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Was für ein Wunder ist doch die Fruchtbarkeit der Blumen! Sie werfen ihren Samen um sich wie einen Regen, überlassen ihn dem Winde wie Staub, entsenden ihn, den Almosen gleich, die ihren Weg zu rauchigen Dachkammern finden, auf die Spitzen trostloser Felsen, zwischen die verwitterten Steine geborstener Mauern, mitten hinein in stürzende und hängende Trümmer, ohne sich darum zu beunruhigen. Und sie finden eine Unze Erde, die ihn keimen läßt, einen Tropfen Regen, der seine Wurzel näßt, einen Sonnenstrahl, der ihm Wachstum, und einen andern, der ihm Farbe verleiht. Die Winde des scheidenden Frühlings entführen den Wiesen ihren letzten Wohlgeruch; dann ist die Erde mit Blütenblättern bedeckt, die verbleichen. Aber wenn die Winde des Herbstes darüber hingehen werden und die Felder mit ihren feuchten Schwingen bestreichen, wird ein anderes Blumengeschlecht die Erde mit neuem Gewande bedeckt haben, und ihr schwacher Duft wird der letzte Hauch des Jahres sein, das da stirbt und uns sterbend noch einmal lächelt.
In allen andern Punkten gleichen die Frauen den Blumen; nur in dem der Fruchtbarkeit haben sie keinerlei Ähnlichkeit mit ihnen. Die meisten Frauen, besonders die Frauen, die sind, wie sie sein sollen – und ich bitte euch, ihr meine Freunde und Brüder aus dem Volk, mir zu glauben, daß ich nur des Sprachgebrauchs halber diesen Ausdruck wähle, denn für mich ist die Frau, wie sie sein soll, die liebenswürdigste und hübscheste –; die Frauen, wie sie sein sollen, also, sind nicht mehr produktiv. Diese Damen sind Mütter der kleinstmöglichen Familie; sie sind unfruchtbar aus Haushälterischkeit. Wenn die Frau Amtsschreiber ihren kleinen Amtsschreiber, die Frau Notar ihren kleinen Notar zuwege gebracht hat, glauben sie, dem menschlichen Geschlecht gegenüber ihre Pflicht getan zu haben, und danken ab. Napoleon, der eine Liebhaberei für Rekruten hatte, sagte, die Frau sei ihm die liebste, die die meisten Kinder gebäre. Napoleon hatte gut reden, er, der seinen Kindern Königreiche wie Gutshöfe zur Aussteuer geben konnte! Tatsache ist, daß Kinder sehr teuer sind und daß diese Ausgabe nicht nach jedermanns Gehaben ist: nur der Arme kann sich den Luxus einer vielköpfigen Familie gestatten. Man bedenke nur, daß bei den Reichen schon die Monate, wo sie eine Amme brauchen, soviel kosten wie etwa ein Kaschmir. Das Wurm wächst schnell; es kommen die gesalzenen Rechnungen des Pensionsvorstehers, des Schusters, und des Schneiders. Das Jüngelchen von heute ist morgen ein junger Herr, der Schnauzbart sprießt, und siehe da, schon ist er Bakkalaureus! Nun wißt ihr erst recht nichts mehr mit ihm anzufangen. Nur um ihn loszuwerden, kauft ihr ihm einen schönen Beruf; aber nicht lange, und ihr gewahrt an den Wechseln, die man aus allen vier Enden der Stadt auf euch zieht, daß dieser Beruf eurem Doktor nichts einbringt als Einladungen und Visitenkarten. So müßt ihr ihn bis zum dreißigsten Jahr und darüber mit Glacéhandschuhen, Havanazigarren und Mätressen ausstatten. Ihr werdet zugeben, daß dies wenig angenehm ist. Wenn es für junge Männer von zwanzig Jahren ein Findelhaus gäbe, wie es eines für kleine Kinder gibt oder vielmehr nicht gibt, ich versichere euch, das Haus wäre voll!
Aber im Jahrhundert meines Onkels Benjamin war das anders: das war das Goldene Zeitalter der Hebärzte und Hebammen. Die Frauen gaben sich ohne Unruhe und ohne Hintergedanken ihren Instinkten hin; arm und reich, alle hatten Kinder, und selbst die, die gar kein Recht dazu hatten. Die Kinder aber, man wußte gleich, wohin damit: die Konkurrenz, dies Ungetüm mit Stahlzähnen, das alle kleinen Leute frißt, war noch nicht da. Jedermann fand seinen Platz unter der schönen Sonne Frankreichs, und in jedem Beruf hatte man die Ellbogen frei. Die Stellen boten sich, wie eine Frucht am Baum, den Fähigen selbst an, und sogar die Dummen fanden ihr Unterkommen, jeder nach der Besonderheit seiner Dummheit. Der Ruhm war so freigebig und zugänglich wie das Glück. Man brauchte zweimal weniger Geist als heutzutage, um ein Schriftsteller zu sein, und mit einem Dutzend Alexandrinern war man ein Dichter.
Damit soll nun nicht gesagt sein, daß ich mich nach der blinden Fruchtbarkeit der alten Zeit zurücksehne, die wie eine Maschine produzierte, ohne zu wissen, was sie tat: ich habe so schon Nachbarn genug. Ich wollte euch nur begreiflich machen, wieso zu der Zeit, von der ich spreche, meine Großmutter, obwohl sie noch nicht dreißig Jahre zählte, doch schon bei ihrem siebenten Kinde war. Meine Großmutter war also bei ihrem siebenten Kinde. Mein Onkel wollte unter allen Umständen, daß seine teure Schwester an seiner Hochzeit teilnehme, und hatte demzufolge Herrn Minxit das Einverständnis abgerungen, die Heirat bis nach dem Wochenbett meiner Großmutter zu verschieben. Das Kindszeug des neuen Ankömmlings war ganz weiß, schön bebändert, und von Tag zu Tag erwartete man des Kindes Eintritt in das Dasein. Die sechs andern Kinder waren alle am Leben und alle sehr vergnügt, auf der Welt zu sein. Wohl fehlte es einmal an einem Paar Holzschuhe, ein andermal an einer Mütze; bald hatte der eine im Ellbogen ein Loch, der andere an der Ferse, aber jedes hatte sonntags sein weißes, glattgebügeltes Hemd; kurzum, sie gediehen vortrefflich und blühten in ihren Lumpen.
Mein Vater indessen, der Älteste, war der Schönste und Bestausstaffierte unter den sechsen. Das kam vielleicht daher, daß sein Onkel Benjamin ihm seine alten kurzen Hosen angedeihen ließ, an denen, um lange für Kaspar daraus zu machen, so wenig zu ändern war, daß man oft überhaupt nichts daran änderte. Durch die Protektion des Gevatters Guillaumot, der Mesner war, sah er sich zur Würde eines Chorknaben emporgehoben, und, ich sage es mit Stolz, er war einer der besten Chorknaben im Sprengel; wenn er bei der Karriere geblieben wäre, die ihm der Gevatter Guillaumot aufgetan hatte, so würde er, an Stelle eines schönen Feuerwehrleutnants, der er heute ist, einen prächtigen Pfarrherrn abgegeben haben. Es ist wahr: ich würde dann noch im Nichts schlafen, wie der gute Lamartine sagt, der selbst bisweilen schläft; aber der Schlaf ist eine wundervolle Sache. Sei dem, wie ihm wolle, mein Vater verdankte seinen kirchlichen Verrichtungen den Vorzug, einen superben himmelblauen Schoßrock zu besitzen. Dieses Glück war ihm folgendermaßen zugefallen: das Banner des heiligen Martin, des Schutzpatrons von Clamecy, war zugunsten eines neuen außer Dienst gesetzt worden; meine Großmutter hatte, mit dem Adlerblick, den man an ihr kennt, entdeckt, daß in diesem geweihten Stoff eine Weste und eine Hose für ihren Ältesten stecke, und hatte sich das abgelegte Banner um eine Kleinigkeit von der Kirchenverwaltung zuschlagen lassen. Der Heilige prangte mitten darauf; der Künstler hatte ihn dargestellt, wie er mit seinem Schwert ein Stück von seinem Mantel haut, um die Blöße eines Bettlers damit zu bedecken. Das war jedoch kein ernstliches Hindernis für die Absichten meiner Großmutter. Der Stoff wurde gewendet und der heilige Martin auf die Innenseite verlegt, was ihm übrigens in seiner Glückseligkeit gleichgültig war.
Der Schoßrock war von einer Näherin der Brückenstraße zu gutem Ende gebracht worden. Er hätte vielleicht sowohl meinem Onkel Benjamin wie meinem Vater gepaßt; aber meine Großmutter hatte ihn so machen lassen, damit, nachdem man ihn erst vom Ältesten hatte abtragen lassen, dann der Jüngere noch ein zweitesmal das gleiche tun dürfe. Mein Vater tat sich anfänglich dick in seinem himmelblauen Schoßrock; ich glaube sogar, daß er aus seinen Kircheneinkünften zur Bezahlung der Fasson beigetragen hatte. Aber er mußte bald gewahren, daß ein prächtiges Aussehen häufig ein Kelch des Leidens ist. Benjamin, dem nichts heilig war, hatte ihn den Schutzpatron von Clamecy getauft. Die Kinder fingen diesen Spottnamen auf, und er trug meinem Vater so manchen Puff ein. Mehr als einmal begegnete es ihm, daß er mit einem Schoß seines himmelblauen Habits in der Tasche nach Hause kam. Der heilige Martin war sein persönlicher Feind geworden. Oft hättet ihr ihn zu Füßen des Altars in düsteres Sinnen versunken sehen können. Und auf was sann er? Auf ein Mittel, seinen Schoßrock loszuwerden; und eines Tages antwortete er auf das ›Dominus vobiscum ‹ des Messelesenden in der Meinung, mit seiner Mutter zu sprechen: »Und ich sage dir, daß ich ihn nicht mehr anziehen werde, deinen himmelblauen Schoßrock!«
In solcher Gemütsverfassung war mein Vater, als ihn eines Sonntags nach der großen Messe mein Onkel, der eine Visite in Val-des-Rosiers zu machen hatte, aufforderte, ihn zu begleiten. Kaspar, der lieber auf der Promenade Klicker spielte, als meines Onkels Begleiter zu machen, antwortete, er könne nicht, da er einer Taufe zu administrieren habe.
»Das ist kein Hindernis«, sagte Benjamin; »mag ein andrer an deine Stelle treten.«
»Ja, aber ich muß um ein Uhr zur Katechismusstunde.«
»Ich glaubte, du seiest konfirmiert.«
»Das heißt, ich war auf dem Punkte, konfirmiert zu werden. Du hast mich daran gehindert, indem du mich am Abend vor der heiligen Handlung betrunken machtest.«
»Und warum betrankst du dich?«
»Weil du selbst grau warst und mir mit dem flachen Degen drohtest, wenn ich nicht auch grau würde.«
»Ich hatte unrecht«, sagte Benjamin; »aber das ist einerlei, du läufst keine Gefahr, wenn du mit mir gehst; ich habe nur für einen Augenblick zu tun, und wir sind vor der Katechismusstunde zurück.«
»Da verlasse sich einer drauf!« antwortete Kaspar; »wo ein andrer nicht mehr als eine Stunde zu tun hätte, machst du dir einen halben Tag zu schaffen. An jedem Wirtsschild hältst du still. Auch hat mir der Herr Pfarrer verboten, mit dir zu gehen, denn du gebest mir ein schlechtes Beispiel.«
»Gut, frommer Kaspar; wenn du mich nicht begleiten willst, lade ich dich nicht zu meiner Hochzeit ein; wenn du mir dagegen den Gefallen tust, gebe ich dir ein Sechskreuzerstück.« »Gib es mir gleich«, sagte Kaspar.
»Und warum willst du es gleich haben, Schlingel? Mißtraust du meinem Wort?«
»Nein; aber ich habe keine Lust, dein Gläubiger zu sein. Ich habe in der Stadt sagen hören, daß du keinen Menschen bezahlst und daß man dich nicht auspfänden will, weil deine ganze Habe keine sechs Groschen wert ist.« »Wohl gesprochen, Kaspar!« sagte mein Onkel, »da hast du deren drei, jetzt lauf und melde meiner teuren Schwester, daß ich dich mitnehme.«
Meine Großmutter kam bis an die Haustür, um Kaspar anzuempfehlen, auf seinen Schoßrock wohl achtzuhaben; denn, sagte sie, er müsse ihn auf der Hochzeit seines Onkels tragen.
»Machst du Spaß?« fragte Benjamin; »muß man einem französischen Chorknaben sein Banner ans Herz legen?«
»Onkel«, sagte Kaspar, »bevor wir uns auf den Weg machen, sage ich dir eines: wenn du mich wieder Bannerträger, Blaumeise oder Patron von Clamecy nennst, gehe ich mit deinen drei Groschen durch und spiele Klicker.«
Bei den ersten Häusern des Orts begegnete mein Onkel Herrn Susurrans, seines Zeichens Krämer ganz klein, ganz dünn, aber aus Schwefel und Salpeter gebraut wie das Pulver. Herr Susurrans besaß eine Art Meierhof in Val-des-Rosiers; er trat gerade den Rückweg nach Clamecy an und trug ein Fäßchen unterm Arm, das er wohl einzuschmuggeln hoffte, und am Ende seines Stocks ein Paar Kapaunen, auf die Frau Susurrans wartete, um sie an den Spieß zu stecken. Herr Susurrans kannte meinen Onkel und schätzte ihn, denn Benjamin kaufte bei ihm den Zucker, um seine Tränklein zu versüßen, und den Puder, den er in seinen Zopf tat. Herr Susurrans also lud ihn ein, in den Hof zu kommen und sich zu erfrischen. Mein Onkel, für den der Durst ein Normalzustand war, machte keine Förmlichkeiten. Der Krämer und sein Kunde hatten sich beim Feuer niedergelassen, jeder auf einem Schemel; das Fäßchen hatten sie zwischen sich gesetzt. Aber sie ließen es nicht sauer werden auf seinem Platz, und wenn es nicht in den Händen des einen war, war es an den Lippen des andern.
»Der Appetit kommt ebensowohl beim Trinken als beim Essen; wenn wir die Hähnchen äßen –?« sagte Herr Susurrans.
»In der Tat«, antwortete mein Onkel, »das würde Sie der Mühe überheben, sie heimzutragen, und ich verstehe nicht, wie Sie sich mit einer solchen Knechtsverrichtung belasten konnten.«
»Mit welcher Sauce sollen wir sie essen?«
»Mit der kürzesten«, sagte Benjamin; »hier ist ein vortreffliches Feuer, sie zu braten.«
»Ja«, sagte Herr Susurrans, »aber wir haben gerade nur so viel Küchengeschirr hier, um eine Zwiebelsuppe zu machen; wir haben keinen Spieß.«
Benjamin, wie alle großen Männer, ließ sich von den Umständen nie ratlos finden.
»Man soll nicht sagen können, daß zwei Männer von Geist wie wir kein gebratenes Geflügel essen können in Ermangelung eines Bratspießes. Wenn Sie mir vertrauen, so spießen wir unsere Hähne auf meine Degenklinge, und Kaspar dreht sie säuberlich am Griff.«
Du wärest nie auf diesen Ausweg verfallen, Freund Leser, aber mein Onkel hatte auch Einbildungskraft genug, um zehn Romanschreiber unsrer Zeit daraus zu machen.
Kaspar, der nicht oft junge Hähnchen aß, ging vergnügt an sein Geschäft; nach einer Stunde waren die Kapaunen fertig. Man drehte einen Zuber um und zog ihn an das Feuer; man legte Bestecke darauf, und ohne von der Stelle zu rücken, fanden sich die Genossen bei Tische. Die Gläser fehlten, aber das Fäßchen feierte darum nicht; man trank aus dem Spundloch wie zu Zeiten Homers. Das war nicht bequem, aber so war der stoische Charakter meines Onkels, daß er es vorzog, auf diese Weise guten Wein zu trinken als Krätzer aus Kristallgläsern. Ungeachtet der Schwierigkeiten aller Art, die das Unternehmen bot, waren die Hähne bald expediert. Längst war von dem unglücklichen Federvieh nichts mehr übrig als zwei nackte Gerippe, und die beiden Freunde tranken noch immer. Herr Susurrans, der, wie schon berichtet, nur ein kleines Männchen war, dessen Magen und Gehirn sich beinahe berührten, war so betrunken, wie man es nur sein kann; aber Benjamin, der große Benjamin, hatte den größeren Teil seiner Vernunft bewahrt und bemitleidete seinen schwachen Gegner; was Kaspar anlangt, dem man ab und zu das Fäßchen herübergereicht hatte, so hatte er die Grenzen der Mäßigkeit um ein geringes überschritten; der kindliche Respekt erlaubt mir nicht, mich eines andern Ausdrucks zu bedienen.
Dies war der moralische Zustand der Zechgenossen, als sie sich von dem Zuber erhoben. Es war vier Uhr, und sie machten sich daran, sich in Marsch zu setzen. Herr Susurrans, der sich wohl erinnerte, daß er seiner Frau Hähnchen mitbringen sollte, suchte sie, um sie wieder an das Ende seines Rohrstocks zu hängen; er fragte meinen Onkel, ob er sie nicht gesehen habe.
»Eure Hühner?« sagte Benjamin, »spaßt Ihr? Ihr habt sie gegessen.«
»Ja, alter Narr«, setzte Kaspar hinzu, »Ihr habt sie gegessen, sie waren am Degen meines Onkels aufgespießt, und ich war es, der den Spieß drehte.« »Das ist nicht wahr«, schrie Herr Susurrans; »denn wenn ich sie gegessen hätte, hätte ich keinen Hunger mehr, und ich verspüre einen Appetit, um einen Wolf zu verschlingen.«
»Dagegen sage ich nichts«, antwortete mein Onkel; »aber es bleibt dabei, daß Ihr Eure Hühner eben gegessen habt. Halt, wenn Ihr daran zweifelt, so sind hier ihre beiden Gerippe; die mögt Ihr an Euer Stockende hängen, wenn Euch das Spaß macht.«
»Das hast du gelogen, Benjamin; ich erkenne keineswegs die Gebeine meiner Hühner wieder, und du bist es, der sie mir genommen hat, und du wirst sie mir zurückerstatten!«
»Nun gut, sei's drum«, sagte mein Onkel; »schickt morgen zu mir, und ich will sie Euch zurückerstatten.«
»Du wirst sie mir auf der Stelle zurückerstatten!« brüllte Herr Susurrans, indem er sich auf die Fußspitzen erhob, um meinem Onkel die Faust unter die Kehle zu halten.
»Nana, Papa Susurrans«, sagte Benjamin, »wenn Ihr spaßt, so laßt Euch gesagt sein, daß dies den Spaß zu weit treiben heißt, und ...«
»Nein, Elender, ich spaße nicht«, schrie Herr Susurrans und postierte sich vor die Tür; »du wirst hier nicht herauskommen, weder du noch dein Neffe, ohne mir meine Hühner zurückerstattet zu haben.«
»Onkel«, flüsterte Kaspar, »willst du, daß ich diesem alten Schwächling ein Bein stelle?«
»Unnötig, Kaspar, unnötig, mein Freund», sagte Benjamin; »du bist ein Mann der Kirche, und es kommt dir nicht zu, in einem Handel Partei zu ergreifen. Also«, fügte er hinzu, »eins, zwei, Herr Susurrans, wollen Sie uns gehenlassen?«
»Wenn ihr mir meine Hühner zurückerstattet habt«, antwortete Herr Susurrans, indem er halb linksum machte und seine Stockspitze meinem Onkel entgegenhielt, als wäre sie ein Bajonett.
Benjamin drückte den Stock mit der Hand beiseite, packte den kleinen Wicht mitten um den Leib und hängte ihn am Hosenriemen an einem eisernen Haken auf, der über der Tür hervorstand und zum Aufhängen des Küchengeschirrs diente.
Susurrans, als Pfanne behandelt, zappelte wie ein Käfer an der Nadel. Er heulte und schlug um sich und schrie Mord und Brand.
Mein Onkel erblickte einen Lütticher Almanach, der auf dem Kamin lag.
»Da«, sagte er, »verehrter Herr Susurrans, das Studium, schreibt Cicero, ist ein Trost in allen Lagen des Lebens: vergnügen Sie sich mit Studium, bis man kommt und Sie abhängt; denn was mich anbelangt, so habe ich keine Zeit, mit Ihnen Konversation zu machen. Womit ich die Ehre habe, Ihnen einen guten Abend zu wünschen.«
Zwanzig Schritte entfernt begegnete mein Onkel dem Pächter, der herbeilief und meinen Onkel fragte, warum sein Herr Feuer und Totschlag schreie.
»Jedenfalls, weil das Haus brennt und man Euern Herrn mordet«, antwortete ruhig mein Onkel; er pfiff Kaspar, der zurückgeblieben war, und setzte seinen Weg fort.
Das Wetter war milder geworden; der Himmel, der zuvor in voller Klarheit leuchtete, war matt- und schmutzigweiß, wie eine Gipsdecke, die noch nicht trocken ist. Es fiel ein sachter, feiner Regen, dicht und durchdringend, der an den Zweigen in Tropfen entlanglief und Baum und Busch weinen machte.
Der Hut meines Onkels saugte sich wie ein Schwamm voll dieses Regens, und bald wurden seine beiden Spitzen zu zwei Traufen, die ihm ein schwarzes Gewässer auf die Schultern ergossen. Benjamin, in Sorge um seinen Frack, drehte diesen um, und da er sich der Ermahnung seiner Schwester erinnerte, befahl er Kaspar, das gleiche zu tun. Dieser dachte nicht an den heiligen Martin und kam der Weisung meines Onkels nach.
In einiger Entfernung begegneten sie einem Trupp Bauern, der von der Vesper heimkam. Beim Anblick des Heiligen, der sich auf Kaspars Schoßrock zeigte, den Kopf nach unten und die vier Hufe seines Pferdes in der Luft, als ob er gerade vom Himmel gefallen wäre, stießen die Lümmel ein entsetzliches Gelächter aus und gingen bald zu einem großen Gejohle über. Ihr kennt meinen Onkel gut genug, um mir zu glauben, daß er sich nicht ungestraft von diesem Gesindel höhnen ließ. Er zog seinen Degen. Kaspar seinerseits bewaffnete sich mit Steinen, und von Kampfeseifer hingerissen, stellte er sich ins Vordertreffen. Nun erst gewahrte mein Onkel, daß der heilige Martin allein die Schuld an diesem Abenteuer trug, und es kam ihn ein solcher Lachkrampf an, daß er sich, um nicht zu fallen, auf seinen Degen stützen mußte.
»Kaspar«, rief er mit erstickender Stimme, »Patron von Clamecy, dein Heiliger steht auf dem Kopf, dein Heiliger wird seinen Helm verlieren!«
Kaspar, der begriff, daß er der Gegenstand dieses ganzen Gelächters war, vermochte diese Erniedrigung nicht zu ertragen; er zog seinen Rock aus, warf ihn zur Erde und trampelte darauf herum. Als mein Onkel sich gefaßt hatte, wollte er ihn zwingen, das Habit aufzunehmen und wieder anzuziehen. Aber Kaspar brachte sich in den Feldern in Sicherheit und ward nicht mehr gesehn. Benjamin hob den Rock mitleidig auf und hängte ihn an die Spitze seines Degens. Unterdem erschien Herr Susurrans auf der Bildfläche; er war ein wenig ernüchtert und entsann sich nun sehr deutlich, seine Hühner gegessen zu haben; aber er hatte seinen Dreispitz verloren. Benjamin, den es belustigte, den kleinen Mann aus dem Häuschen geraten zu sehen, und ihn, wie wir andern untergeordneten und taktlosen Sterblichen sagen würden, in Harnisch jagen wollte, behauptete, er habe auch seinen Hut gegessen; aber die Muskelkraft Benjamins machte solchen Eindruck auf Susurrans, daß er sich glatt weigerte, böse zu werden; ja er trieb den Geist des Widerspruchs so weit, meinem Onkel Entschuldigungen auszusprechen.
Benjamin und Herr Susurrans kamen selbander in Clamecy an. Etwa in der Mitte der Vorstadt trafen sie den Advokaten Page.
»Wohin des Weges?« fragte dieser meinen Onkel.
»Ei, weiß Gott, das kannst du dir doch denken; ich gehe zu meiner teuern Schwester essen.«
»Das ist ganz und gar nicht der Fall«, sagte Page; »du wirst mit mir in den ›Kronprinzen› essen gehn.«
»Und wenn ich annähme, welchem Umstand hätte ich diesen Vorzug zu danken?«
»Ich will dir das in zwei Worten erklären: Ein reicher Holzhändler aus Paris, dem ich einen schweren Prozeß gewonnen habe, hat mich und seinen Zweitbevollmächtigten zum Essen eingeladen. Diesen kennt er nicht. Wir stehen im Fasching: ich habe beschlossen, daß du dieser Prokurator sein solltest, und war gerade im Begriff, zu dir zu gehn und dir dies zu vermelden. Das ist ein unser würdiges Abenteuer, Benjamin, und ich habe jedenfalls dein Genie nicht unterschätzt, als ich hoffte, du werdest darin eine Rolle übernehmen.«
»In der Tat«, sagte Benjamin, »ein sehr hübsch ausgedachter Maskenspaß. Aber ich weiß nicht«, fügte er lachend hinzu, »ob Ehre und Zartgefühl mir erlauben, den Prokurator ordentlich vorzustellen.«
»Bei Tisch«, versetzte Page, »ist der ehrenhafteste Mann der, der sein Glas am gewissenhaftesten leert.«
»Ja, aber wenn mir dein Holzhändler von seinem Prozeß spricht?« »So werde ich für dich antworten.«
»Und wenn er morgen darauf verfällt, seinem Prokurator einen Besuch abzustatten?«
»So werd ich ihn eben zu dir führen.«
»Das ist alles ganz gut; aber ich habe – oder wage mir wenigstens zu schmeicheln – nicht das Aussehen eines Prokurators.«
»Du wirst es annehmen; du hast schon ganz gut verstanden, dich für den Ewigen Juden auszugeben.«
»Und mein roter Frack?«
»Unser Mann ist ein Pariser Maulaffe; wir machen ihn glauben, daß dies die Abzeichen der Prokuratoren in der Provinz seien.«
»Und mein Degen?«
»Wenn er ihm auffällt, sagst du, daß du damit deine Federn schneidest.«
»Aber wer ist eigentlich sein Prokurator?«
»Süßlich ist es. Würdest du die Unmenschlichkeit besitzen, mich in Gesellschaft von Süßlich essen zu lassen?«
»Ich weiß wohl, daß Süßlich nicht amüsant ist, aber wenn er erfährt, daß ich für ihn gegessen habe, belangt er mich auf Schadenersatz.«
»Dann werde ich deine Verteidigung vor Gericht übernehmen. Vorwärts, komm, ich bin sicher, das Essen ist schon aufgetragen. – Aber da fällt mir ein, unser Amphitryon hat mir aufgetragen, auch Süßlichs Ersten Schreiber mitzubringen; wo, zum Teufel, soll ich einen Schreiber Süßlichs auffischen?« Benjamin lachte wie toll.
»Famos!« schrie er und rieb sich die Hände; »ich habe, was du suchst! Hier«, fügte er hinzu und legte die Hand auf Herrn Susurrans Schulter, »hier ist dein Schreiber.«
»Pfui«, sagte Page, »ein Krämer!«
»Was ist dabei?«
»Er riecht nach Käse.«
»Du hast keine feine Nase. Page; er riecht nach Talg.«
»Aber er ist sechzig.«
»Wir stellen ihn als den Altmeister der Schreiberzunft vor.«
»Ihr seid Quälgeister und Schlingel!« sagte Susurrans, in sein jähzorniges Temperament zurückverfallend, »ich bin kein Bandit, kein Wirtshausläufer.«
»Nein«, unterbrach mein Onkel, »er besäuft sich allein in seinem Keller.«
»Das ist möglich, Herr Rathery, aber immerhin betrinke ich mich nicht auf Kosten anderer und will nicht teilnehmen an euren Räubereien.«
»Und doch müssen Sie«, sagte mein Onkel, »heute abend daran teilnehmen; wenn nicht, erzähle ich überall, wo ich Sie aufgehängt habe.«
»Und wo hast du ihn denn aufgehängt?« fragte Page.
»Stelle dir vor ...«, sagte Benjamin.
»Herr Rathery!» ... schrie Herr Susurrans und legte den Finger auf den Mund.
»Also, willigen Sie ein, mit uns zu gehen?«
»Aber, Herr Rathery, bedenken Sie, daß meine Frau mich erwartet; man wird glauben, ich sei tot, ermordet; man wird mich auf der Straße nach Val-des-Rosiers suchen.«
»Desto besser; so wird man vielleicht Ihren Dreispitz finden.«
»Herr Rathery, mein guter Herr Rathery!« bat Susurrans und rang die Hände.
»Geht doch«, sagte mein Onkel, »stellt Euch nicht an wie ein Kind! Ihr schuldet mir eine Genugtuung, und ich schulde Euch ein Essen; so werden wir mit einem Schlage quitt.«
»Lassen Sie mich wenigstens meine Frau benachrichtigen.«
»Nicht im mindesten«, sagte Benjamin und stellte sich zwischen ihn und Page; »ich kenne Frau Susurrans von Ansehen hinter ihrem Ladentisch. Sie würde Euch zu Hause einsperren, und ich will nicht, daß Ihr uns entgeht; ich würde Euch nicht um zehn Pistolen hergeben.«
»Und mein Fäßchen«, sagte Susurrans, »was soll ich nun mit ihm anfangen, wo ich Advokatenschreiber bin?«
»Das ist wahr«, sagte Benjamin, »wir können Euch unserm Klienten nicht mit einem Fäßchen vorstellen.«
Sie waren gerade mitten auf der Beuvronbrücke. Mein Onkel nahm das Fäßchen aus Susurrans Händen und warf es in den Bach.
»Spitzbube von Rathery! Verbrecher von Rathery!« schrie Susurrans, »du sollst mir mein Fäßchen bezahlen! Es hat mich zwei Taler gekostet; aber dich, was es dich kosten wird, wirst du sehen!«
»Herr Susurrans«, sagte Benjamin und nahm eine majestätische Stellung an, »ahmen wir den Weisen nach, der da sagte: ›Omnia mea mecum porto‹; will sagen: alles was mich behindert, werfe ich in den Fluß. Halt übrigens! Hier an der Spitze meines Degens habe ich einen prächtigen Rock, den Sonntagsrock meines Neffen, einen Rock, der in einem Museum figurieren könnte und der allem dreißigmal soviel Fasson gekostet hat als Euer ganzes elendes Fäßchen. Nun denn, ich opfere ihn ohne das mindeste Widerstreben; werfen Sie ihn über die Brücke, und wir sind quitt.«
Da Herr Susurrans davon nichts wissen wollte, schleuderte Benjamin den Rock über das Geländer, und indem er den Arm Pages und den von Susurrans nahm, sagte er:
»Nun aber vorwärts! Der Vorhang kann hochgehn; wir sind bereit, aufzutreten.«
Aber der Mensch denkt und Gott lenkt: als sie durch die Altgasse zum Wirtshaus hinaufwollten, sahen sie sich plötzlich Frau Susurrans gegenüber. Diese ging ihrem Ehegemahl, da sie ihn nicht heimkommen sah, mit einer Laterne entgegen.
Als sie ihn in Gesellschaft meines Onkels und Pages erblickte, beides Leute von verdächtigem Rufe, machte ihre Unruhe dem Zorne Platz.
»Endlich, Monsieur, da wären Sie!« schrie sie; »wahrhaftig ein Glück! Ich dachte schon, Sie kämen heute abend überhaupt nicht. Ein hübsches Leben, das Sie da führen, und ein hübsches Beispiel, das Sie Ihrem Sohne geben!«
Sodann bestrich sie ihre Ehehälfte mit einem raschen Blick und bemerkte, in wie hohem Maße diese unvollständig war.
»Und Ihre Hühner, mein Herr! und dein Hut, Elender! und dein Fäßchen, Säufer! was hast du damit gemacht?«
»Meine Gnädigste«, antwortete Benjamin ernsthaft, »die Hühner haben wir gegessen; was den Dreispitz betrifft, so hat er das Unglück gehabt, ihn unterwegs zu verlieren.«
»Was, das Ungeheuer hat seinen Dreispitz verloren, seinen soeben erst ganz neu aufgebügelten Dreispitz?«
»Ja, meine Gnädigste, er hat ihn verloren, und Sie können von Glück sagen, daß er, in der Verfassung, in der er war, nicht auch noch seine Perücke verloren hat. Was das Fäßchen anlangt, so hat man es ihm am Zollhaus abgenommen, und die Zollbehörde hat ihm den Prozeß gemacht.«
Da Page sich das Lachen nicht verbeißen konnte, sagte Frau Susurrans:
»Ich sehe wohl, wie es steht: Ihr habt meinen Mann verführt, und obendrein macht ihr euch noch über uns lustig. Sie täten sehr viel besser daran, sich Ihrer Kranken anzunehmen und Ihre Schulden zu bezahlen, Herr Rathery!«
»Schulde ich Ihnen etwas, meine Gnädigste?« antwortete mein Onkel stolz.
»Jawohl, meine Liebe«, begann Herr Susurrans, der sich im Schutze seiner Frau stark fühlte, »er hat mich verleitet; er hat mir mit seinem Neffen meine Hühner gegessen; sie haben mir meinen Dreispitz weggenommen und haben mein Fäßchen in den Bach geworfen; er wollte auch noch, der Hundsfott, der er ist, mich zwingen, mit ihm in den ›Kronprinzen‹ essen zu gehn und in meinem Alter die Person eines Advokatenschreibers zu spielen. – Gehen Sie nur, Sie unwürdiger Mensch! Ich werde mich sogleich zu Herrn Süßlich begeben und ihm melden, daß Sie an seiner und seines Schreibers Statt essen wollen.«
»Sie sehen, meine Gnädigste«, sagte mein Onkel, »daß Ihr Gatte betrunken ist und nicht weiß, was er sagt; wenn Sie mir folgen wollen, so bringen Sie ihn unverzüglich zu Bett, sobald Sie nach Hause kommen, und lassen ihn alle zwei Stunden einen Aufguß von Kamillen und Lindenblüten nehmen. Während ich ihn stützte, hatte ich Gelegenheit, seinen Puls zu fühlen, und ich versichere Sie, daß er gar nicht gut ist.«
»O du Verbrecher! o du Schuft! o du Revolutionär! du wagst es noch, meiner Frau zu sagen, ich sei krank, weil ich zuviel getrunken hätte, während du es bist, der grau ist! Wart nur, auf der Stelle gehe ich zu Süßlich, und du wirst von ihm hören!«
»Sie müssen bemerken, Madame«, sagte Page eisig, »daß dieser Mensch faselt. Sie werden sich gegen alle Ihre ehelichen Pflichten versündigen, wenn Sie Ihren Mann nicht Kamille und Lindenblüte nehmen lassen, wie es eben Herr Rathery, der sicher der befähigtste Arzt der Amtmannschaft ist, vorschrieb. Er beantwortet die Beleidigungen dieses Narren damit, daß er ihm das Leben rettet.«
Susurrans wollte von neuem loslegen.
»Vorwärts!« sagte seine Frau zu ihm, »ich sehe, daß diese Herren recht haben; du bist betrunken und kannst nicht mehr reden; auf der Stelle folgst du mir, oder ich schließe die Tür ab, wenn ich nach Hause komme, und du magst zu Bett gehn, wo du willst.«
»So ist's recht«, sagten Page und mein Onkel, und sie lachten noch, als sie an dem Tor des ›Kronprinzen‹ anlangten. Der erste Mensch, dem sie im Hof begegneten, war Herr Minxit, der gerade zu Pferde steigen wollte, um nach Corvol zurückzukehren.
»Meiner Treu«, sagte mein Onkel und fiel dem Pferd in die Zügel, »Sie werden heute abend nicht fortreiten, Herr Minxit; Sie müssen mit uns essen; wir haben einen Schmauskumpan verloren, aber Sie sind gut dreißig seiner Art wert.«
»Wenn's dir Vergnügen macht, Benjamin... Junge, führe mein Pferd in den Stall und sage, man soll mir ein Bett zurechtmachen.«