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Von Sixt kann man in das Tal der Arve gelangen, indem man eine Kette hoher Berge überschreitet, die sich zwischen Cluses und Sallenches ausdehnen. Dieser Übergang ist kaum bekannt und wird nur von Schmugglern benutzt, die in dieser Gegend reichlich vorhanden sind. Diese kühnen Leute versehen sich in Martigny im Wallis mit Waren; dann machen sie sich, beladen mit riesigen Traglasten, auf den Weg und steigen über unzulängliche Pässe in die Täler von Savoyen herab, während die Zollbeamten treue Wache am Saume des Landes halten.
Zollbeamte, das sind Leute, die eine Uniform tragen, schmutzige Hände und eine Pfeife im Munde haben. Sie sitzen an der Sonne und tun nichts, bis ein Wagen vorbeikommt, der bei ihnen einzig nur darum vorüberfährt, weil er auch nicht eine Spur von zollbarer Ware mit sich führt.
»Hat der Herr nichts zu verzollen?«
»Nein.«
Und nun sind sie auch schon dabei, trotz dieser entschiedenen Antwort, und öffnen die Koffer und wühlen mit den eben gekennzeichneten Händen in der weißen Wäsche, den seidenen Kleidern und den Taschentüchern. Der Staat bezahlt sie dafür, dieses Gewerbe auszuüben. Mir ist das stets komisch vorgekommen.
Schmuggler sind Männer, die bis an die Zähne bewaffnet und stets bereit sind, jeden Zollbeamten mit einer Kugel zu durchbohren, der auf den Gedanken kommen sollte, auf dem Wege herumzuspazieren, den sie sich vorbehalten haben. Glücklicherweise gehen die Zollbeamten, die eine Ahnung von diesem Umstand haben mögen, dort nicht spazieren, sondern vergnügen sich anderswo. Mir ist das stets als ein Zeichen von Takt bei den Zollbeamten erschienen.
Zoll und Schmuggel, zwei Geschwüre unserer Gemeinwesen. Die Zollinien sind ein Gürtel von Lastern, von Liederlichkeit, der ein Land einschließt. Die Schmuggelzüge sind eine bewunderungswürdige Schule für Raub und Verbrechen, aus der jährlich gute Schüler hervorgehen, die der Staat sich verpflichtet fühlt, später mit geringen Kosten in den Gefängnissen und Bagnos zu beherbergen und zu ernähren.
Mit den Zollbeamten habe ich oft genug zu tun gehabt. Meine Hemden haben die Ehre gehabt, auf allen Grenzen von den Beamten aller Regierungen, absoluter und anderer, betastet zu werden. Bei dem Worte »Hemd« fällt mir eine Geschichte ein. Ich reiste nach Lyon. In Bellegarde durchwühlte man unsere Koffer und wollte auch unsere Personen befühlen, aus Furcht vor Uhrenschmuggel, denn Genf ist nicht fern. Ich ließ mir die Verrichtung gutmütig gefallen; aber ein englischer Offizier, der unter den Reisenden war, ließ sich erklären, was man von ihm wollte, zog dann ruhig sein Messer aus der Tasche und erklärte, daß er entzwei schneiden würde »die erste und auch die zweite, der es wagen würde, ihn auch nur von fern zu berühren.«
Es gab einen großen Lärm. Die Zollbeamten wollten durchaus der Dienstvorschrift genügen; aber dieser große Kerl mit der Waterloo-Medaille und seinem scharfgeschliffenen Messer schüchterte sie höllisch ein. Inzwischen wiederholte der Chef mit seiner ganzen Würde: »Durchsuchen Sie diesen Mann!« Und der andere wiederholte mit wachsender Wut. »Komm' Sie an! und ich schneide entzwei die erste, wie auch die zweite und noch die dritte dazu!« Mit dem »dritten« meinte er den Chef.
Die Dinge hätten ein tragisches Ende nehmen können, so groß war die Erbitterung des würdigen Gentleman, als es mir einfiel, vermittelnd einwirken zu wollen. »Möge doch der Herr,« sagte ich, »seine Kleider den Zollbeamten hinreichen, so werden sie die Befehle ausführen, ohne daß seine Würde auch nur im geringsten darunter zu leiden hat.«
Kaum hatte ich so gesprochen, als sich der Engländer auch schon diesen Bedingungen anbequemte; mit Blitzesschnelle zog er seine Kleider aus und warf sie, eins nach dem andern, dem Zollbeamten ins Gesicht. Nackt wie ein Spatz stand er da, und ich werde nie den Anblick vergessen, mit welchem Ausdruck er den Chef mit seinem Hemd zudeckte und dazu sagte: »Da, Elender, da!«
Weniger zu tun gehabt habe ich mit den Schmugglern; indessen gelangte ich in einige Berührung mit ihnen an dem Tage, als ich es mir einfallen ließ, allein von Sixt nach Sallenches durch die Berge gehen zu wollen, von denen ich eben erzählt habe. Den Weg hatte ich mir beschreiben lassen. Eine Stunde bevor man die Höhe erreicht, geht man längs eines kleinen Sees dahin, welcher der See von Gers genannt wird: jenseits desselben folgt man einem Felsgrat, der eine Fläche vereisten Schnees durchstreicht; darauf steigt man zu den Wäldern herab, die nach der Seite von Sallenches den Wasserfall von Arpenas umkränzen. Nach drei Stunden schnellen Steigens entdeckte ich den kleinen See. Es ist ein Weiher, eingekapselt zwischen grünen Abhängen, die sich darin in dunklen Tinten widerspiegeln, während die Durchsichtigkeit des Wassers dem Auge gestattet, bis auf den Grund zu dringen, wo schimmerndes Moos den Boden wie ein Teppich bedeckt. Ich setzte mich an das Ufer der Lache und betrachtete mich darin nach dem Vorbild von Narziß. ... Ich sah mich, wie ich einen Hühnerflügel verzehrte, ohne daß das Vergnügen, mein eigenes Bildnis zu schauen, mich auch nur einen einzigen Bissen versäumen ließ.
Außer meiner Person sah ich in der Lache auch das umgekehrte Bild der benachbarten Gipfel, der Wälder, kurz der ganzen schönen Natur, auch zwei Raben, die, hoch in den Lüften fliegend, mir, in diesem Spiegel gesehen, zu den entferntesten Antipoden zu eilen schienen. Während ich mich damit vergnügte, dieses Schauspiel zu betrachten, schien es mir, daß ein Männer- oder Frauen- oder Tierkopf, jedenfalls irgend etwas Lebendiges sich auf dem Abhang eines Berges bewegt hatte. Es war der Berg, den ich erklimmen wollte. Ich erhob alsbald die Augen, um den Gegenstand selbst zu erkennen, aber ich sah nichts mehr, so daß ich die Erscheinung einer Wellenbewegung auf der Oberfläche des Wassers zuschrieb und mich in der festen Überzeugung auf den Weg machte, mich allein in der Landschaft zu befinden. Da ich aber gleicherweise überzeugt war, irgend etwas gesehen zu haben, so blieb ich von Zeit zu Zeit stehen, um nach der einen und der andern Seite Umschau zu halten, und als ich dem Ort nahe war, wo ich den Kopf zu bemerken geglaubt hatte, ging ich vorsichtig um einige Felsen herum und verdoppelte meine Achtsamkeit.
Unten im Tal hatte man mir eine Geschichte erzählt über das Felscouloir, das ich eben durchkletterte. Ich glaube, es ist Zeit, daß ich sie hier wiedergebe. Achtzehn Schmuggler kamen hier vorbei, ein jeder beladen mit einem Sack Pulver aus Bern. Der letzte in der Reihe nahm wahr, daß sein Sack merklich leichter wurde; er war schon im Begriff, sich dazu zu beglückwünschen, als er geistreicherweise zu ahnen begann, daß die Erleichterung sich vielleicht auf Kosten der Last vollziehen könnte. Es war nur zu wahr. Ein langer Pulverstreifen wurde auf dem Wege sichtbar, den er verfolgt hatte. Das war ein Verlust, aber vor allem war es ein Merkmal, das den Marsch des Trupps verraten und alle bloßstellen konnte. Er rief »halt«, und auf diesen Ruf setzten sich die siebzehn andern gleichzeitig auf ihre Säcke, um einen Schluck Branntwein zu trinken und sich die Stirn abzutrocknen.
Unterdessen eilte der andere, der Geistreiche, den Weg zurück bis zum Anfang des Pulverstreifens. Nach zweistündigem Marsche erreichte er die Stelle und zündete nun den Streifen mit seiner Pfeife an. Zwei Minuten später vernahm er einen großartigen Knall, der sich an den Bergwänden brach, durch die Täler rollte, durch die Schluchten wieder emporstieg und ihm eine wunderbare Überraschung bereitete: es waren die siebzehn Säcke, die von dem brennenden Pulverstreifen erreicht worden und in die Luft geflogen waren, zusammen mit den siebzehn Familienvätern, die auf ihnen gesessen hatten.
Dazu habe ich zwei Anmerkungen zu machen.
Zunächst, daß diese Geschichte eine wahre Geschichte ist, angenehm und erbaulich, ausreichend wahrscheinlich, bewiesen durch die Überlieferung und durch den Felsendurchgang, der immer noch vorhanden ist, wie jedermann sich durch den Augenschein überzeugen mag. Ich halte sie für ebenso gewiß, wie den Übergang Hannibals über den kleinen Sankt Bernhard. Wie beweist man Hannibals Übergang über den kleinen Sankt Bernhard? Man beginnt damit, einen weißen Felsblock am Fuß des Berges zu zeigen, und dann beweist man, daß es derselbe ist, den der Karthager bei seiner Ankunft auf dem Gipfel in Essig zergehen ließ.
Meine zweite Anmerkung ist die, daß in dieser Geschichte siebzehn Leute umkommen; aber bemerken Sie wohl, es bleibt einer übrig, um die Nachricht zu überbringen. Das ist, wenn ich nicht irre, das Zeichen, das entscheidende Merkmal einer Mustergeschichte; denn wenn in einer Schlacht, bei einem Unglücksfall, einer Katastrophe nur wenige umkommen, so ist das kläglich; wenn alle zugrunde gehen, so ist eben alles vorbei. Aber, daß mitten aus einem riesigen Zusammenbruch ein einziger davonkommt, und gerade um die Nachricht davon zu überbringen, das ist das köstlichste in seiner Art und die Freude des Liebhabers. Und darum ist die Weltgeschichte, die griechische wie die römische und die moderne, reich an ähnlichen Zügen.
Es war recht heiß in meinem Felscouloir; jedoch in dieser Höhe wird die Hitze durch die größere Bewegtheit der Luft gemildert; auch nimmt die Schönheit des Schauspiels, das man vor Augen hat, die Seele gefangen und läßt einen die kleinen Unbequemlichkeiten vergessen, die in einer öden Ebene manchmal unerträglich werden. Als ich mich umdrehte, sah ich ganz nahe den Eisdom des Mont Buet... ich glaubte auch, gar nicht weit, etwas zu bemerken, was sich hinter den letzten Fichten bewegte, an denen ich eben vorbeigegangen war; ich konnte mir einbilden, daß es die Füße waren, zu denen ich vorher den Kopf gesehen hatte, und ich setzte deshalb meinen Weg mit wachsender Achtsamkeit fort.
Unglücklicherweise bin ich von Natur sehr furchtsam; ich verabscheue die Gefahr, in der die Helden, wie man sagt, sich wohlfühlen sollen. Ich liebe nichts so sehr wie eine vollkommene Sicherheit, vorn, hinten und auf den Seiten. Der Gedanke schon, daß man bei einem Zweikampf der Unannehmlichkeit ausgesetzt ist, eine Degenspitze seinem rechten Auge gegenüber zu erblicken, hat stets genügt, um mich trotz meines lebhaften Temperaments, mit der größten Umsicht handeln zu lassen, und um meine Empfindlichkeit abzustumpfen, trotz meines leicht erregbaren Stolzes. Und dies hier konnte schlimmer als ein Zweikampf, konnte ein Attentat auf meine Börse oder auf meine Person oder auf beides zugleich sein; und niemand war vorhanden, um die Nachricht zu überbringen! Als mir dieser Gedanke gekommen war, konnte ich keinen andern mehr fassen; er beherrschte mich so sehr, daß ich mich schließlich zwischen den Felsen versteckte, um zu beobachten, was sich hinter meinem Rücken zutrug.
Ich beobachtete ungefähr eine halbe Stunde (es ist recht ermüdend zu beobachten), als ein Mann von üblem Aussehen es wagte, vorsichtig hinter den Fichten hervorzukommen. Er blickte lange in der Richtung der Felsen, zwischen denen ich mich versteckt hatte, dann klatschte er zweimal in die Hände. Auf dieses Zeichen erschienen noch zwei Männer; alle drei beluden ihre Schultern je mit einem dicken Sack und begannen ruhig in die Höhe zu steigen, wobei sie ihre Pfeifen rauchten, die sie wieder in Brand setzten. So kamen sie bald an die Stelle, an der ich, auf die Erde gekauert, beobachtete; sie setzten sich auf ihre Säcke, genau wie die bewußten siebzehn. Unglücklicherweise drehten sie mir den Rücken zu.
Ich hatte alle Muße, meine Beobachtungen fortzusetzen. Die Herren schienen mir sehr gut bewaffnet zu sein. Zu dreien hatten sie einen Karabiner und zwei Pistolen, außerdem den dicken Sack, den meine Einbildungskraft, getreu den Lehren der Geschichte, nicht verfehlte, mit Pulver aus Bern anzufüllen. Und ich zitterte schon bei dem Gedanken an einen Pulverstreifen, als einer von ihnen aufstand, um sich einige Schritte zu entfernen und dabei seine brennende Pfeife auf den Sack legte. Bei diesem Anblick empfahl ich Gott meine Seele und erwartete die Explosion; dabei drängte ich mich dicht an einen Felsblock, auf dessen Schutz ich gerade genug rechnete, um nicht vor Schrecken laut zu heulen.
Der Mann, der sich entfernt hatte, war auf eine Anhöhe geklettert, von wo er einen beobachtenden Blick auf die Straße warf, die sie durchmessen wollten. Dann kam er zu seinen Begleitern zurück. »Man sieht ihn nicht mehr,« sagte er.
»Gleichviel,« sagte der andere, »der Lump genügt, um uns alle zu verkaufen.«
»Und ich wette,« sagte der dritte, »daß er nur aus diesem Grunde so eilig vorwärts läuft. Ein verkleideter Zollbeamter, sag' ich euch. Er stand hier still, um die Witterung zu bekommen, er guckte hierhin und dahin und dorthin...«
»Ach, warum haben wir ihn nicht hinüberbefördert in diesem günstigen Winkel hier? Nur die Toten kehren nicht wieder!«
»Auch Jean-Jean ist nicht wiedergekehrt,« nahm der zweite, der gesprochen hatte, wieder das Wort. »Gerade hier am Fuß dieses Abhangs muß das Loch sein, wo sein Gerippe modert. Als wir ihn festnahmen, wollte sich der Schlaukopf das Aussehen eines Privatmannes geben und warf seinen Karabiner, 's ist der hier, weit von sich. Sein Prozeß war schnell gemacht. Kaum hatten wir ihn, da band ihn Lamsche an einen Baum, Pierre jagte ihm eine Kugel durch die Schläfe, und der Spaßvogel sagte erst hinterher zu ihm: Jean-Jean, sprich dein letztes Gebet!« Ein greuliches Lachen folgte diesen schrecklichen Worten, bis derselbe Kerl aufstand und das Zeichen zum Aufbruch gab. »Donnerwetter,« rief er, als er mich bemerkte, »da haben wir ja die Elster in ihrem Nest, da ist ja unser Freundchen.«
Bei diesen Worten sprangen die beiden andern jählings auf, und ich sah oder glaubte zu sehen, wie eine unzählige Menge von Pistolen auf meine Schläfe gerichtet waren.
»Meine Herren,« sagte ich, »meine Herren, ich... Sie täuschen sich... Erlauben Sie... bitte, senken Sie zuerst die Waffen ... meine Herren, ich bin der anständigste Mensch von der Welt (sie runzelten die Augenbrauen)... bitte, senken Sie Ihre Waffen, die ohne Ihre Absicht losgehen könnten... Ich bin Schriftsteller ... habe mit Zollangelegenheiten auch nicht das mindeste zu tun... bin verheiratet, Familienvater ... senken Sie, ich beschwöre Sie, Ihre Waffen, die mich verhindern, meine Gedanken zu sammeln... Ich verachte die Zollämter. Ich interessiere mich sogar für Ihr mühsames Gewerbe. Sie sind anständige Leute, Sie ermöglichen den Opfern einer gehässigen Fiskalität den Lebensgenuß. Meine Herren, ich habe die Ehre, Sie hoffnungsvollst zu begrüßen.«
»Du bist hier, um uns zu beobachten,« versetzte im Tone eines Cartouche der übelste von den dreien.
»Durchaus nicht, durchaus nicht ... ich bin hier, um...«
»Um uns zu beobachten, um uns zu verkaufen. Wir kennen dich, wir haben dich da unten gesehen, wie du ausspähtest, um dich schautest...«
»... Die schöne Natur, meine Herren, nichts anderes.«
»Die schöne Natur ...! Und der Winkel hier, wo du dich niedergekauert hast? Willst du Gimpel fangen? Schlimmes Gewerbe, das du da treibst. Die Berge gehören uns. Weh' dem, der uns da aufstöbern will. Sprich dein Gebet.«
Er erhob seine Pistole. Ich fiel zur Erde. Die beiden andern traten herzu und alle drei wechselten mit leiser Stimme einige Worte. Nach einem kleinen Verlauf warf der eine ohne weiteres seine Last auf meine Schulter und rief: »Auf.« So war ich auf einmal Teilnehmer an einer Schmuggelexpedition geworden. Es war die erste in meinem Leben, und ich habe mich seitdem so einzurichten gewußt, daß es auch die letzte geblieben ist.
Es scheint, daß in der geheimen Beratung bereits über mein Schicksal entschieden war, denn die Kerle kümmerten sich nicht mehr um mich. Sie gingen still vorwärts und trugen abwechselnd die beiden übrigen Lasten. Gleichwohl versuchte ich stets aufs neue, meine Unschuld zu beteuern, aber ihr geübtes Auge urteilte mehr zu meinen Gunsten, als es alle meine Versicherungen vermochten. Nur eins konnten sie sich noch nicht erklären, warum ich vorsichtig vorwärts gegangen war und um mich geblickt hatte, als ich mich noch allein glauben durfte. Ich gab ihnen den Schlüssel zu dem Geheimnis, indem ich ihnen gestand, welche Erscheinung vor mir in dem kleinen Wassertümpel aufgestiegen war. »Das ist ganz gleichgültig,« sagte der Üble, »unschuldig oder nicht, du kannst uns verraten. Gleich kommen wir in den Wald, da werden wir die Sache erledigen.«
Man wird sich denken können, welchen unheimlichen Sinn ich diesen Worten unterlegen mußte. So hatte ich denn während des Spaziergangs von einer halben Stunde, der uns zum nächsten Walde brachte, reichlich Zeit, mir eine Vorstellung von der Todesangst jemandes zu machen, den man zum Schafott führt. Ich kann versichern, daß jeder mitleidswürdig ist. Dabei war es noch günstig für mich, daß ich unschuldig war und die Möglichkeit hatte, jemandem zu begegnen. Auch stand es mir frei, mich und meine Last in einen recht artigen Abgrund zu stürzen, der sich zu meiner Rechten öffnete. Die erste Aussicht bot sich nicht dar, nach der zweiten verlangte mich nicht, und so kamen wir ohne weiteren Aufenthalt in den Wald. Dort nahmen mir die Herren meine Last ab; dann banden sie mich fest an eine Lärche, und statt mich niederzuknallen, wie sie es mit Jean-Jean gemacht hatten, sagten sie mir: »Wir brauchen einundzwanzig Stunden Zeit. Seien Sie hier recht vergnügt! Morgen, wenn wir wieder vorbeikommen, werden wir Sie losbinden und die Dankbarkeit, denken wir, wird Sie verschwiegen machen.« Danach luden sie ihre Lasten auf und verließen mich.
Ich glaube, noch niemals erschien mir die Natur so schön und strahlend wie in diesem Augenblick. Eigentümlich, aber meine Lärche behinderte mich durchaus nicht. Vierundzwanzig Stunden kamen mir wie eine Minute vor. Diese Wohltäter! Diese anständigen Leute! Ein wenig schroff waren sie gewesen, nun ja, aber sie konnten auch nicht gut anders; sonst waren es achtenswerte Leute, die sich zu benehmen verstanden. Ja, das Leben war mir wirklich aufs neue geschenkt worden. Nach einigen Minuten, als meine schreckliche Furcht von dem Gefühl überströmender Freude abgelöst wurde, überkam mich eine Ohnmachtsanwandlung, und als ich daraus erwachte, rieselten Tränen über mein Antlitz. Ich möchte dieser Erzählung meiner Angstempfindungen, die ja durch die schließliche Lösung einen Beigeschmack von Lächerlichkeit erhalten, nicht auch noch einen Bericht über das, was mein Herz dabei empfand, hinzufügen. Aber warum sollte ich verschweigen, daß ich nach meiner Errettung Gott aus tiefster Seele dankte, und daß die Tränen, die ich mit so viel Inbrunst vergoß, Tränen der Liebe und Dankbarkeit waren, die man in dieser Innigkeit nur für den empfindet, der unser Leben in seiner Hand hält. Ich segnete ihn tausendmal, und die erste Empfindung, die diesem Dankopfer folgte, war der Gedanke an das Glücksgefühl, das mich durchströmen sollte, wenn ich mich wieder inmitten meiner Familie befinden würde. So ungeduldig war ich, mich in ihre Arme zu werfen, daß ich infolge davon zum erstenmal empfand, wie unbequem es ist, seinen Körper in fester Verbindung mit einem Lärchenbaum zu wissen.
Es war zwei Uhr nachmittags. Ich brauchte nur noch dreiundzwanzig Stunden zu warten. Die Örtlichkeit war wild, ganz nahe an der Schneegrenze von Reisenden gar nicht begangen. Aber wenn selbst jemand in der ersten Zeit erschienen wäre, würde ich ihn, glaube ich, in meiner tiefen Hochachtung gegen meine Verfolger, die noch nicht weit sein konnten, gebeten haben, mich nicht zu befreien, ja, sich mir nicht einmal zu nähern. Um vier Uhr jedoch hatte sich meine Hochachtung bereits im direkten Verhältnis des Quadrats der Entfernungen vermindert und zu gleicher Zeit begann mein Lärchenbaum mir, ohne jede Übertreibung, den Rücken in eigener Weise zu zersägen. Aber das brachte mich nicht weiter; wie die Ratte in der Fabel vermochte ich keinen Ausweg zu erspähen, als auf einmal ein Eingeborener auf der Bildfläche erschien.
Dieser Landesbewohner war selbst ein fabelhaftes Wesen. Er trug einen durchlöcherten Hut, Hosen, keine Strümpfe und unter der Nase eine Art Schwarzwald, der offenbar von dem übermäßigen Gebrauch geschmuggelten Tabaks herrührte.
»Holla, he, zu Hilfe, wackerer Mann,« rief ich ihm zu.
Aber anstatt herbeizueilen, blieb er nur stehen und zog eine mächtige Prise ein.
Der savoyardische Bauer ist nicht hinterlistig, aber klug. Er überstürzt nichts, er streckt den Arm nur da aus, wo er klar sieht. Er mischt sich in eine Sache nur dann, wenn er im Hintergrunde weder Händel mit der Obrigkeit, noch Zwist mit seinen Nachbarn, noch irgendeine Reiberei mit den Königlichen Gendarmen zu entdecken vermag; im übrigen ist er der beste Mensch von der Welt; ich sage das in vollem Ernste, da ich es bei vielen Gelegenheiten erprobt habe.
Mein Landesbewohner war also der beste Mensch von der Welt. Aber ein an einem Lärchenbaum festgebundener Mann, – das schien ihm nicht klar zu sein. Das konnte von der Obrigkeit ausgehen, oder von einem andern, oder von sonst woher.
Bevor er sich näherte, wollte er daher erst den Zusammenhang ergründen.
»Schönes Wetter heute,« rief er mir schließlich mit verschmitztem Lächeln zu, als ob ich mir da auf einem Spaziergange eine Annehmlichkeit bereitet hätte. »Wirklich recht schön.«
»Kommt mich doch losbinden, statt mir vom schönen Wetter zu erzählen, Spaßvogel, der Ihr seid!«
»Man wird Sie schon losbinden. Sind Sie hier schon lange so?«
»Seit drei Stunden. Na, los doch, fangt an.«
Er kam zwei Schritt näher. »Das waren wohl Bösewichter die Sie so hergerichtet haben.«
»Das werd' ich Euch alles erzählen, bindet nur erst los.«
Er kam noch drei Schritte näher, und ich glaubte schon, am Ende meiner Drangsal angelangt zu sein, als er mit leiser Stimme und geheimnisvoller Miene von neuem begann: »Sagen Sie mal, waren es gar Schmuggler?«
»Richtig! Ihr habt es getroffen. Die Verbrecher haben mich an diesen Baum gebunden, damit ich von heute auf morgen, wo sie wieder vorbeikommen wollen, sterben soll.«
Diese Worte übten eine wundersame Wirkung auf den Landesbewohner aus.
Er prallte vor Schreck zurück und traf sofort Anstalten, mich allein zu lassen. Nun konnte ich meinen Zorn nicht mehr zurückhalten. Ich beschimpfte ihn und behandelte ihn wie die elendeste Kreatur, die ein menschliches Antlitz besitzt oder vielmehr nicht besitzt. Meine Beleidigungen rührten ihn gar nicht. »Man wird ja sehen,« murmelte er, indem er sich sachte zurückzog, »man wird Sie schon losbinden.« Dann beschleunigte er seine Schritte und verschwand hinter einer Wendung des Fußpfades. Meine Verwünschungen folgten ihm.
Ich wußte nicht, was ich denken oder tun sollte. Meine Lage schien mir durch das, was ich diesem Manne gesagt hatte, noch verschlimmert, da er mich bei den Schmugglern bloßstellen konnte, wenn er nicht gar selbst als ihr Verbündeter zu ihnen gehörte. Meine Einbildungskraft malte sich düstere Bilder aus, und ohne die Sprünge zweier Eichhörnchen, die mir einige Zerstreuung boten, wäre ich sehr unglücklich gewesen. Diese hübschen aber furchtsamen Tierchen glaubten sich allein in dem Gehölz und spielten deshalb mit dem freien Behagen und der Anmut in den Bewegungen, die von der Furcht alsbald vernichtet zu werden, nichts wissen; sie verfolgten einander von Baum zu Baum und überraschten mich durch die Behendigkeit ihrer Sprünge und die feine Zierlichkeit ihres Betragens. Da ich mit dem Lärchenbaum eins zu sein schien, so stieg das eine ahnungslos über mich weg, um auf einen benachbarten Baum zu klettern, auf welchem das andere es von Zweig zu Zweig bis zur Spitze verfolgte. Plötzlich hielten sie beide gleichzeitig inne, was mich vermuten ließ, daß sie von da oben jemanden bemerkten, der sich näherte.
Ich täuschte mich nicht. Ein dicker Mann erschien, gefolgt von dem Manne mit dem Schwarzwald. Der dicke Mann hatte ein dreifaches Kinn, ein Vollmondsgesicht, kleine und unglücklicherweise sehr kluge Augen; er trug einen breitkrempigen Hut und einen langschößigen Rock. Als er mich bemerkt hatte, blieb er beobachtend stehen. »Wer sind Sie,« rief ich ihm zu.
»Der Gemeindeschulze,« antwortete er, ohne einen Schritt näher zu kommen.
»Nun wohl, Gemeindeschulze, ich fordere Sie auf, mich loszubinden, oder mich durch den Untergebenen da, der sich an Ihrer Seite die Nase voll Tabak stopft, losbinden zu lassen.«
»Man wird Sie schon losbinden,« sagten alle beide zu gleicher Zeit. »... Erzählen Sie ein bißchen Ihre Geschichte,« fügte der Schulze hinzu.
Durch die Erfahrung belehrt, hatte ich mir vorgenommen, kein Sterbenswort mehr von den Schmugglern zu sagen. »Meine Geschichte ist sehr einfach. Ich bin von Räubern angegriffen, beraubt, an diesen Baum gebunden worden, und verlange, sofort befreit zu werden.«
»So liegt also die Sache,« meinte der Schulze. »Räuber sagen Sie?«
»Ja, Räuber. Ich wanderte mit einem Maultier, welches mein Gepäck trug, über die Berge. Sie haben mir das Maultier und das Gepäck abgenommen.«
»Aha, so liegt die Sache.«
»Gewiß, so liegt die Sache, und nun Sie alle Umstände kennen, kommen Sie und binden Sie mich sofort los. Vorwärts.«
»So liegt die Sache also,« wiederholte er, ohne näher zu kommen. »Sagen Sie, das wird aber viel Schreiberei kosten.«
»Binden Sie mich doch erst los. Elender! Was soll ich mit Ihrer Schreiberei anfangen?«
»Ja, sehen Sie, wir müssen ein Protokoll aufnehmen, von Rechts wegen.« »Sie werden kein Protokoll aufnehmen. Binden Sie mich erst los.«
»Unmöglich, mein guter Herr. Ich würde ein Versehen begehen. Erst protokollieren, dann losbinden. Ich werde mir Zeugen besorgen. Ich brauche zwei, die imstande sind, ihren Namen zu schreiben. Um die zu bekommen, ist Zeit nötig, das begreifen Sie! Und dann muß ihnen die Versäumnis bezahlt werden, aber der Herr hat ja gewiß die Mittel...« Darauf wandte er sich zu dem Landesbewohner: »Steig hinab zur Pernette, nach Maglan. Sie wird dir zeigen, wo ihr Mann, der Notar ist; dem bestellst du, daß er heraufkommen soll; dann machst du nach Saint Martin, wo du den Kirchenältesten Benaîton triffst. Er ist heute ganz sicher zu Hause, da er die Hochzeit für Chozet einläuten muß. Dem sagst du auch, daß er heraufkommt. Und daß der Notar sein Schreibzeug mitbringt – unseres ist Dienstag bei einer Nachtarbeit umgefallen – und Stempelpapier. Geh, mein Junge, und beeil' dich. Mit seinen Leuten rechnet man erst hinterher ab und kommt dabei nicht zu kurz. Geh, und wenn du durch Veluz kommst, dann sag Jean-Marc, daß seine Stute den Rotz hat und gebrannt werden mußte, daß sie aber im Herbst wieder gesund werden wird. Und nun geh.«
»Zum Teufel mit ihm und Jean-Marc und seiner Stute und mit Ihnen dazu ...! Stumpfsinniger Beamter! Ihr Elenden ohne menschliches Empfinden! Aber halt! Bindet mich los und ich gebe jedem von euch ein Zwanzigfrankstück.«
Bei diesem Vorschlag blieb der Landesbewohner, der sich schon auf den Weg gemacht hatte, stehen, und sperrte die Augen vor Begehrlichkeit groß auf. Aber der Schulze sagte: »Sie werden die Schreiberei und die Kosten bezahlen, und können nachher nach Belieben ein Trinkgeld geben. Ist es groß, wird sich niemand beklagen; aber die Leute im voraus kaufen wollen, da könnten Sie Goldstück auf Goldstück häufen und würden nichts erreichen. Wissen Sie, wir sind hier Schulze vom Vater auf den Sohn, seit Antoine Baptiste, meinem Vorfahr, und eher wird die Arve kein Wasser mehr haben, als daß wir uns durch einen Flecken beschmutzen. Geh du nur,« sagte er zu dem Landesbewohner. »Fassen Sie sich in Geduld, fügte er hinzu, indem er sich zum Gehen anschickte, »ich werde Ihnen einen Schoppen Roten holen, der wird Sie bestens stärken.«
So wurde mir die trostlose aber verdienstliche Anständigkeit dieses Biedermannes ebenso zuwider wie seine Hochachtung vor den Förmlichkeiten. Ich blieb von neuem allein und diesmal gewiß, daß ich erst am folgenden Morgen befreit werden würde. Glücklicherweise war der Abend warm und die Luft von entzückender Reinheit. Die untergehende Sonne fiel wagerecht in den Wald ein, der ihren Strahlen am Tage verschlossen blieb, und die Stämme der Lärchen warfen ihre langen Schatten über den moosigen Boden, der in schimmernden gelblichen Färbungen erglänzte. Einige Bussarde, die ich über meinem Kopfe hatte schweben sehen, waren verschwunden. Raben zogen krächzend durch das Tal der Arve, um ihre nächtliche Ruhestätte zu erreichen; selbst die Berggipfel, die sich allmählich entfärbten, schienen aus der Tätigkeit des Lebens in die Stätte des Schlummers zu sinken. Dieser abendliche Friede, dieses Schauspiel der Natur, die sich in Schatten einhüllt und während der Nacht einschläft, übt auf unsere Seele eine geheimnisvolle Macht aus, die alle Verworrenheit und Sorge auflöst in eine sanfte Melancholie. Trotz der Unannehmlichkeit meiner Lage vermochte ich mich diesen Eindrücken nicht zu entziehen. Bewegten Herzens überdachte ich noch einmal die Stunden dieses stürmischen Tages; je mehr ich mich dabei der am Morgen ausgestandenen Angst erinnerte, desto köstlicher schlürfte ich nun die holde Ruhe des Abends ein und erquickte mich an dem erheiternden Bewußtsein der, wenn nicht sofortigen, so doch gesicherten und nahen Befreiung.
Inzwischen sah ich bei den letzten Strahlen der Sonne in meinem Gesichtskreis einige Männer, Frauen, Kinder, ein ganzes Dorf auftauchen. Die Gestalten standen zwischen der Sonne und mir und hoben sich wie bewegliche Schattenbilder von dem durchsichtigen Laub der tiefer stehenden Lärchenbäume ab; so konnte ich zunächst meinen Schulzen mit seinem Schoppen Wein nicht erkennen. Er war aber dabei, und an seiner Seite der Pfarrer, den der Ruf meines Abenteuers gleichfalls heraufführte. Der Besuch dieses Kirchendieners belebte meine Hoffnungen, und ich war entschlossen, zugunsten meiner Befreiung alle christlichen Tugenden, die ich in ihm entdecken würde, anzurufen.
Der Pfarrer war hochbetagt und schwach; er stieg langsam empor. »O je,« sagte er, als er mich bemerkte, »die Verbrecher haben Sie ja übel eingewickelt, mein Herr; ich grüße Sie.«
Der freie Ton, die offene Art des gütigen Greises entzückten mich. »Sehr übel, in der Tat,« antwortete ich, »entschuldigen Sie, wenn ich mich infolgedessen nicht verneigen, auch nicht meinen Hut abnehmen kann, Herr Pfarrer! Könnte ich mich wohl einige Augenblicke mit Ihnen allein unterhalten?«
»Das Eiligste scheint mir zu sein, daß Sie losgebunden werden,« versetzte er. »Nachher werden wir uns bequemer unterhalten. Antoine,« sagte er zum Schulzen, »ans Werk! Schneiden Sie die Stricke nur durch, so wird's am schnellsten gehen.«
Ich erschöpfte mich in Dankesbezeigungen, und sie kamen wirklich von Herzen. Antoine zog sein Messer und machte sich daran, meine Bande zu zerschneiden; da sprang der Landesbewohner, der ein Auge auf den Strick geworfen und ihn gern unversehrt besessen hätte, herzu, schob das Messer beiseite und löste den Knoten in der Tat in wenigen Augenblicken auf. Kaum fühlte ich mich frei, so drückte ich dem Pfarrer die Hand, und in der ersten freudigen Erregung küßte ich ihn auf beide Wangen. Aber gleich danach empfand ich einen heftigen Schmerz in allen Gliedmaßen; ich war unfähig, meine erstarrten Beine zu bewegen, und genötigt, mich auf der Stelle hinzusetzen. Nun näherte sich Antoine mit seinem Schoppen, während der Pastor durch eines seiner Pfarrkinder sein Maultier holen ließ, um es mir anzubieten. Nachdem er seine Weisungen gegeben, sagte er: »Ich bin bereit. Sie anzuhören.« Und nun setzten sich das ganze Dorf, Frauen, Kinder, Hirten, Schulze und Kirchenältester im Kreise um uns herum. Die Sonne war eben untergegangen.
Ich erzählte meine Geschichte in ihrer schlichten Wahrheit. Die schrecklichen Einzelheiten, unter denen der Tod Jean-Jeans erfolgt war, erfüllten die guten Leute mit Grausen; und als ich die Gotteslästerung wiederholte, welche die Schmuggler zum Lachen gereizt hatte: »Jean-Jean, sprich dein Gebet,« bekreuzten sich alle, Pastor und Pfarrkinder, in ehrfurchtsvollem Schweigen. Dieser Anblick rührte mich, es drängte mich, an diesem naiven Ausdruck einer natürlichen Empfindung teilzunehmen, und so faßte ich unwillkürlich mit der Hand nach meinem Hut und entblößte mein Haupt... Die Pfarrkinder schienen überrascht, der Pfarrer blieb ernst und unbeweglich, und ich ... ich kam etwas aus der Fassung. »Fahren Sie nur fort, fahren Sie fort,« sagte der gute Greis. Ich vollendete meine Erzählung, ohne die übermäßige Vorsicht des Landesbewohners und die löbliche Uneigennützigkeit des Schulzen zu vergessen.
Als ich meine Erzählung beendet hatte, sagte der alte Pfarrer: »Nun, das ist schön.« Dann wendete er sich zu seinen Pfarrkindern: »Ihr andern hört mich an! Ihr zittert vor den Verbrechern, und darum wagen sie alles. Eure Feigheit macht sie erst zu Helden. Aber sehr viel schlimmer ist es noch, daß einige von euch aus diesem abscheulichen Handel Nutzen ziehen. Siehst du es jetzt ein, André, wohin dich deine Leidenschaft für den Tabak gebracht hat, und deine unmäßige Art, über deine Mittel hinaus davon zu verbrauchen? Deine Nase ist vollgestopft, aber du besitzest keine Strümpfe; meinetwegen magst du auch ohne Strümpfe gehen, aber den Tabak, den kaufst du bei den Paschern; und um es nicht mit ihnen zu verderben, wagst du es nicht, wie es doch Christenpflicht ist, einen Mann aus seiner Not zu befreien. Aber weißt du auch, André, daß diese Räuber in der Hölle geröstet werden, daß ihre Leiber nach allen vier Windrichtungen auseinandergezerrt werden? Und ich kann keine Verantwortung für diejenigen übernehmen, die zu ihnen halten. Glaube mir, mein Junge, verbrauche weniger Tabak und kaufe ihn lieber im Laden. Was Antoine anlangt, so hat er geglaubt, richtig zu handeln, und was mehr wert ist, er hat auch wohlgetan. Es ist die Vorschrift, die ihm Fesseln anlegte, nicht seine Neigung.
Bei diesen Worten klopfte der gute Pfarrer Antoine vertraulich auf die Schultern; strahlend über diese öffentliche Belobigung, die ihm vor dem ganzen Dorf für sein vorsichtiges und uneigennütziges Betragen zuteil ward, warf er sich in die Brust, wobei er in der einen Hand seinen Schoppen, in der andern seinen breitkrempigen Hut hielt.
Während dieser Reden war das Maultier angelangt. Man half mir, mich darauf zu setzen, und ich konnte endlich Abschied von meinem Lärchenbaum nehmen. Wir stiegen hinab. Der Schulze hielt die Zügel, der gute Pfarrer plauderte an meiner Seite, dann kamen die Pfarrkinder; und diese malerische Prozession bewegte sich vorwärts in der durchsichtigen Dämmerung, bald zerstreut auf dem Moos des Waldes, bald vereinigt im Grunde einer Schlucht, bald im Gänsemarsch sich über einen schmalen Fußpfad schlängelnd. Nach Verlauf von einer halben Stunde erreichten wir freigelegene Weiden, von denen aus man die andere Seite des Tals der Arve, die schon in tiefer Dunkelheit dalag, bemerken konnte; ein kleines Stück weiter kamen einige Ackerstücke, dann Buchen und ein verfallender Kirchturm. Das war das Dorf.
Als wir dort anlangten, wünschte der Pfarrer allen seinen Leuten guten Abend. »Ihnen mein Herr, biete ich ein Bett und ein Abendessen an. Es ist zwar heute Fasttag, aber ich habe dort oben gesehen, daß Sie kein Katholik sind; so werden wir Sie nach besten Kräften stärken. Martha,« rief er, während er sich dem Pfarrhause näherte, »bereite so schnell wie möglich ein Huhn und gib mir den Kellerschlüssel.« Dann speiste ich zusammen mit diesem ausgezeichneten Manne zur Nacht; er fastete, während ich das Huhn verzehrte. Nachdem wir eine Flasche alten Weins getrunken, die er mir zu Ehren entkorkt hatte, verabschiedete ich mich von meinem Wirt, um endlich die Ruhe zu finden, nach der ich großes Verlangen trug.
Am nächsten Morgen stieg ich nach Maglan hinab. Es war eigentlich meine Absicht gewesen, Chamonix zu besuchen; aber nach so lebhaften Aufregungen und einem so schweren Abenteuer spürte ich nicht die geringste Anwandlung, noch weiter im Lande umherzulaufen; so drehte ich den Bergen den Rücken und beeilte mich, auf dem kürzesten Wege zu meinem heimatlichen Herde zurückkehren.