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Erstes Kapitel

Vergeblich bemühten sich einige hunderttausend Menschen, die auf kleinem Raum vereinigt waren, die Erde zu verstümmeln, auf der sie lebten; umsonst erdrückten sie die Erde unter Steinen, damit nichts aufkeimen konnte; umsonst rissen sie das kleinste Grashälmchen aus; umsonst verpesteten sie die Luft mit Petroleum und Steinkohle; umsonst beschnitten sie die Bäume; umsonst jagten sie die Tiere und Vögel fort; der Frühling war, selbst in der Stadt, immer noch der Frühling. Die Sonne strahlte; das Gras begann wie neubelebt wieder zu wachsen, nicht nur auf dem Rasen des Boulevards, sondern auch zwischen den Straßenrinnsteinen; die Birken, Pappeln und Maulbeerbäume entfalteten ihre feuchten und duftenden Blätter; die Linden zeigten ihre dicken, fast schon platzenden Knospen; die Krähen, Sperlinge und Tauben arbeiteten lustig an ihren Nestern; die Bienen und Fliegen summten an den Wänden und freuten, sich, daß die gute warme Sonne wiedergekehrt war. Alles war lustig, die Pflanzen, die Insekten, die Vögel, die Kinder. Nur die Menschen fuhren fort, sich und andere zu quälen und zu betrügen. Nur die Menschen meinten, nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese himmlische Weltenschönheit, die zur Freude aller lebenden Wesen geschaffen war und sie alle zum Frieden, zur Eintracht und Zärtlichkeit zurückführen sollte, wäre wichtig und heilig, nein, wichtig und heilig wäre nur das, was sie selbst ersonnen, um sich gegenseitig zu quälen und zu betrügen.

So wurde es auch in dem Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für wichtig und heilig erachtet, daß die Freude und Wonne des Frühlings den Menschen beschieden war, sondern daß die Beamten dieses Bureaus am vorigen Abend ein mit einem Siegel verschlossenes, am Kopfe mit vielen Nummern versehenes Blatt erhalten hatten, das sie anwies, an demselben Morgen des 28. April 9 Uhr drei Angeklagte, zwei Frauen und einen Mann, jeden getrennt, nach dem Justizgebäude zu bringen, und zwar behufs ihrer Aburteilung. Dieser Anweisung zufolge trat am 28. April um 8 Uhr morgens ein alter Wärter in den düsteren und stinkenden Korridor der Frauenabteilung. Sofort eilte ihm die Aufseherin der Abteilung, ein Geschöpf von kränklichem Aussehen, das eine graue Nachtjacke und einen schwarzen Rock trug, entgegen und sagte:

»Sie wollen die Maslow holen?«

Dann ging sie mit dem Wärter auf eine der zahlreichen, auf den Korridor führenden Thüren zu. Der Wärter steckte mit, lautem Klirren einen dicken Schlüssel in die Thür, die beim Oeffnen einen noch gräßlicheren Gestank aus dem Gange entströmen ließ und rief dann:

»Maslow! Nach dem Justizgebäude!«

Damit schloß er die Thür, blieb unbeweglich stehen und wartete auf die Frau, die er gerufen hatte.

Einige Schritte weiter, auf dem Gefängnishofe, konnte man eine reinere und belebendere Luft atmen, die der Frühlingswind von den Feldern hereintrug. Doch in dem Gefängniskorridor war die Luft drückend und ungesund, es roch nach Theer, Feuchtigkeit und Fäulnis, und niemand konnte diese Luft einatmen, ohne sofort eine düstere Traurigkeit zu empfinden. Das fühlte auch die Aufseherin der Abteilung, so sehr sie auch an diese verpestete Luft gewöhnt war. Sie kam vom Hofe und verspürte, als sie den Korridor kaum betreten hatte, ein Gemisch von Unbehagen und Müdigkeit.

Hinter der Thür, im Zimmer der Gefangenen, herrschte große Aufregung; man hörte Stimmen, Gelächter und Schritte nackter Füße.

»Na, vorwärts, tummle dich!« rief der alte Wärter und öffnete von neuem die Thür.

Einen Augenblick später kam eine kleine, aber wohlgebaute, junge Frau schnell aus dem Zimmer. Sie trug einen grauen Leinenkittel über ihrer Nachtjacke und ihrem weißen Rock. An den Füßen hatte sie leinene Strümpfe und grobe Gefangenenschuhe. Ein weißes Tuch bedeckte ihren Kopf und ließ einige Locken sorgfältig frisierter schwarzer Haare sehen. Auf dem ganzen Gesicht der Frau lag jene eigentümliche Blässe, die man nur bei Personen bemerkt, die sich lange Zeit in einem geschlossenen Raum aufgehalten haben. Noch um so mehr trat in der matten Blässe der Haut der Glanz der beiden großen, schwarzen Augen hervor, von denen eines ein bißchen schielte; das Ganze machte den Eindruck einer freundlichen Anmut. Die junge Frau hielt sich sehr gerade, so daß ihre starke Brust hervortrat.

Auf dem Korridor neigte sie leicht den Kopf und sah dem alten Aufseher fest in die Augen; dann blieb sie stehen und schien bereit, jedem Befehle zu gehorchen. Indessen schickte sich der Wärter an, die Thür wieder zu schließen, als sich diese noch einmal öffnete und das düstere Gesicht eines alten Weibes erschien. Dasselbe hatte weiße Haare und war barhäuptig. Die Alte begann leise auf die Maslow einzusprechen; doch der Wärter stieß sie schnell in die Stube zurück und schloß die Thür. Nun näherte sich die Maslow einem in der Thür angebrachten Guckfenster; und das Gesicht des alten Weibes zeigte sich sofort auf der andern Seite. Man hörte durch die Thür eine heisere Stimme:

»Gieb acht, und habe vor allen Dingen keine Furcht!

Leugne alles; halt' dich gut; das ist die Hauptsache!«

»Ah bah,« versetzte die Maslow kopfschüttelnd, »eins oder das andere, das ist alles eins! Es kann mir nichts Schlimmeres passieren, als was ich jetzt habe!«

»Na, gewiß ist es eins und nicht zwei,« sagte der alte Wärter, auf seine geistreiche Bemerkung äußerst stolz. »Na, vorwärts, folge mir!«

Der Kopf des alten Weibes verschwand von dem Guckfenster, und die Maslow betrat, mit leichtem Schritt hinter dem alten Wärter hergehend, den Korridor. Sie gingen die Steintreppe hinunter, an den stinkenden, lärmenden, Sälen der Männerabteilung vorbei, wo neugierige Blicke sie auf ihrem Wege durch die Thürluken beobachteten, und kamen endlich in das Gefängnisbureau. Dort standen bereits zwei Soldaten, mit dem Gewehr im Arm, die auf die Gefangenen warteten, um sie nach dem Gerichtsgebäude zu bringen. Der Aktuar schrieb etwas ein und übergab einem Soldaten ein stark nach Tabak riechendes Blatt Papier. Der Soldat steckte es in den Aermelaufschlag seines Mantels, blinzelte seinem Gefährten, auf die Maslow deutend, pfiffig zu und stellte sich zu ihrer Rechten, während der andere Soldat auf die linke Seite trat. So verließen sie das Bureau, gingen durch den äußeren Hof des Gefängnisses, durchschritten das Gitter und standen bald auf dem Straßenpflaster der Stadt.

Die Kutscher, Ladenbesitzer, Arbeiter und Beamte blieben unterwegs stehen und betrachteten neugierig die Gefangene. Mehrere dachten kopfschüttelnd: »Das kommt vom schlechten Lebenswandel, wenn man nicht so brav ist, wie wir!« Auch, die Kinder blieben stehen, doch in ihre Neugier mischte sich eine gewisse Angst, und sie beruhigten sich kaum bei dem Gedanken, daß die Verbrecherin ja von Soldaten bewacht wurde, so daß sie nicht mehr schaden konnte. Ein Bauer, der auf der Straße Kohlen verkaufte, trat auf sie zu, machte das Zeichen des Kreuzes und wollte dem Weibe eine Kopeke geben; doch die Soldaten litten es nicht, weil sie nicht wußten, ob es gestattet war.

Die Maslow bemühte sich, so schnell zu gehen, wie es ihre des Gehens ungewohnten Füße, die von den schweren Gefängnisschuhen noch mehr gehindert wurden, gestatteten. Ohne den Kopf zu bewegen, beobachtete sie die Leute, die sie beim Vorübergehen ansahen, und freute sich, der Gegenstand so großer Aufmerksamkeit zu sein; sie sog auch mit Behagen die sanfte Frühlingsluft ein, als sie aus der ungesunden Gefängnisatmosphäre kam. Als sie an einem Mehlladen vorüberkam, vor dem einige Tauben herumstolzierten, stieß sie an eine blaue Holztaube mit dem Fuße an. Der Vogel flatterte auf und berührte das Gesicht des jungen Weibes, das den Hauch seiner Flügel auf ihrer Wange spürte. Sie lächelte, stieß aber gleich darauf einen Seufzer aus, als ihr das Gefühl ihrer traurigen Lage wieder in den Sinn kam.


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