst in Jekaterinburg, wo sie sehr frei gehalten wurden – alle zusammen, in einer großen Kammer – und dann unterwegs mit diesen fünf Männern und vier Frauen, welchen die Maslowa zugeteilt wurde. Diese Annäherung Nechljudows an die verbannten Politischen änderte vollständig seine Ansicht über dieselben.

Gerade vom Anfang der revolutionären Bewegung in Rußland und besonders nach dem ersten März hegte Nechljudow gegen die Revolutionäre ein nicht-wohlwollendes und verächtliches Gefühl. Vor allem stieß ihn die Grausamkeit und Heimlichkeit der Mittel ab, die sie im Kampfe gegen die Regierung anzuwenden pflegten, hauptsächlich die Grausamkeit der Mordtaten, die von ihnen verübt worden, und widrig war ihm ferner der ihnen allen eigene Zug des großen Eigendünkels. Aber als er sie und all das, was sie, oft schuldlos, von der Regierung erduldet, näher kennen gelernt hatte, ersah er, daß sie nicht anders sein konnten als so, wie sie waren.

Wie fürchterlich sinnlos die Qualen auch waren, denen die sogenannten Kriminalen ausgesetzt waren, dennoch ward in bezug auf sie vor und nach der Verurteilung etwas gewissermaßen der Gesetzmäßigkeit Ähnliches geübt; in den Sachen mit den Politischen gab es nicht einmal diesen Schein der Gesetzlichkeit, wie es Nechljudow bezüglich der Schustowa und dann vieler und vieler von seinen neuen Bekannten erfahren mußte. Diese Leute behandelte man so, wie Fische beim Fang mit dem Zugnetz: man schleppt alles, was hineinfällt, ans Ufer, und dann liest man die großen Fische, die man braucht, aus, ohne sich um die Gründlinge zu kümmern, die verderben, indem sie am Ufer verschmachten. Auf diese Weise, nachdem man Hunderte solcher Menschen, die augenscheinlich nicht nur unschuldig waren, sondern die der Regierung nicht einmal schädlich sein konnten, festgenommen hatte, hielt man sie manchmal Jahre lang in den Gefängnissen, wo sie schwindsüchtig, irrsinnig wurden oder sich selber töteten, und man hielt sie nur deswegen fest, weil man keinen Anlaß hatte, sie frei zu geben; im Gefängnis aber, wo sie immer zur Hand waren, konnten sie zur Aufklärung irgend welcher Frage bei einer Untersuchung noch brauchbar sein. Das Schicksal aller dieser, oft sogar vom Standpunkt der Regierung unschuldigen Leute, hing von der Willkür, der Muße, der Gemütsverfassung eines Gendarmerie-, Polizeioffiziers, eines Spions, Prokureurs, Untersuchungsrichters, Gouverneurs, Ministers ab. Kriegt so ein Beamter Langeweile, oder wünscht er sich auszuzeichnen, so nimmt er die Leute fest, und je nach seiner Stimmung, oder nach der seiner Obrigkeit hält er sie gefangen oder läßt sie frei. Ebenso der höhere Vorgesetzte, je nachdem, ob er sich auszuzeichnen wünscht oder in welchen Beziehungen zum Minister er sich befindet, schickt er sie ans Ende der Welt, oder hält sie in Einzelhaft, oder verurteilt sie zur Verbannung, zur Zwangsarbeit, zum Tode, oder läßt sie frei, wenn irgend welche Dame darum bittet.

Als Nechljudow sie näher kennen lernte, kam er zu der Überzeugung, daß es weder lauter Bösewichter waren, wie die einen sie sich vorstellten, noch lauter Helden, für welche sie die andern hielten, sondern sie waren gewöhnliche Menschen, unter welchen es, wie überall, gute, schlechte und mittelmäßige gab. Es waren unter ihnen Menschen, die Revolutionäre geworden, weil sie es aufrichtig für ihre Pflicht hielten, gegen das existierende Übel zu kämpfen, aber auch solche waren da, die diese Tätigkeit aus egoistischen, eitlen Motiven erwählt hatten; die meisten aber wurden zur Revolution getrieben durch das dem Nechljudow aus der Kriegszeit her bekannte Verlangen nach Gefahr, nach Risiko, nach dem Genuß des Spielens mit ihrem Leben, Gefühle, die jeder, auch der gewöhnlichsten energischen Jugend eigen sind. Der Unterschied zwischen ihnen und den gewöhnlichen Leuten – ein vorteilhafter Unterschied – bestand darin, daß die Forderungen der Moral unter ihnen höher waren, als die unter den gewöhnlichen Menschen. Unter ihnen galt nicht nur Enthaltsamkeit, Strenge des Lebens, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit für Pflicht, sondern auch die Bereitschaft, alles, sogar das Leben, für die allgemeine Sache zu opfern.

 

Insbesondere gewann Nechljudow lieb einen in Zwangsarbeit verschickten jungen Mann, Kryljzow, der mit derselben Abteilung ging, welcher die Katjuscha zugeteilt war. Nechljudow lernte ihn schon in Jekaterinburg kennen, und nachher während der Reise sahen und unterhielten sie sich einigemal. Kryljzows Geschichte bis zum Gefängnis war sehr kurz. Sein Vater, ein reicher Gutsbesitzer aus einem südlichen Gouvernement, starb, als er noch ein Kind war. Er war der einzige Sohn, und die Mutter erzog ihn. Er studierte mühelos, sowohl im Gymnasium wie auch in der Universität und absolvierte den Kurs als erster Kandidat der mathematischen Fakultät. Man bot ihm an bei der akademischen Laufbahn zu bleiben und ins Ausland zu reisen. Aber er zögerte. Es war da ein Mädchen, das er lieb hatte, und öfters dachte er an eine Tätigkeit im Semstwo. Alles hätte er tun mögen und konnte sich doch zu nichts entschließen. Zu der Zeit baten ihn seine Kameraden um Geld für eine allgemeine Sache. Er wußte, daß diese allgemeine Sache eine revolutionäre Sache sei, für welche er sich damals gar nicht interessierte, aber aus dem Gefühl der Kameradschaft heraus und aus Eigenliebe, daß man nicht etwa denken möchte, er fürchte sich, gab er das Geld her. Die das Geld nahmen, fielen hinein; es ward ein Zettel gefunden, aus dem man erfuhr, daß das Geld von Kryljzow gegeben worden; man nahm ihn fest, setzte ihn zuerst ins Polizeikreisgebäude und dann ins Gefängnis.

»In dem Gefängnis, wo man mich einsperrte,« erzählte Kryljzow dem Nechljudow, »in diesem Gefängnis war es nicht besonders streng, wir konnten uns nicht nur durch Klopfen verständigen, sondern gingen im Korridor umher, sprachen miteinander, teilten untereinander Lebensmittel, Tabak, und abends sangen wir sogar im Chor. Ich hatte eine gute Stimme. Ja. Wäre nicht meine Mutter gewesen, – sie grämte sich sehr –, so wäre es mir im Gefängnis gut gegangen, sogar angenehm und sehr interessant. Hier habe ich unter anderm den berühmten Petrow, – er hat sich nachher im Gefängnis den Hals mit einer Glasscherbe abgeschnitten, – und noch andere kennen gelernt. Aber ich war kein Revolutionär. Ich habe auch mit meinen zwei Zellennachbarn Bekanntschaft gemacht. Sie waren in einer und derselben Sache mit polnischen Proklamationen hineingefallen und befanden sich in Untersuchung wegen eines Versuches, sich von der Eskorte loszureißen, während man sie auf den Bahnhof führte. Der eine war ein Pole – Losinskij, der andere ein Jude –, Rosowskij ist sein Familienname. Ja. Dieser Rosowskij war noch ganz und gar ein Knabe. Er sagte, er sei siebzehn Jahre alt, aber dem Aussehen nach war er etwa fünfzehn alt. Mager, klein, mit glänzenden schwarzen Augen, lebendig und wie alle Juden sehr musikalisch. Er war noch im Stimmwechsel, aber er sang ausgezeichnet. Ja. Während meiner Anwesenheit führte man sie beide vor Gericht. Am Morgen führte man sie ab. Am Abend kehrten sie zurück und erzählten uns, daß man sie zur Todesstrafe verurteilt habe. Niemand hatte dies erwartet. So unbedeutend war ihre Sache – sie hatten nur versucht, sich von der Eskorte loszumachen, und sie hatten nicht einmal jemand verwundet. Und dann war es so unnatürlich, daß man solch ein Kind, wie Rosowskij, hinrichten sollte. Und wir alle im Gefängnis kamen überein, daß es geschah, nur um zu erschrecken, und daß das Urteil nicht bestätigt werden würde. Zuerst, eine Zeitlang, waren wir aufgeregt, dann aber beruhigten wir uns, und das Leben ging wie früher. Ja. Nun aber kommt einmal abends an meine Tür der Wächter und teilt mir geheimnisvoll mit, daß Zimmerleute gekommen seien, sie stellen einen Galgen auf. Zuerst habe ich es nicht verstanden, – was ist das? was für ein Galgen? Aber der Wächter, ein alter Mann, war so aufgeregt, daß ich, als ich ihn anblickte, begriff, daß es für unsere zwei war. Ich wollte klopfen, die Sache mit den Kameraden besprechen, aber ich befürchtete, daß jene es hören könnten. Die Kameraden schwiegen ebenso. Augenscheinlich wußten es alle. Im Korridor und in den Zellen herrschte den ganzen Abend tote Stille. Wir klopften nicht und sangen nicht. Etwa gegen zehn Uhr kam wieder der Wächter zu mir und erklärte, daß man einen Scharfrichter aus Moskau gebracht habe. Er sagte es und ging weg. Ich rief ihm, daß er zurückkommen möge. Plötzlich höre ich, Rosowskij schreit mir aus seiner Zelle über den Korridor zu: »Was haben Sie? Wozu rufen Sie ihn?« Ich sagte irgend etwas, daß er mir etwas Tabak gebracht habe, aber er ahnte es gleichsam und begann mich zu fragen, warum wir nicht gesungen, warum wir nicht geklopft hätten? Ich erinnere mich nicht, was ich ihm sagte, und eilte mich zu entfernen, um nicht mit ihm zu sprechen. Ja. Es war eine schreckliche Nacht. Die ganze Nacht horchte ich auf alle Töne. Plötzlich gegen Morgen höre ich – man öffnet die Korridortür, und es kommt jemand, viele kommen. Ich stellte mich an dem Fensterchen auf. Im Korridor brannte eine Lampe. Als erster ging der Inspektor vorbei. Er war dick, und wie es schien, ein selbstgewisser, entschiedener Mann. Er war gar nicht wieder zu erkennen, blaß, mit hängendem Kopf, gleichsam erschrocken. Ihm nach der Unterinspektor – finster, mit entschlossenem Aussehen; hinten – die Wache. Sie gingen an meiner Tür vorbei und blieben vor der Zelle daneben stehen. Ich höre – der Unterinspektor schreit mit irgend einer seltsamen Stimme: »Losinskij, stehen Sie auf, ziehen Sie reine Wäsche an.« Ja. Dann höre ich, – die Tür wimmerte, sie gingen zu ihm; dann hörte ich Schritte von Losinskij: er ging nach der entgegengesetzten Seite des Korridors. Ich konnte nur den Inspektor sehen. Er steht blaß und knöpft einen Knopf auf und wieder zu und zuckt die Achseln. Ja. Plötzlich erschrak er vor etwas, trat bei Seite. Es ging Losinskij an ihm vorbei und trat an meine Tür heran. Ein schöner Jüngling war es, wissen Sie, von diesem guten polnischen Typus: eine breite, gerade Stirn, mit einer Kappe von blonden, sich kräuselnden, feinen Haaren und schönen blauen Augen. So ein blühender, saftiger, gesunder Jüngling war er. Er blieb vor meinem Fensterchen stehen, so daß sein ganzes Gesicht mir sichtbar war. Das schreckliche, abgefallene, graue Gesicht. »Kryljzow, haben Sie Zigaretten?« Ich wollte sie ihm reichen, aber der Unterinspektor riß, wie besorgt, daß er sich verspäten könne, seine Zigarrendose heraus und reichte sie ihm. Er nahm eine Zigarette. Der Unterinspektor zündete ihm ein Zündhölzchen an. Er begann zu rauchen und versank gleichsam in Nachdenken. Dann schien er sich an etwas zu erinnern und begann zu sprechen: »Und grausam und gerecht. Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich . . .« – in seinem weißen jungen Hals, von dem ich die Augen nicht losreißen konnte, begann etwas zu zittern, und er blieb stecken. Ja. Um diese Zeit, höre ich, schreit Rosowkij etwas aus dem Korridor mit seiner hohen jüdischen Stimme. Losinskij warf das Zigarettenstümpfchen weg und ging von der Tür fort. Und in dem Fensterchen erschien Rosinskij. Sein kindliches Gesicht mit den feuchten schwarzen Augen war rot und schweißbedeckt. Er hatte auch reine Wäsche an, und die Hosen waren ihm zu breit, und er zog sie fortwährend mit beiden Händen auf und zitterte ganz. Er näherte sein klägliches Gesicht meinem Fensterchen: »Anatolij Petrowitsch, nicht wahr, der Doktor hat mir ja Brusttee verschrieben? Ich bin nicht gesund, ich will noch einmal Brusttee trinken.« Niemand antwortete, und er blickte fragend bald mich, bald den Inspektor an. Was er damit sagen wollte, habe ich bis jetzt nicht verstanden. Ja. Plötzlich machte der Unterinspektor ein strenges Gesicht und schrie wieder mit unnatürlich kreischender Stimme: »Was für Scherze! Vorwärts.« Rosowskij war augenscheinlich nicht imstande zu begreifen, was ihn erwartete, und er ging, lief fast allen voran, den Korridor entlang, als ob er sich beeilte. Dann aber stemmte er sich – ich habe seine durchdringende Stimme und sein Weinen gehört. Es begann ein Getümmel, Stampfen der Füße. Er winselte durchdringend und weinte. Dann ferner und ferner; es rasselte die Korridortür, und alles wurde still. Ja. Und man hat sie wirklich aufgehängt. Mit Stricken hat man sie beide erdrosselt. Ein Wächter, ein anderer, hat es gesehen, und er erzählte mir, daß Losinskij keinen Widerstand geleistet hätte, aber daß Rosowskij lange Zeit um sich geschlagen, so daß man ihn auf das Schafott schleppte und seinen Kopf gewaltsam in die Schlinge steckte. Ja. Dieser Wächter war ein dummer Bursche. »Man hat mir gesagt, Herr, es sei schrecklich. Aber es ist gar nicht schrecklich. Wie sie hängen blieben, machten sie nur zweimal so mit den Schultern« – er zeigte, wie sich die Schultern krampfhaft hoben und nieder fielen. »Dann zog der Scharfrichter einmal an, damit also die Schlingen sich besser zusammenzögen und fertig: sie zuckten nicht mehr.« ›Gar nicht schrecklich‹, wiederholte Kryljzow die Worte des Wärters und wollte lächeln, aber anstatt des Lächelns brach er in Schluchzen aus.

Lange Zeit schwieg er darauf, indem er schwer atmete und das den Hals zuschnürende Schluchzen hinabschluckte.

»Seit der Zeit eben wurde ich Revolutionär. Ja«, sagte er, als er sich beruhigt hatte, und erzählte in kurzem seine Geschichte zu Ende.

Er gehörte zu der Partei der Narodowolzy, und war sogar das Haupt einer Desorganisationsgruppe, die den Zweck hatte, die Regierung so zu terrorisieren, daß sie von selbst ihrer Macht entsage und das Volk berufe. Mit diesem Zweck reiste er bald nach Petersburg, bald ins Ausland, bald nach Kijew, bald nach Odessa, und überall hatte er Erfolg. Ein Mensch, auf den er sich vollkommen verlassen hatte, verriet ihn. Man nahm ihn fest, stellte ihn vor Gericht, behielt ihn zwei Jahre im Gefängnis und verurteilte ihn zur Todesstrafe, die man durch eine lebenslängliche Zwangsarbeit ersetzte.

Im Gefängnis bekam er die Schwindsucht, und jetzt unter den Verhältnissen in welchen er sich befand, blieben ihm augenscheinlich kaum einige Monate des Lebens übrig, und er wußte es und bereute nicht, was er getan hatte, sondern er sagte, wenn er noch ein anderes Leben gehabt hätte, würde er es für dieselbe Sache hingegeben, für die Zerstörung der Gesellschaftsordnung, bei welcher das möglich ist, was er gesehen hatte.

Die Geschichte dieses Menschen und seine Annäherung an ihn erklärten dem Nechljudow vieles, was er früher nicht verstanden hatte.

 

Auf den sechs vorhergehenden Etappen ließen die Eskorteoffiziere, alle, trotzdem sie wechselten, den Nechljudow nicht in die Etappenräume zu, so daß er mehr als eine Woche lang die Katjuscha nicht gesehen. Die Strenge rührte daher, daß man eine wichtige Person von der Gefängnisbehörde erwartete, die vorbeifahren sollte.

Jetzt aber war der Vorgesetzte schon vorbeigefahren, ohne die Etappen zu besuchen, und Nechljudow hoffte, daß der Offizier, der heute früh die Abteilung in Empfang genommen, ihm die Zusammenkunft mit den Gefangenen ebenso wie die früheren Offiziere erlauben werde.

Die Wirtin des Gasthofes bot dem Nechljudow einen Tarantaß an, um bis zur Zwischenetappe zu fahren, die sich am Ende des Pfarrdorfs befand, aber Nechljudow zog vor, zu Fuß zu gehen. Ein junger Bursch, ein breitschulteriger Recke, ein Knecht in ungeheuern, frisch mit duftendem Birkenteer geschmierten Stiefeln übernahm es, ihn zu begleiten. Vom Himmel fiel kaltes Nebelgeriesel, und es war so dunkel, daß, sobald der Bursche sich an den Orten, wo kein Licht aus den Fenstern fiel, etwa drei Schritte weit entfernte, Nechljudow ihn schon nicht mehr sah, sondern nur das Schmatzen seiner Stiefel in dem klebrigen, tiefen Straßenkot hörte.

Als Nechljudow den Platz mit der Kirche und die lange Straße mit den hellschimmernden Fenstern der Häuser überschritt, ging er, gleich seinem Führer auf den Fersen, an den Rand des Dorfes hinaus und kam in völlige Finsternis. Aber bald ließen sich auch in dieser Finsternis die im Nebel auseinanderfließenden Strahlen der neben der Etappe brennenden Laternen wahrnehmen. Die rötlichen Flecken der Lichter wurden immer größer und heller; es ließen sich die Pfosten des Pfahlwerks und die schwarze Gestalt der sich bewegenden Wache, ein gestreifter Pfeiler und ein Schilderhäuschen erkennen. Die Schildwache rief die Ankommenden mit dem gewöhnlichen: ›Wer da?‹ an, und als sie erfuhr, daß es Fremde seien, erwies sie sich so streng, daß sie ihnen nicht erlauben wollte, neben der Einfriedigung zu warten. Aber Nechljudows Begleiter ließ sich durch die Strenge der Schildwache nicht einschüchtern.

»Oho du, Onkel, so ein böser bist du!« sagte er zu ihm. »Spektakle mal den Obersten heraus, wir aber wollen warten.« Die Schildwache schrie etwas, ohne zu antworten, durch das Handpförtchen, und blieb stehen, aufmerksam beobachtend, wie der breitschultrige Bursche im Lichte der Laterne mit einem Spahn Nechljudows Stiefel vom angeklebten Kot reinigte. Hinter den Zaunpfählen ließ sich das Gemurmel weiblicher und männlicher Stimmen hören. Etwa nach drei Minuten rasselte Eisen. Das Pförtchen des Eingangs öffnete sich, und aus der Dunkelheit trat in das Licht der Laterne der Oberste, den Mantel übergeworfen, und fragte, was man wolle. Nechljudow übergab ihm seine schon vorbereitete Karte mit dem Zettel, auf welchem er bat, ihn in persönlicher Angelegenheit zu empfangen, und ersuchte ihn, sein Anliegen dem Offizier zu bringen. Der Oberste war weniger strenge, als die Schildwache, aber dafür besonders neugierig. Er wollte durchaus wissen, wozu Nechljudow den Offizier zu sehen brauche, und wer er sei, da er augenscheinlich eine Beute witterte und sie sich nicht entgehen lassen wollte. Nechljudow sagte, daß er eine besondere Sache habe, und daß er sich ihm erkenntlich zeigen werde, und bat ihn, den Zettel zu überbringen. Der Oberste nahm den Zettel, nickte mit dem Kopf und ging fort. Einige Zeit nach seinem Weggehen rasselte wieder das Pförtchen, und durch dasselbe begannen Frauen mit Handkörben, Gefäßen aus Birkenrinde, irdenen Töpfen und Säcken herauszukommen. Mit schallendem Geplauder in ihrer besonderen sibirischen Mundart schritten sie über die Schwelle des Pförtchens. Sie waren alle nicht dörflich, sondern städtisch gekleidet, in Paletots und städtische Pelze, die Röcke waren hoch aufgeschürzt, und die Köpfe mit Tüchern umbunden. Mit Neugier besahen sie beim Lichte der Laterne den Nechljudow und seinen Begleiter. Eine aber, augenscheinlich froh über die Begegnung mit dem breitschultrigen Burschen, schimpfte ihn sofort liebkosend mit einem sibirischen Schimpfwort.

»Du Waldteufel, daß dich die Pest, was machst du da?« wandte sie sich an ihn.

»Hab' den Reisenden da begleitet«, antwortete der Bursche.

»Und was hast du gebracht?«

»Was von der Kuh, morgen soll ich wiederkommen.«

»Zum Übernachten aber hat man dich nicht eingeladen?« fragte der Bursche.

»Daß dich die Kränk', – Lästermaul!« schrie sie ihm lachend zu. »Komm' mit bis zum Dorf, begleit' uns.«

Der Begleiter sagte ihr noch etwas, derart, daß nicht nur die Frauen lachten, sondern auch die Schildwache, und wandte sich an Nechljudow.

»Wie ist es denn, finden Sie sich allein? gehen Sie nicht fehl?«

»Ich finde, finde.« –

»Sowie Sie die Kirche passieren vom zweistöckigen Haus rechts das zweite. Hier nehmen Sie das Stöcklein«, sagte er dem Nechljudow, indem er ihm den großen Stock übergab, an dem er ging und der über ihn hinausragte; und mit seinen ungeheuren Stiefeln platschend, verschwand er in der Dunkelheit mit den Frauen.

 

Die Zwischenetappe war ebenso wie alle Etappen und Zwischenetappen, die sibirische Straße entlang, eingerichtet: in einem von zugespitzten Balken umgebenen Hofe waren drei einstöckige Wohnhäuser. In einem, in dem größten, mit vergitterten Fenstern, wurden die Gefangenen untergebracht. In einem anderen – das Eskortekommando; in dem dritten – der Offizier und die Kanzlei. In allen drei Häusern schimmerten jetzt Lichter, die wie immer und besonders hier trügerisch etwas Gutes, Behagliches innerhalb der beleuchteten Wände versprachen. Vor den Hauseingängen brannten Laternen, und noch etwa fünf Laternen brannten nahe den Hauswänden und beleuchteten den Hof. Der Unteroffizier führte den Nechljudow über ein Brett zur Außentreppe des kleinsten der Häuser. Als er drei Stufen gestiegen, ließ er den Nechljudow voran in ein von einem Lämpchen beleuchtetes, von dem Geruche qualmenden Ofendunstes durchräuchertes Vorzimmer. An dem Ofen stand gebeugt im grobem Hemd und Halstuch und in schwarzen Hosen ein Soldat in einem Stiefel mit gelbem Rohr, mit dem andern blies er die Kohlen in einem Samowar an.Statt mit einem Blasebalg. Als er den Nechljudow sah, ließ er den Samowar in Ruh, nahm ihm den Lederrock ab und trat in das innere Zimmer.

»Er ist gekommen, Euer Wohlgeboren.«

»Nun, ruf ihn herein«, ließ sich eine ärgerliche Stimme hören.

In dem zweiten, von einer Hängelampe beleuchteten Zimmer saß an einem gedeckten Tisch mit Resten des Mittagessens ein Offizier mit sehr rotem Gesicht. In dem warmen Zimmer roch es, außer nach Tabaksrauch, noch sehr nach irgend welchem starken schlechten Parfüm. Als der Offizier den Nechljudow gewahr wurde, erhob er sich etwas und heftete auf den Eingetretenen einen gleichsam spöttischen und mißtrauischen Blick.

»Was ist gefällig?« sagte er, und ohne die Antwort abzuwarten, schrie er in die Tür: »Bernow, Samowar! was denn, wird 's bald?«

»Sofort.«

»Ich werde dir schon zeigen – sofort, daß du es lange nicht vergißt«, schrie der Offizier und blitzte mit den Augen.

»Ich bringe ihn!« schrie der Soldat und trat mit dem Samowar herein.

Nechljudow wartete, bis der Soldat den Samowar aufstellte (der Offizier begleitete ihn mit seinen kleinen bösen Augen, als ob er zielte, wohin er ihn etwa schlagen könnte). Als aber der Samowar in Ordnung aufgestellt war, machte der Offizier Tee, dann holte er aus einem Flaschenkeller eine kleine viereckige Karaffe mit Kognak und »Albert«-Biskuits heraus. Nachdem er all das auf der Tischdecke in Ordnung gebracht hatte, wandte er sich wieder an Nechljudow:

»Also womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich möchte Sie um eine Zusammenkunft mit einer Gefangenen bitten«, sagte Nechljudow, ohne sich zu setzen.

»Eine Politische? Das ist vom Gesetz verboten«, sagte der Offizier.

»Die Frau ist keine Politische«, sagte Nechljudow.

»Aber bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der Offizier. Nechljudow setzte sich.

»Sie ist keine Politische,« wiederholte er, »aber auf meine Fürbitte ward ihr von der höheren Obrigkeit erlaubt, sich den Politischen anzuschließen.«

»Aha, ich weiß,« unterbrach ihn der Offizier, »eine kleine, schwärzliche? Warum denn nicht, das kann man. Rauchen – wünschen Sie?«

Er schob ihm eine Schachtel mit Zigaretten zu und schenkte sorgfältig zwei Gläser Tee ein, eins derselben schob er dem Nechljudow hin.

»Ich bitte«, sagte er.

»Ich danke Ihnen, ich möchte sie sehen . . .«

»Die Nacht ist lang. Sie haben noch Zeit. Ich lasse sie Ihnen herausrufen.«

»Aber könnte man mich nicht, ohne sie herauszurufen, in die Räume einlassen?« sagte Nechljudow.

»Zu den Politischen? wider das Gesetz.«

»Man hat mich mehreremale zugelassen. Wenn man etwa fürchten sollte, daß ich ihnen etwas übergebe, so könnte ich es ja auch durch sie übergeben.«

»Doch nicht, man wird sie durchsuchen«, sagte der Offizier und lachte mit einem unangenehmen Lachen auf.

»Nun, so durchsuchen Sie mich.«

»Na, das können wir uns schenken«, sagte der Offizier, während er die kleine geöffnete Karaffe Nechljudows Glas näherte. »Erlauben Sie? Nun, wie Sie wollen. Lebst du in diesem Sibirien, so bist du nur zu froh, einen gebildeten Menschen zu treffen. Unser Dienst ist ja, Sie wissen selber, der traurigste. Wenn aber der Mensch anderes gewöhnt ist, so ist es schwer. Man hat ja von unsereinem einen solchen Begriff, daß ein Eskorteoffizier so viel heißt, wie ein grober, ungebildeter Mensch; das aber bedenkt man nicht, daß der Mann vielleicht für etwas ganz anderes geboren war.«

Das rote Gesicht dieses Offiziers, sein Parfüm, sein Fingerring, und besonders sein unangenehmes Lachen waren dem Nechljudow sehr widrig; aber er war auch heute, wie während seiner ganzen Reise, in jener ernsten, aufmerksamen Gemütsverfassung, in welcher er sich nicht erlaubte, leichtsinnig und verächtlich mit einem Menschen umzugehen, wer immer er auch sein möge. Nachdem er den Offizier angehört und seinen Seelenzustand begriffen, sagte er ernst:

»Ich glaube, man könnte eben in Ihrem Amt einen Trost darin finden, daß man die Leiden der Menschen erleichterte.«

»Was für Leiden haben sie? Es ist ja so ein Volk.«

»Was für ein besonderes Volk?« fragte Nechljudow. »Eben so eins, wie alle. Es gibt aber auch Unschuldige.«

»Versteht sich, es gibt allerlei. Versteht sich, man bedauert sie. Die anderen sehen ihnen nichts nach, ich aber bemühe mich, wo ich kann, es ihnen zu erleichtern. Laß lieber mich leiden, nur nicht sie. Wollen Sie nicht? Bitte, trinken Sie«, sagte er, indem er noch ein Glas einschenkte. »Wer ist sie eigentlich, die Frau, die Sie zu sehen wünschen?« fragte er.

»Es ist eine unglückliche Frau, die ins Toleranzhaus geraten war, und dort mit Unrecht einer Vergiftung beschuldigt ward, sie ist aber eine sehr gute Frau«, sagte Nechljudow.

Der Offizier schüttelte den Kopf. »Ja, es kommt vor.«

»Ich glaube, Sie können die Lage solcher Leute erleichtern, so lange sie sich in Ihrer Macht befinden. Und wenn Sie so handeln, bin ich überzeugt, würden Sie sich eine große Freude schaffen«, sprach Nechljudow, indem er sich bemühte, die Worte möglichst deutlich auszusprechen, wie man mit Ausländern oder mit Kindern zu sprechen pflegt.

Der Offizier sah Nechljudow mit großen Augen an.

»Ja, das ist so, ich gebe zu, es ist wahr«, sagte er. »Und ich habe ja mit ihnen Mitleid; nur möchte ich Ihnen etwas erzählen. Also . . .«

»Das interessiert mich nicht«, sagte Nechljudow.

Der Offizier blickte Nechljudow erschrocken an.

»Aber Tee ist Ihnen nicht mehr gefällig?« sagte er.

»Nein, ich danke.«

»Bernow,« schrie der Offizier, »begleite den Herrn zum Wakulow, sage, er solle Sie in die Separatkammer zu den Politischen hineinlassen. Sie können dort bis zur Kontrolle bleiben.« –

 

Von der Ordonnanz begleitet, ging Nechljudow wieder auf den dunklen, von den rot brennenden Laternen trübe beleuchteten Hof hinaus.

»Wohin?« fragte ein ihnen entgegenkommender Soldat den anderen, welcher Nechljudow begleitete.

»In die Separatkammer, Nummero fünf.«

»Hier wirst du nicht durchgehen, – ist geschlossen, man muß durch jenen Eingang.«

»Und warum denn verschlossen?«

»Der Oberste hat zugeschlossen, und ist selber in's Pfarrdorf gegangen.«

»Nun, dann kommen Sie dorthin.«

Der Soldat führte Nechljudow auf den anderen Flur, und über die Bretter näherte er sich dem andern Eingang. Schon vom Hofe aus hörte man das Summen der Stimmen und die drinnen herrschende Bewegung, wie in einem guten, sich zum Schwärmen anschickenden Bienenstock; aber als Nechljudow näher kam, und die Tür sich öffnete, verstärkte sich dieses Summen und ging in ein Getöse einander zuschreiender, schimpfender, lachender Stimmen über. Es ließ sich ein trillerndes Gerassel der Ketten hören, und ein bekannter schwerer Geruch überschauerte ihn.

Diese beiden Eindrücke: das Getöse der Stimmen mit dem Kettengerassel, und dieser schreckliche Geruch vereinigten sich immer für Nechljudow zu einem quälenden Gefühl, einer gewissen moralischen, in das Physische übergehender Übelkeit. Diese beiden Eindrücke vermischten sich und verstärkten einander.

Als Nechljudow jetzt in den Flur der Zwischenetappe, wo eine ungeheuere stinkende Kufe, die sogenannte »Paracha« stand, eingetreten, war das erste, was er sah, eine Frau, die am Rande der Kufe saß. Ihr gegenüber – ein Mann mit der auf eine Seite geschobenen, pfannkuchenartigen Mütze auf dem rasierten Kopf. Sie unterhielten sich über etwas. Als der Gefangene den Nechljudow sah, blinzelte er ihm mit einem Auge zu und sagte:

»Nicht einmal der Zar kann das Wasser zurückhalten.«

Die Frau ließ die Schöße des Schlafrocks herunter und schlug die Augen nieder.

Der Etappenraum, der für einhundertundfünfzig Mann bestimmt war, jetzt aber vierhundertfünfzig faßte, war so eng, daß die Gefangenen in den Kammern keinen Platz fanden und den Korridor erfüllten. Die einen saßen und lagen auf dem Boden, die anderen bewegten sich hin und her mit leeren oder mit mit siedendem Wasser gefüllten Teekannen. Unter diesen war Taraß. Er holte den Nechljudow ein und begrüßte ihn freundlich. Das gute Gesicht des Taraß war von blauroten, blutunterlaufenen Stellen auf der Nase und unter den Augen verunstaltet.

»Was ist mit dir?« fragte Nechljudow.

»So eine Sache hat sich zugetragen«, sagte Taraß lächelnd.

»Sie prügeln sich immer«, sagte der Eskortsoldat verächtlich.

»Des Weibes wegen«, fügte ein Gefangener hinzu, der hinter ihnen ging. »Mit dem blinden Fedjka ist er handgemein geworden.«

»Und wie geht's Fedossija?« fragte Nechljudow.

»Gut, sie ist gesund, da bringe ich ihr etwas kochendes Wasser für Tee«, sagte Taraß.

Nechljudow blickte in die Tür hinein. Die ganze Kammer war voll von Frauen und von Männern, sowohl auf den Pritschen wie unter denselben. In der Kammer stand ein Dampf von der trocknenden nassen Wäsche, und es ließ sich ein nie verstummendes Geschrei weiblicher Stimmen hören. Die folgende Tür war die Tür der Ledigenkammer. Diese war noch überfüllter, und sogar in der Tür selbst stand und ragte in den Korridor hinaus ein geräuschvoller Haufen der etwas teilenden oder entscheidenden Gefangenen in nassen Kleidern. Der Eskortesoldat erklärte dem Nechljudow, daß da der Älteste das im Voraus verbrauchte oder im voraus in Form der aus Spielkarten verfertigten Zettelchen verspielte Geld dem MajdanschtschikEine Art Bankhalter unter den Gefangenen. herausgab.

So bekannt auch dem Nechljudow dies Schauspiel war, so oft er auch im Verlaufe dieser drei Monate immer dieselben vierhundert Kriminalgefangenen gesehen, in den verschiedenartigsten Lagen: sowohl in der Hitze, in der Staubwolke, die sie mit den die Ketten schleppenden Füßen aufwirbelten, wie bei der Rast unterwegs, und auf den Etappen, in der warmen Zeit auf dem Hof, wo schauderhafte Szenen offener Unzucht stattfanden, er hatte dennoch jedesmal, wenn er in ihre Mitte trat, und wie jetzt, empfand, daß ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, ein qualvolles Gefühl der Scham und des Schuldbewußtseins ihnen gegenüber.

»Die haben's gut, die Freischlucker«, sagte eine heisere Stimme, noch eine unflätige Schimpferei hinzufügend, wie Nechljudow vernahm, als er sich schon der Tür der Politischen näherte.

Ein unfreundliches und spöttisches Lachen ertönte.

 

Der Raum für die Politischen bestand aus zwei kleinen Kammern, deren Türen auf einen durch einen Verschlag abgesonderten Teil des Korridors hinausgingen. Als Nechljudow in diesen abgesonderten Korridorteil eintrat, war die erste Person, die er zu Gesicht bekam, Simonsohn, mit einem Fichtenscheit in der Hand, der in seiner Jacke vor der zitternden, von der Hitze hineingezogenen Tür des in voller Glut brennenden Ofens kauerte.

Als er den Nechljudow sah, reichte er ihm die Hand, ohne aus der kauernden Lage aufzustehen, und blickte ihn von unten auf unter den überhängenden Augenbrauen hervor an.

»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind; ich muß Sie sprechen«, sagte er mit bedeutsamer Miene, indem er Nechljudow gerade in die Augen sah.

»Was ist denn?« fragte Nechljudow.

»Nachher; jetzt bin ich beschäftigt.«

Nechljudow wollte schon in die erste Tür treten, als aus der anderen die Maslowa kam, gebeugt, mit einem Besen in der Hand, mit dem sie einen großen Haufen Kehricht und Staub zum Ofen schob. Sie war in einer weißen Jacke, einem aufgeschürzten Rock und Strümpfen. Ihr Kopf war vor dem Staube bis zu den Augenbrauen mit einem Tuch umbunden. Als sie den Nechljudow sah, richtete sie sich auf, und ganz rot und lebhaft, legte sie den Besen bei Seite, wischte die Hände an dem Rock ab und blieb gerade vor ihm stehen.

»Bringen Sie den Raum in Ordnung?« sagte Nechljudow, ihr die Hand reichend.

»Ja, es ist meine alte Beschäftigung,« sagte sie und lächelte, »und es ist so ein Schmutz, – man kann sich gar nicht denken wie! Da haben wir was zu putzen gehabt. Was ist's denn? Ist der Plaid schon trocken?« wandte sie sich an Simonsohn.

»Beinahe«, sagte Simonsohn, indem er sie mit einem besonderen, dem Nechljudow auffallenden Blick ansah.

»Nun, so komme ich ihn zu holen und bringe die Pelze zum Trocknen. Die Unseren sind alle da«, sagte sie dem Nechljudow, indem sie auf die nächste Tür zeigte und durch die entferntere wegging.

Nechljudow öffnete die Tür und trat in eine kleine Kammer, die schwach von einem kleinen metallenen Lämpchen, das niedrig auf einer Pritsche stand, beleuchtet war.

In der kleinen Kammer waren alle anwesend, außer zwei Männern, die die Verproviantierung besorgten und weggegangen waren, um siedendes Wasser und Lebensmittel zu holen. Da war Nechljudows alte Bekannte, die noch magerer und gelber gewordene Wjera Jefremowna mit ihren ungeheuren erschrockenen Augen, der geschwollenen Ader auf der Stirn und den kurzen Haaren, in grauer Jacke. Sie saß vor einem Zeitungspapier mit darauf ausgeschüttetem Tabak, und mit stoßweisen Bewegungen füllte sie Zigarettenhülsen damit. Da war auch eine der für Nechljudow angenehmsten politischen Frauen, Emilija Ranzewa, die den äußeren Haushalt besorgte und die ihm sogar unter den schwersten Umständen eine frauenhafte Häuslichkeit und Annehmlichkeit verlieh. Sie saß neben der Lampe mit aufgestreiften Ärmeln über den sonnenverbrannten, schönen, geschickten Händen und wischte Henkelbecher und Tassen ab und stellte sie auf ein Handtuch, das auf der Pritsche ausgebreitet war. Die Ranzewa war eine nicht schöne junge Frau mit klugen und sanftem Ausdruck des Gesichts, das die Eigentümlichkeit hatte, sich beim Lächeln plötzlich zu verklären und fröhlich, munter und bezaubernd zu werden. Mit solchem Lächeln empfing sie jetzt den Nechljudow.

»Aber wir dachten, daß Sie schon ganz nach Rußland abgereist seien«, sagte sie.

Ebenda war auch Maria Pawlowna, die im Schatten, in einer entfernten Ecke, etwas mit einem kleinen weißköpfigen Mädchen zu tun hatte, das ohne Aufhören mit seinem lieben kindlichen Stimmchen plapperte.

»Wie gut ist es, daß Sie gekommen sind. Haben Sie Katjuscha gesehen?« fragte sie den Nechljudow. »Wir haben aber – sehen Sie mal – einen Gast.« Sie zeigte auf das kleine Mädchen.

Auch Anatolij Kryljzow war da. Abgemagert und blaß saß er gebückt und zitternd, die unterzogenen Beine in hohen Filzstiefeln, an der entferntesten Ecke auf der Pritsche, die Hände in die Ärmel des Halbpelzes gesteckt, und sah mit fieberischen Augen Nechljudow an. Nechljudow wollte sich ihm nähern, aber rechts von der Tür saß, etwas aus einem Sacke hervorsuchend, ein Mann mit rötlichem Kraushaar, mit einer Brille und in Guttaperchajacke. Das war der berühmte Revolutionär Nowodworow, und Nechljudow beeilte sich, ihn zu begrüßen. Er eilte sich besonders, es zu tun, weil von allen Politischen dieser Abteilung dieser Mensch allein ihm unangenehm war. Nowodworow blitzte unter der Brille mit seinen blauen Augen den Nechljudow an, stirnrunzelnd reichte er ihm seine schmale Hand.

»Wie ist's denn? reisen Sie angenehm?« fragte er, augenscheinlich ironisch.

»Ja, viel Interessantes«, antwortete Nechljudow, indem er Miene machte, die Ironie nicht zu bemerken und sie für eine Liebenswürdigkeit zu nehmen, und er näherte sich dem Kryljzow.

Äußerlich zeigte Nechljudow Gleichgültigkeit, innerlich aber war er bei Weitem nicht gleichgültig dem Nowodworow gegenüber. Die Worte Nowodworow's, sein offenbarer Wunsch, etwas Unangenehmes zu sagen und zu tun, zerstörten jene seelengute Stimmung, in welcher Nechljudow sich befand. Und es ward ihm traurig und wehmütig ums Herz.

»Nun, wie ist die Gesundheit?« sagte er, die kalte, zitternde Hand Kryljzows drückend.

»Es geht noch, nur kann ich immer nicht warm werden – durch und durch naß«, sagte Kryljzow, eilig die Hand wieder in den Ärmel des Halbpelzes steckend. »Auch hier ist eine Hundekälte. Da sind die Scheiben zerschlagen«, er zeigte auf die an zwei Stellen zerschlagenen Scheiben hinter den Eisengittern.

»Wie geht es Ihnen? Warum waren Sie nicht zu sehen?«

»Man läßt mich nicht zu, die Obrigkeit ist streng. Heute erst erwies sich der Offizier umgänglich.«

»Suchen Sie Katja?« wandte er sich an Nechljudow. »Sie arbeitet immer, sie putzt. Diese Kammer hat man gereinigt – unsere, die männliche – jetzt die Frauenkammer. Nur die Flöhe lassen sich nicht wegputzen. Sie verzehren uns bei lebendigem Leibe. Und Mascha? was macht die dort?« fragte er, mit dem Kopf auf die Ecke zeigend, wo Maria Pawlowna war.

»Sie kämmt ihrem Pflegetöchterchen die Haare aus«, sagte die Ranzewa.

»Und wird sie nicht die Insekten auf uns loslassen?« sagte Kryljzow.

»Nein, nein, ich mach' es vorsichtig. Sie ist jetzt schön sauber«, sagte Maria Pawlowna. »Nehmen Sie sie«, wandte sie sich an die Ranzewa. »Ich aber gehe, Katja zu helfen. Und den Plaid bringe ich ihm.«

Die Ranzewa nahm das Mädchen, und mit mütterlicher Zärtlichkeit die kleinen, nackten, vollen Ärmchen des Kindes an sich drückend, setzte sie es auf ihre Knie und reichte ihm ein Stück Zucker.

Maria Pawlowna ging hinaus; gleich danach traten in die Kammer zwei Männer mit siedendem Wasser und Lebensmitteln.

 

Einer der Eintretenden war ein nicht hoher, hagerer, junger Mann in einem mit Stoff überzogenen Halbpelz und in hohen Stiefeln. Er kam mit leichtem und raschem Gang herein, indem er zwei große, dampfende Teekannen mit heißem Wasser brachte und ein in ein Tuch gewickeltes Brot, das er unter dem Arm trug und mit der andern Hand stützte.

»Nun, da hat sich auch unser Fürst wieder eingestellt«, sagte er, indem er die Teekannen zwischen die Tassen stellte und das Brot der Maslowa übergab. »Wunderbare Sachen haben wir zusammengekauft«, sagte er, den Halbpelz abstreifend. »Markel hat Milch und Eier gekauft; heute gibt es einfach einen Ball. Nun, jetzt mach Tee«, wandte er sich an die Ranzewa.

Aus dem ganzen Äußern dieses Menschen, aus seinen Bewegungen, aus dem Ton seiner Stimme, aus seinem Blick wehte es wie Frohmut und Lustigkeit. Der andere der Eingetretenen aber – ein gleichfalls nicht großer, knochiger Mann mit sehr hervortretenden Jochbeinen der mageren Wangen auf dem grauen Gesicht, mit schönen, grünlichen, weit auseinanderstehenden Augen und dünnen Lippen, war dagegen ein Mensch von finsterem und niedergeschlagenem Aussehen. Er brachte zwei Töpfe und zwei Gefäße aus Birkenrinde. Nachdem er vor der Ranzewa seine Bürde abgestellt, verbeugte er sich vor dem Nechljudow nur mit dem Hals, so daß er ihn fortwährend ansah, indem er sich verbeugte. Dann reichte er ihm ungern die schweißige Hand und begann, die Lebensmittel langsam aus dem Korb herauszunehmen und aufzustellen.

Diese beiden politischen Gefangenen waren Leute aus dem Volk: der erste war ein Bauer, Nabatow, der zweite ein Fabrikarbeiter, Markel Kondratiew. Markel war in die revolutionäre Bewegung geraten, als er schon bei Jahren war, als fünfunddreißigjähriger Mann; Nabatow aber in seinem achtzehnten Jahre. Nachdem er, dank seinen hervorragenden Fähigkeiten, aus einer Pfarrdorfschule ins Gymnasium gelangt war, erhielt sich Nabatow die ganze Zeit mit Stundengeben, und beendigte das Gymnasium mit der goldenen Medaille; in die Universität aber ging er nicht, weil er schon in der siebenten Klasse zu dem Entschluß gekommen war, daß er ins Volk gehen werde, aus dem er herkam, um seine von den andern vergessenen Brüder aufzuklären. So tat er auch: zuerst nahm er eine Stelle als Gemeindeschreiber in einem großen Pfarrdorf an, aber bald ward er verhaftet, weil er den Bauern Bücher vorgelesen, eine Konsum- und Produktionsgenossenschaft bei ihnen eingerichtet hatte. Das erstemal hielt man ihn acht Monate im Gefängnis fest und entließ ihn unter geheimer Aufsicht. Als er frei wurde, fuhr er sofort in ein anderes Gouvernement, in ein anderes Pfarrdorf, richtete sich dort als Lehrer ein und tat dasselbe. Man nahm ihn wieder fest, und dieses Mal hielt man ihn ein Jahr und zwei Monate im Gefängnis; im Gefängnis befestigte er sich noch mehr in seinen Überzeugungen.

Nach dem zweiten Gefängnis verschickte man ihn ins Gouvernement Permj. Er entfloh von dort. Man nahm ihn wieder fest, und nachdem man ihn sieben Monate lang gefangen gehalten, verschickte man ihn ins Gouvernement Archangeljsk. Dort hat man ihn wegen der Weigerung, dem neuen Zar den Eid zu leisten, zur Verschickung in die Provinz Jakutsk verurteilt, so daß er die Hälfte seines Lebens, seit er erwachsen war, im Gefängnis und der Verbannung verbracht hatte. All diese Abenteuer hatten ihn gar nicht erbittert, aber auch seine Energie nicht geschwächt, hatten sie eher angefacht. Er war ein beweglicher Mann, mit ausgezeichneter Verdauung, immer gleich tätig, mutig und lustig. Er bereute nie etwas und riet nicht herum an dem, was weit vor ihm lag, sondern er wirkte mit allen Kräften seines Intellekts, seiner Geschicklichkeit und seines praktischen Sinnes in der Gegenwart. Wenn er in Freiheit war, arbeitete er für den Zweck, den er sich aufgestellt, namentlich: die Aufklärung und Solidierung des arbeitenden Volkes, hauptsächlich des Bauernvolkes; wenn er aber in Gefangenschaft war, so handelte er ebenso energisch und praktisch, um den Verkehr mit der Außenwelt herzustellen und unter den gegebenen Umständen das Leben am besten, nicht nur für sich, sondern für seinen Kreis einzurichten. Er war in erster Linie Mensch der Gemeinde. Für sich schien er nichts nötig zu haben, und er konnte sich mit dem geringsten zufrieden geben; aber für die Gemeinde der Kameraden verlangte er viel; er konnte auch jegliche, sowohl physische, wie geistige Arbeit tun, ohne die Hände ruhen zu lassen, ohne Schlaf und ohne Nahrung. Als Bauer war er arbeitsam, findig, geschickt in der Arbeit, und von Natur enthaltsam, ohne Anstrengung höflich, aufmerksam nicht nur auf die Gefühle, sondern auch auf die Meinungen der anderen. Die Revolution sollte nach seiner Anschauung die Grundformen des Volkslebens nicht ändern – darin war er mit Nowodworow und mit Nowodworows Anhänger, Martel Kondratiew, uneinig –, die Revolution sollte seiner Meinung nach nicht das ganze Gebäude zertrümmern, sondern sie sollte nur die innern Räumlichkeiten dieses schönen, dauerhaften, ungeheuern, heiß von ihm geliebten alten Gebäudes anders einteilen.

Er liebte es, zu arbeiten und war immer mit praktischen Dingen beschäftigt, und auf ebensolche praktischen Dinge stieß er die Kameraden hin.

Der andere politische Gefangene aus dem Volk, Markel Kondratiew, war ein Mann von anderm Schlag. Vom fünfzehnten Jahre an war er auf die Arbeit gestellt und begann zu rauchen und zu trinken, um das trübe Bewußtsein der Beleidigung zu betäuben. Diese Beleidigung empfand er zum erstenmal, da man sie, als Kinder, Weihnachten zu dem Christbaum führte, der von der Frau des Fabrikanten hergerichtet worden, wo man ihm mit seinen Kameraden ein Pfeifchen zu einem Kopeken, einen Apfel, eine vergoldete Nuß und eine Feige schenkte, den Kindern des Fabrikanten aber Spielsachen, die ihm als Geschenke einer Zauberin erschienen, und die, wie er später erfuhr, mehr als 50 Rubel gekostet hatten.

Er war zwanzig Jahre alt, als in die dortige Fabrik eine berühmte Revolutionärin als Arbeiterin eintrat, und da sie die hervorragenden Fähigkeiten des Kondratiew bemerkte, ihm Bücher und Broschüren zu geben und mit ihm zu sprechen begann, indem sie ihm seine Stellung und die Ursachen derselben, sowie die Mittel, sie zu verbessern, erklärte. Als er sich die Möglichkeit der Befreiung, sowohl seiner selbst wie auch der anderen aus der Unterdrückung, in welcher er sich befand, klar vorstellte, erschien ihm die Ungerechtigkeit dieser Lage noch grausamer und fürchterlicher als früher, und leidenschaftlich begann er nicht nur nach Befreiung, sondern auch nach der Bestrafung derer zu verlangen, die diese grausame Ungerechtigkeit eingerichtet hatten und sie erhielten. Die Möglichkeit dazu verlieh das Wissen, wie man ihm erklärte, und Kondratiew ergab sich mit Leidenschaft der Aneignung von Kenntnissen. Es war ihm unklar, auf welche Weise die Verwirklichung des sozialistischen Ideals durch das Wissen vollbracht wird, aber er glaubte, daß, wie das Wissen ihm die Ungerechtigkeit der Lage, in der er sich befand, offenbart hatte, so dasselbe Wissen diese Ungerechtigkeit auch zurechtrücken werde. Außerdem erhob ihn das Wissen in seiner eigenen Meinung über andere Menschen. Und darum, nachdem er aufgehört hatte, zu rauchen und zu trinken, widmete er dem Studium die ganze freie Zeit, von der er jetzt, da man ihn zum Aufseher eines Vorratsraumes gemacht, mehr hatte. –

Die Revolutionärin unterrichtete ihn und staunte über die wunderbare Fähigkeit, mit der er unersättlich allerlei Kenntnisse verschlang. In zwei Jahren erlernte er die Algebra, die Geometrie, die Geschichte, die er besonders liebte, und las die sämtliche schöne und kritische Literatur, hauptsächlich die sozialistische durch.

Die Revolutionärin nahm man fest, mit ihr auch den Kondratiew, da man bei ihm verbotene Bücher vorfand. Man setzte ihn ins Gefängnis, dann verschickte man ihn ins Gouvernement Wologda. Dort lernte er Nowodworow kennen, las noch viele revolutionäre Bücher, behielt alles im Gedächtnis und befestigte sich noch mehr in seinen sozialistischen Ansichten. Nach der Verschickung war er der Leiter eines großen Arbeiterstreikes, der mit der Zertrümmerung der Fabrik und der Tötung des Direktors endete. Man nahm ihn fest und verurteilte ihn zur Entziehung aller Rechte und zur Verbannung.

Er war seinen Gewohnheiten nach Asket, begnügte sich mit dem Wenigsten, und wie jeder von Kindheit an an Arbeit gewöhnte Mensch, mit entwickelten Muskeln, konnte er leicht und viel und geschickt arbeiten, jegliche physische Arbeit leisten, am meisten aber schätzte er die Muße und lernte in den Gefängnissen und auf den Etappen weiter. Er studierte jetzt den ersten Band von Marx, das Kapital, und mit der größten Sorgsamkeit, wie einen großen Schatz bewahrte er in seinem Sack dieses Buch auf. Gegen alle Kameraden verhielt er sich zurückhaltend, gleichgültig, mit Ausnahme von Nowodworow, dem er besonders ergeben war, und dessen Urteil über alle Dinge er für unwiderlegliche Wahrheiten nahm.

Gegen die Frauen, auf die er als auf ein Hindernis in allen nötigen Dingen hinabsah, hegte er eine unüberwindliche Verachtung, die Maslowa aber bedauerte er und war mit ihr freundlich, da er in ihr ein Beispiel der Ausbeutung der niederen Klasse seitens der höheren sah. Aus demselben Grunde hatte er den Nechljudow nicht gern, war ihm gegenüber wortkarg, drückte seine Hand nicht, sondern überließ ihm nur seine ausgestreckte Hand zum Druck, wenn Nechljudow ihn grüßte.

 

Der Ofen war fertig geheizt und wurde warm, der Tee war gemacht, in die Gläser und Henkelbecher eingeschenkt und mit Milch geweißt, es waren Brezeln, frisches Feinbrot und Weizenbrot, hartgekochte Eier, Butter, Kalbskopf und Kalbsfüße aufgesetzt. Alle rückten an den Teil der Pritsche heran, der den Tisch ersetzte, und tranken, aßen und sprachen. Die Ranzewa saß auf einer Kiste und schenkte den Tee ein. Um sie herum drängten sich alle Übrigen, außer dem Kryljzow, der, nachdem er den nassen Halbpelz ausgezogen und sich in den trockenen Plaid eingewickelt hatte, auf seinem Platz lag und mit Nechljudow sprach.

Der Umstand, daß hinter der Wand Stampfen, Geschrei, Schimpferei der Kriminalen sich hören ließ, gleichsam um sie an das zu erinnern, was sie umgab – dieser Umstand verstärkte noch das Gefühl der Behaglichkeit. Wie auf einer kleinen Insel mitten im Meere fühlten sich diese Menschen für eine Zeitlang nicht überschwemmt von den Erniedrigungen und Leiden, die sie umgaben, und infolgedessen befanden sie sich in einem gehobenen, aufgeregten Zustand. Man sprach über alles, nur nicht von seiner Lage, nicht davon, was sie erwartete. Außerdem, wie es immer zwischen jungen Männern und Frauen zu sein pflegt, besonders wenn sie gewaltsam vereinigt worden, wie alle diese Leute zusammengebracht wurden, entstanden unter ihnen zusammenstimmende und nicht zusammenstimmende, sich verschiedenartig verflechtende Neigungen zueinander. Sie waren fast alle verliebt. Nowodworow war in die hübsche, lächelnde Grabetz verliebt. Die Grabetz war eine junge Studentin, die sehr wenig nachgedacht hatte und vollständig gleichgültig gegen die Fragen der Revolution war. Aber sie gab dem Einfluß der Zeit nach, hatte sich durch etwas kompromittiert und wurde verschickt. Wie in der Freiheit die Hauptinteressen ihres Lebens in den Erfolgen bei Männern bestanden, ebenso auch bei den Verhören und im Gefängnis und der Verschickung. Jetzt, während des Transports, tröstete sie sich damit, daß Nowodworow für sie eingenommen war, und sie verliebte sich selber in ihn. Wjera Jefremowna, die sehr verliebter Natur war und doch nicht Liebe für sich erregen konnte und dennoch immer auf Gegenseitigkeit hoffte, war bald in den Nabatow, bald in den Nowodworow verliebt. Etwas der Liebe Ähnliches war seitens des Kryljzow für Maria Pawlowna vorhanden. Er liebte sie, wie Männer Frauen lieben, aber da er ihr Verhalten gegen die Liebe kannte, verbarg er geschickt sein Gefühl unter der Gestalt der Freundschaft und der Dankbarkeit dafür, daß sie mit besonderer Zärtlichkeit ihn pflegte. Nabatow und die Ranzewa waren durch sehr komplizierte Liebesbeziehungen verknüpft. Wie Maria Pawlowna eine vollkommen keusche Jungfrau, so war die Ranzewa eine vollkommen keusche Frau und Gattin.

Sechzehn Jahre alt, noch im Gymnasium, gewann sie den Ranzew, einen Studenten der Petersburger Universität, lieb, und neunzehn Jahre alt, heiratete sie ihn, während er noch auf der Universität war. Vom achten Semester ab wurde ihr Mann, da er in eine Universitätsgeschichte verwickelt war, aus Petersburg verwiesen und ward Revolutionär. Sie aber verließ die medizinischen Kurse, die sie besuchte, und wurde ebenfalls Revolutionärin. Wenn ihr Mann nicht der Mensch gewesen wäre, den sie für den besten, den klügsten von allen Menschen in der Welt hielt, würde sie ihn nicht lieb gewonnen haben, und hätte sie ihn nicht lieb gewonnen, würde sie ihn nicht geheiratet haben. Aber da sie nun den ihren Überzeugungen nach besten und klügsten Mann in der Welt lieb gewonnen und geheiratet hatte, verstand sie das Leben und seinen Zweck natürlicherweise ebenso, wie der beste und klügste Mann in der Welt es verstand. Er sah zuerst das Leben darin, daß man studierte, und sie sah das Leben ebenso darin. Er wurde Revolutionär, und sie wurde Revolutionärin. Sie konnte sehr gut den Beweis führen, daß die existierende Ordnung unmöglich sei, und daß die Pflicht jedes Menschen darin bestehe, gegen diese Ordnung zu kämpfen, um jene politische und ökonomische Organisation des Lebens herbeizuführen, in welcher sich die Individualität frei entwickeln könne usw. Und es schien ihr, daß sie wirklich so denke und fühle, aber im Grunde genommen dachte sie nur, daß alles das, was ihr Mann denke, die wahre Wahrheit sei und suchte nur eins, die völlige Übereinstimmung, das Zusammenfließen mit der Seele ihres Mannes, weil allein dies ihr moralische Befriedigung gewährte.

Die Trennung von dem Manne und vom Kinde, das ihre Mutter zu sich genommen hatte, fiel ihr schwer. Aber sie ertrug diese Trennung fest und ruhig, da sie wußte, daß sie es für den Mann und für jene Sache ertrage, die unzweifelhaft wahr sein mußte, weil er ihr diente. Sie war in Gedanken immer mit dem Manne, und wie sie früher niemand anderes geliebt hatte, so konnte sie auch jetzt niemand außer ihrem Manne lieben. Aber die ergebene und reine Liebe Nabatows rührte und ergriff sie. Er war ein moralischer und fester Mann, ein Freund ihres Mannes, bemühte sich mit ihr, wie mit seiner Schwester umzugehen, aber in sein Verhalten zu ihr schlüpfte etwas Größeres ein, und dieses Größere erschreckte sie beide und schmückte zugleich ihr schweres gegenwärtiges Leben.

So daß vollkommen frei von Liebe in dieser Gesellschaft nur Maria Pawlowna und Kondratiew waren.

 

Nechljudow rechnete darauf, nach dem gemeinsamen Tee und Nachtessen, wie er es früher getan, mit Katjuscha allein sprechen zu können, und er saß neben dem Kryljzow, sich mit ihm unterhaltend.

»Ich glaube,« sagte Nowodworow, »daß, wenn wir unsere Sache tun wollen, so ist die erste Bedingungen dazu (Kondratiew ließ das Buch beiseite, das er bei der Lampe las, und begann aufmerksam seinem Lehrer zuzuhören), daß wir nicht phantasieren, sondern die Dinge so ansehen, wie sie sind. Man muß alles für die Volksmasse tun und nichts von ihr erwarten. Die Massen bilden das Objekt unserer Tätigkeit, aber sie können nicht unsere Mitarbeiter sein, solange sie träge, wie jetzt sind«, begann er, als ob er eine Vorlesung hielte. »Und darum ist es vollständig illusorisch, eine Hilfe ihrerseits zu erwarten, solange nicht der Entwicklungsprozeß in ihnen stattgefunden, jener Entwicklungsprozeß, zu dem wir sie vorbereiten.«

»Was für ein Entwicklungsprozeß?« begann Kryljzow, der rot geworden, zu sprechen: »Wir sagen, daß wir gegen die Willkür und den Despotismus sind; – ist das denn nicht der schrecklichste Despotismus?«

»Kein Despotismus ist da«, antwortete ruhig Nowodworow. »Ich sage nur, daß ich jenen Weg kenne, welchen das Volk gehen muß, und diesen Weg ihm zeigen kann.«

»Aber wieso bist du überzeugt, daß der Weg, den du zeigst, richtig sei? Ist es denn nicht der Despotismus, aus welchem die Inquisitionen und die Hinrichtungen der großen Revolution folgten? Sie kannten auch den richtigen Weg, der Wissenschaft nach.«

»Der Umstand, daß sie sich geirrt haben, beweist noch nicht, daß ich irren muß. Und dann: es ist ein Unterschied zwischen den Faseleien der Ideologen und den Tatsachen der positiven ökonomischen Wissenschaft«. Nowodworows Stimme erfüllte die ganze Kammer. Er sprach allein, und alle schwiegen.

»Immer streitet man«, sagte Maria Pawlowna, als er für eine Minute verstummte.

»Und wie denken Sie selbst darüber?« fragte Nechljudow Maria Pawlowna.

»Ich glaube, Anatolij hat recht, daß wir nicht dem Volke unsere Ansichten aufdrängen dürfen.«

»Nun, und Sie, Katjuscha?« lächelnd fragte es Nechljudow, mit Angst ihre Antwort erwartend; er befürchtete, daß sie etwas nicht Hineinpassendes sagen möchte.

»Ich glaube,« sagte sie, jäh errötend, »das einfache Volk ist sehr benachteiligt.«

»Richtig, Michajlowna, richtig«, schrie Nabatow auf. »Stark benachteiligt ist das Volk. Man muß sehen, daß man es nicht benachteilige. Darin besteht unsere ganze Sache.«

»Eine sonderbare Vorstellung von den Aufgaben der Revolution«, sagte Nowodworow, und verstummend und ärgerlich begann er zu rauchen.

»Ich kann mit ihm nicht sprechen«, sagte Krylizow flüsternd und schwieg.

»Und es ist weit besser, nicht zu sprechen«, sagte Nechljudow.

 

Trotzdem Nowodworow von allen Revolutionären sehr geachtet, trotzdem er sehr gelehrt war und für sehr klug gehalten wurde, zählte ihn Nechljudow zu denjenigen Revolutionären, die, da sie ihren moralischen Eigenschaften nach unter dem Durchschnittsniveau stehen, weit unter dem Niveau waren. Die geistigen Kräfte dieses Mannes – sein Zähler – waren groß; aber seine Meinung von sich – sein Nenner – war unverhältnismäßig, ungeheuer groß und hatte schon längst seine geistigen Kräfte überwuchert.

Das war ein Mann von vollständig entgegengesetztem Typus des geistigen Lebens, als Simonsohn. Simonsohn war einer jener Menschen (ein vorwiegend männlicher Typus), bei denen die Handlungen aus der Tätigkeit des Denkens folgen und von derselben bestimmt werden. Nowodworow aber gehörte zu der Menschenkategorie, (vorwiegend weiblichen Schlages), bei denen die Tätigkeit des Denkens zum Teil auf die Erreichung der vom Gefühl eingestellten Ziele gerichtet ist, zum Teil aber auf die Rechtfertigung der Handlungen, die aus dem Gefühl entsprungen.

Die ganze revolutionäre Tätigkeit Nowodworows, trotzdem er sie durch sehr überzeugende, beredsame Gründe zu erklären verstand, erschien dem Nechljudow einzig auf der Eitelkeit und dem Wunsch, der Erste unter den Menschen zu sein, gegründet. Zuerst, in der Periode des Studiums – Dank seiner Fähigkeit, fremde Gedanken sich anzueignen und sie genau wiederzugeben, hatte er den Vorrang und war befriedigt, – inmitten der Lernenden und Lehrenden: Gymnasium, Universität, Magistergrad – wird diese Art der Fähigkeiten hoch geschätzt. – Aber als er das Diplom erlangt und zu studieren aufgehört hatte und dieser Vorrang zu Ende war, änderte er plötzlich vollständig seine Ansichten, wie Kryljzow – der den Nowodworow nicht lieb hatte – dem Nechljudow erzählte, und um auch in der neuen Sphäre den Vorrang zu erlangen, wurde er aus einem gemäßigt Liberalen ein roter Narodowolez. Infolge des Mangels an moralischen und ästhetischen Eigenschaften in seinem Charakter, die Zweifel und Schwanken hervorrufen, nahm er sehr bald in der revolutionären Welt die seiner Eigenliebe befriedigende Stellung eines Parteiführers ein. Nachdem er einmal die Richtung gewählt hatte, zweifelte und schwankte er nun nie mehr, und daher war er überzeugt, daß er nie irre. Es schien alles ungewöhnlich einfach, klar und unzweifelhaft zu sein. Und bei der Enge und Einseitigkeit seiner Ansichten war alles wirklich sehr einfach und klar, und man brauchte nur, wie er zu sagen pflegte, logisch zu sein. Seine Selbstgewißheit war so groß, daß sie die Leute nur entweder abstoßen oder sie sich unterwerfen konnte. Und da er seine Tätigkeit inmitten sehr junger Leute übte, die seine grenzenlose Selbstgewißheit für Tiefsinn und Weisheit nahmen, so unterwarfen sich ihm die meisten, und er hatte einen großen Erfolg in den revolutionären Kreisen. Seine Tätigkeit bestand in der Vorbereitung zur Empörung, wobei er die Macht an sich reißen und eine allgemeine Volksversammlung zusammenberufen sollte. Auf dieser Volksversammlung sollte das von ihm abgefaßte Programm vorgeschlagen werden. Und er war vollkommen überzeugt, daß dieses Programm alle Fragen erschöpfte, und daß man nicht umhin könne, es anzunehmen.

Die Kameraden achteten ihn wegen seiner Kühnheit und Entschiedenheit, liebten ihn aber nicht. Er aber liebte niemand und verhielt sich gegen alle hervorragenden Menschen wie gegen Rivalen und würde gern mit ihnen so umgegangen sein, wie die alten Affenmännchen mit den jungen umgehen, wenn er nur gekonnt hätte. Er würde den ganzen Intellekt, alle Fähigkeiten den anderen Menschen entrissen haben, damit sie die Aktion seiner Fähigkeiten nicht störten. Er verhielt sich gut nur gegen die Leute, die sich vor ihm beugten. So verhielt er sich zu dem von ihm geworbenen Arbeiter Kondratjew, zu Wjera Jefremowna und zu der hübschen Grabetz, die beide in ihn verliebt waren. Obgleich er prinzipiell für die Frauenfrage war, hielt er doch in der Tiefe der Seele alle Frauen für dumm und nichtig mit Ausnahme derjenigen, in die er, oft sentimental, verliebt war, wie er jetzt in die Grabetz verliebt war, und dann hielt er sie für ungewöhnliche Frauen, deren wertvolle Eigenschaften nur er allein zu bemerken verstand.

Die Frage nach den Beziehungen der Geschlechter zu einander schien ihm, wie alle Fragen, sehr einfach und klar zu sein und ward durch die Anerkennung der freien Liebe vollkommen entschieden.

Er hatte eine fiktive Frau und eine andere echte, von der er getrennt war, da er sich überzeugte, daß sie keine wahre Liebe zueinander hätten; und jetzt war er gesonnen, eine neue freie Ehe mit der Grabetz zu schließen.

Den Nechljudow verachtete er, weil er, wie er zu sagen pflegte, mit der Maslowa »posierte«, und besonders, weil er sich erlaubte, über den Mangel der existierenden Organisation und über die Mittel zur Reform derselben nicht Wort für Wort so zu denken, wie er, Nowodworow, dachte, sondern irgendwie nach seiner eigenen fürstlichen, das heißt närrischen Art. Nechljudow wußte von solchem Verhalten Nowodworows zu ihm, und zu seiner Betrübnis fühlte er, daß er, trotz der seelenguten Stimmung, in welcher er sich während der Reise befand, ihm mit derselben Münze zahlte und auf keine Weise die stärkste Antipathie gegen diesen Mann bezwingen konnte.

 

In der Nachbarkammer ließen sich die Stimmen der Obrigkeit hören. Alles wurde still, und gleich darauf trat der Oberste mit zwei Eskortesoldaten herein. Das war die Kontrolle. Der Oberste zählte alle, indem er auf jeden mit dem Finger zeigte. Als die Reihe an den Nechljudow kam, sagte er gutmütig-familiär zu ihm:

»Jetzt, Fürst, nach der Kontrolle, darf man schon nicht mehr bleiben. Man muß fortgehen.«

Nechljudow wußte, was das zu bedeuten hatte; er trat an ihn heran und drückte ihm 2 Rubel, die er bereit hielt, in die Hand. »Nun, was kann man mit Ihnen machen! Sitzen Sie noch ein wenig.«

Simonsohn, der die ganze Zeit schweigend, die Hände hinter dem Kopf, in einer Ecke auf der Pritsche gelegen, erhob sich, und nachdem er alle Sitzenden vorsichtig umgangen, trat er an den Nechljudow heran:

»Können Sie mich jetzt hören?«

»Versteht sich«, sagte Nechljudow und stand auf, um ihm zu folgen.

Als Katjuscha auf den sich erhebenden Nechljudow blickte und ihre Augen seinem Blick begegneten, wurde sie rot und schüttelte gleichsam bedenklich mit dem Kopf.

»Mein Anliegen an Sie besteht in Folgendem«, begann Simonsohn, als er mit Nechljudow zusammen in den Korridor hinausgegangen war. In dem Korridor war das Summen und der Stimmenaufruhr der Kriminalen besonders hörbar. Nechljudow runzelte die Stirn, aber Simonsohn ward dadurch augenscheinlich nicht gestört.

»Da ich Ihre Beziehungen zu Katerina Michajlowna kenne,« begann er, aufmerksam und gerade mit seinen guten Augen in Nechljudows Gesicht blickend, »halte ich mich für verpflichtet«, fuhr er fort, aber er mußte aufhören, da dicht an der Tür zwei Stimmen auf einmal schrien, die über etwas stritten.

»Man sagt dir, du Götzenbild: sie gehören nicht mir«, schrie eine Stimme.

»Daß du daran erstickst, Teufel«, röchelte heiser der andere.

Da kam Maria Pawlowna in den Korridor heraus.

»Kann man denn hier sprechen?« sagte sie, »kommen Sie hierher, da ist nur Wjerotschka allein«, und sie ging voran durch die benachbarte Tür einer winzigen Kammer, offenbar einer Einzelkammer, die jetzt den politischen Frauen zur Verfügung gestellt war. Auf der Pritsche lag Wjera Jefremowna, über den Kopf zugedeckt.

»Sie hat Migräne, sie schläft und hört nicht, ich aber gehe weg«, sagte Maria Pawlowna.

»Im Gegenteil, bleibe,« sagte Simonsohn, »ich habe keine Geheimnisse, vor niemand, besonders vor dir nicht.«

»Nun gut«, sagte Maria Pawlowna, und mit dem ganzen Körper, wie die Kinder, von einer Seite aus die andere rutschend und sich durch diese Bewegung tiefer auf der Pritsche hinsetzend, machte sie sich bereit, zu hören.

»Also, meine Sache besteht darin,« wiederholte Simonsohn, »daß ich, da ich Ihr Verhältnis zu Katerina Michajlowna kenne, mich für verpflichtet halte, Ihnen mein Verhalten gegen sie zu erklären.«

»Das heißt – was denn?« fragte Nechljudow, der unwillkürlich mit Wohlgefallen die Einfachheit und Wahrhaftigkeit wahrnahm, mit der Simonsohn mit ihm sprach.

»Nämlich, daß ich Katerina Michajlowna heiraten möchte.«

»Wunderbar«, sagte Maria Pawlowna, die Augen auf Simonsohn geheftet.

». . . und beschlossen habe, sie darum zu bitten – – darum, daß sie meine Frau werde«, fuhr Simonsohn fort.

»Was soll ich dabei? Das hängt von ihr ab«, sagte Nechljudow.

»Ja, aber sie wird diese Frage ohne Sie nicht entscheiden.«

»Warum?«

»Weil sie nicht wählen kann, so lange die Frage nach ihrem Verhältnis zu Ihnen nicht endgültig gelöst ist.«

»Meinerseits ist die Frage endgültig entschieden. Ich möchte das tun, was ich für meine Pflicht halte, und außerdem ihre Lage erleichtern, aber keineswegs will ich ihr einen Zwang auferlegen.«

»Ja, aber sie will Ihr Opfer nicht.«

»Da gibt es kein Opfer.«

»Und ich weiß, daß dieser ihr Entschluß unwiderruflich ist.«

»Nun – dann – worüber wollen Sie mit mir sprechen?« sagte Nechljudow.

»Es ist ihr nötig, daß auch Sie es anerkennen.«

»Wie kann ich denn anerkennen, daß ich das nicht tun soll, was ich für meine Pflicht halte? Das einzige, was ich sagen kann, ist, daß ich nicht frei bin – sie dagegen ist frei.«

Simonsohn schwieg eine Zeitlang nachdenklich.

»Schön, das werde ich ihr sagen. Glauben Sie nicht, daß ich in sie verliebt bin«, fuhr er fort. »Ich liebe sie wie einen schönen, seltenen Menschen, der viel gelitten hat. Ich brauche von ihr nichts, aber ich möchte furchtbar gern ihr helfen, ihre Lage erleicht . . .«

Nechljudow wunderte sich, als er das Zittern in Simonsohns Stimme hörte.

». . . ihre Lage erleichtern. Wenn sie Ihre Hilfe nicht annehmen will, lassen Sie sie meine Hilfe annehmen. Wenn sie einwilligte, würde ich bitten, daß man mich an den Ort ihrer Einsperrung verschickt. Vier Jahre sind keine Ewigkeit. Ich würde sie neben ihr verleben und vielleicht ihr Schicksal erleichtern.« – Vor Aufregung blieb er wieder stecken.

»Was kann ich denn sagen?« sagte Nechljudow. »Ich freue mich, daß sie einen solchen Beschützer gefunden wie Sie . . .«

»Das eben wollte ich wissen«, fuhr Simonsohn fort. »Ich wünschte zu wissen, ob Sie, der Sie sie lieben und ihr Heil wünschen, ihre Ehe mit mir für ein Heil ansehen würden?«

»Oh ja«, sagte Nechljudow entschieden.

»Alles liegt in ihr, ich will nur, daß diese Seele, die gelitten hat, ausruhe«, sagte Simonsohn, während er den Nechljudow mit einer so kindlichen Zärtlichkeit ansah, wie man sie von einem Manne mit solch finsterem Aussehen unmöglich erwarten konnte.

Simonsohn stand auf, faßte Nechljudows Hand, neigte sich zu ihm mit dem Gesicht, lächelte schüchtern und küßte ihn.

»Also, ich werde ihr dies sagen«, sagte er und ging hinaus.

 

»Ah, was meinen Sie dazu?« sagte Maria Pawlowna. »Verliebt, vollständig verliebt. Nun, das würde ich auch nie erwartet haben, daß sich Wladimir Simonsohn mit so einer – der dümmsten, knabenhaften Verliebtheit verlieben würde! Erstaunlich! Und um die Wahrheit zu sagen – betrübend«, schloß sie seufzend.

»Aber sie, die Katja? Wie verhält sie sich, ihrer Meinung nach, dazu?« fragte Nechljudow.

»Sie?« Maria Pawlowna stockte, da sie, augenscheinlich, möglichst genau auf die Frage antworten wollte. »Sie? Sie ist trotz ihrer Vergangenheit, ihrer Anlage nach eine der sittlichsten Naturen . . . und so fein fühlt sie . . . Sie liebt Sie – liebt Sie schön, und sie ist glücklich mit dem Gedanken, Ihnen wenigstens jenes negative Gute antun zu können, daß sie Sie nicht mit sich verstrickt. Für Katjuscha wäre die Heirat mit Ihnen ein fürchterlicher moralischer Fall, schlimmer, als alles frühere; und darum wird sie nie darauf eingehen. Und unterdessen beunruhigt sie Ihre Anwesenheit.«

»Also was denn? Soll ich etwa verschwinden?« sagte Nechljudow.

Maria Pawlowna lächelte mit ihrem lieben, kindlichen Lächeln.

»Ja, zum Teil.«

»Wie soll man denn zum Teil verschwinden?«

»Ich habe gefaselt, aber von ihr wollte ich Ihnen sagen, daß sie wahrscheinlich die Ungereimtheit seiner – möcht ich sagen – exaltierten Liebe (er hat ihr nichts darüber gesagt) einsieht, und daß sie sich durch dieselbe geschmeichelt fühlt und vor ihr bangt. Sie wissen wohl, ich bin in diesen Sachen nicht kompetent, aber es scheint mir, daß es seinerseits das gewöhnlichste männliche Gefühl ist, obgleich ja maskiert. Er sagt, daß diese Liebe in ihm die Energie erhöhe, und daß diese Liebe platonisch sei, aber ich weiß, daß, wenn es auch eine nicht gewöhnliche Liebe wäre, in ihrem Grunde doch unbedingt eine Scheußlichkeit liegt . . . Wie Nowodworow mit Ljubotschka.« Maria Pawlowna wich von der Frage ab, indem sie auf Ihr Lieblingsthema zu sprechen kam.

»Aber was soll ich denn tun?« fragte Nechljudow.

»Ich glaube, Sie müssen es ihr sagen. Stets ist es besser, daß alles klar sei. Sprechen Sie mit ihr, ich will sie rufen. Wollen Sie?« fragte Maria Pawlowna.

»Bitte«, sagte Nechljudow, und Maria Pawlowna ging.

Ein seltsames Gefühl erfaßte den Nechljudow, als er allein in der kleinen Kammer blieb.

Was ihm Simonsohn gesagt, gab ihm die Befreiung von der übernommenen Verpflichtung, die ihm in den Minuten der Schwäche schwer und unheimlich erschien, und doch war dies ihm nicht nur unangenehm, sondern es tat ihm weh. In diesem Gefühl lag auch, daß der Vorschlag Simonsohns die Ausschließlichkeit seiner Handlung zerstörte und den Wert des Opfers, das er bringen wollte, in seinen eigenen Augen und in den Augen der anderen Menschen verminderte: wenn ein Mann, dazu noch ein so guter, der an sie durch nichts gebunden war, sein Schicksal mit dem ihren vereinigen wollte, so war sein, Nechljudows Opfer, nicht mehr so bedeutend.

Es war da vielleicht auch ein einfaches Gefühl der Eifersucht vorhanden. Er war so an ihre Liebe zu sich gewöhnt, daß er den Gedanken nicht zulassen konnte, daß sie einen anderen lieb gewinnen könnte.

Da war auch die Zerstörung des einmal festgesetzten Plans, neben ihr zu leben, solange sie ihre Strafe abbüßen werde. Wenn sie den Simonsohn heiratete, würde seine Anwesenheit unnötig sein, und er mußte sich einen neuen Plan des Lebens schaffen.

Er hatte nicht Zeit, sich in seinen Gefühlen zurechtzufinden, als durch die geöffnete Tür ein verstärktes Getöse drang (es ging bei ihnen heute etwas Besonderes vor), und Katjuscha in die Kammer trat.

Sie näherte sich ihm mit raschen Schritten.

»Maria Pawlowna hat mich hierher geschickt«, sagte sie, nahe bei ihm stehen bleibend.

»Ja, ich muß Sie sprechen. Aber setzen Sie sich, Wladimir Iwanowitsch hat mit mir gesprochen.«

Sie ließ sich nieder, die Hände im Schoß, und schien ruhig zu sein, aber kaum hatte Nechljudow den Namen Simonsohns hervorgebracht, als sie purpurrot wurde.

»Was hat er denn mit Ihnen gesprochen?« fragte sie.

»Er hat mir gesagt, daß er Sie heiraten möchte.«

Ihr Gesicht verzog sich, indem es Schmerz ausdrückte; sie sagte nichts, senkte nur die Augen.

»Er bittet um meine Einwilligung oder um einen Rat. Ich habe gesagt, daß alles von Ihnen abhänge, daß Sie entscheiden müssen.«

»Ach, was ist das? Warum?« brachte sie hervor, und mit jenem seltsamen, immer besonders stark auf den Nechljudow wirkenden schielenden Blick sah sie ihm gerade in die Augen.

Einige Sekunden lang sahen sie schweigend einander in die Augen, und dieser Blick sagte den Beiden vieles.

»Sie müssen entscheiden«, wiederholte Nechljudow.

»Was habe ich zu entscheiden?« sagte sie. »Alles ist schon lange entschieden.«

»Nein, Sie müssen entscheiden, ob Sie den Antrag des Wladimir Iwanowitsch annehmen«, sagte Nechljudow.

»Was für eine Frau kann ich, eine Zwangsarbeiterin, sein? Wozu brauch ich auch noch den Wladimir Iwanowitsch ins Verderben zu ziehen?« sagte sie stirnrunzelnd.

»Ja, aber wenn eine Begnadigung kommt?« sagte Nechljudow.

»Ach, lassen Sie mich. Da ist nichts weiter zu sprechen«, sagte sie aufstehend und ging aus der Kammer hinaus.

 

Als Nechljudow, gleich nach der Katjuscha, in die Männerkammer zurückkehrte, waren dort alle in Aufregung. Nabatow, der überall hinging, mit allen verkehrte, alles beobachtete, brachte eine Nachricht, die alle überraschte. Die Nachricht bestand darin, daß er an der Wand einen Zettel gefunden, der von einem zur Zwangsarbeit verurteilten Revolutionär, Petlin, geschrieben war. Alle glaubten, daß Petlin schon lange am Strafort sei, und plötzlich erwies es sich, daß er erst vor kurzem denselben Weg allein mit den Kriminalverbrechern gegangen.

»Am 17. August.« stand auf dem Zettel, »ward ich allein mit den Kriminalen abgeschickt. Newjerow war mit mir und hat sich in Kasanj im Irrenhaus aufgehängt. Ich bin gesund und munter und hoffe alles Gute.«

Alle besprachen die Lage Petlins und die Ursachen von Newjerows Selbstmord. Kryljzow aber schwieg mit konzentriertem Aussehen, indem er mit starren, glänzenden Augen vor sich hinsah.

»Mein Mann hat mir gesagt, daß Newjerow schon in der Peter-Pauls-Festung ein Gespenst gesehen«, sagte die Ranzewa.

»Ja, ein Poet, ein Phantast, – solche Leute halten die Einzelhaft nicht aus«, sagte Nowodworow: »Ich, zum Beispiel, wenn ich in Einzelhaft geriet, erlaubte meiner Einbildungskraft nicht zu arbeiten, sondern verteilte meine Zeit in systematischer Weise. Darum habe ich es immer gut ertragen.«

»Warum denn nicht ertragen? Ich war ja oft einfach froh, wenn man mich festsetzte«, sagte Nabatow mit munterer Stimme; er wünschte augenscheinlich die düstere Stimmung zu zerstreuen. »Sonst fürchtest du alles: daß du selber hineingefallen und die anderen hineinziehen und die Sache verderben wirst; hat man dich aber festgenommen – fertig mit der Verantwortlichkeit: man kann ausruhen. Sitze und rauche.«

»Hast du ihn nahe gekannt?« fragte Maria Pawlowna unruhig in das plötzlich verwandelte, abgefallene Gesicht Kryljzows blickend.

»Newjerow ein Phantast?« begann plötzlich Kryljzow zu sprechen, mit erstickter Stimme, als ob er lange geschrien oder gesungen hätte. »Newjerow war so ein Mensch, von denen, wie unser Schweizer zu sagen pflegte, die Erde wenige trägt. Ja, . . . er war ein ganz krystallheller Mensch, ganz durchsichtig. Ja, . . . der konnte nicht nur nicht lügen, sondern nicht einmal sich verstellen. Nicht etwa nur dünnhäutig, er war gleichsam ohne Haut – alle Nerven blosgelegt. Ja, . . . eine komplizierte, reiche Natur, nicht so eine . . . Na, wozu soll ich da sprechen! . . .« er schwieg eine Zeitlang. »Wir disputieren, was besser sei,« sagte er, zornig die Stirn runzelnd: »ob zuerst das Volk aufklären und dann die Formen des Lebens ändern, oder zuerst die Formen des Lebens ändern – und dann – wie man kämpfen soll: durch friedliche Propaganda? durch Terrorismus? Wir disputieren: ja. Die disputieren nicht, die wissen ihre Sache, ihnen ist es ganz gleich, ob Dutzende, Hunderte von Menschen, und was für Menschen! zugrunde gehen oder nicht. Im Gegenteil, die wollen geradezu, daß die Besten zugrunde gehen. Ja. Herzen pflegt zu sagen, daß, als man die Dekabristen aus dem Verkehr zog, das allgemeine Niveau herabgedrückt wurde. Wie sollte man es nicht herabdrücken? Dann zog man aus dem Verkehr auch den Herzen selbst und seine Altersgenossen. Jetzt die Newjerows . . .«

»Alle wird man nicht vernichten«; sagte Nabatow mit einer frohmütigen Stimme. »Einige werden immer noch zur Nachzucht übrig bleiben.«

»Nein, keiner wird übrig bleiben, wenn die uns leid tun«, sagte Kryljzow, die Stimme erhebend und sich nicht unterbrechen lassend. »Gib mir ein Zigarettchen.«

»Aber es ist ja nicht gut für dich, Anatolij«, sagte Maria Pawlowna, »bitte, rauche nicht.«

»Ach, laß mich«, sagte er ärgerlich und rauchte eins an, aber sofort fing er an zu husten. Es begann ihn zu würgen, gleich wie zum Erbrechen. Als er sich ausgehustet, fuhr er fort:

»Nicht das, was wir wußten, haben wir getan, nein, nicht das. Nicht räsonnieren, sondern sich fest vereinigen . . . und vernichten diese . . . Ja! . . .«

»Aber sie sind ja auch Menschen«, sagte Nechljudow.

»Nein, das sind keine Menschen, diejenigen, die tun können, was sie tun . . . Nein, man sagt, man habe Bomben erfunden und Ballons. Ja, man sollte mit einem Ballon aufsteigen und sie überschütten mit Bomben wie die Wanzen, so lange bis sie ausgerottet sind . . . Ja! weil . . .« begann er wieder, aber plötzlich fing er an, ganz rot, noch stärker an zu husten, und Blut strömte ihm aus dem Munde.

Nabatow lief nach Schnee. Maria Pawlowna holte Baldriantropfen hervor und bot sie ihm an, aber er stieß sie, die Augen geschlossen, mit der weißen, abgemagerten Hand fort und atmete schwer und hastig. Als Schnee und kaltes Wasser ihn etwas beruhigt hatten und man ihn für die Nacht hingelegt, nahm Nechljudow von allen Abschied und ging mit dem Unteroffizier, der ihn abholen kam und schon lange erwartete, zum Ausgang.

Als Nechljudow aus dem Tor hinausging, blieb er stehen, und mit vollen Lungen, die Brust ausweitend, atmete er lange und angestrengt die frostige Luft ein.

 

Draußen wurde es sternenhell. Als Nechljudow über den festbeeisten, nur hie und da zum Vorschein kommenden Straßenkot in seinen Ausspann zurückkehrte, klopfte er an das dunkle Fenster, und der breitschultrige Knecht öffnete ihm barfuß die Tür und ließ ihn in den Flur. Im Flur rechts vernahm man das laute Schnarchen der Fuhrleute in der »schwarzen Stube«; vorn, vor der Tür, auf dem Hof, ließ sich das Kauen einer großen Zahl Pferde hören, die Hafer verzehrten; links war die Tür, die in das »reine Zimmer« führte. In dem reinen Zimmer roch es nach Wermut und Schweiß und hinter dem Verschlag her kam ein gleichmäßiges, schlürfendes Schnarchen aus mächtigen Lungen; vor den Heiligenbildern brannte ein Lämpchen aus rotem Glas. Nechljudow warf die Kleider ab, richtete auf dem Wachstuchdivan den Plaid und sein ledernes Kissen zurecht und legte sich hin, indem er in seiner Phantasie alles durchging, was er während des heutigen Tages gesehen und gehört hatte.

Trotzdem das Gespräch mit Simonsohn und Katjuscha, heute abend, wichtig und unerwartet war, verweilte er nicht bei diesem Ereignis; sein Verhalten dazu war zu kompliziert und unbestimmt zugleich, und darum verjagte er den Gedanken daran.

Wissen, daß irgendwo, weit von hier, die einen Menschen die anderen quälen, indem sie sie auf allerlei Weise moralisch verderben, allen möglichen unmenschlichen Erniedrigungen und Leiden unterwerfen, oder während dreier Monate fortwährend dieses Verderben und diese Quälerei der einen Menschen seitens der andern mit ansehen, – das ist etwas ganz anderes. Und Nechljudow fühlte es.

Er fragte sich mehrmals während dieser drei Monate: bin ich verrückt, da ich das sehe, was die anderen nicht sehen, oder sind jene verrückt, die das ausüben, was ich sehe? Aber die Leute (und so viele waren ihrer) übten alle das, was ihn so sehr wunderte und grauen machte, mit so einer ruhigen Überzeugung – nicht nur, daß es so sein müßte, sondern, daß das, was sie machten, auch eine sehr wichtige und nützliche Sache sei –, daß es schwer war, all diese Leute für verrückt zu erklären; sich selber aber für verrückt halten konnte er nicht, weil er sich der Klarheit seiner Gedanken bewußt war. Und darum befand er sich immer in einem Zustand zweifelnden Bedenkens.

Was Nechljudow im Verlaufe dieser drei Monate gesehen, erschien ihm in folgender Gestalt: aus allen in Freiheit lebenden Menschen wurden vermittelst des Gerichtes und der Administration die nervösesten, feurigsten, erregbarsten, begabtesten und stärksten und dabei weniger schlauen und vorsichtigen ausgelesen, und diese Menschen, die keineswegs schuldiger oder für die Gesellschaft gefährlicher waren, als diejenigen, die in Freiheit blieben, wurden erstens eingesperrt in die Gefängnisse, Etappenräume, Zwangsarbeit, und dort Monate und Jahre lang in völligem Müßiggang gehalten, in materieller Sicherheit, entfernt von der Natur, von Familie und Arbeit, d. h. außerhalb aller Bedingungen des natürlichen und sittlichen Lebens. Dies erstens. Zweitens wurden diese Menschen in diesen Anstalten allerlei unnötigen Erniedrigungen unterworfen: Ketten, rasierte Köpfe, Schandkleidung, d. h. ihnen wurde der hauptsächlichste Beweggrund zu einem guten Leben für schwache Leute – die Sorge um die Meinung der Mitmenschen, die Scham, das Bewußtsein der menschlichen Würde, entzogen. Drittens, da sie fortwährender Lebensgefahr ausgesetzt waren, Lebensgefahr vor den in den Einsperrungsorten beständig herrschenden Ansteckungskrankheiten, Erschöpfung, Prügeln – zu geschweigen den Ausnahmefällen von Sonnenstichen, Ertrinken, Feuersbrünsten –, befanden sich diese Menschen immerfort in der Lage, in welcher der beste, moralischste Mensch aus dem Gefühl der Selbsterhaltung die fürchterlichsten Handlungen an Grausamkeit vollbringt und andere Menschen wegen solcher Handlungen entschuldigt. Viertens wurden diese Menschen gewaltsam mit bis zum äußersten durch das Leben und besonders durch diese selben Anstalten Verdorbenen, Wüstlingen, Mördern und Bösewichtern zusammengepfercht, die auf alle noch nicht völlig durch die angewendeten Mittel Verdorbenen, wie Hefe auf den Teig wirkten. Und endlich fünftens wurde allen sich unter diesen Einwirkungen befindenden Menschen auf die überzeugendste Weise eingeprägt, namentlich durch allerlei unmenschliche Handlungen gegen sie selber: durch Mißhandlungen der Kinder, Frauen, Alten, durch das Schlagen, Prügeln, mit Ruten, Peitschen, durch Aussetzen von Prämien für die, die den entlaufenen Gefangenen lebendig oder tot zur Strecke bringen, durch die Trennung der Männer von den Frauen und durch Vereinigung fremder Frauen mit fremden Männern zum Zusammenleben, durch das Erschießen, Aufhängen, – es wurde auf die überzeugendste Weise eingeprägt, daß allerlei Gewalttaten, Grausamkeiten, Bestialität, nicht nur von der Regierung nicht verboten, sondern erlaubt werden, wenn es für sie vorteilhaft ist, und daß sie folglich um so mehr denjenigen gegenüber erlaubt sind, die sich in Gefangenschaft, Not und Elend befinden.

Alles das waren Einrichtungen, die gleichsam mit Fleiß ausgedacht waren, um eine so bis zum letzten Grade kondensierte Unzucht und solch ein Laster hervorzubringen, wie man dies unter keinen anderen Bedingungen hätte erreichen können, mit der Absicht, dieses kondensierte Laster und die Unzucht nachher in den weitesten Dimensionen unter dem ganzen Volk zu verbreiten. ›Als ob die Aufgabe gestellt worden, wie auf die beste, sicherste Weise die möglichst große Quantität Menschen zu verderben sei,‹ dachte Nechljudow, indem er sich in das vertiefte, was in den Gefängnissen und Etappen vor sich ging. Hunderttausende von Menschen wurden jährlich bis zum höchsten Grade der moralischen Verkommenheit gebracht, und wenn sie vollkommen verdorben waren, ließ man sie in Freiheit, damit sie die in den Gefängnissen erworbene Verderbnis im ganzen Volke verbreiteten.

In den Gefängnissen – denen von Tjumenj, Jekaterinburg, Tomsk und auf den Etappen hatte Nechljudow gesehen, wie dieses Ziel, das sich die Gesellschaft gestellt zu haben schien, vollkommen erreicht wurde. Die einfachen, gewöhnlichen Menschen mit den Forderungen der russischen, bäuerlichen, christlichen Gemeindemoral gaben diese Anschauungen auf, eigneten sich neue den Gefängnissen eigentümliche Begriffe an, die hauptsächlich darin bestehen, daß jede Beschimpfung, Vergewaltigung der menschlichen Persönlichkeit, jegliche Vernichtung derselben erlaubt sei, wenn sie vorteilhaft ist. Die Menschen, die eine Zeitlang im Gefängnis gelebt hatten, erfuhren in ihrem ganzen Wesen – wenn man alles in Betracht zieht, was mit ihnen passiert –, daß alle jene Sittengesetze der Achtung vor dem Menschen und des Mitleids mit ihm, die ihnen von den Kirchen- und Morallehrern gepredigt worden, in der Wirklichkeit aufgehoben sind, und daß also auch sie ihnen nicht zu folgen brauchen.

Die einzige Erklärung alles Hier-vor-sich-Gehenden sollte die Abschaffung des Verbrechens, Abschreckung, Korrektion, gesetzmäßige Vergeltung sein, wie man in den Büchern geschrieben hat. In Wirklichkeit aber war keine Ahnung weder von diesem, noch von jenem, noch vom dritten, noch vom vierten vorhanden. Anstatt der Abschaffung war nur die Verbreitung der Verbrechen da; anstatt der Abschreckung die Aufmunterung der Verbrecher, von denen viele, wie die Vagabunden, freiwillig in die Gefängnisse gingen. Anstatt der Korrektion war da die systematische Ansteckung mit allen Lastern. Das Bedürfnis nach Vergeltung wurde durch die Regierungsstrafen nicht nur nicht gemildert, sondern da anerzogen, wo es im Volke nicht existierte.

›Also warum denn machen sie alles das?‹ fragte sich Nechljudow und fand keine Antwort.

Und was ihn am meisten in Erstaunen setzte, war, daß all das nicht unversehens, nicht aus Mißverständnis, nicht einmal getan wurde, sondern all das war immer im Verlaufe von Hunderten von Jahren geübt worden, nur mit dem Unterschiede, daß man früher die Nasen zerrissen, die Ohren abgeschnitten, ferner gebrandmarkt, an die Stangen gekettet hatte und dann jetzt in Handfesseln, per Dampf und nicht auf Fuhrwerken transportiert.

Die Auseinandersetzung, daß das, was ihn empörte, wie ihm die Leute im Dienste zu sagen pflegten, von der unvollkommenen Einrichtung der Einsperrungs- und Verschickungsorte herrührte, und daß man alles das verbessern könne wenn die Gefängnisse nach neuer Façon eingerichtet würden, befriedigte den Nechljudow nicht, weil er fühlte, daß was ihn empörte, nicht von der mehr oder weniger vollkommenen Einrichtung der Orte der Einsperrung kam. Er las von vervollkommneten Gefängnissen mit elektrischen Klingeln, von Hinrichtungen durch Elektrizität, die von Tard empfohlen wurden, und die vervollkommneten Gewalttaten empörten ihn noch mehr.

Nachdem Nechljudow die Gefängnisse und Etappen näher kennen gelernt hatte, sah er, daß alle diese Laster, die sich unter den Gefangenen entwickeln: Trunksucht, Spiel, Grausamkeit und alle die fürchterlichen Verbrechen, die von Gefängnisbewohnern begangen werden, keine Zufälligkeiten oder Degenerationserscheinungen, Erscheinungen eines Verbrechertypus, einer Abnormität sind, wie es die stumpfen Gelehrten den Regierungen gefällig auslegen, sondern eine unausbleibliche Folge des nicht eingesehenen Irrtums, daß die einen Menschen die anderen strafen dürfen. Daß seinem Schwager zum Beispiel, aber auch allen jenen Justizbeamten, von dem Justizkommissar bis zum Minister gar nicht an der Gerechtigkeit oder Wohlfahrt des Volkes, von denen sie sprachen, gelegen war, sondern, daß ihnen allen nur jene Rubel nötig waren, die man dafür zahlte, daß sie alles das tun, wovon diese Verderbnis und diese Leiden herrührten, – das war vollkommen klar.

›Könnte es denn wirklich sein, daß alles das aus Mißverständnis gemacht würde? Wie könnte man es so einrichten, daß allen diesen Beamten ihr Gehalt gesichert wäre und sogar noch Prämien verteilt würden, nur dafür, daß sie alles das nicht täten, was sie tun?‹ dachte Nechljudow. Und mit diesen Gedanken, erst nach dem zweiten Hahnenruf fiel er in tiefen Schlaf, trotz den Flöhen, die, sobald er sich nur bewegte, wie eine Fontäne um ihn herum sprühten.

 

Als Nechljudow erwachte, waren die Fuhrleute schon lange abgefahren, die Wirtin hatte schon Tee getrunken und, den dicken, schweißigen Hals mit einem Tuch abwischend, kam sie, um zu sagen, daß ein Eskortesoldat einen Zettel gebracht habe. Der Zettel war von Maria Pawlowna. Sie schrieb, daß der Anfall des Kryljzow ernster sei, als sie gedacht hatten. »Eine Zeitlang wollten wir ihn hier zurücklassen und bei ihm bleiben, aber das hat man nicht erlaubt, und wir werden ihn mitführen, aber wir fürchten alles. Bemühen Sie sich, es in der Stadt so einzurichten, daß, wenn man ihn zurücklassen wird, man auch jemanden von uns zurückläßt. Wenn dazu nötig ist, daß ich ihn heirate, so bin ich selbstverständlich bereit.«

Nechljudow schickte den Burschen auf die Station, um Pferde zu holen und fing eilig an, seine Sachen einzupacken. Er hatte das zweite Glas Tee noch nicht ausgetrunken, als das Dreigespann-Relais, mit den Glöcklein klingend und mit den Rädern auf dem überfrorenen Straßenkot wie auf einem Pflaster rasselnd, an der Haustreppe vorfuhr.

Nachdem Nechljudow der dickhalsigen Wirtin alles bezahlt hatte, beeilte er sich, hinauszugehen, setzte sich auf das Flechtwerk des Karrens und befahl, so schnell wie möglich zu fahren, da er die Abteilung einholen wollte. Nicht weit hinter dem Tor der Umzäunung erreichte er wirklich die mit Säcken und mit Kranken beladenen Wagen, welche auf dem überfrorenen Straßenkot rasselten, der anfing glatt zu werden. Der Offizier war nicht da, er war vorangefahren. Die Soldaten, welche augenscheinlich etwas betrunken waren, gingen, lustig plaudernd, hinterher und zu beiden Seiten der Landstraße. Es waren viele Wagen da. Auf den vorderen saßen eng zusammengedrängt, etwa zu sechs, die Schwachen unter den Kriminalgefangenen, auf den drei hintersten Wagen fuhren – zu dritt auf einer Fuhre – die Politischen. Auf dem allerletzten saßen Nowodworow, die Grabetz und Kondratjew; auf dem zweiten – die Ranzewa, Nabatow und jene schwache Frau mit dem Rheumatismus, die Maria Pawlowna ihren Platz abgetreten hatte. Im dritten auf Heu und Kissen lag Kryljzow. Auf dem Kutschersitz neben ihm saß Maria Pawlowna. Nechljudow ließ seinen Fuhrmann neben dem Kryljzow halt machen und begab sich zu ihm. Der etwas betrunkene Eskortesoldat fing an, dem Nechljudow mit der Hand zuzuwinken, aber Nechljudow, ohne auf ihn zu achten, trat an den Wagen heran und ging nebenher, indem er sich an der Seitenstange desselben festhielt. Kryljzow in Schafspelz und Lammfellmütze, den Mund mit einem Tuch zugebunden, schien noch magerer und blasser als sonst. Seine schönen Augen erschienen besonders groß und glänzend. Leicht hin und herschaukelnd von den Stößen des Weges sah er, ohne die Augen von ihm abzuwenden, den Nechljudow an, machte, auf die Frage nach seiner Gesundheit, nur die Augen zu und schüttelte ärgerlich den Kopf. Seine ganze Energie ging augenscheinlich auf im Ertragen der Stöße des Wagens, Maria Pawlowna saß auf der andern Seite des Fuhrwerks. Sie wechselte mit dem Nechljudow einen bedeutsamen Blick, der ihre ganze Besorgnis um den Zustand Kryljzows ausdrückte.

Kryljzow sagte etwas, das man nicht hören konnte, indem er auf Maria Pawlowna zeigte, die Stirn runzelnd, und augenscheinlich den Husten zurückhaltend, schüttelte er den Kopf. Nechljudow streckte den Kopf vor, um ihn zu verstehen. Dann befreite Kryljzow seinen Mund von dem Tuch und flüsterte ihm zu:

»Jetzt geht es viel besser. Daß ich mich nur nicht erkälte.«

Nechljudow nickte bejahend und wechselte wieder einen Blick mit Maria Pawlowna.

»Nun, wie ist's mit dem Problem der drei Körper?« flüsterte Kryljzow noch und lächelte mühselig und schmerzlich. »Die Lösung ist schwer?«

Nechljudow hatte nicht verstanden, aber Maria Pawlowna erklärte ihm, daß es ein berühmtes mathematisches Problem zur Bestimmung des Verhältnisses von drei Körpern sei: der Sonne, des Mondes und der Erde, und daß Kryljzow im Scherz diesen Vergleich ausgedacht habe für die Beziehungen zwischen Nechljudow, Katjuscha und Simonsohn. Kryljzow nickte zum Zeichen, daß Maria Pawlowna seinen Scherz richtig erklärt habe.

»Nicht bei mir liegt die Entscheidung«, sagte Nechljudow.

»Haben Sie meinen Zettel bekommen? werden Sie's tun?« fragte Maria Pawlowna.

»Unbedingt«, sagte Nechljudow, und da er auf dem Gesichte Kryljzows ein Mißfallen bemerkte, kehrte er an seinen Wagen zurück, stieg auf das eingesunkene Flechtwerk, und sich an den Rändern des Wagens haltend, welcher ihn auf dem Gleise des nicht glattgerollten Weges durchrüttelte, begann er die auf eine Werst ausgedehnte Abteilung der grauen Gefangenenröcke und Halbpelze der Gefesselten und der in Handfesseln gehenden Paare zu überholen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße erkannte Nechljudow das blaue Kopftuch der Katjuscha, den schwarzen Paletot der Wjera Jefremowna und die weißen, wollenen, in der Art wie man es bei den Sandalen macht, umwickelten Strümpfe Simonsohns. Er ging neben den Frauen und redete heftig.

Als die Frauen den Nechljudow erblickten, grüßten sie ihn, Simonsohn aber hob feierlich ein wenig die Mütze. Nechljudow hatte ihnen nichts zu sagen, und ohne den Fuhrmann anzuhalten, fuhr er an ihnen vorbei. Als er wieder auf den glatt gerollten Weg kam, fuhr der Kutscher noch schneller, aber er mußte fortwährend aus den glatten Gleisen hinabfahren, um die auf der Straße nach beiden Richtungen sich bewegenden Wagenzüge zu umfahren.

Der Weg, von tiefen Radspuren ganz durchwühlt, ging durch einen dunklen Nadelholzwald, der hier und da im hellen, sandfarbenen Gelb der noch nicht abgefallenen Blätter der Birke und Lärche bunt zu beiden Seiten schimmerte. Auf der Hälfte der Strecke hörte der Wald auf, und zu beiden Seiten öffneten sich die Felder, erschienen die goldenen Kreuze und Kuppeln eines Klosters. Der Tag heiterte sich ganz auf, die Wolken zerstreuten sich, die Sonne stieg über dem Wald empor, und das nasse Baumlaub, und die Pfützen und die Kuppeln und die Kreuze der Kirche glänzten hell in der Sonne. Vorn, rechts in der taubenblauen Ferne schimmerten weiß die entfernten Berge auf. Das Dreigespann fuhr in das nahe der Stadt gelegene große Pfarrdorf ein. Die Dorfstraße war voll von Leuten – Russen und sibirischen Eingeborenen in ihren sonderbaren Mützen und Röcken. Man spürte die Nähe der Stadt.

Nachdem er das rechte Handpferd angetrieben, es straffer im Zügel angezogen und sich seitwärts auf den Kutschbock umgesetzt, so daß er die Zügel zu seiner Rechten hatte, rollte der Fuhrmann, augenscheinlich um zu prunken, die Hauptstraße schnell entlang, und ohne die Pferde anzuhalten, fuhr er an den Fluß hinan, über welchen die Fahrt mittelst einer Fähre geschah. Die Fähre war in der Mitte des schnell fließenden Stromes und kam von der gegenüberliegenden Seite. Auf dieser Seite warteten etwa zwei Dutzend Fuhren. Nechljudow brauchte nicht lange zu warten. Die hoch stromaufwärts gelangte Fähre wurde, von dem schnellen Wasser gezogen, bald an die Bretter des Landungsplatzes herangetrieben.

Als die Fähre voll war und der Bauernwagen des Nechljudow mit den ausgespannten Pferden, von allen Seiten zusammengedrückt, an einem der Ränder der Fähre stand, schlossen die Fährleute die Sperrstangen, und ohne auf die Bitten derer, die keinen Platz finden konnten, zu achten, warfen sie die Anlegeseile hinab und brachten die Fähre in Gang. Auf der Fähre ward es still, man hörte nur das Stampfen der Füße der Fährleute und die Hufschläge der die Beine umstellenden Pferde gegen die Bretter.

 

Nechljudow stand am Rande der Fähre und sah auf den breiten schnellen Fluß. In seiner Phantasie erhoben sich abwechselnd zwei Gestalten: der von den Stößen erbebende Kopf Kryljzows, der in Erbitterung starb, und die Figur der Katjuscha, die munter an dem Rande der Straße mit Simonsohn ging. Der eine Eindruck: der sich nicht zum Sterben vorbereitende und doch sterbende Kryljzow war schwer und niederdrückend. Der andere Eindruck aber: der der frohmütigen Katjuscha, die die Liebe eines Menschen wie Simonsohn gefunden und jetzt den festen und sicheren Weg des Guten betrat, hätte freudig sein sollen, aber er machte dem Nechljudow das Herz schwer, und er konnte dies Gefühl der Schwere nicht bezwingen.

Aus der Stadt kam, über das Wasser her, das Getön und eherne Zittern der großen Glocke. Der neben dem Nechljudow stehende Fuhrmann und alle Fuhrleute nahmen, einer nach dem anderen, die Mütze ab und bekreuzten sich. Der am nächsten am Geländer stehende, nicht hochgewachsene strublige Alte, den Nechljudow zuerst nicht bemerkte, bekreuzte sich nicht, sondern starrte, den Kopf erhebend, Nechljudow an. Dieser Alte war in einem geflickten breiten Bauernrock, in Tuchhosen, und in ausgetretenen, geflickten Bauernstiefeln. Über der Schulter hing ein nicht großer Quersack, auf dem Kopf saß eine hohe abgeriebene Pelzmütze.

»Aber du, Alter, warum betest du nicht?« sagte Nechljudows Fuhrmann, die Mütze aufsetzend und zurechtschiebend. »Bist du denn nicht getauft?«

»Zu wem soll man denn beten?« sagte in entschiedenem, kampflustigem Ton der strublige Alte, indem er rasch eine Silbe nach der anderen aussprach.

»Bekannte Sache – zu wem? zu Gott«, stieß der Fuhrmann ironisch hervor.

»Aber du, zeig ihn mir, wo ist er? dieser Gott?«

Es lag etwas so Ernstes und Festes in dem Ausdruck des Alten, daß der Fuhrmann fühlte, er habe es mit einem starken Manne zu tun; er wurde etwas verwirrt, wollte es aber nicht zeigen, und bemüht, nicht stumm zu bleiben, um sich vor dem zuhörenden Publikum nicht zu blamieren, antwortete er schnell:

»Wo? Bekannte Sache: Im Himmel.«

»Aber bist du dort gewesen?«

»Nicht gewesen, aber alle wissen, daß man zu Gott beten muß.«

»Niemand hat Gott je gesehen. Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoße ist, der hat es uns verkündet«, sagte, strenge die Stirn runzelnd, der Alte in derselben schnellen Art.

»Du bist, scheint es, ein Nichtchrist, ein Lochanbeter. Das Loch betest du an«, sagte der Fuhrmann, den Peitschenstiel hinter den Gürtel steckend und das Geschirr auf dem Seitenpferd zurechtschiebend.

Jemand lachte auf.

»Und von welchem Glauben bist du, Großväterchen?« fragte ein schon nicht mehr junger Mann, der mit der Fuhre am Rande der Fähre stand.

»Keinen Glauben habe ich. Weil ich niemandem, niemandem glaube außer mir«, antwortete ebenso rasch und entschieden der Alte.

»Aber wie kann man sich glauben?« fragte Nechljudow, in das Gespräch einfallend. »Man kann sich irren.«

»Nie im Leben«, antwortete entschieden der Alte, den Kopf schüttelnd.

»Warum gibt es denn verschiedene Glauben?« fragte Nechljudow.

»Darum gibt's verschiedene Glauben, daß man den Leuten glaubt, sich selber aber glaubt man nicht. Auch ich habe den Menschen geglaubt und bin wie in der Taiga umhergeirrt; ich habe mich so verirrt, daß ich nicht mehr hoffte, mich herauszuarbeiten. Altgläubige und Neugläubige, Ssubbotniki, Chlysten, Popowzen und Bespopowzen, Austriaken, Molokanen und Skopzen!Allerlei russische Sekten. Jeder Glaube rühmt sich selbst allein. Und nun sind sie alle auseinander gekrochen, wie die blinden Hündchen. Der Glauben sind viele, der Geist aber ist nur einer. In mir, und in dir, und in ihm. Also glaube jeder seinem Geist, und so werden alle vereinigt. Sei jeder für sich da, und alle werden zusammen sein.«

Der Alte sprach laut, und immer sah er sich um, da er offenbar wünschte, daß möglichst viele Leute ihn hörten.

»Wie ist es denn? Bekennen Sie sich schon lange zu dem?« fragte ihn Nechljudow.

»Ich? schon lange. Sie verfolgen mich schon dreiundzwanzig Jahr.«

»Wieso – verfolgen?«

»Wie man Christus verfolgt hat, so verfolgt man auch mich. Man packt mich und führt mich vor die Gerichte, zu den Pfaffen, Schriftgelehrten und Pharisäern; man hat mich ins Irrenhaus gesetzt. Aber man kann mir nichts antun, weil ich frei bin. ›Wie nennt man dich?‹ sagen sie. Sie glauben, ich werde mir irgend welchen Namen beilegen. Aber ich lege mir keinen Namen bei. Ich habe allem entsagt: ich habe keinen Namen, keinen Aufenthaltsort, kein Vaterland, ich habe nichts. Ich bin für mich. – ›Wie heißt du?‹ – ›Mensch.‹ – ›Wie alt bist du?‹ ›Das zähle ich nicht‹, sage ich, ›und man kann es nicht nachzählen, weil ich immer gewesen bin und immer sein werde.‹ ›Von welchem Vater, von welcher Mutter bist du?‹ sagen sie. ›Ich habe,‹ sage ich, ›weder Vater noch Mutter außer Gott und der Erde. Gott – der Vater, die Erde – die Mutter.‹ ›Und den Zar erkennst du an?‹ sagen sie. ›Warum sollte ich ihn nicht anerkennen? Er ist Zar über sich, und ich bin Zar über mich.‹ – ›Na,‹ sagen sie, ›mit dir zu sprechen – –.‹ – Ich sage: ›ich bitte Sie ja nicht mit mir zu sprechen.‹ Und also quälen sie mich.«

»Wohin gehen Sie denn jetzt?« fragte Nechljudow.

»Wohin Gott mich führt. Ich arbeite; gibt es keine Arbeit, so bitte ich«, schloß der Alte, da er bemerkte, daß die Fähre sich dem anderen Ufer näherte, und blickte sich siegreich nach allen ihm Zuhörenden um.

Die Fähre legte am anderen Ufer an. Nechljudow holte die Geldbörse heraus und bot dem Alten Geld an. Der Alte lehnte es ab.

»Das nehme ich nicht. Brot nehme ich«, sagte er.

»Nun, verzeih mir.«Die Russen sagen beim Abschied »verzeih! verzeihen Sie«, entsprechend dem Gruß »Lebewohl« oder »Adieu!«

»Nichts zu verzeihen. Du hast mich nicht beleidigt. Aber man kann mich auch nicht beleidigen«, sagte der Alte und begann, den abgelegten Quersack über die Schultern zu ziehen. Inzwischen rollte man den Wagen hinaus und spannte die Pferde ein.

»Wie haben Sie denn Lust, Herr, mit dem zu sprechen?« sagte der Fuhrmann zu Nechljudow, als er den mächtigen Fährleuten ein Trinkgeld gegeben und in den Wagen eingestiegen war. »So ein Vagabundlein, ein Unnütz.«

 

Als sie einen kleinen Berg hinangefahren waren, wandte sich der Kutscher um.

»In welches Gasthaus soll ich Sie fahren?«

»Welches ist das bessere?«

»Was kann besser sein als das ›Sibirische‹? Sonst ist es auch bei Djukow gut.«

»Fahr', wohin du willst.«

Der Fuhrmann setzte sich wieder flott auf die Seite und fuhr zu. Die Stadt war wie alle Städte: ebensolche Häuser mit Mezzaninen und grauen Dächern, ebensolcher Dom, Läden und auf der Hauptstraße Magazine, und sogar ebensolche Schutzmänner. Nur waren die Häuser fast alle aus Holz und die Straßen nicht gepflastert. Auf einer der am meisten belebten Straßen hielt der Fuhrmann das Dreigespann vor der Einfahrt eines Gasthauses an. Aber es waren, wie sich zeigte, in diesem Gasthause keine freien Zimmer vorhanden, so daß man in ein anderes fahren mußte. In diesem andern war ein Zimmer frei, und Nechljudow fand sich, zum erstenmal nach zwei Monaten wieder, was Sauberkeit und Bequemlichkeit anbetrifft, in den gewohnten Bedingungen. Wie wenig luxuriös das dem Nechljudow angewiesene Zimmer war, er empfand doch eine große Erleichterung nach der Fahrt mit Relais, nach dem Aufenthalt im Ausspann und nach den Etappen. Hauptsächlich not war es ihm, sich von den Läusen zu reinigen, von denen er sich nach den Besuchen der Etappen nie völlig hatte befreien können. Nachdem er alles ausgepackt, fuhr er sofort ins Bad und von dort – nachdem er sich ein städtisches Aussehen gegeben, ein gestärktes Vorhemd und Beinkleider mit Falten vom Liegen, einen Gehrock und Paletot angezogen – zum Oberbefehlshaber der Provinz. Der von dem Gasthausportier gebrachte Kutscher mit seinem satten, großen, in eine klirrende Droschke eingespannten kirgisischen Pferde, fuhr den Nechljudow zu einem großen, schönen Gebäude, wo Schildwachen und ein Schutzmann standen.

Der General war nicht wohl und empfing nicht. Nechljudow bat den Lakai, seine Karte dennoch zu übergeben, und der Lakai kehrte mit einer günstigen Antwort zurück:

»Es ist befohlen, Sie herein zu bitten.«

Das Vorzimmer, der Lakai, die Ordonnanz, die Treppe, der Saal mit dem glänzend gewichsten Parkett, – alles dies war Petersburg ähnlich, nur etwas schmutziger und etwas großartiger. Man führte Nechljudow ins Kabinett.

Der General, aufgedunsen, mit Kartoffelnase, hervortretenden Höckern auf der Stirn und dem nackten Schädel und Säcken unter den Augen saß in einem tatarischen, seidenen Schlafrock mit einer Zigarette in der Hand und trank Tee aus einem Glas mit silbernem Untersatz.

»Guten Tag, Väterchen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie im Schlafrock empfange; es ist immer noch besser, als gar nicht empfangen«, sagte er, indem er, den Schlafrock zusammenschlagend, seinen dicken, hinten in Falten gerunzelten Hals verbarg. »Ich bin nicht ganz wohl und gehe nicht aus. Was hat Sie an unsere ferne Küste verschlagen?«

»Ich bin einer Gefangenenabteilung gefolgt, in welcher sich eine mir nahestehende Person befindet,« sagte Nechljudow, »und nun bin ich gekommen, um Euer Exzellenz eines Teils bezüglich dieser Person und dann noch in bezug auf eine andere Sache bitten.«

Der General zog den Tabakrauch ein, nahm einen Schluck Tee, löschte die Zigarette an der Aschenschale aus Malachit, und ohne die engen, geschwollenen, glänzenden Augen von Nechljudow abzuwenden, hörte er ihn ernsthaft an. Er unterbrach ihn nur, um zu fragen, ob er nicht rauchen wolle.

Der General gehörte zu dem Typus der gelehrten Militärs, die glauben, daß es möglich sei, Liberalismus und Humanität mit ihrer Profession zu versöhnen. Aber er, als ein von Natur kluger und guter Mensch, fühlte sehr bald, daß solch eine Versöhnung unmöglich sei, und um jenen inneren Widerspruch, in dem er sich fortwährend befand, nicht zu fühlen, ergab er sich mehr und mehr der unter den Militärs so verbreiteten Gewohnheit, viel Wein zu trinken, und er gab dieser Gewohnheit so sehr nach, daß er nach 35 Jahren des Militärdienstes das wurde, was die Ärzte einen Alkoholiker nennen. Nur am Morgen, gerade zu der Zeit, wo ihn Nechljudow antraf, pflegte er einem vernünftigen Menschen ähnlich zu sein und konnte verstehen, was man zu ihm sprach, und mit mehr oder weniger Glück mit der Tat dem Sprichwort, das er gern wiederholte, Genüge leisten: »Betrunken und klug ist des Guten genug.« Die obersten Behörden wußten, daß er ein Trinker sei, aber er war doch gebildeter, als die übrigen, und verstand sich auch im betrunkenen Zustande mit Takt zu benehmen, und darum hatte man ihn zu diesem ansehnlichen und verantwortlichen Posten, den er jetzt einnahm, ernannt und darauf belassen.

Nechljudow erzählte, daß die ihn interessierende Person – eine Frau sei, daß sie unschuldig verurteilt sei, daß ihrethalb eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz eingereicht worden.

»So, so. Ferner?« sagte der General.

»Man hat mir in Petersburg versprochen, daß die Nachricht über das Schicksal dieser Frau nicht später als in diesem Monat und hierher gesandt werden soll . . .«

Ohne die Augen von Nechljudow abzuwenden, streckte der General die Hand mit den kurzen Fingern nach dem Tisch aus, klingelte und fuhr fort, schweigend zuzuhören.

»Also ich möchte bitten, diese Frau womöglich hier zurückzulassen, bis die Antwort auf die eingereichte Bittschrift hier eintrifft.«

Ein Lakai, militärisch gekleidet, eine Ordonnanz, kam herein.

»Frage, ob Anna Wassiliewna aufgestanden ist,« sagte der General zu der Ordonnanz, »und bringe noch Tee. Was noch?« wandte sich der General zu Nechljudow.

»Meine andere Bitte betrifft einen politischen Gefangenen, der mit derselben Abteilung geht.«

»So, so!« sagte der General, bedeutsam mit dem Kopfe nickend.

»Er ist schwer krank, ein sterbender Mensch, und man wird ihn wahrscheinlich hier im Krankenhause zurücklassen. Nun möchte eine der politischen Frauen bei ihm bleiben.«

»Ist sie ihm fremd?«

»Ja, aber sie ist bereit, ihn zu heiraten, wenn dies ihr die Möglichkeit gibt, bei ihm zu bleiben.«

Der General sah seinen Gast mit den glänzenden Augen unverwandt an und schwieg augenscheinlich, um ihn mit seinem Blick zu verwirren, und rauchte fortwährend.

Als Nechljudow zu Ende war, langte er vom Tische ein Buch, und flink die Finger beleckend, mit welchen er die Blätter umschlug, fand er einen Artikel über die Ehe und las ihn.

»Zu was ist sie verurteilt?« fragte er, die Augen von dem Buche erhebend.

»Sie – zur Zwangsarbeit.«

»Nun, dann kann die Lage des Verurteilten durch seine Ehe nicht verbessert werden.«

»Ja, aber . . .«

»Erlauben Sie. Wenn ein Freier sie heiraten würde, so müßte sie dennoch genau ebenso ihre Strafe abbüßen. Die Frage ist: wer von ihnen die schwerere Strafe trägt, er oder sie?«

»Sie sind beide zu Zwangsarbeit verurteilt.«

»Nun, also quitt«, sagte lachend der General. »Was er hat, hat auch sie. Ihn kann man wegen der Krankheit zurücklassen,« fuhr er fort, »und selbstverständlich wird alles, was möglich ist, getan, um sein Schicksal zu erleichtern; sie aber, wenn sie ihn auch heiraten würde, kann nicht hier bleiben . . .«

»Die Generalin nehmen den Kaffee ein«, meldete der Lakai.

Der General nickte und fuhr fort:

»Übrigens will ich noch überlegen. Wie sind ihre Familiennamen? Schreiben Sie sie hierher ein.«

Nechljudow schrieb sie ein.

»Und dies kann ich nicht erlauben«, sagte der General zum Nechljudow auf sein Gesuch, den Kranken zu sehen. »Ich habe Sie freilich nicht in Verdacht,« sagte er, »aber Sie interessieren sich für ihn und für die anderen, und Sie haben Geld. Hier bei uns ist aber alles käuflich. Man sagt mir: Rotte die Bestechlichkeit aus. Aber wie ist sie denn auszurotten, wenn alle bestechlich sind. Und je niederer dem Range nach, desto bestechlicher. Nun, wie soll ich über fünftausend Werst weit weg sehen? Er ist dort ein kleiner Zar. Ebenso wie ich hier«, und er lachte auf. »Sie haben ja sicher die Politischen besucht, Sie gaben Geld, und man ließ Sie zu?« sagte er lächelnd. »Nicht wahr?«

»Ja, das ist wahr.«

»Ich begreife, daß Sie so handeln mußten. Sie wollen einen Politischen sehen. Und Sie bedauern ihn. Der Inspektor aber oder der Eskortierende nimmt Geld, weil sein Gehalt zwei Zwanziger ist, er hat Familie und er kann nicht umhin, es zu nehmen. An seiner und an Ihrer Stelle würde ich ebenso, wie Sie und er, gehandelt haben. Aber auf meiner Stelle erlaub' ich mir nicht, von dem strengsten Buchstaben des Gesetzes abzuweichen, und gerade darum, weil ich ein Mensch bin und durch Mitleid hingerissen werden kann. Nun ist diese Frage zu Ende. Jetzt erzählen Sie mir, wie es bei Ihnen in der Metropole geht?«

Und der General begann auszufragen und zu erzählen, während er offenbar Neuigkeiten zu erfahren wünschte und zugleich seine Bedeutung und Humanität zeigen wollte.

 

»Und nun, bei wem sind Sie denn abgestiegen? Bei Djuk? Na, auch dort ist es schlecht. Kommen Sie lieber zu uns zum Mittagessen,« sagte der General, den Nechljudow entlassend, »um fünf Uhr. Sprechen Sie englisch?«

»Ja.«

»Na, das ist schön. Sehen Sie, ein Engländer, ein Reisender ist hierher gekommen. Er studiert die Verbannung und die Gefängnisse in Sibirien. Nun also, er wird bei uns zu Mittag essen, und Sie, fahren Sie auch vor. Wir essen um fünf, meine Frau verlangt Pünktlichkeit. Dann werde ich Ihnen auch die Antwort geben, sowohl was man mit dieser Frau tun soll, wie in bezug auf den Kranken.«

Nechljudow verabschiedete sich von dem General und fuhr auf die Post, indem er sich in einer besonders aufgeregt-tätigen Gemütsverfassung befand, wie er fühlte.

Das Postamt war ein niedriges Zimmer mit gewölbter Decke; hinter dem Pult saßen die Beamten und gaben dem sich drängenden Volk die eingetroffenen Briefe aus. Man ließ Nechljudow nicht lange warten, und als man seinen Familiennamen erfahren, übergab man ihm sofort seine ziemlich große Korrespondenz. Nachdem Nechljudow seine Briefe erhalten, ging er zu einer hölzernen Bank, auf der ein Soldat mit einem kleinen Buche saß und auf etwas wartete. Nechljudow ließ sich neben ihm nieder und sah die erhaltenen Briefe durch. Unter denselben befand sich ein eingeschriebener Brief – ein ausgezeichnetes Kuvert mit einem scharfen Siegel aus hellrotem Siegellack. Er brach den Brief auf, und als er Selenins Brief mit irgend einem offiziellen Papier gewahr wurde, empfand er, wie das Blut ihm ins Gesicht stürzte und das Herz sich zusammenzog. Das war die Entscheidung über die Sache der Katjuscha. Was für eine Entscheidung war es? War es wirklich eine Ablehnung? Nechljudow durchflog den in einer winzigen, schwer lesbaren, harten, gebrochenen Handschrift geschriebenen Brief und atmete freudig auf. Die Entscheidung war günstig.

»Lieber Freund!« schrieb Selenin. »Unser letztes Gespräch hat in mir einen starken Eindruck hinterlassen. Du hast Recht gehabt in bezug auf die Maslowa. Ich habe die Sache aufmerksam durchgeprüft und habe eingesehen, daß in bezug auf sie eine empörende Ungerechtigkeit begangen worden ist. Wieder gut machen konnte man nur in der Bittschriftenkommission, bei der du auch eine Bittschrift eingereicht hast. Es gelang mir, bei der Entscheidung der Sache dort etwas mitzuwirken, und nun schicke ich Dir eine Kopie der Begnadigung an die Adresse, die mir die Gräfin Jekaterina Iwanowna gegeben hat. Das Original ist an den Ort, wo sie während des Gerichts festgehalten worden, abgesandt und wird wahrscheinlich sofort an die sibirische Hauptverwaltung abgegangen sein. Ich beeile mich, Dir diese angenehme Nachricht mitzuteilen. Freundschaftlich drücke ich Dir die Hand. Dein Selenin.«

Der Inhalt des offiziellen Papiers selbst war folgender: »Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät, – betreffend den Empfang der an die allerhöchste Instanz einzureichenden Bittschriften Sektion so und so. Tisch so und so. Datum. Auf Befehl des Obervorstehers der Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät »betreffend den Empfang der an die allerhöchste Instanz eingereichten Bittschrift wird der Kleinbürgerin Jekaterina Maslowa kund gemacht, daß Seine Kaiserliche Majestät nach dem alleruntertänigsten Vortrag an Sie der Bittschrift der Maslowa gnädigst Gehör geschenkt und geruht hat allerhöchst zu befehlen, die ihr zudiktierte Zwangsarbeit mit Ansiedelung in einer nicht sehr entfernten Gegend Sibiriens zu vertauschen.«

Die Nachricht war freudig und wichtig: es geschah alles das, was Nechljudow für Katjuscha, aber auch für sich selber wünschen konnte. Freilich brachte diese Änderung ihrer Lage neue Verwicklungen in seine Beziehungen zu ihr. So lange sie eine Zwangsarbeiterin blieb, war die Ehe, die ihr Nechljudow angeboten, fiktiv und nur insofern von Bedeutung, daß sie ihre Lage erleichterte. Jetzt aber stand nichts im Wege für ein gemeinsames Leben. Dazu aber war Nechljudow nicht vorbereitet. Außerdem – ihre Beziehungen zu Simonsohn? Was bedeuteten ihre gestrigen Worte? Und wenn sie einwilligte, sich mit Simonsohn zu vereinigen, wäre es gut oder schlecht? Er konnte sich in diesen Gedanken auf keine Weise zurechtfinden und hörte auf, daran zu denken. ›Alles dies wird sich nachher zeigen,‹ dachte er, ›jetzt aber muß man möglichst schnell sie sehen und ihr die freudige Nachricht mitteilen und sie befreien‹. Er glaubte, daß die Kopie, die er in Händen hatte, dazu genügen würde. Und als er das Postamt verließ, hieß er den Kutscher ins Gefängnis fahren.

Trotzdem der General am Morgen ihm den Besuch des Gefängnisses nicht gestattet hatte, beschloß Nechljudow dennoch – er wußte aus Erfahrung, das oft das, was bei den obersten Vorgesetzten durchaus unmöglich zu erreichen ist, bei den niederen leicht erreicht wird – zu versuchen, jetzt in das Gefängnis zu dringen, um der Katjuscha die freudige Nachricht zu überbringen und vielleicht auch sie zu befreien, zugleich sich nach Kryljzows Gesundheit zu erkundigen, um ihm und der Maria Pawlowna mitzuteilen, was ihm der General gesagt hatte.

Der Gefängnisinspektor war ein sehr hoher, dicker und imposanter Mann mit einem Schnurrbart und einem Backenbart, der sich zu den Mundwinkeln hinzog. Er empfing den Nechljudow sehr streng und erklärte ihm gerade heraus, daß er keine Besuche Fremder ohne Bewilligung des Oberbefehlshabers zulassen könne. Auf Nechljudows Bemerkung, daß man ihn selbst in den Hauptstädten zugelassen habe, antwortete der Inspektor:

»Sehr möglich aber ich pflege niemand zuzulassen.« Dabei sagte sein Ton: ›Die hauptstädtischen Herren glauben, daß sie uns in Verwunderung setzen und stutzig machen können, aber selbst wir in Ost-Sibirien kennen genau die Ordnung und werden sogar euch zurechtweisen‹.

Die Kopie des Schriftstücks aus Seiner Majestät höchst eigener Kanzlei versagte ebenso ihre Wirkung auf den Inspektor. Er lehnte es entschieden ab, den Nechljudow in die Gefängnismauern einzulassen. Auf die naive Vermutung Nechljudows, daß die Maslowa nach Vorweisung dieser Kopie befreit werden könne, lächelte er nur verächtlich und erklärte, daß zur Befreiung eine Verordnung seiner unmittelbaren Obrigkeit da sein müsse. Alles, was er versprach, war, daß er der Maslowa von der stattgefundenen Begnadigung Mitteilung machen werde und daß er sie auch nicht eine Stunde länger behalten werde, sobald er die Ordre von seiner Obrigkeit habe.

Über Kryljzows Gesundheit lehnte er auch ab, irgend welche Mitteilungen zu machen, indem er äußerte, daß er nicht einmal sagen dürfe, ob solch ein Gefangener da sei. So setzte sich Nechljudow, ohne etwas erreicht zu haben, in seine Droschke und fuhr in das Gasthaus.

Die Strenge des Inspektors rührte vorzüglich daher, daß in dem – gegenüber der Norm zweifach überfüllten – Gefängnis, zu der Zeit epidemischer Typhus herrschte. Der den Nechljudow fahrende Fuhrmann erzählte ihm unterwegs, daß im Gefängnis die Leute sich stark verminderten. Irgend ein Siechtum überfiel sie. »Man vergräbt etwa zwanzig Mann täglich.«

 

Trotz des Mißerfolges im Gefängnis fuhr Nechljudow immer in derselben munteren, erregt-tätigen Stimmung in die Kanzlei des Gouverneurs, um sich zu erkundigen, ob man dort nicht ein Schreiben mit der Begnadigung der Maslowa erhalten habe. Es war keine Schrift da, und daher beeilte sich Nechljudow, nachdem er in das Gasthaus zurückgekehrt war, sofort, ohne Verzug, dem Selenin und dem Advokaten deswegen zu schreiben. Nachdem er die Briefe beendigt, blickte er auf die Uhr; es war schon Zeit, zum Mittagessen beim General zu fahren.

Unterwegs fiel ihm wieder der Gedanke ein, wie Katjuscha ihre Begnadigung aufnehmen wird? Wo wird man sie ansiedeln? Wie wird er mit ihr leben? Was wird Simonsohn tun? Welches ist ihr Verhalten gegen ihn? Er erinnerte sich der Änderung, die mit ihr vorgegangen war, dabei gedachte er auch ihrer Vergangenheit.

›Man muß es vergessen, ausstreichen‹, dachte er, und wieder beeilte er sich, den Gedanken an sie zu verscheuchen. Dann wird man sehen, sagte er zu sich und begann darüber nachzudenken, was er dem General zu sagen hatte.

Das Mittagessen bei dem General, mit all dem für den Nechljudow gewohnten Luxus des Lebens reicher Leute und hochgestellter Beamten ausgestattet, war ihm nach langer Entbehrung nicht nur des Luxus, sondern auch der primitivsten Bequemlichkeiten besonders angenehm.

Die Hausfrau war eine Petersburger grande dame von altem Schrot und Korn, ein ehemaliges Hoffräulein an Kaiser Nikolaus' Hof, die natürlich französisch und unnatürlich russisch sprach. Sie war ruhig und etwas gedrückt, achtungsvoll gegen ihren Mann und ungemein freundlich gegen ihre Gäste, wenn auch mit verschiedenen Nuancen im Umgang je nach der Persönlichkeit. Den Nechljudow empfing sie wie ihresgleichen, mit jener besonderen, feinen, unmerklichen Schmeichelei, infolge derer Nechljudow sich aufs neue aller seiner vorzüglichen Eigenschaften bewußt wurde und eine angenehme Befriedigung empfand. Sie gab ihm zu fühlen, daß sie von seiner originellen, so doch ehrlichen Handlung wisse, welche ihn nach Sibirien geführt habe, und daß sie ihn für einen ungewöhnlichen Menschen halte.

Beim Mittagessen waren außer den Hausangehörigen – der Tochter des Generals mit ihrem Mann und des Adjutanten – noch ein Engländer, ein Kaufmann – Inhaber von Goldgruben –, und der zugereiste Gouverneur einer entfernten sibirischen Stadt anwesend. Alle diese Leute waren dem Nechljudow angenehm.

Der Engländer, ein gesunder, rotbackiger Mann, welcher sehr schlecht französisch, aber merkwürdig gut und rethorisch-eindringlich englisch sprach, hatte sehr vieles gesehen und war interessant wegen seiner Erzählungen aus Amerika, Indien, Japan und Sibirien.

Der Gouverneur der entfernten Stadt war jener ehemalige Departementsdirektor, von welchem man so viel gesprochen hatte zur Zeit, wo Nechljudow in Petersburg gewesen. Dies war ein rundlicher Mensch mit gelichtetem, frisiertem Haar, mit zarten, blauen Augen, sehr breit nach unten, mit gepflegten, weißen, von Ringen bedeckten Händen und mit angenehmem Lächeln. Dieser Gouverneur wurde vom Hausherrn dafür geschätzt, daß er allein inmitten der käuflichen Beamten sich nicht bestechen ließ. Die Hausfrau aber, eine große Musikfreundin und selber eine sehr gute Pianistin, schätzte ihn, weil er ein guter Musiker war und mit ihr vierhändig spielte. Die Gemütsstimmung Nechljudows war bis zu solchem Grade wohlbehaglich, daß auch dieser Mensch ihm heute nicht unangenehm war.

Der lustige, energische Offizier mit dem taubenfarbigen Kinn, der Adjutant, der bei jeder Gelegenheit seine Dienste anbot, war wegen seiner Gutmütigkeit angenehm.

Am meisten angenehm aber war dem Nechljudow das liebe, junge Paar – die Tochter des Generals und ihr Mann. Diese Tochter war eine nicht schöne, offenherzige junge Frau, die ganz und gar in ihren zwei ersten Kindern aufging; ihr Mann, den sie, nach langem Kampfe mit den Eltern, aus Liebe geheiratet hatte, ein liberaler Kandidat der Moskauer Universität, ein bescheidener und kluger Mensch, diente und beschäftigte sich mit Statistik, besonders mit der der sibirischen Eingeborenen, die er studierte, liebte und vor dem Aussterben zu retten suchte.

Alle waren nicht nur freundlich und liebenswürdig gegen Nechljudow, sondern, augenscheinlich, war er allen willkommen, als eine neue und interessante Persönlichkeit. Auf die Frage des Generals, was Nechljudow getan habe, nachdem er von ihm gegangen, erzählte dieser, daß er auf der Post gewesen und die Begnadigung derjenigen Person erfahren habe, von welcher er heute morgen gesprochen, und daß er jetzt wiederum um die Erlaubnis bitte, das Gefängnis zu besuchen.

Der General, augenscheinlich unzufrieden, daß man beim Mittagessen von Geschäften spreche, runzelte die Stirn und sagte nichts.

»Wollen Sie Branntwein?« wandte er sich französisch an den hinzugetretenen Engländer. Der Engländer trank und erzählte, daß er heute den Dom und die Fabrik besucht habe, daß er aber noch das große Transportgefängnis sehen möchte.

»Nun, das ist ja ausgezeichnet«, – sagte der General sich an den Nechljudow wendend – »Sie können mitmachen. Geben Sie ihnen einen Passierschein«, – sagte er zu dem Adjutanten.

»Wann wollen Sie dorthin fahren?« fragte Nechljudow den Engländer.

»Ich ziehe es vor, die Gefängnisse am Abend zu besuchen,« sagte der Engländer: »alle sind zu Hause, und es gibt keine Vorbereitungen, sondern alles ist so, wie es ist.«

»Ah, er will es in seiner ganzen Pracht sehen? Lassen wir es ihn sehen. Ich habe geschrieben – man will mich nicht hören. Also mögen sie es aus der ausländischen Presse erfahren«, – sagte der General und trat an den Mittagstisch, wo die Hausfrau den Gästen ihre Plätze wies.

Nechljudow saß zwischen der Hausfrau und dem Engländer. Ihm gegenüber saß die Tochter des Generals und der ehemalige Departementsdirektor.

Beim Mittagessen ging das Gespräch mit Unterbrechungen.

Aber nach dem Mittagessen, im Gastzimmer, beim Kaffee, entspann sich ein sehr interessantes Gespräch mit dem Engländer und der Hausfrau über Gladstone.

Und nach dem guten Mittagessen und Wein, beim Kaffee, in einem weichen Lehnstuhl, inmitten der freundlichen und wohlerzogenen Leute wurde es dem Nechljudow immer angenehmer.

Als nun die Hausfrau auf die Bitte des Engländers zusammen mit dem ehemaligen Departementsdirektor sich an das Piano setzte und die von ihnen gut eingeübte fünfte Symphonie von Beethoven zu spielen begann, fühlte Nechljudow den schon seit langem nicht mehr empfundenen Seelenzustand voller Selbstzufriedenheit, als ob er jetzt erst erfahren hätte, was für ein guter Mensch er sei.

Nechljudow bedankte sich bei der Hausfrau für den schon lange nicht empfundenen Genuß und wollte schon sich verabschieden und fortfahren, als die Tochter der Hausfrau mit entschlossenem Aussehen an ihn herantrat und errötend sagte:

»Sie fragten nach meinen Kindern; wollen Sie sie sehen?«

»Sie meint, daß es allen interessant sei, ihre Kinder zu sehen«, sagte die Mutter über die liebe Taktlosigkeit der Tochter lächelnd. – »Dem Fürsten ist es gar nicht interessant.«

»Im Gegenteil, sehr, sehr interessant«, sagte Nechljudow, von dieser überfließenden, glücklichen Mutterliebe gerührt. – »Bitte, zeigen Sie sie mir.«

»Sie führt den Fürsten, ihre Kleinen zu besehen«, rief der General lachend vom Kartentisch, wo er mit seinem Schwager, dem Inhaber von Goldgruben und dem Adjutanten saß. – »Tun Sie nur Ihre Schuldigkeit.«

Die junge Frau indessen, augenscheinlich aufgeregt dadurch, daß man gleich ihre Kleinen betrachten werde, ging mit raschen Schritten dem Nechljudow voran in die inneren Zimmer. Im dritten, einem hohen Zimmer mit weißen Tapeten, von einer kleinen Lampe mit dunklem Lichtschirm beleuchtet, standen nebeneinander zwei Bettchen, und zwischen denselben saß in einer weißen Pelerine die Kinderwärterin, mit einem sibirischen, gutmütigen Gesicht mit vorstehenden Backenknochen. Die Kinderwärterin stand auf und verneigte sich. Die Mutter beugte sich über das erste Bettchen, in welchem mit offenem Mündchen ein zweijähriges Mädchen mit langen, lockigen, auf dem Kissen zerstreuten Haaren ruhig schlief. –

»Das ist die Kaja«, sagte die Mutter, die gestrickte Bettdecke mit den blauen Streifen zurechtlegend, unter welcher sich langsam ein weißes Füßchen hervorstreckte.

»Hübsch? Sie ist ja erst zwei Jahre alt.«

»Reizend!«

»Und das ist Waßjuk, wie ihn der Großvater benannt hat. Ein ganz anderer Typus. Ein Sibirjak. Nicht wahr?«

»Ein prächtiger Junge«, sagte Nechljudow, den auf dem Bauch schlafenden Dickwanst betrachtend.

»Ja?« sagte die Mutter mit bedeutungsvollem Lächeln.

Nechljudow gedachte der Ketten, der rasierten Köpfe, der Prügel, der Unzucht, des Sterbenden Kryljzow, der Katjuscha mit aller ihrer Vergangenheit. Und er wurde neidisch und bekam Lust nach einem, wie es ihm jetzt vorkam, ebenso schönen, reinen Glück.

Nachdem er mehreremal die Kinder gelobt und dadurch wenigstens teilweise die Mutter, welche diese Lobesworte gierig einsog, befriedigt hatte, ging er ihr nach ins Gastzimmer, wo der Engländer schon auf ihn wartete, um zusammen mit ihm, wie sie es verabredet hatten, ins Gefängnis zu fahren. Nechljudow verabschiedete sich von der alten und der jungen Hausherrschaft und ging mit dem Engländer auf die Vortreppe des Generalshauses hinaus.

Der Engländer hatte seine eigene Equipage, und Nechljudow befahl dem Kutscher des Engländers, ins Gefängnis zu fahren, setzte sich allein in seine Droschke und mit dem schweren Gefühl der Erfüllung einer unangenehmen Pflicht fuhr er hinter ihm her in der auf dem Schnee weich und mühsam rollenden Droschke.

 

Das finstere Gefängnisgebäude mit seiner Schildwache und Laterne vor dem Tor – trotzdem die reine weiße Decke auf allem: der Anfahrt, dem Dache und den Wänden lag – machte einen noch düsteren Eindruck, als am Morgen, durch seine, die ganze Fassade entlang beleuchteten Fenster.

Der großartige Inspektor kam an das Tor heraus, und nachdem er den Passierschein für Nechljudow und den Engländer gelesen, zuckte er bedenklich die mächtigen Schultern, aber gehorsam dem Befehl, lud er die Besucher ein, ihm zu folgen. Er führte sie zuerst in den Hof und dann durch eine Tür rechts und über eine Treppe in das Bureau. Er forderte sie auf, sich zu setzen und fragte, womit er ihnen dienen könne. Als er Nechljudows Wunsch erfuhr, gleich jetzt die Maslowa zu sprechen, schickte er einen Aufseher, sie zu holen, und machte sich bereit, die Fragen zu beantworten, die ihm der Engländer sofort durch Nechljudows Vermittlung zu stellen begann.

»Für wie viel Mann ist das Gefängnis gebaut worden?« fragte der Engländer. »Wie viel Gefangene? Wie viele Männer, Frauen, Kinder? Wie viel Zwangsarbeiter, Verbannte, freiwillig Folgende? Wie viele Kranke?«

Nechljudow übersetzte die Worte des Engländers und die des Inspektors, ohne in ihren Sinn einzudringen, da er für sich selbst vollkommen unerwartet durch die bevorstehende Zusammenkunft mit der Maslowa verwirrt war. Mitten in einem Satz, den er dem Engländer übersetzte, vernahm Nechljudow die sich nähernden Schritte. Als die Bureautür sich öffnete, wie es schon vielemale geschehen war, der Aufseher und hinter ihm die Katjuscha hereintrat, mit einem Kopftuch umbunden, in einer Gefangenenjacke, empfand Nechljudow, da er ihrer gewahr wurde, ein schweres Gefühl.

»Ich will leben, ich will eine Familie, Kinder, will ein menschliches Leben«, flog es ihm durch den Kopf, während sie mit raschen Schritten, ohne die Augen zu erheben, in das Zimmer trat.

Er stand auf, machte einige Schritte ihr entgegen, und ihr Gesicht erschien ihm rauh und unangenehm. Es war wieder ebenso wie damals, als sie ihm Vorwürfe gemacht hatte. Sie errötete und erblaßte; ihre Finger drehten krampfhaft den Saum der Jacke, und bald blickte sie ihn an, bald ließ sie die Augen sinken.

»Sie wissen schon, daß die Begnadigung erfolgt ist?« sagte Nechljudow.

»Ja, der Aufseher hat es mir gesagt.«

»So daß Sie, sobald das Schreiben hier eintrifft, fortgehen und sich ansiedeln können, wo Sie wollen. Wir wollen es überlegen.« Sie unterbrach ihn eilig.

»Was brauche ich zu überlegen? Wo Wladimir Iwanowitsch sein wird, dorthin gehe auch ich mit ihm.« Trotz all ihrer Aufregung brachte sie dies, die Augen erhebend, rasch und deutlich hervor, als ob sie alles das, was sie ihm sagen wollte, im voraus vorbereitet hätte.

»Ach so!« sagte Nechljudow.

»Was soll man denn tun, Dmitrij Iwanowitsch, wenn er will, daß ich mit ihm lebe . . .« Sie blieb erschrocken stecken und korrigierte sich, »daß ich bei ihm sei. Was kann ich mir denn besseres wünschen? Ich muß es für ein Glück ansehen. Was soll ich denn? . . .«

›Eins von beiden: entweder sie liebt den Simonsohn, und sie wollte gar nicht jenes Opfer, das ich zu bringen wähnte, oder sie fährt fort mich zu lieben und eben, weil sie mein Heil will, schlägt sie mich aus und verbrennt für immer ihre Schiffe, indem sie ihr Schicksal mit dem des Simonsohn vereinigt‹, dachte Nechljudow, und er empfand Scham. Er fühlte, daß er rot wurde.

»Wenn Sie ihn lieben?«

»Was lieben oder nicht lieben? Das habe ich schon aufgegeben. Und Wladimir Iwanowitsch ja ist ein ganz besonderer Mensch.«

»Ja, versteht sich« begann Nechljudow. »Er ist ein ausgezeichneter Mensch, und ich glaube . . .« Sie unterbrach ihn wieder, als ob sie befürchtete, daß er etwas Überflüssiges, oder daß sie nicht alles sagen werde.

»Nein, verzeihen Sie mir, Dmitrij Iwanowitsch, wenn ich nicht das tue, was Sie wünschen«, sagte sie, ihm mit ihrem schielenden geheimnisvollen Blick in die Augen sehend. »Ja, es soll, scheint's, so sein. Auch Sie müssen leben.« Sie sagte ihm dasselbe, was er sich eben gesagt hatte. Jetzt aber dachte er nicht mehr so, sondern er dachte und fühlte etwas ganz anderes. Er schämte sich nicht nur, sondern es war ihm auch leid um all das, was er mit ihr verlor.

»Ich habe dies nicht erwartet«, sagte er.

»Wozu brauchen Sie hier zu leben und sich zu quälen? Sie haben sich genug gequält.«

»Ich habe mich nicht gequält, sondern mir ging es gut, und ich wünschte Ihnen noch weiter zu dienen, wenn ich könnte.«

»Uns ist« – – sie sagte »uns« und blickte den Nechljudow an, »uns ist nichts nötig. Sie haben schon sowieso so viel für mich getan. Wenn Sie nicht gewesen wären« – – Sie wollte etwas sagen, ihre Stimme erzitterte.

»Sie haben mir doch wohl nicht zu danken«, sagte Nechljudow.

»Wozu sollen wir abrechnen? Unsere Rechnung wird Gott begleichen«, stieß sie hervor, und ihre schwarzen Augen erglänzten von aufsteigenden Tränen.

»Was für eine gute Frau sind Sie«, sagte er.

»Ich bin gut?« sagte sie unter Tränen, und ein klägliches Lächeln erleuchtete ihr Gesicht.

»Are you ready?« fragte unterdessen der Engländer.

»Directly«, antwortete Nechljudow und fragte sie nach dem Kryljzow.

Sie faßte sich nach der Aufregung und erzählte ruhig, was sie wußte. Kryljzow war unterwegs sehr schwach geworden, und man hatte ihn ins Krankenhaus gebracht. Maria Pawlowna war sehr besorgt und hatte gebeten, daß man sie als Wärterin ins Krankenhaus aufnehme. Aber man hatte sie nicht zugelassen.

»Also soll ich gehen?« sagte sie, als sie bemerkte, daß der Engländer wartete.

»Ich nehme keinen Abschied, ich werde Sie noch sehen«, sagte Nechljudow, während er ihr die Hand reichte.

»Verzeihen Sie«, sagte sie kaum hörbar. Ihre Augen trafen sich. Nach dem seltsamen, schielenden Blick und dem kläglichen Lächeln, mit welchem sie dieses »Verzeihen Sie«, und nicht »Leben Sie wohl«, sagte, begriff Nechljudow, daß von den zwei Vermutungen über die Ursache ihrer Entscheidung die zweite richtig war: sie liebte ihn, und sie dachte, daß sie sein Leben verdürbe, wenn sie sich mit ihm verbände; wenn sie aber mit Simonsohn weggehe, so befreie sie ihn, und sie war jetzt froh darüber, das zu erfüllen, was sie wollte und litt zugleich, da sie sich von ihm trennte.

Sie drückte seine Hand, wandte sich rasch und ging hinaus.

Nechljudow blickte sich nach dem Engländer um, bereit ihm zu folgen, aber der Engländer schrieb etwas in sein Notizbuch ein, Nechljudow setzte sich, ohne ihn zu stören, auf einen an der Wand stehenden kleinen hölzernen Diwan, und plötzlich empfand er eine schreckliche Müdigkeit. Er war müde, nicht von der schlaflosen Nacht, nicht von der Reise, nicht von der Aufregung, sondern er fühlte, daß er schrecklich müde sei vom ganzen Leben. Er stützte sich gegen die Rücklehne des Diwans und fiel augenblicklich in einen schweren totähnlichen Schlaf.

»Wie stehts? ist's Ihnen jetzt gefällig, durch die Kammern zu gehen?« fragte der Inspektor.

Nechljudow kam zu sich und wunderte sich, wo er war.

Der Engländer hatte seine Notizen beendet und wünschte die Kammern zu besehen. Nechljudow, müde und teilnahmlos, ging hinter ihm drein.

 

In einer der Kammern für die Verbannten erblickte Nechljudow zu seinem Erstaunen denselben sonderbaren Alten, den er diesen Morgen auf der Fähre gesehen. Alle Gefangenen, ebenso wie in den anderen Kammern, sprangen auf und machten Front beim Eintritt der Obrigkeit; der Alte aber blieb sitzen. Seine Augen glänzten und seine Augenbrauen zogen sich zornig zusammen.

»Aufstehen!« schrie ihn der Inspektor an.

Der Alte rührte sich nicht und lächelte nur verächtlich.

»Deine Diener stehen vor dir. Ich aber bin nicht dein Diener. Du hast das Malzeichen . . .« sagte der Alte, indem er auf die Stirn des Inspektors zeigte.

»W–a–as?« stieß der Inspektor drohend hervor und rückte ihm näher.

»Ich kenne diesen Mann«, beeilte sich Nechljudow dem Inspektor zu sagen. »Wofür hat man ihn festgenommen?«

»Die Polizei hat ihn wegen Schriftenlosigkeit hierher geschickt. Wir bitten sie, nicht mehr zu schicken, sie schicken aber immer«, sagte der Inspektor, böse nach dem Alten schielend.

»Du bist, scheint es, auch aus dem Heer der Antichrists?« wandte sich der Alte an den Nechljudow.

»Nein, ich bin ein Besucher«, sagte Nechljudow.

»Was denn, kommst du, um zu bestaunen, wie der Antichrist die Leute quält? Nun, sieh her. Er hat die Leute festgenommen, in den Käfig ein ganzes Heer eingesperrt. Die Menschen sollen im Schweiße des Angesichts ihr Brot essen. Er aber hat sie eingesperrt, füttert sie wie Schweine, ohne Arbeit, damit sie Tiere werden.«

»Was spricht er?« fragte der Engländer.

Nechljudow sagte, daß er den Inspektor tadele, weil er die Menschen in der Gefangenschaft halte.

»Wie soll man denn, fragen Sie ihn, diejenigen behandeln, die die Gesetze nicht erfüllen«, sagte der Engländer.

Nechljudow übersetzte die Frage.

Der Alte lachte seltsam auf, indem er seine dichten Zähne entblößte. »Gesetz,« wiederholte er verächtlich, »er hat zuerst alle beraubt, das ganze Land, sämtlichen Reichtum den Menschen entrissen, an sich genommen, alle tot geschlagen, welche gegen ihn gingen, dann hat er das Gesetz geschrieben, daß man nicht rauben, nicht töten solle. – Wenn er vorher dieses Gesetz geschrieben hätte!«

Nechljudow übersetzte, der Engländer lächelte.

»Nun, dennoch – wie soll man denn jetzt die Diebe und Mörder behandeln? fragen Sie ihn.«

Nechljudow übersetzte wieder die Frage. Der Alte runzelte streng die Stirn.

»Sag' ihm, daß er das Malzeichen des Antichrists von sich tun soll, dann werden weder Diebe noch Mörder da sein. Sage ihm gerade das.«

»All right«, sagte der Engländer, als Nechljudow ihm des Alten Worte übersetzt hatte, und die Achseln zuckend ging er aus der Kammer hinaus.

»Tue du das deinige, sie aber laß in Ruh. Jeder für sich. Gott weiß, wer bestraft, wer begnadigt sein soll, wir aber wissen es nicht«, sagte der Alte. »Sei dir selbst ein Vorgesetzter, dann wird keine Obrigkeit mehr nötig sein. Geh, geh«, fügte er hinzu, zornig die Stirn runzelnd und mit den Augen den in der Kammer zögernden Nechljudow anfunkelnd. »Hast dich satt gesehen, wie die Diener des Antichrists die Läuse mit Menschen füttern? Geh, geh.«

Als Nechljudow in den Korridor hinaustrat, stand der Engländer mit dem Inspektor an der geöffneten Tür einer leeren Kammer und fragte nach der Bestimmung derselben. Der Inspektor erklärte, daß es eine Leichenkammer sei.

»Oh«, sagte der Engländer, als Nechljudow es ihm übersetzt hatte und wünschte hineinzugehen.

Die Leichenkammer war ein gewöhnliches, nicht großes Zimmer. An der Wand hing ein Lämpchen und beleuchtete schwach in einer Ecke angehäufte Säcke, Holz und auf einer Pritsche rechts vier Leichname. Die erste Leiche in einem Hanfhemd und Hosen war ein Mann von großem Wuchs mit kleinem, spitzigem Bart und halbrasiertem Kopf. Neben ihm lag eine barfüßige und barhäuptige alte Frau in weißem Rock und weißer Jacke mit kleinem, runzeligem, gelbem Gesicht, spitziger Nase und einem dünnen, kurzen Zöpfchen. Hinter dem alten Mütterchen lag noch eine Leiche, die eines Mannes, in etwas Lilafarbigem. Diese Farbe erinnerte den Nechljudow an etwas.

Er trat näher und begann, ihn zu betrachten.

Ein kleines, spitziges, nach oben ragendes Bärtchen, eine starke, schöne Nase, eine weiße hohe Stirn, dünnes, sich kräuselndes Haar. Er erkannte die vertrauten Züge, aber er traute seinen Augen nicht. Gestern hatte er dieses Gesicht aufgeregt-erbittert, leidend gesehen. Jetzt war es ruhig, unbewegt und zum Fürchten schön. Ja, es war Kryljzow, oder wenigstens jene Spur, die seine materielle Existenz hinterlassen.

›Wozu hat er gelitten? Wozu hat er gelebt? Hat er es jetzt begriffen?‹ dachte Nechljudow, und es schien ihm, daß es keine Antwort gab, daß es nichts gab, außer dem Tod, und es ward ihm schlecht. Ohne von dem Engländer Abschied zu nehmen bat Nechljudow den Inspektor, ihn auf den Hof zu begleiten, und da er die Notwendigkeit empfand, allein zu bleiben, um alles das zu überlegen, was er heute Abend erlebt hatte, fuhr er ins Gasthaus.

 

Ohne sich schlafen zu legen, ging Nechljudow lange in dem Zimmer des Gasthauses hin und her. Seine Sache mit Katjuscha war zu Ende. Er war ihr nicht nötig, und er schämte sich, und es war ihm traurig. Aber nicht das quälte ihn jetzt. Seine andere Sache war nicht nur nicht beendigt, sondern sie marterte ihn heftiger als je und verlangte, daß er sich betätigte. All das schreckliche Übel, das er während dieser Zeit gesehen und erfahren hatte und besonders heute in diesem fürchterlichen Gefängnis, all das Böse, welches auch den lieben Kryljzow zugrunde gerichtet hatte, triumphierte, herrschte, und man sah keine Möglichkeit, seiner Herr zu werden, ja man konnte nicht einmal klar werden, wie es zu besiegen sei. Vor seiner Phantasie erstanden diese Hunderte und Tausende von in verpestete Luft eingesperrten, beschimpften Menschen, die von gleichgültigen Generälen, Prokureuren, Inspektoren eingekerkert werden; er erinnerte sich des seltsamen, die Obrigkeit anklagenden, freien, für wahnsinnig geltenden Alten, und mitten zwischen den Leichen – des schönen toten Wachsgesichtes des in Erbitterung verstorbenen Kryljzow. Und die frühere Frage, ob er, Nechljudow, verrückt sei, oder ob diejenigen verrückt seien, die sich für klug halten und all das tun, erhob sich vor ihm mit neuer Kraft und verlangte Antwort.

Als er vom Gehen und Denken müde wurde, setzte er sich auf den Divan vor der Lampe und schlug mechanisch das ihm von dem Engländer zum Nachdenken gegebene Evangelium auf, das er auf den Tisch geworfen hatte, als er seine Taschen leerte. ›Man sagt, da sei die Lösung für alles‹, dachte er, und, das Evangelium aufschlagend, begann er zu lesen dort, wo es sich auseinanderschlug.

(Matth. Kap. XVIII.)

1. Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größeste im Himmelreich? – las er.

2. Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie.

3. Und sprach: Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, daß ihr euch umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

4. Wer sich nun selbst erniedrigt, wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich. (Matthäi XVIII, 1, 2, 3, 4.)

›Ja, ja, es ist so‹, dachte er, indem er sich dessen entsann, wie er nur in dem Maße Beruhigung und Freude des Lebens gefunden, als er sich selbst erniedrigt hatte.

5. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.

6. Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist. (Matthäi XVIII, 5, 6.)

Wozu steht da: »wer . . . aufnimmt?« und wohin aufnimmt? und was bedeutet: »in meinem Namen?« fragte er sich, da er fühlte, daß diese Worte ihm nichts sagten. ›Und wozu ist der Mühlstein um den Hals und das Meer, wo es am tiefsten ist? Nein, da ist etwas nicht recht: nicht genau ausgedrückt, nicht deutlich‹, dachte er und erinnerte sich, wie er einigemal in seinem Leben sich an das Lesen des Evangeliums gemacht hatte, und wie immer die Undeutlichkeit solcher Stellen ihn abgestoßen. Er las noch die Verse 8, 9, 10 über die Ärgernisse, darüber, daß sie in die Welt kommen müssen, über die Strafe durch das höllische Feuer, in das die Leute geworfen werden, und über irgendwelche Engel der Kinder, die das Angesicht des Vaters im Himmel sehen. ›Wie schade, daß es so verworren ist,‹ dachte er, ›aber man spürt, daß dort etwas Gutes sein muß‹.

11. Denn der Menschensohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.

12. Was dünket euch? Wenn irgend ein Mensch hundert Schafe hätte, und eins unter denselben sich verirrte, läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, gehet hin und suchet das verirrte?

13. Und so sich's begibt, daß er es findet, wahrlich, ich sage euch, er freuet sich darüber mehr, denn über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind.

14. Also auch ist es vor eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß jemand von diesen kleinen verloren werde.

›Ja, es war nicht der Wille des Vaters, daß sie verderben sollten, und nun verderben sie doch zu Hunderten und zu Tausenden. Und es gibt kein Mittel sie zu retten‹, dachte Nechljudow.

21. Da trat Petrus zu ihm und sprach (las er weiter): Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der, der an mir sündigt, vergeben? Ist es genug siebenmal?

22. Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.

23. Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.

24. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig . . .

25. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn, und sein Weib und seine Kinder, und alles was er hatte, und bezahlen.

26. Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen.

27. Das jammerte des Herrn desselben Knechts und ließ ihn los und die Schuld erließ er ihm auch.

28. Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an, und würgte ihn, und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist.

29. Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn, und sprach: habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen.

30. Er wollte aber nicht, sondern ging hin, und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlte, was er schuldig war.

31. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt, und kamen, und brachten vor ihren Herren alles, was sich begeben hatte.

32. Da forderte ihn sein Herr vor sich, und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest.

33. Solletest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?«

›Aber ist es wirklich nur das?‹ schrie Nechljudow plötzlich laut auf, als er diese Worte gelesen hatte. Und die Stimme seines ganzen Innern sagte: ›Ja, nur dies!‹

Und es geschah mit Nechljudow, was oft geschieht mit Menschen, die ein geistiges Leben leben. Es geschah, daß der Gedanke, der ihm zuerst als eine Absonderlichkeit, als ein Paradoxon, sogar als ein Scherz erschienen, plötzlich vor ihm stand, da er ihn immer öfter und öfter im Leben bestätigt gefunden, – als die einfachste, unzweifelhafte Wahrheit. So wurde ihm jetzt der Gedanke klar, daß das einzige unzweifelhafte Mittel der Rettung von jenem fürchterlichen Übel, unter dem die Menschen leiden, nur darin bestand, daß die Menschen sich immer vor Gott schuldig halten sollten und für unfähig, andere Menschen zu bestrafen und zu bessern. Es wurde ihm jetzt klar, daß all das fürchterliche Übel, dessen Augenzeuge er in den Gefängnissen und Kerkern gewesen, und die ruhige Selbstgewißheit derjenigen, die dies Übel hervorbrachten, nur daher rührte, daß die Menschen eine unmögliche Sache tun wollten: daß sie – selber böse – das Böse bessern wollten. Lasterhafte Menschen wollten lasterhafte Menschen bessern und wähnten, es auf mechanischem Wege zu erreichen. Aber aus all dem kam nur das heraus, daß die notleidenden und eigennützigen Leute, indem sie sich aus dieser vermeintlichen Bestrafung und Besserung der Menschen eine Profession gemacht, selber bis zum letzten Grad verdorben wurden und unaufhörlich auch diejenigen verdarben, die sie quälten. Jetzt wurde ihm klar, woher all das Grauen rührte, das er gesehen, und was man tun müsse, um es zu vernichten. Die Antwort, welche er nicht finden konnte, war dieselbe, die Christus dem Petrus gegeben: sie bestand darin, daß man immer allen unendlich oft verzeihen soll, weil es niemand gibt, der selber unschuldig wäre und darum die anderen bestrafen oder bessern könnte.

›Aber das kann ja nicht sein, daß es so einfach wäre‹, sprach Nechljudow zu sich, unterdessen aber sah er unzweifelhaft ein, daß, mochte es ihm, der das Gegenteil gewohnt war, anfangs noch so seltsam erschienen sein, es eine zweifellose und nicht nur theoretische, sondern auch die praktische Lösung der Frage war. Die ewige Erwiderung: was soll man mit Bösewichtern tun, soll man sie denn wirklich unbestraft lassen? verwirrte ihn jetzt schon nicht mehr. Diese Erwiderung könnte eine Bedeutung haben, wenn es bewiesen wäre, daß die Strafe die Zahl der Verbrechen verminderte, die Verbrecher besserte; aber wenn das vollkommene Gegenteil bewiesen ist, und wenn es offenbar ist, daß es nicht in der Macht der eines Menschen liegt, die anderen zu bessern, so ist das einzig Vernünftige, was ihr tun könnt, aufzuhören, das zu tun, was nicht nur nutzlos, sondern schädlich und außerdem unmoralisch und grausam ist. Ihr bestraft schon Jahrhunderte lang die Leute, die ihr für Verbrecher anseht. Wie ist es denn? Sind sie verschwunden? Nicht verschwunden, die Zahl derselben hat sich noch vermehrt, sowohl durch diejenigen Verbrecher, die durch die Strafen verdorben werden, als auch durch die Verbrecher – Richter, Prokureure, Untersuchungsrichter, Kerkermeister – die die Menschen richten und bestrafen. Nechljudow begriff jetzt, daß die Gesellschaft und die Ordnung überhaupt nicht etwa dadurch existiere, weil es diese durch das Gesetz bestätigten Verbrecher gibt, die ihre Mitmenschen richten und strafen, sondern weil die Menschen, trotz dieser Verderbnis, dennoch einander bedauern und lieben.

In der Hoffnung, die Bestätigung dieses Gedankens in demselben Evangelium zu finden, begann Nechljudow, es von Anfang zu lesen. Als er die Bergpredigt, die ihn immer gerührt hatte, gelesen, sah er heute zum erstenmal in dieser Predigt keine abstrakte schöne Gedanken, die meistens übertriebene, unerfüllbare Forderungen aufstellten, sondern die einfache, klare und praktisch erfüllbare Gebote, welche im Falle der Erfüllung (was vollkommen möglich war) eine vollständig neue, ihn verwundernde Einrichtung der menschlichen Gesellschaft herbeiführen würden, bei welcher nicht nur all die Gewalttätigkeit, die den Nechljudow so sehr empörte, von selber verschwand, sondern das höchste dem Menschen zugängliche Heil – Gottes Reich auf Erden – erreicht wurde.

Dieser Gebote waren fünf.

Das erste Gebot (Matt. V, 21–26) war, daß der Mensch nicht nur nicht töten, sondern, daß er nicht einmal seinem Bruder zürnen darf, niemanden für nichtig, für wertlos halten, und wenn er sich mit jemand entzweit, soll er sich mit ihm versöhnen, ehe er Gott seine Gabe darbringt, d.h. betet.

Das zweite Gebot (Matth. V, 27–32) war, daß der Mensch nicht nur nicht ehebrechen darf, sondern er soll den Genuß der weiblichen Schönheit meiden, er soll, wenn er einmal sich mit einer Frau vereinigt hat, ihr nie untreu sein.

Das dritte Gebot (Matth. V, 35–37) bestand darin, daß der Mensch nichts auf seinen Eid versprechen solle.

Das vierte Gebot (Matth. V, 38–42) war, daß der Mensch nicht nur nicht Zahn um Zahn vergelten solle, sondern er soll die andere Backe darbieten, wenn man ihm einen Streich auf eine Backe gibt; er soll Beleidigungen vergeben und sie mit Demut ertragen und niemandem je verweigern, was einer von ihm wünscht.

Das fünfte Gebot (Matth. V, 43–48) bestand darin, daß der Mensch seine Feinde nicht nur nicht hassen, mit ihnen nicht kriegen, sondern sie lieben, ihnen helfen, dienen soll.

Nechljudow heftete seinen Blick auf das Licht der brennenden Lampe und erstarrte. Als er sich all die Gräuel unseres Lebens vergegenwärtigte, stellte er sich klar vor, was unser Leben sein könnte, wenn die Menschen in diesen Regeln erzogen würden, und ein lange nicht empfundenes Entzücken erfaßte seine Seele. Als ob er nach langem Schmachten und Leiden plötzlich Beruhigung und Freiheit gefunden habe.

Er schlief die ganze Nacht nicht, und wie es mit vielen und vielen das Evangelium Lesenden geschieht, verstand er zum erstenmal die vielmal gelesenen und nicht bemerkten Worte, in ihrer ganzen Bedeutung. Wie ein Schwamm Wasser einsaugt, sog er in sich alles Nötige, Wichtige und Freudige, was sich ihm in diesem Buch offenbarte. Und alles was er las, schien ihm bekannt, schien das zu bestätigen und zum Bewußtsein zu bringen, was er schon lange früher gewußt, aber dessen er nicht völlig bewußt geworden und dem er nicht geglaubt. Jetzt aber war er dessen bewußt und glaubte daran. Aber nicht nur, daß er dessen bewußt war und daran glaubte, daß, diese Gebote erfüllend, die Menschen das allerhöchste ihnen zugängliche Heil erreichen werden, er wußte und glaubte jetzt, daß jeder Mensch nichts anderes zu tun habe, als diese Gebote zu erfüllen, daß darin das einzige vernünftige Ziel des menschlichen Lebens sei, daß jede Abweichung davon ein Fehler sei, welcher sofort die Strafe nach sich zieht. Das folgte aus der ganzen Lehre und ward mit besonderer Schärfe und Kraft in dem Gleichnis von den Weingärtnern ausgesprochen. Die Weingärtner hatten sich eingebildet, daß der Garten, in den sie gesandt worden, um für den Herrn zu arbeiten, ihr Eigentum sei; daß alles, was im Garten war, für sie gemacht sei, und daß ihre Sache nur darin bestehe, ihr Leben in diesem Garten zu genießen, den Hausvater vergessend und diejenigen tötend, welche sie an den Hausvater und an ihre Pflichten gegen ihn erinnerten.

›Dasselbe tun wir,‹ dachte Nechljudow, – ›in der absurden Überzeugung lebend, daß wir selber die Herren unseres Lebens seien, daß es uns zu unserem Genuß verliehen sei. Aber das ist ja augenscheinlich absurd. Wenn wir hierher gesandt sind, so ist es ja nach dem Willen irgend jemandes und zu irgend einem Zweck. Und wir haben beschlossen, daß wir nur zu unserer Freude leben, und es ist klar, daß es uns schlecht ist, so wie es dem Arbeiter schlecht ist, der den Willen des Herrn nicht erfüllt. Der Wille des Herrn aber ist in diesen Geboten ausgesprochen. Die Menschen brauchen nur diese Gebote zu erfüllen, und das Reich Gottes wird auf Erden sein, und die Menschen werden das allerhöchste Heil gewinnen, das ihnen erreichbar ist.‹

Trachtet nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit; so wird euch das Übrige zufallen.

Wir aber trachten nach dem Übrigen und, augenscheinlich, finden wir es nicht.

»Da ist sie also, die Sache meines Lebens. Eben ist die eine zu Ende, so fängt die andere an.«

Seit jener Nacht begann für Nechljudow ein ganz neues Leben, nicht so sehr, weil er in neue Lebensbedingungen eintrat, sondern weil alles, was mit ihm seitdem geschah, für ihn eine ganz andere Bedeutung als früher bekam. Womit diese neue Periode seines Lebens enden wird, wird die Zukunft zeigen.

 


 


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