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»Wenn nur der Vetter nicht wäre, im übrigen wollt' ich nicht gerade dagegen sein, denn der Martin ist ein braver Mensch und versteht sein Handwerk. Freilich die Lene könnte größere Ansprüche machen, so eine schöne, artige Person wie die ist und mit den 300 Gulden, die sie sich zum größten Teil selbst erspart hat! Es haben sie auch schon rechte Männer begehrt, rechte Männer sage ich euch! aber sie wollte ja von keinem etwas hören, nur wegen dem Martin da, und weil ihre beiden Eltern tot und sie mündig ist, kann's ihr niemand wehren. Das Häuschen ist freilich klein und alt und steht auch noch ziemlich Hypothek darauf, aber es sind zwei gute Aecker dabei und mit ihrem Ersparten können sie's abzahlen und bekommen kaum Schulden und was ich immer sage, nur keine Schulden! Freilich der Martin ist Maurer und Steinhauer, wenn ihm ein Unglück zustößt! – man kann nichts wissen, aber sie lieben sich eben und was ich sage »wie sich der Mensch bettet, so liegt er«. Nur der Vetter, der gefällt mir gar nicht; ich sage immer: »allein für sich ist am besten«, da ist man nicht geniert, und vollends so ein krüppelhafter Mensch, den man natürlich auch noch verhalten muß; drum sage ich: »jeder ist sich selbst der Nächste« und bleib dabei: es gefällt mir nicht, daß der Vetter den Sitz im Haus hat. So und noch mehr sprach der Schulze nicht laut, aber doch allen vernehmlich zu seinem Nebensitzer, dem Hans Grot von Winden, der nur leider stocktaub war und keine Silbe von der ganzen Rede vernahm. Er war aber der Vormund der Lene, oder vielmehr das Gericht hatte ihn zu ihrem Pfleger gesetzt, da sie als unmündige Waise beide Eltern verlor, er hatte sie manches Jahr bei sich gehabt, bis sie nach der Konfirmation im nahen Städtchen in Dienst kam. Die Lene hatte dem Hans Grot viel zu danken und betrachtete ihn auch jetzt noch, nachdem sie längst mündig geworden, als ihren Vormund und das tat dem alten Manne wohl.
Es war nämlich heute der sogenannte Heiratstag des Steinhauers Martin Frühroth und der Lene Müller und dabei waren natürlich der Vormund und der Schulze die Hauptpersonen, und da ersterer nicht hörte und fast nichts sprach, so hatte letzterer natürlich das große Wort. Ein Heiratstag wäre zwar bei Martin und Lene nicht nötig gewesen, sie liebten sich seit zwei Jahren und waren miteinander verlobt, aber in meinem fränkischen Dorfe Mühlen war keine richtige Verlobung denkbar ohne Heiratstag, d. h. ohne feste Verschreibung, und da Martin noch mehrere Geschwister hatte und das Häuschen und die Aecker übernehmen sollte, so mußten auch die üblichen Förmlichkeiten eingehalten werden. Zu diesem Zwecke saßen also der Vormund mit dem Brautpaar, den Brüdern des Bräutigams und dem Schulzen um den alten Eichentisch. Der Vetter, dessen Dasein dem Schultheißen so schwere Sorge bereitete, weil er als alleiniges Erbe von den Eltern her den Sitz im Hause hatte, war gleich beim Eintritt des Schulzen mit seinen Krücken in seine Ecke zurück gehinkt, immerhin nahe genug um mit seinen feinen Ohren alles was gesprochen wurde, verstehen zu können.
Als der Schultheiß den Vetter gleich Eingangs seiner Rede als ein Hindernis für Lenes Glück bezeichnete, war es den Anwesenden, als hörten sie seine Krücken leise zusammenklappern, daß es war wie ein schmerzliches Wimmern; und als er am Schluß der Rede nochmals darauf zurück kam, ließ sich der Ton wieder vernehmen, wenn auch ganz leise. Aber jetzt stand der Martin auf, und sprach seine Ansicht aus, und wenn der mit seiner Soldatenstimme, denn er war Unteroffizier gewesen, anfing, dann mußte so ein Schulze, so gut wie die Krücken, gewiß schweigen. Er sprach aber also: »Der Vetter ist unseres Vaters selig jüngster Bruder und er hat sein gutes Recht auf die Kammer droben und auf seinen Schneiderstisch am Ofen und das darf ihm niemand streitig machen und ich kenne meine Lene, die tut's am wenigsten.« Und die Lene drückte heimlich unter dem Tisch ihres Martins Hand und sagte: »Nein, gewiß nicht, der Vetter soll uns ein werter Hausgenosse sein!« Dann erhob sie sich, füllte ein frisches Glas mit Bier, legte einen Wecken auf einen reinen Teller und trat damit vor den Vetter hin. »Euer Wohl, Vetter!« sagte sie liebreich »und auf gute Freundschaft! Darf ich mich da ein wenig zu Euch auf die Ofenbank setzen?«
»Warum nicht?« sagte er zuerst brummig; als er aber den warmen, vollen Blick ihrer braunen Augen auf sich ruhen fühlte, fügte er freundlicher hinzu: »wenn ich euch nur nicht so ein böses Hindernis wäre, wie vorhin der Schulze gesagt hat.«
»Ach, der Schulze!« entgegnete sie halblaut und setzte sich nahe neben den Armen, »wißt Ihr, der ist so ein Neumodischer, die nur für den einzelnen sorgen und nichts vom Zusammenhalten der ganzen Verwandtschaft wissen, Ihr müßt ihm nicht böse sein, Vetter, er versteht's halt nicht, wer weiß, wo er her stammt und ob er nur selbst eine Verwandtschaft hat, und dann, er wollte halt auch was sagen, weil er der Schultheiß ist und weil er am Martin sonst gar nichts auszusetzen weiß« – und als der Vetter noch immer schwieg und nur ein eigen wehmütiges Lächeln seine Antwort bildete, fuhr sie fort: »Der Schulze hier kennt mich auch kaum, er ist noch ein neuer und ich bin schon seit zehn Jahren beim Doktor in Niederstetten, was weiß er da von mir? er denkt nicht daran, daß ich den Martin so gerne hab, daß ich um seinetwillen gar drei so gute, hilflose Vettern wie Euch herbergen würde, und er denkt nicht, daß ich von Natur aus eine besondere Liebe für Tiere und Kinder und noch mehr für gebrechliche hilflose Menschen im Herzen trage und daß es mir wirkliche Freude macht, wenn ich ihnen etwas tun darf; mein Herr Doktor weiß das wohl, er hat immer mich gerufen, wenn er bei seinen Kranken eine Hilfe brauchte, und er sagte oft, ich sollte eigentlich Diakonissin werden, und vielleicht wäre ich es noch geworden ohne den Martin, da ist mir's jetzt wie von Gott geschickt, daß Ihr im Hause seid und ich Euch ein wenig pflegen und helfen kann.«
»Pflege brauche ich gerade nicht,« sagte der Vetter fast rauh; dann aber, als ob er ihrer Freundlichkeit nicht widerstehen könnte, strich er mit seiner dünnen Schneidershand sanft über ihre braunen, warmen, verschafften Hände und sagte lächelnd: »Hab keine Angst, ich mach dir gewiß nicht viel Mühe, aber gute Kameraden laß uns sein, vielleicht können wir beide einander brauchen.« Jetzt klirrten wieder die alten Krücken, als ob sie mitreden wollten. So taten sie immer, wenn das Herz des Vetters bewegt war, denn da berührte er sie stets unwillkürlich, wie andere Menschen die Hände aufs Herz legen, und daher kam der Ton.
Die Lene hatte auch das Klingen gehört, aber es störte sie nicht. »Auf gute Kameradschaft«, sagte sie, »jetzt und allezeit!« und schenkte dem Vetter nochmals das Glas voll.
»Was habt denn ihr zwei dahinten miteinander zu zischeln? ihr fangt beizeiten an, da muß ich nur auch zur Sache sehen!« lachte jetzt der Martin und setzte sich neben seine Lene auf die Ofenbank. »Nun Vetter, wie steht's? wird Euch die neue Hausfrau recht sein?« begann er nach einer Weile.
»Ja!« erwiderte der, »ich denke, sie ist von der rechten Sorte, stark und mitleidig! gerade das, was eine richtige Hausfrau macht. – Gott segne euch, Kinder! und er lasse den Krüppel nicht zur Last für Euch werden,« fügte er leiser hinzu, und Lene war's, als höre sie die Krücken wieder sich regen.
*
Nein, der Vetter wurde dem jungen Ehepaar nie zur Last, im Gegenteil bald zur großen Hilfe. Der Martin war wie gesagt Maurer; in Mühlen wird kaum alle zehn Jahre eine Scheune gebaut oder ein Stall vergrößert, und von der sonstigen Flickarbeit der großen Bauern hätten die guten Leutchen nimmermehr leben können; so war Martin genötigt, auswärts Akkorde anzunehmen, entweder im nahen Städtchen oder in der entfernten Stadt, wo er dann fast den ganzen Sommer und Herbst hindurch von Hause abwesend war. Wie wäre da die Lene so einsam gewesen in dem abgelegenen Häuschen ohne dem Vetter. Hilfe an und für sich konnte er ihr um seiner Gebrechlichkeit willen – er hatte zwei lahme Füße – anfangs freilich wenig leisten, im Gegenteil, sie hatte es bald fertig gebracht, ihm ohne sein Wissen und Wollen allerlei Erleichterungen zu verschaffen. Sie sorgte für seine Wäsche, kochte ihm seinen Brustthee, Kamillenabsud und Holderlatwerge, bereitete seine Wundsalbe und Augenwasser, denn an sich herum zu doktern war seine Schwachheit, und daß Lene zehn Jahre beim Doktor von N., der in der Gegend unendliches Vertrauen genoß, gedient hatte, erhöhte ihren Wert außerordentlich in seinen Augen, und wenn sie ihm eine rechte Freude machen und von seinen schweren Gedanken befreien wollte, durfte sie ihm nur von ihres Herrn Kuren erzählen; das tat sie denn häufig und überhaupt alles, was so einem kränklichen Menschen wohl tut, das erwies sie ihm. Dagegen nähte und schneiderte er mit Geschicklichkeit und großer Pünktlichkeit Manns- und Frauenkleider und was es irgend zu flicken und zu nähen gab im Haus, das war seine Aufgabe. Dadurch bekam Lene manche Zeit frei zum im Tagelohn arbeiten bei den großen Hofbauern, was ihr ein hübsches Stück Geld eintrug; auch brachte sie meist einen Topf Milch oder Mehl, Schmalz, Eier, Flachs und dergl. mit, was die Bäuerinnen ihr gerne neben dem Lohn schenkten, während sie außerdem nur schwer zu bewegen waren, Milch namentlich um Geld zu verkaufen. Das alles kam dem jungen Hausstand sehr zu statten. Kam dann am Samstag der Martin über den Sonntag heim und brachte seinen übrigen Wochenlohn mit, so konnte Lene meist auch ein ganz artiges Sümmchen dazu legen und die beiden freuten sich wie die Kinder und ließen auch den Vetter an ihrer Freude teilnehmen, half er doch wesentlich dazu, indem er Lene aller Näherei überhob.
Das gemeinsame Arbeiten und Verdienen wurde freilich für einige Zeit unterbrochen, als gegen den Frühling hin ein Kindchen zur Welt kam, das Lenes ganze Zeit und Liebe in Anspruch nahm. Es war ein herziger kräftiger Knabe, und die jungen Eltern konnten sich nicht satt sehen an ihrem Erstgeborenen, der ganz die lichten Blondhaare des Vaters und die braunen Augen der Mutter hatte. In dem Kinde wußten sie erst recht, wie sehr sie sich liebten, denn jedes bewunderte an dem Knaben gerade das am meisten, was er vom andern Teil an sich trug. »Solches krause Blondhaar hat nur noch mein Martin«, sagte Lene und streichelte zärtlich das Lockenköpfchen ihres Knaben. »Daß er deine lieben, treuen Braunaugen hat, das macht ihn mir noch am allerliebsten,« versicherte Martin. Und der Vetter hinter seinem Schneidertisch sagte zu sich selbst: es muß doch schön sein, wenn zwei Menschen, die sich lieben, so in einem dritten eins sind; und dabei seufzte er ein wenig und seine Krücken in der Ecke wimmerten leise. Der Vetter sollte aber nicht leer ausgehen, er durfte Gevatter stehen, als nach acht Tagen die Taufe war, und der Kleine wurde ihm zu Ehren auch Franz genannt, das war noch ein weiteres Band, das den Vetter mit dem jungen Haushalt verknüpfte.
Diesmal wurde es dem Martin sehr schwer, sich von den Seinen zu trennen, und doch hatte er eine größere Steinhauerarbeit an der Kirche zu U. angenommen, welche ihn für den ganzen Sommer ferne hielt, mit Ausnahme des Pfingstfestes, das er daheim feiern zu dürfen hoffte. »Ich muß jetzt doppelt auf den Verdienst sehen,« sagte er, »das Kind will erzogen sein und du kannst heuer nichts verdienen, wirst schwer genug tun, mit unserem eigenen Feld fertig zu werden und den Kleinen zu versorgen, laß ihm nur ja nichts abgehen, dem herzigen Kind!« »Natürlich!« erwiderte Lene, »der Kleine muß allem vorgehen.«
Er ging in der Tat allem vor, der kleine Krauskopf; und so hingenommen war die Lene von ihrem jungen Mutterglück, daß sie in der Tat nicht mehr schaffte als ihr Kind versorgen, füttern, baden, waschen, an- und ausziehen, tragen, wiegen und bewundernd ansehen; kaum daß sie sich Zeit nahm, wenn der Kleine schlief, das nötigste im Haus und Gärtchen zu tun und etwas Essen für den Vetter und für sich zu kochen. Für die Aecker, die ihr früher so am Herzen lagen, hatte sie kaum mehr einen Gedanken übrig, und doch wurde es allmählich Zeit die Kartoffeln zu stecken, und der Vetter hatte schon neulich dem Nachbar versprochen, ihm seinen Sonntagsrock zu wenden, wenn er dafür den Frühroths ihren Gerstenacker ansäen würde, was dieser auch gerne getan hatte; auch das Kartoffelland hatte er umgepflügt gegen das weitere Versprechen einer neuen Weste, aber die Kartoffeln harrten noch immer ruhig im Keller, bis Lene sie stecken mochte.
Der Vetter sah der Sache eine Woche lang und noch eine stillschweigend zu, er dachte, sie ist so klug und tüchtig, sie wird den Weg zur Arbeit zurück schon von selbst wieder finden. Doch diesmal hatte er sich in ihr getäuscht, sie fand den Weg nicht so schnell und der Vetter fühlte, er müsse reden, denn es war auch kein Ausruhen für die Lene; je mehr sie nämlich an dem Büblein herum machte, ihn stundenlang auf und ab trug, desto unruhiger und begehrlicher wurde er, bald wollte er auch nicht mehr in der Wiege schlafen, sondern sogar nachts getragen sein. Als der Vetter sah, wie auch der Kleine bei den unruhigen Nächten und der aufgeregten Pflege nicht zunahm, sondern eher zurückging, da paßte er die Gelegenheit endlich einmal ab und tat seine große, längst studierte Rede über die Thorheit der Mütter, welche ihre Kinder verwöhnen und verderben aus lauter unverständiger Affenliebe, und machte ihr deutlich, wie sie selbst und das Kind an solchem Wesen zu Grunde gehen müsse; und, schloß er endlich seine Predigt, was wird das Ende sein, selbst wenn ihr das Leben davon bringt, du und das Kind? Dein Haushalt ist ruiniert, bis der Martin zurückkommt, er fühlt sich unglücklich, wenn er sieht, du lebst nur noch allein für den Buben, er verliert die Achtung vor dir, die Liebe zu euch beiden, er sucht sein Vergnügen anderswo und ergiebt sich dem Wirtshaus, und dann ade Glück und Segen!
»Mein Martin aufhören mich zu achten und seine Freude im Wirtshaus suchen! der Vater den herzigen Buben nicht mehr lieben!« rief Lene bleich vor Schrecken, denn des Vetters eindringliche Rede war ihr in alle Glieder gefahren, »was kann ich aber machen? Der Martin sagte doch selbst noch beim Scheiden: laß dem Kind nichts abgehen, Lene! da muß ich ihn doch pflegen, und wenn er nicht ruht, muß ich ihn beruhigen, er läßt sich aber nur beruhigen, wenn ich ihn trage, bei Tag wie bei Nacht; ach Gott, was soll ich nur anfangen, Vetter? wißt Ihr mir keinen Rat?« Dabei schaute das arme Weib so hilflos aus ihren müden, braunen Augen, daß es den Vetter ordentlich erbarmte.
»Laß mir den Kleinen zu Hause, gieb ihm zu trinken, ehe du gehst und besorge ihn sonst gut, stelle ihn mit der Wiege neben meinen Tisch, dann gehe aufs Feld und fange endlich an, die Kartoffeln zu stecken; ich will schon für das Fränzchen sorgen. Kommst du dann gegen Mittag heim, so wirst du sehen, wir leben noch, und es schmeckt ihm nur desto besser für ein wenig Warten, und nachmittags machen wir's ebenso.« Der Vetter mochte wohl vernünftig sprechen und guten Rat erteilen, es war aber ein schweres Stück Arbeit, die schwache Mutter so weit zu bringen, wie es der Vetter meinte und für nötig hielt. Erst brachte sie hundert Ausflüchte vor, des Vetters Unbequemlichkeit, des Bübleins Zartheit, ihre eigene Schwäche und Müdigkeit, zuletzt noch das Wetter, das gar nicht schöner gedacht werden konnte, bis alle diese und noch viele andere Gründe überwunden waren und die arme Frau endlich fort auf das Feld gebracht war.
Lange hielt sie es freilich nicht aus, und noch ehe es Zeit zum Kochen war, stand sie wieder da; auch am Nachmittag kam sie mehrmals nach Hause, bald reichten ihr die Saatkartoffeln nicht, die sie mitgenommen hatte, bald war ihr die Haue zu schwer und sie kam, eine leichtere zu holen und so fort. Auch die folgenden Tage waren noch eine schwere Zeit für den armen Vetter, bis es doch allmählich besser wurde und ein Zug in die Sache kam, indem die alte Arbeitslust in ihrem Herzen sich zu regen begann; und als sie sah, wie geschickt und liebreich der alte Franz den jungen behandelte und wie gut sich dieser dabei befand, wurde sie endlich ruhig und vernünftig. Da sie sich des Tags über müde arbeitete, schlief sie nachts auch besser, sie konnte nicht mehr nach jedem Atemzug des Knäbleins horchen und bei jeder Bewegung, die es machte, es herausreißen; so gewöhnte es sich auch an einen festern Schlaf und der Vetter freute sich im stillen der ruhigeren Nächte und sah mit Befriedigung, daß des Kindes wie der Mutter Wangen sich wieder zu runden begannen.
Bis Lenes Aecker bestellt, ihr Haushalt und Gärtchen in Stand gesetzt war, hatte der Kleine sich trefflich gewöhnt, in seinem Wägelchen vor dem Haus oder in der Stube neben dem Schneiderstisch unter des Vetters treuer Obhut stundenlang stille zu liegen, mit seinen Füßchen oder seinen Fingerchen zu spielen, oder nach den Vögeln in der Luft, den Blättern der nahen Linde, oder dem glänzenden Knopf auf dem Kirchturm zu sehen, wobei er oft hellauf lachte und kreischte vor Vergnügen. Darüber freute sich der Vetter unsäglich und er sah es gar nicht ungern, daß die Lene dem Zudrängen der Bauern nachgebend wieder in Taglohn ging, nur daß »sein Franz« nicht wieder verwöhnt würde. Die Lene hatte aber noch einen anderen Grund dafür, nämlich die Milch. Eine so gute Schafferin wie die Maurer-Lene gab es nicht mehr im Dorf, und die Bauern rissen sich so um sie, daß jeder gerne neben dem Tagelohn ihr eine Milch mit heim gab. Das war es aber hauptsächlich, was das Kind bedurfte und für Geld schwer zu bekommen war.
»Eine Kuh, wenn wir eine Kuh hätten,« das war von Anfang ihrer Ehe Lenes heißer Wunsch und seit das Kind da war, noch viel mehr. »Eine Kuh, wenn ich eine Kuh hätte, Vetter! An allen Rainen, am Waldrand, in den Aeckern, überall wächst Gras, die großen Hofbauern achten's nicht, und es wird mit den Füßen zertreten und verkommt so, und ich, wie fleißig wollt ich sein mit grasen und sicheln! was ich jetzt mit Taglohn verdiene, zweimal käm mir's herein durch Butter und Milch, die ich verkaufen könnte im Städtchen drunten, wo mich jedermann kennt, und für den Kleinen und für Euch, Vetter, bliebe noch lange genug übrig und ich hätte nicht immer nötig, für jeden Tropfen, den sie mir geben, mich extra zu bedanken, obgleich er sauer verdient ist – o so eine Kuh! es ist die halbe Nahrung, meint Ihr nicht auch, Vetter?« Das war das Lied, das sie ihm gar oft vorsang. Zuweilen schwieg der Vetter dazu und ließ nur, wenn's ihm zu viel war, die alten Krücken ein wenig klirren, zuweilen ging er aber auch auf ihre Gedanken ein und vertröstete sie auf später.
»Ohne eine Wiese,« sagte er, »geht's eben doch schwer; denk nur, an den langen Winter, was da so ein Vieh frißt; wenn ich dir zu Rate bin, warte noch, bis einmal eine Wiese feil wird.«
Auf Pfingsten kam der Martin für einige Tage heim. Ach, war das eine Wonne, als Lene ihm den Kleinen entgegentrug und ihm seine beiden Zähnchen zeigte, und wie aufrecht er sein Blondköpfchen hielt, und wie er lachte, wenn man mit ihm schäkerte! Der Martin wußte gar nicht was sagen vor Freude und Rührung und die hellen Tränen flossen in seinen Bart. Er hatte auch etwas Geld mitgebracht und sagte, er habe sich so bekümmert, ob Lene mit dem Kind nicht oft habe Not leiden müssen. Wie staunte er da, als sie ihm das Schränkchen aufschloß und ihm zeigte, was da war: sie hatte nicht einmal alles Geld, das er ihr dagelassen, verbraucht, sondern noch mehrere Gulden dazu verdient, und dann erzählte sie, wie brav der Franz sei und wie er beim Vetter so schön gut tue, so daß sie diesen Sommer noch manchen Gulden zu verdienen hoffe. Da lobte der Martin seine brave, fleißige Frau über die Maßen und freute sich sehr.
»Lobe mich nicht dafür, Martin!« rief sie tief errötend, »lobe den Vetter, er hat's getan!«
»Nichts hab ich getan,« brummte dieser und nahm eine Prise, »nur ein wenig an die Luft hab ich sie gesetzt, als sie mir gar nicht aus der Stube wollte.«
»Das müßt Ihr mir näher erzählen,« sagte Martin, und der Vetter erzählte, wie er die Lene an die Arbeit gejagt hatte, und sie berichtete, wie dumm sie erst mit dem Kind gewesen war, und dann lachten sie zusammen und der Kleine lachte und krähte auch dazu – es war lauter Freude und Wonne, und o wie wurde dem armen Martin diesmal der Abschied so schwer.
»Der Sommer geht schnell herum,« tröstete Lene, indem sie die Tränen aus den Augen wischte, »es gibt ja so viele Arbeit.«
»Arbeit genug, und daß ich weiß, ich schaffe für mein liebes Weib und für meinen herzigen Buben, das macht alles leicht,« erwiderte er. Lene geleitete ihn noch eine Strecke Wegs, indes der Vetter mit dem Kind in der Stube zurückblieb und ihnen durch das Fenster nachschaute: »Was deine Eltern für gute Menschen sind und wie sie sich lieben! Gott erhalte euch all den Sonnenschein, in dem du aufwachsen darfst, kleiner Mann!« sagte er zu Fränzchen, als ob der seine Worte verstehen könnte.
Als im Spätherbst Martin wieder kam und wirklich eine hübsche Summe mitbrachte, war richtig eine Wiese feil, nur war sie viel teurer als man gedacht hatte. Der Vetter riet aber doch dazu und versicherte, es werde sicher gehen, wenn man sie in Zielern abzahle.
»Aber wie ist's dann mit der Kuh?« fragte Lene voll Eifer.
»Mit der müssen wir noch warten bis die Wiese bezahlt ist. Der Ertrag der Wiese bringt auch Geld ein, das dient mit zum Abzahlen, da geht's ja schnell!« tröstete Martin.
Es ging aber nicht schnell. Der Winter brachte wieder ein Kindchen und zwar diesmal ein Mädchen.
Der Gedanke an die Kuh war natürlich wieder in weitere Ferne gerückt, und doch wäre sie jetzt bei dem vergrößerten Haushalt noch erwünschter gewesen. Aber Lene wagte selten mehr und stets nur mit einem Seufzer diesen ihren stillen Herzenswunsch auszusprechen, und wenn sie es je einmal tat, so schwieg der Vetter nur dazu und seine Krücken wimmerten leise, als tue ihnen Lenes Wunsch wehe oder als wollten sie sagen: »Kannst du denn nicht warten, bis Gottes Zeit kommt, dir zu helfen?« Und Lene bemühte sich treulich, solches Warten zu lernen, aber ein Jahr ums andere ging herum, drei Kindlein wurden noch geboren, aber zur Kuh reichte es noch immer nicht, so daß die arme Lene ihren Herzenswunsch allmählich tief in ihr Innerstes verschloß und ihn gar nicht mehr erwähnte, auch gegen den Vetter nicht, dem sie doch sonst alle ihre Sorgen und Nöte mitzuteilen pflegte.
Im Winter war der Vetter wenig zu Hause, weil er meist von den Bauern eingestellt wurde, um für den ganzen Haushalt die Hosen und Wämser, Röcke und Mieder zu machen, denn im Sommer haben die Bauern zu Mühlen keine Zeit den Schuster und Schneider einzustellen, das geschieht im Winter, wenn ausgedroschen ist und da wo möglich gleich für das ganze Jahr und für alle im Haus, Mann und Weib, Kinder und Dienstboten. – Daher kam es, daß der Winter eigentlich des Vetters Erntezeit war; denn da er der einzige Schneider in Mühlen war und alle Bauern ihn beschäftigten, außer dem Schultheißen, der seine Kleider in der Stadt machen ließ – nahm er manchen Gulden ein und hatte für Essen keine Auslagen, während er im Sommer seit Jahren der Lene trotz ihres Sträubens stets ein kleines Kostgeld zahlte. Da es im Winter oft spät wurde, bis der Vetter bei den Bauern Feierabend machte, und er im Dunkeln auf der schneeigen Dorfstraße mit seinen Krücken unsicher ging, pflegte Martin, wenn er vom Städtchen heim kam und mit den Seinen gegessen hatte, ihn stets abzuholen und heim zu geleiten; war er etwa verhindert, so besorgte es meist Lene. – An einem stürmischen Novemberabend jedoch war sie nicht bald daran gekommen, weil ein Kind krank war und lange nicht einschlief; da, als sie sich endlich anschickte noch zu gehen, hörte sie schwere Schritte vor dem Häuschen, und da sie die Türe öffnet und hinaus leuchtet, ist es der Martin, der mit einer schweren Last in den Armen daher keucht. – »Um Gott Martin! was bringst du da?« rief sie erschrocken aus; »sei nur stille« keuchte er, »decke mein Bett auf, der Vetter ist's und ich bin nicht sicher, lebt er oder ist er tot.« Wie da die Lene erschrak, wie die Kinder zusammen weinten! – es war jedoch nicht Lenens Art untätig zu jammern, schnell half sie Martin seine Last niederzulegen und den Ohnmächtigen – denn daß er das nur war, sah sie sogleich – seiner Stiefel und Kleider zu entledigen. Dies verursachte ihm jedoch Schmerzen, so daß er von seiner Betäubung erwachte und nicht wenig erstaunt war, sich bei den Seinen und in Martins Bett zu finden. Später erzählte er, daß er heute bald fertig geworden und wissend, daß Martin im Städtchen aufgehalten, Lene aber durch das kranke Kind beschäftigt, ihn nicht gut abholen könnten, habe er beschlossen, den Weg allein zu versuchen. Da jedoch die Nacht dunkel und der Weg glätter war als er dachte, glitten unterwegs die Krücken aus, und ehe sich's der Arme versah, lag er am Boden, unfähig sich ohne Hilfe wieder aufzurichten. Längere Zeit rief er um Hilfe, aber der Lindenhof, woher er kam, liegt etwas abseits vom Dorf, so hörte ihn kein Mensch rufen, bis tiefe Ohnmacht sein Bewußtsein umfing. Wie lange er so mochte gelegen haben, wußte er nicht, jedenfalls längere Zeit, da kam Martin von N. her des Weges, sah etwas Dunkles, das sich weich anfühlte, im Schnee liegen und erkannte im bleichen Schein des eben aufgehenden Mondes zu seinem unaussprechlichen Schrecken den armen Vetter. Ohne erst lange nach Hilfe zu laufen oder Zeit mit Rufen zu verlieren, nahm ihn der starke Mann wie ein Kind auf die Arme und trug den Bewußtlosen heim. Während Martin den Vetter vollends entkleidete, lief Lene nach dem Bader, den sie dann sogleich mitbrachte und nun ging's an ein Untersuchen, Pflastern, Schindeln, Verbinden, das gar kein Ende nehmen wollte und dem Armen eine unsäglich qualvolle Nacht bereitete. Und es blieb nicht bei dieser einen qualvollen Schmerzensnacht, durch das gebrochene Bein herbei geführt, sondern das lange Liegen im kalten Schnee hatte dem gebrechlichen Körper auch sonst bedenklich zugesetzt und der Doktor K. von Niederstetten, den man am folgenden Tag holte, stellte eine heftige Unterleibsentzündung fest, die das Schlimmste befürchten lasse. Wochenlang dauerten die schrecklichsten Schmerzen und häufiges Delirium; und dies verbunden mit dem Beinbruch und der sonstigen Schwäche des Kranken machte die Pflege zu einer äußerst beschwerlichen. Da war nun die Lene die Rechte dazu, ihn Tag und Nacht zu besorgen, bei ihm zu wachen, ihn zu hegen und zu pflegen, als ob er das kostbarste Gut der Familie wäre und nicht ein armer gebrechlicher Vetter. »Lene, du hattest nicht nötig als Diakonissin hinaus zu gehen, wie ich dir riet, du bist's im eigenen Hause geworden«, sagte mitleidig ihr alter Herr zu ihr, der den Vetter besuchte. »S' ist besser so, Herr Doktor«, entgegnete sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen, »sonst hätte ich ja meinen Martin und die Kinder nicht.« –
Der Vetter wußte nicht anders, als daß es nun zum Sterben gehe, er nahm oftmals Abschied, segnete die Kinder, besonders seinen Liebling,« den 8jährigen Franz, und konnte sich nicht genug tun mit Danken für alles, was ihm die Lene und der Martin taten, aber so die rechte Sterbensfreudigkeit war es nicht, was sein Herz erfüllte und Lene dachte oft: »armer Vetter! als ob dir die Flügel des Geistes gebunden wären auch innerlich, wie äußerlich die Kraft der Glieder gelähmt ist seit seiner Geburt!« Eigen war's, wie er mit dem Gedanken an seinen Tod so oft den alten, nie erfüllten Lieblingswunsch Lenes nach einer Kuh verknüpfte, obwohl sie längst nicht mehr darauf zurückkam. – So sagte er eines Tages: »Warte nur, bis ich erst tot bin, dann kommt alles besser.« – »Werdet lieber gesund,« entgegnete sie, »wie gut hatte ich's durch Euch, Vetter, alle fünf Kinder habet Ihr aufziehen helfen, alles genäht und geflickt, ohne was Ihr zum Haushalt beigesteuert habet, alle die Jahre her.« – »Und doch hat's keine Kuh gereicht!« unterbrach er sie, »ich bin ein schlechter Mensch!« – »Aber ich kann ja nicht denken, wie es sein soll ohne Euch, Vetter!« – »Gut wird's,« sagte er, »aber o die Schmerzen! die Schmerzen!« und dann folgten wieder Stunden, wo man fürchtete, das Ende sei nahe. In dieser Weise ging es fast den ganzen Winter fort, immer zwischen Furcht und Hoffnung. Endlich, es war schon Mitte März, der Schnee begann zu schmelzen und die Sonne bekam wieder Kraft, auch in das arme Krankenzimmer des Vetters herein zu scheinen, da wendete es sich endlich doch mit ihm zum Bessern. Als der Doktor K. wieder einmal kam und nach ihm sah, konnte er eine entschiedene Wendung zum Besseren feststellen. »Ihr seid durch, Frühroth!« sagte er, »als ich Euch damals im November besuchte, hätte ich es selbst nicht geglaubt, aber freilich ohne die Pflege der Lene da läget Ihr jetzt sicher draußen auf dem Kirchhof, Ihr habt ihr's zu danken.« – »Sprechen Sie nicht so, Herr Doktor,« sagte Lene, »der Dank gebühret einem andern, aber der Vetter ist uns so lieb und wert, daß wir von selbst tun mußten, was wir konnten, um ihn uns zu erhalten, aber ist es denn wirklich so, Herr Doktor, ist er wirklich durch, der gute Vetter! und alle Gefahr vorbei? ach Gott! welche Gnade!« rief sie mit strahlendem Angesicht und ihre guten, braunen Augen füllten sich mit Tränen.
Das war dann ein Jubel, als Lene dem Martin und den Kindern des Doktors Ausspruch mitteilte! »Das ist recht, Vetter, daß wir Euch nun behalten dürfen,« rief Martin und schüttelte ihm die dünne, magere Hand und die Kinder jubelten, als ob das Christkind gekommen wäre. Nur der Kranke selbst blieb stille und schweigsam und sehr ernst und Lene bemerkte, daß immer Tränen aus seinen Augen quollen, während um ihn her lauter Freude sich kund gab. – »Seid Ihr nicht auch froh, daß nun der liebe Gott Euch wieder bei uns läßt, Vetter? freut Euch doch auch, wir sind ja alle glücklich,« sagte sie sanft und strich mit linder Hand über sein eingefallenes Gesicht.
»Das ist's eben,« schluchzte er und hielt ihre Hand fest, »das rührt mich so, ich hab's nicht um Euch verdient! Wenn wir hernach allein sind, muß ich dir was sagen, Lene!« fügte er dann ruhiger bei. Sie brachte dann ein Schüsselchen Suppe, die sie ihm wie immer löffelweise eingab, bis er schließlich müde wie ein Kind einschlief und stundenlanger Schlaf ihn erquickte.
Als der Kranke erwachte, lachte Lene: »s' ist heller Mittag, Vetter! wir haben schon gegessen, die Kinder sind draußen und der Martin hat des Müllers Gaul entlehnt, weil er den Sommerdinkel säen will und ich freue mich all' die Zeit über Euren ruhigen Schlaf, der muß Euch doch bald gesund machen, Vetter!«
»Und das freut dich, Lene! freut dich wirklich? – Sieh, so wohl hat mir noch nichts im Leben getan, als Eure Freude über meine Besserung. – Ich habe von klein auf so selten, oder fast nie erlebt, daß jemand Freude an meinem Dasein gehabt hätte; überall war ich zu viel, so lange ich denken kann, allen zur Last – o wie mich das drückte, schon als Kind! – als ich dann diesen Winter dachte, es gehe mit mir zum Sterben, – so schwer mir das Scheiden von den Kindern wurde – ich war doch schier froh um Euretwillen, daß Ihr von der Last frei würdet – und noch wegen etwas war ich froh, Lene!« Er hielt inne; als sie aber schwieg und ihn mit ihren guten, treuen Augen fragend und mitleidig ansah, fuhr er fort: »Ja, ich war froh zu sterben, wegen der Kuh, die du noch heute so sehnlich wünschest wie vor Jahren, wenn du sie auch nie mehr erwähnst, gerade weil der Wunsch so tief sitzt.« – »Was hat aber Euer Tod mit der Kuh zu schaffen? wenn Ihr nicht mehr da wäret, uns zu helfen, kämen wir erst recht nicht dazu,« sagte sie ruhig. – »Du hättest die Kuh durch meinen Tod bekommen, Lene, glaub', was ich sag', aber du bekommst sie doch, du bekommst sie gleich, morgen schon, heute noch, wenn du willst,« rief er und lachte dabei ganz geheimnisvoll, während Tränen über seine Wangen herab liefen. – Lene sah erschrocken auf den Kranken und legte sachte das Kind in die Wiege, denn sie dachte nicht anders, als das Delirium beginne wieder und ein Rückfall sei im Anzug. Daher strich sie sanft mit der Hand über des Kranken Stirn, um zu prüfen, ob dieselbe sehr heiß. – Aber nein! sie war ganz kühl und als sie den Puls fühlte, war der auch ganz ruhig und gleichmäßig. »Gott sei Lob und Dank,« seufzte sie erleichtert, »ich dachte schon, das Fieber komme wieder!« – Und das wäre dir leid gewesen, du Gute? nun sieh, Ihr seid die ersten Menschen, die froh an mir sind und drum! Du sollst noch viel froher werden, wenn du die Kuh hast – droben in meinem Kasten da steckt's, ganz oben, rechts im Eck, ganz hinten, unter meinem Hut, da steht die alte Nähschachtel, geh' nur hinauf und hol' sie,« sagte er. – »Was?« fragte sie ganz verwirrt, »die Kuh soll ich holen in Eurer Nähschachtel?« von neuem zweifelnd, ob es richtig in seinem Kopf sei. – »Die Kuh?« nein, die mag sich der Martin selbst holen, aber die Nähschachtel bring mir daher aufs Bett!« rief der Vetter fast ungeduldig nach Art der Genesenden. »Nicht die da,« rief er, als ihm Lene seine gewöhnliche Nähschachtel, die sie während der Krankheit bei Seite gestellt hatte, aufs Bett brachte. – »Die ganz alte in meinem Kasten unter dem Hut, ganz hinten rechts in der Ecke, es ist die von meiner Mutter selig, die bring mir.« Lene ging nochmals und fand richtig am bezeichneten Ort eine alte, längliche, mit blauer Tapete überzogene Schachtel; sie wollte sie leicht herausnehmen, aber das war anders, ganz schwer griff sie sich an, daß Lene beide Hände dazu nehmen mußte; »ist das ein Gewicht,« lachte sie, als sie die Schachtel auf des Vetters Bett stellte – »da könnte wirklich fast eine Kuh drin sein.« – »Gelt!« sagte er, »vielleicht ein goldenes Kalb, knüpfe jetzt nur die Schnur auf und was du findest, außer ein paar trockenen Blumen, gehört dir, dir und dem Martin.« – »Nun, wird's bald?« rief er erregt, als Lene noch zauderte. Sie knüpfte das Band auf, dann öffnete sie langsam, in banger Erwartung die Schachtel. Gleich obenauf lag ein beschriebenes Papier: »Lies das,« sagte er und seine Stimme zitterte ein wenig, »lies es laut«:
»Im Namen Gottes,« las Lene. »Die inliegenden hundert Kronentaler habe ich mir mit meiner Hände Arbeit erworben und mühsam zusammengespart; ich vermache sie meinem getreuen Neffen Martin Frühroth, Steinhauer und Maurer in Mühlen und seiner Ehefrau Magdalene Frühroth, geb. Müller von Winden. Das Geld gehört ihnen von rechtswegen aus Dankbarkeit für tägliche Guttat, welche sie mir antun und daß sie mich willig und herzlich bei sich behalten haben, wo doch andere Leute dagegen reden wollten und daß sie mir niemals ein bös Wörtlein gegeben haben, insonderheit die Lene mir so viel Liebes und Gutes täglich erzeigt, als nur in ihren Kräften und Vermögen steht. Sie soll sich eine Kuh dafür kaufen und ich lasse ihnen allen meinen Segen für Kind und Kindeskind, und was mein Begräbnis anbelangt und sonstiges, dafür liegt das Geld extra in Papier eingewickelt bei meinem Totenhemd, die Lene weiß schon wo, und ist alles darauf geschrieben, aber die 100 Kronentaler gehören nicht dahin, die sind das Eigentum der Eheleute Frühroth und geht niemand nichts an und so ist mein fester Wille. Amen!« Franz Frühroth, Schneider aus Mühlen.
Mühlen, im Januar 183..
Lene las das Papier recht laut, dann leise einmal und nocheinmal; es war ihr, als ob sie in einem Traum befangen sei. Endlich schaute sie den Vetter an, strich sich einigemal über die Augen und sagte: »Ich denke, das ist für den Todesfall, Vetter! aber Gottlob! Ihr lebt und werdet gesund und wir wollen lieber keine Kuh und noch viele Jahre lang den behäbigen Bauern die Milch mit dem Geld in der Hand abbetteln, wenn es sich um Euren Tod handelt, denkt nur an die Kinder, wie Euch die alle so sehr lieben, Vetter! und wie sie gar nicht sein können ohne Euch.« – »Eben daran denke ich«, sagte er sehr bewegt, »ich hätte schon längst daran denken sollen, daß die Kinder mehr Milch haben sollten, oder vielmehr ich habe daran gedacht, aber ich konnte mich nicht von der Geldrolle trennen, ich will dir's nur gestehen. Diese Rolle war mein Trost gegen die Unbill der Menschen, meine Zuflucht, wenn mich der Jammer über mein Schicksal fast umbrachte, sie war mein Abgott, mein Götze, mein Alles. Ja Lene! so war's; so geneigt ist das Menschenherz zur Abgötterei, heute noch wie zur Zeit der alten Israeliten, und doch sind gerade die Abgötter dem Herrn so ein Greuel und ich verstehe jetzt warum – weil der Götzendienst eine harte Eisrinde um das Menschenherz legt, daß sich's gar nicht regen, für nichts sich recht und voll erwärmen kann. Gerade so hatten die Kronentaler mein Herz versteinert, ich weiß jetzt alles. Als vor 5 Jahren der Franz so krank war und der Doktor sagte, er müsse recht viel Milch trinken und diese schwer zu kriegen war, weil die Bauern alle junge Ferkel aufzogen und wie du da so nach einer Kuh gejammert hast, da fuhr mir's zuerst durch den Kopf: »gib ihnen dein Geld, daß sie die Kuh kaufen können«! aber unmöglich! ich bracht's nicht fertig; wie oft in der Nacht, wenn ich den kleinen Franz unten so husten hörte, nahm ich die Schachtel heraus, wog die Rolle mit den Kronentalern in der Hand und dachte, morgen früh gleich muß die Kuh her! aber, wenn der Morgen kam, war mir's, als hinge mein Leben an der Rolle, und all mein Halt, mein Trost, meine Kraft, meine Freude, mich selbst gebe ich damit fort, ich könnt mich nicht von ihr trennen. Es waren schreckliche Kämpfe, die ich oft kämpfte, aber zum Sieg kams nicht. Endlich half ich mir damit, daß ich das Testament hier schrieb und zu dem Geld hineinlegte. Es half einige Zeit, aber dann kam doch wieder eine Stimme die sagte: »hilf doch den Leuten mit deinem Mammon, was nützt er dich da in der Schachtel und die Lene würd's so beglücken«! aber ich brachts nicht fertig. Als ich dann so krank da lag, war mir die Aussicht auf den Tod eine wahre Erlösung, sind doch die unseligen Taler versorgt und die schrecklichen Kämpfe aus, dacht' ich; es war mir daher gar keine so besondere Freude, als ich hörte, es gehe der Genesung zu; ich fürchtete mich, den alten Kampf um mein elendes Dasein weiter zu kämpfen, es bangte mir auch, Ihr möchtet böse werden, wenn noch länger die Plage fort gehe mit dem krüppelhaften Vetter. Statt dem allen dann eure Freude! Deine lieben Worte zum Doktor! Der Kinder Jubel! Martins ehrliche Güte! – Ach Gott! es war mir wie ein warmer, goldiger Sonnenschein, in meine Leidensnacht hinein. Auf einmal war das Eis gebrochen, das um mein Herz gelegen; sie soll die Kuh haben, gleich, heute noch! fahrt hin ihr Taler, ich bin euch los!«
Lene hatte ihn sich aussprechen lassen, ganz, lange, sie fühlte, es war ihm Erleichterung. Nun da er schwieg, rief sie mit einem vollen Jubelton in ihrer Stimme: »Und das ist Euer Ernst, Vetter! Ihr wollt uns wirklich die Kuh kaufen? ich soll meinen alten Herzenswunsch erfüllt kriegen, nachdem ich fast alle Hoffnung aufgegeben hatte! o Vetter! wie kann ich, wie können wir's Euch jemals danken?« Dann legte sie ihr braunes, noch immer lockiges Haupt auf das Deckbett, um ihre hervorbrechenden Tränen zu verbergen und schluchzte laut vor Bewegung. »Sage nichts von Dank, ich habe zu danken,« rief er, »vor allem dem Herrn, der meine Seele frei gemacht hat aus den Ketten der Abgötterei. O wenn du fühltest, Lene! wie wohl mir's ist! als hätte meine Seele Flügel bekommen und alles Elend meines gebrechlichen Körpers läge weit unter mir! Ich weiß ja wohl – solche Wonne kann nicht immer währen auf dieser armen Erde, aber laß sie mich ganz genießen; trage das Geld fort in deine Kommode und dann singe mir dein Leiblied: »Jerusalem, du hochgebaute Stadt«. –
Lene trocknete ihre Tränen und sang; als sie an den letzten Vers kam, war der Vetter eingeschlummert und so ruhig lag er da, daß man ihm wohl ansah, in seine Seele war Friede eingekehrt nach dem Kampf.
Als der Martin gegen Abend vom Acker kam, ging der Dank, der Jubel, die Freude von neuem an und es wurde eifrig beraten, wo und wann die Kuh gekauft werden sollte ...
Und nachdem Ende Mai diese in den Stall geführt wurde, konnte der Vetter von Lene und Franz geleitet auch hinausgehen sie zu bewundern. Der Martin hatte ihm statt der alten Krücken ein Paar neue feste geschnitzt, denn von den alten war bei jenem Fall eine zerbrochen. Ob die neuen auch so klirren und wimmern, wenn ihren Herrn Leid trifft, habe ich nicht gehört, aber daß er freudig und ruhiger trägt was ihm Gott auferlegt hat das weiß ich, und jeder kann's ihm anmerken.
Seitdem ist manches Jahr vergangen. Aus der einen Kuh sind zwei, aus der einen Wiese zwei, aus den Aeckern ein nettes Gütchen geworden, der Martin hat das alte Häuschen umgebaut und vergrößert und für den Vetter unten hinein ein hübsches warmes Stübchen eingerichtet, daß er der Gefahr des Treppensteigens überhoben ist. Nähen und Schneidern hat er aufgegeben außer ein wenig für's Haus, aber er hat Interesse und Freude an allem und wird um alles gefragt; wenn die großen Kinder etwas auf dem Herzen haben, kommen sie zum Vetter und vertrauen es ihm an und wenn die kleinen Schläge fürchten, suchen sie Zuflucht bei ihm und er darf es täglich neu erfahren: »wer Liebes säet, wird Liebes ernten.«
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