Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die unheimliche Mühle.

Gieb dem Gemeinen Dich hin, Du verlierst
Dich im Strome des Lebens,
Schwimme nach Jahren zurück, Deine Kraft
ist erschöpft.


Was sie wohl gedacht haben mag, als sie dem jungen Manne, der aus dem Fenster lehnte, einen schmerzlichen Blick zuwarf? –

Es war ein Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren, die einem alten mürrischen Menschen einen schwer beladenen Schubkarren vorwärts ziehen half. Sie ging barfuß und ihre ganze Kleidung war so armselig und dürftig, daß sie schon dadurch das allgemeine Mitleid erregen mußte, wenn sie nicht eine größere Aufmerksamkeit durch ihre edle Gestalt, die mit ihrer Beschäftigung und Kleidung seltsam contrastirte, bei den Vorübergehenden erweckt hätte. Die Züge ihres Gesichts waren ausdrucksvoll und von einer nicht gewöhnlichen Schönheit, doch hatten darin Gram und Kummer unauslöschliche Spuren ihrer verderblichen Herrschaft zurückgelassen; die Heiterkeit und fröhliche Anmuth der Jugend schien seufzend von ihr und für immer entflohen zu sein. –

Am Markttage, jeden Sonnabend, kam sie in die kleine Stadt M… und jedes Mal warf sie im Vorübergehen einen Blick hinauf nach dem Fenster eines der größten und schönsten Häuser, wo der junge Arzt Edmund Sternwald wohnte. Dieser wußte im Anfange kaum, daß ihm ein Mädchen diese Aufmerksamkeit schenkte, und als er es später bemerkte, war es ihm mehr lästig als angenehm, zuletzt vermied er es ganz, am Fenster zu erscheinen, wenn er vermuthen konnte, daß der Schubkarren mit seiner unerquicklichen Ladung, die größtentheils aus allerlei zusammengelesenen Garten- und Feldfrüchten bestand, vorüberkommen würde. –

Edmund war ein Mann, der durch mancherlei gesellschaftliche Talente in allen Kreisen gern gesehen wurde, unabhängig, und wenn auch nicht reich, doch in einer Lage, die ihm erlaubte, seinen Neigungen zu folgen. Kein einziger hervorstechender Zug lag in seinem Charakter, der ihm durch Bedeutung oder Leidenschaftlichkeit Sorgen gemacht, oder ein frühes Grab bereitet hätte; er war ein gewöhnlicher Mensch, ohne große Empfindungen, Stärke der Seele, ohne besondere Kraft des Geistes. Er gehörte zu jenen Glücklichen, die mit einem Lächeln des Morgens aufstehen, sich des Abends mit einem Lächeln niederlegen und denen der heißere Pulsschlag des Herzens fremd ist. Durch den älteren Arzt in demselben Städtchen, der einen Assistenten suchte, hatte er sich bewegen lassen, nach M… zu kommen, ohne nur im mindesten die Zukunft zu Rathe zu ziehen, ohne den Nutzen oder Nachtheil dieser Stellung zu erwägen.

Als Arzt und hervorragende Persönlichkeit im Orte, stand ihm jedes Haus offen und er versäumte auch nicht, sogleich im Anfange seiner Wirksamkeit von dieser Freiheit den vollständigsten Gebrauch zu machen. Nachdem aber die Besuche abgethan waren und er Niemand gefunden hatte, der ihm ein größeres Interesse eingeflößt hätte, fühlte er doch in seiner einsamen Häuslichkeit eine gewisse Unbehaglichkeit; er mußte auf so manche Genüsse verzichten, die er in der Residenz kennen lernte und die ihm zum Bedürfniß geworden waren; seine ärztliche Thätigkeit war gering und getheilt mit dem noch immer wirkenden älteren Arzte – so kam es, daß sich allmälig die furchtbarste Marter, die Langeweile, bei ihm einzustellen begann. Die gewöhnlichen Auskunftsmittel, Bücher und Politik, erschöpften sich auch und brachten durch ihre Gewöhnlichkeit nicht die gewünschte Wirkung hervor.

Da begann Edmund endlich größere Ausflüge in die Umgegend M…'s zu machen. Fleißig durchwanderte er die umliegenden Ortschaften und Dörfer, obschon sich diese eben nicht durch eine besondere Schönheit ihrer Lage auszeichneten.

Auf einer dieser Wanderungen war er, in Rückerinnerungen versunken weiter gekommen, als wohl in seiner Absicht lag, und verwundert bemerkte er beim Aufblicken nicht mehr die Thürme der Stadt und eine Gegend, die ihm gänzlich unbekannt war. Ermüdet und erschöpft, wollte er eben nach einem Orte suchen, wo er sich niedersetzen und ausruhen könnte, als er jetzt noch zu seinem Schrecken wahrnahm, daß es zu regnen anfing und die Nacht hereinbrach. Doch sah er zu seinem Troste zugleich in der Entfernung von wenigen Minuten eine Mühle, die bereits Feierabend gemacht zu haben schien, denn ihr Räderwerk war verstummt; rüstig ging er auf dieselbe zu. Als er mehrere Male mit dem Knopfe seines Stockes an die Hausthüre geklopft hatte, bewillkommte ihn das heisere Bellen eines Hundes, der im Hofe Wache zu halten schien. Der Schall verhallte in dem Gebäude, eine Pause folgte, doch Niemand kam, um zu öffnen, Edmund wiederholte mit größerer Stärke die Schläge, doch ebenfalls ohne Erfolg. Niemand ließ sich sehen noch hören, nur der Hund unterbrach heulend und winselnd das tiefe Schweigen.

Ungeduldig und mißmuthig, wollte Edmund eben, trotz des immer heftiger strömenden Regens, den Rückweg nach M… antreten, als er auf seiner Schulter den Druck einer Hand empfand. Erschrocken wandte er sich rasch um und blickte in das Gesicht eines Mannes, der ihm nicht ganz unbekannt zu sein schien. Ein mürrisches »Guten Abend« und die Frage, was er wolle, eröffnete die gegenseitige Begrüßung.

»Ich bin ermüdet, von der Dunkelheit und dem Regen überrascht worden, wie Sie sehen,« entgegnete ihm Edmund, und wollte Sie ersuchen, mich in Ihrer Wohnung ausruhen zu lassen, bis der Regen etwas nachläßt. Sie sind doch wohl der Besitzer dieser Mühle?«

Ein kurzes »Nein!« war die ganze Antwort, darauf aber folgte das Klirren eines Schlüssels, der sich im Schlosse drehte. Die Thür ging auf und sie traten, so viel Edmund in der Dunkelheit wahrnehmen konnte, in einen langen Gang, der mit Steinplatten belegt war, wie der dröhnende Widerhall ihrer Tritte bekundete.

»Warten Sie, ich will Licht holen.«

Dies sagend, entfernte sich Edmunds Begleiter, um bald darauf mit einer brennenden Talgkerze zurückzukommen. Auf der Schwelle eines offenen Zimmers stehen bleibend, winkte er Edmund mit der Hand, zu folgen. Dieser gehorchte und trat in ein großes, düsteres Gemach, welches nur kümmerlich durch die spärliche Flamme des Lichtes erhellt wurde. Sein schweigsamer Wirth deutete auf einen hölzernen Stuhl, stellte den Leuchter auf den Tisch, und setzte sich selbst in einen großen ledernen Armstuhl, der seinen breiten Rücken an den gewaltigen Ofen lehnte und sein Alter durch hervorquellende Roßhaare, die an den wurmstichigen Beinen herumhingen, beurkundete.

Edmund verwünschte sein Schicksal, das ihn hierhergeführt hatte und blickte zornig nach dem Fenster, das unter den gewichtigen Schlägen des Regens klirrend erzitterte und draußen eine unterdeß hereingebrochene Finsterniß zeigte, die ein Fortkommen auf den ohnehin so schlechten Feldwegen unmöglich machte.

Durchkreuzt von mancherlei Gedanken, wurde der junge Arzt immer erregter und mit ängstlicher Spannung blickte er vom Fenster hinweg auf seinen Wirth, der stumm und regungslos in der angenommenen Stellung verharrte. Es war ein alter Mann mit scharf gezeichnetem, sonnengebräunten Gesicht. Zahlreiche, tief eingeschnittene Falten, die sogar die fehlenden Augenbraunen ersetzten, machten es widerlich und abschreckend, noch mehr aber der häßliche Mund, der keine Zähne zeigte und in seinen Winkeln nur einen Zug unbeschreibbaren Hohnes und verbissenen Ingrimmes blicken ließ. Die Nase war stark und spitz, die Augen obschon klein, unheimlich und von erloschenem Feuer, blitzten jedoch hie und da noch auf mit stechendem, lauernden Ausdrucke. Die Stirn war hoch gewölbt und endigte in eine kahle Platte, die mit nur noch wenigen grauen Haaren begränzt war. Bekleidet war der Mann mit einem abgeschabten, dunklen, zerrissenen Rocke, der um den langen, dürren Körper schlotterte, einer dunklen, einreihigen Weste, bis an den Hals zugeknöpft, eben solchen, engen Beinkleidern, die bis ans Knie gingen und sich alsdann in ein Paar beschmutzte, mit Fett eingeschmierte Stiefel verloren. –

Auf einem eichenen Tische brannte das Licht und warf einen langen Streifen auf die dunkle Gestalt, wodurch die abschreckende Erscheinung noch unheimlicher wurde. Fortwährend saß der Mann in einer und derselben Stellung, regungslos, wie ein Bild von Stein, den Kopf in beide Hände gestützt und hinstarrend auf die mit gelbem Sand bestreute, schmutzige Diehle des Zimmers. Seinen Gast schien er gar nicht zu bemerken.

Das Wetter tobte indessen draußen fort und wurde mit jedem Augenblick heftiger und stürmischer. Zu dem plätschernden Regen gesellte sich ein starker Wind, der pfeifend um das ganze Gebäude sowohl wie über das Dach in den Schornstein fuhr und mit gellendem Tosen wieder abzog. Das heisere Bellen des Hofhundes vermischte sich mit den aufrührerischen Elementen und suchte sie grollend zu übertäuben. Alles trug dazu bei, die peinliche Stimmung, in welcher sich der junge Arzt seinem stummen Gesellschafter gegenüber befand, zu erhöhen. Die Zeit schien in bleiernen Gewichten zu hängen und wollte nicht vorwärts eilen, endlich schlug die Wanduhr im Zimmer neun.

Edmund stand auf und fragte: ob außer ihm, dem Wirth, Niemand weiter in der Mühle wäre, und ob ihn nicht Jemand nach M… zurückbegleiten könnte.

»Nein!« war die kurze, bestimmte Antwort.

Der junge Arzt ging einige Mal im Zimmer auf und nieder, ohne daß es der Andere zu bemerken schien, setzte sich wieder hin und blickte mit verschränkten Armen und zähneknirschend auf den Alten, der nicht die geringste Miene zur Veränderung seiner Stellung machte. Es vergingen mehre Minuten; es war todtenstill im Innern des Hauses, selbst die Uhr schien ihren Gang gehemmt zu haben, da, mit einem Male, plötzlich springen beide Männer auf, ihr Auge begegnete sich blitzend – ein scharfer, durchdringender Ton hatte ihr Ohr getroffen, ein Ton, wie der Todesschrei der sterbenden Möve. – Eben so rasch, wie er kam, war er verklungen.

Erbleichend und fragend sah Edmund nach dem Alten, doch dieser saß bereits wieder ruhig und gelassen in dem Armstuhle und blickte starr in das Licht, das hin und herflackerte und durch die Zugkraft des Windes, der hereinbrechend heftig an den morschen Fensterstäben rüttelte, zu verlöschen drohte.

Eben wollte Edmund unmuthig seiner Bestürzung Luft machen, als ihn der Alte mit folgenden Worten unterbrach:

»Sie werden genöthigt sein, die Nacht hier zuzubringen, ich will Sie in ein anderes Zimmer bringen, wo Sie ein Bund Stroh zum Lager finden werden, ein anderes Bett habe ich nicht.«

Er stand auf, nahm das Licht vom Tische und machte einige Schritte gegen die Thür.

Der Arzt hielt ihn auf:

»Bevor ich auf Ihren Vorschlag eingehe, möchte ich Sie bitten, mir eine Erklärung zu geben über den sonderbaren Schrei, den wir Beide so eben vernommen haben.«

»Was meinen Sie? ich habe nichts gehört als einen heftigen Windstoß, der vielleicht einige Ziegeln vom Dache schmetterte, das Gebäude ist sehr alt. Kommen Sie!«

»Nein! Sie wollen mich täuschen, ich will Ihnen aber nicht eher folgen und Vertrauen schenken, bis Sie mir nicht eine Erklärung gegeben haben, die mir genügt und die ich verlange.«

»Sie verlangen sie? Wer giebt Ihnen ein solches Recht?«

Der Alte sprach diese Worte hastig und in so drohendem Tone, daß Edmund unwillkührlich einige Schritte zurückwich. In demselben Augenblicke wiederholte sich der Schrei, herzzerreißend, schneidend, scharf.

Edmund fuhr auf:

»Wollen Sie auch jetzt noch von einer Täuschung sprechen? Es muß in Ihrem Hause etwas Ungewöhnliches vorgehen und ich werde nicht eher das Zimmer verlassen, bis ich vollständig aufgeklärt bin!«

Der Alte gab keine Antwort, aber eine merkwürdige Veränderung war mit ihm vorgegangen. Seine Hand, die das Licht hielt, hing schlaff herunter, sein Kopf lag ermattet auf der heftig bewegten Brust, sein ganzer Körper zitterte.

Edmund durchzuckte blitzschnell der Gedanke an ein Verbrechen, das hier begangen worden, aber eben so schnell fühlte er seine verlassene und gefährliche Lage. Was konnte ihm verbürgen, daß der Alte wahr gesprochen, daß er sich allein im Hause befinde, daß nicht irgendwie verdächtiges Gesindel in dem weitläufigen Gebäude verborgen sei? Zwar war ihm während seines Aufenthaltes in M… nie etwas von Raub und Mord in der Umgegend zu Ohren gekommen, doch hatte er in seiner Sorglosigkeit auch nie nach solchen Dingen gefragt.

Da er während dieser verschiedenen seinen Kopf durchkreuzenden Gedanken und im Besinnen, was er unter diesen Umständen anfangen solle, mißtrauisch nach dem Alten blickte, raffte sich dieser aus seiner Hinfälligkeit empor und heftete sein Auge forschend und durchdringend auf Edmund. Er versuchte zu lächeln, wandte sich wieder von ihm ab und sprach beinahe flüsternd die Worte:

»Es ist seit zwanzig Jahren kein Fremder hieher gekommen ... seit zwanzig Jahren! Doch nein, ich spreche nicht die Wahrheit, sie kam ja zu mir, sie!«

Der Alte murmelte noch etwas unverständlich vor sich hin, hielt einen Augenblick inne und fragte dann mit demselben sonderbaren Ausdrucke seinen heftig erregten Gast:

»Sie sind nicht aus M…?«

»Nein!« entgegnete kaum hörbar der.junge Arzt.

»Nicht aus M…? nun freilich kann ich es mir erklären. Sie müssen sehr weit herkommen?«

»Aus der Residenz.«

»Das ist allerdings sehr weit ... fünfzig Meilen beträgt ja wol die Entfernung ... o ich weiß das noch recht gut ... ich war auch einmal in der Residenz ... das ist etwas lange her ... etwas mehr als zwanzig Jahre!« ...

Der Alte sprach dies Alles in abgerissenen Sätzen, leise und unheimlich, ganz verschieden von dem frühern, barschern Tone. Auch seine Gesichtszüge hatten sich merklich verändert; der finstere lauernde Ausdruck war gänzlich verschwunden, dafür aber einer des höchsten Schmerzes eingetreten, der die Augen des Alten trüb umschleierte.

Edmund, der dies Alles wohl wahrnahm, fühlte sich nichts destoweniger in seiner unbehaglichen Stimmung verschlimmert und immer wieder blickte er nach dem Fenster, ob nicht der Mond aufginge und der Sturm nachließ, doch jedes Mal vergeblich. Auch ließ sich zur Verstärkung seiner Unruhe wiederholt jener ihm unerklärbare Schrei vernehmen, und zwar länger anhaltend, obschon weniger heftig und durchdringend.

Gespannt horchte der Alte, auf, ging mit schwankenden Schritten auf den verlassenen Armsessel zu und nöthigte seinen Gast gleichfalls zum Sitzen.

»Sie brauchen sich vor mir nicht zu fürchten,« sprach er laut, als er bemerkte, daß Edmund zögerte, »außer mir ist kein Mann mehr im Hause und ich bin ein alter siebzigjähriger Graukopf, der nicht Kräfte mehr genug hat, um es mit Ihnen aufzunehmen.«

Etwas beruhigter nahm Edmund seinen Platz wieder ein, konnte aber die wiederholte Frage nach der Bedeutung jenes sonderbaren Tones nicht unterdrücken.

»Daß es ein Mensch ist, von dem er ausgeht,« setzte er hinzu, »werden Sie nicht ableugnen können, und wenn ich mich vollständig mit meiner Lage versöhnen soll, so muß ich auf eine Erklärung bestehen.«

»Was würde es nützen, wenn ich sie Ihnen auch gebe, morgen gehen Sie nach M… zurück, erzählen, wo Sie gewesen sind und Sie werden Alles, was Ihnen begegnet ist, zu vergessen suchen.«

»Ihre Nähe kann doch unmöglich so unheilvoll auf einen Fremden einwirken, daß Sie sich von der übrigen Menschheit ganz abschließen müssen?« erwiderte Edmund, indem er vergeblich nach einer Lösung des Räthsels suchte.

»Und doch ist dies der Fall,« murmelte der Alte, »Sie scheinen erst kurze Zeit in M… zu sein?«

»Einige Monate.«

»Einige Monate! und Sie haben nichts über mich gehört?« fragte er verwundert weiter.

»Nein.«

»Nichts gehört! freilich, freilich, es wird alles alltäglich; doch darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Ich habe mich in M… als Arzt niedergelassen,« entgegnete Edmund verdrießlich über die Nachforschungen des alten Mannes.

»Sie sind ein Arzt? ein Arzt?« schrie dieser plötzlich auf, in heftig erregtem Tone, indem er von seinem Sitze aufsprang und auf Edmund zuging, »ich will Ihnen alles sagen, ja, ja, Sie können helfen, und Sie werden es! Sie sind noch jung, Ihr Herz wird noch nicht versteinert sein gegen die Bitten eines unglücklichen Greises!«

Er sank erschöpft zurück in den Sessel und schlug bewußtlos mit seinem Kopfe an die hölzerne Lehne des Stuhles, daß Edmund erschrocken hinzusprang, ihn zu unterstützen. Er erholte sich jedoch bald wieder, sah eine kurze Weile düster vor sich hin und faßte dann die Hand des Arztes und bat ihn mit zitternder Stimme, noch sein letztes Licht zu holen, das er auf dem Fenstergesimse finden würde. Edmund gehorchte und ersetzte das beinahe zum Erlöschen heruntergebrannte.

»Jetzt hören Sie mich an,« sagte hierauf der Alte, »ich will Ihnen eine vollständige Erklärung geben und Ihnen das mittheilen, was Sie auf eine entstellte Weise auch aus dem Munde Anderer hören können.«

Edmund holte eine Cigarre aus seinem Etui und erwartete mit Spannung das Folgende. Der Alte begann:

 

»Ich bin der einzige Sohn eines Predigers aus der Gegend von Hannover und erhielt von meinem Vater, der keineswegs reich war, eine sorgfältige und ausgezeichnete Erziehung. Jedoch zeigte sich bei mir schon früh eine unüberwindliche Neigung zum Bösen, welche mit den Jahren eine so vorherrschende und gefährliche Richtung annahm, daß mein Vater, der mich stets liebevoll und mit großer Nachsicht zu behandeln pflegte, Drohungen und ernstliche Strafen anwenden mußte. Meine Mutter, eine geborne Schwedin, war seit meiner Geburt fortwährend kränkelnd und nervenschwach, daher kam es, daß sie von meiner Neigung, die sich durch viele böswillige Handlungen schon als Knabe deutlich ausprägte, aus Schonung von meinem Vater nicht unterrichtet wurde. Ich selbst hegte eine gewisse Anhänglichkeit für sie, obwol ich keines tieferen Gefühls fähig zu sein schien, und vermied es wenigstens, in ihrer Gegenwart meinen Gelüsten zu allerlei nachtheiligen Neckereien freien Lauf zu lassen.

Eines Abends kam ich von einem Spaziergange sehr spät nach Hause; mein Vater wußte bereits, was geschehen war: ich hatte einen armen Bauerburschen so heftig geschlagen, daß er blutend und gefährlich verwundet nach Hause gebracht werden mußte. Mein Vater empfing mich schweigend und düster.

›Deine Sachen sind bereits gepackt,‹ sagte er mit einer Stimme, an der ich merkte, daß er sich gewaltsam bezwang, ›Du wirst noch heute zur Universität abgehen. Was in meinen Kräften steht, werde ich thun. Diese Brieftasche enthält vorläufig Dein Reisegeld und was Du sonst für den Augenblick nöthig hast. Empfehlungen kann ich Dir nicht mitgeben, ich will Niemand belügen. Nimm Abschied von Deiner Mutter – Gott beschütze Dich!‹ –

Er verließ nach diesen Worten das Zimmer. Ich lachte ihm nach, ich der einzige Sohn eines Vaters, der keinen, nicht den leisesten Vorwurf für mein verbrecherisches Beginnen hatte!«

 

Der Alte hielt einen Augenblick inne, bedeckte mit beiden Händen das Gesicht und fuhr dann weiter fort:

 

»Meine Mutter empfing mich weinend und schmerzlich bewegt über meine plötzliche Abreise, doch galt ihr der Wille meines Vaters als Befehl und segnend legte sie ihre zitternden Hände auf mein Haupt. Ich kam jubelnd an in B…, meinem Bestimmungsorte. Ein neues Leben that sich vor mir auf, ich wollte es genießen und schwamm fröhlich und unbesorgt mit dem vollen Strome der Freude.

Ich hatte bald einen Kreis gleichgesinnter Freunde um mich, die Studien wurden Nebensache, ich verbrachte Tage und Nächte in Wirthshäusern und mit lüderlichen Personen. Je toller es herging, desto willkommener war es mir, ich wurde ein Spieler, Trinker und liebte die Frauen. Mein Vater, dessen Brieftasche, trotz des unerwartet reichlichen Inhalts, bald leer wurde, erhielt mit jedem Posttage einen Brief, worin ich ihn um Geld bestürmte; er gab, was er konnte. Da jedoch seine Sendungen nicht ausreichten, ich immer neue Bedürfnisse kennen lernte, nahm ich zu verbrecherischen Hülfsmitteln meine Zuflucht – ich lernte falsch spielen, borgen und betrügen.

Meinem Vater blieb meine Aufführung nicht unbekannt; ein ihm befreundeter Professor nahm es über sich, mir in seinem Namen ernste Vorstellungen zu machen; ich verhöhnte ihn und warf die Briefe meiner Eltern unbeantwortet und ungelesen ins Feuer, wenn sie ohne die begehrten Rimessen ankamen. Mein Vater schrieb nicht mehr. Ich bekümmerte mich wenig darum und taumelte von Vergnügen zu Vergnügen, von Genuß zu Genuß. Man nannte mich in der ganzen Stadt den ›tollen Predigerssohn‹ und die Straßenjugend wies mit Fingern auf mich; ich lachte und sank immer tiefer in den Schmutz der Gemeinheit und des Lasters. –

Eines Abends wurde, nach hergebrachter Weise, bei mir wieder gespielt und getrunken. Einige Gutsbesitzer aus der Umgegend, die deshalb zur Stadt gekommen waren, setzten ungewöhnlich hoch, ich hielt die Bank und bemerkte mit Verdruß, daß ich im Verlieren war. › Il faut corriger la fortune,‹ dachte ich bei mir und fing an falsch zu spielen, meinem Glücke nachzuhelfen. Es gelang; der Haufe Geldes zu meiner Seite wuchs mehr und mehr, verblendete meine Vermessenheit, machte mich immer kühner und kühner, und veranlaßte, daß ich endlich keinen Abzug mehr vorübergehen ließ, ohne falsch zu spielen.

Wir waren bei der letzten Taille und ich freute mich im Innern bereits außerordentlich über die blinden Thoren und das Gelingen meines Treibens, als ich einen heftigen Schlag in's Gesicht bekam, und sich ein allgemeiner Sturm des Unwillens gegen mich erhob. Ich sah mich umringt, von starken Händen gefaßt und: ›Sie spielen falsch, Sie sind ein Betrüger!‹ hieß es von allen Seiten. Ich schleuderte die Angreifenden zurück, raffte vom Tische eine Hand voll Gold und suchte zu entfliehen – umsonst – die Thür war verrammelt. Rasch entschlossen griff ich nach einem scharfgeschliffenen Messer – wir hatten vor dem Spiele soupirt – und drohte Jeden niederzustechen, der sich mir nahen würde. Der Mühlenbesitzer W…, ein blühend junger Mann, beachtete meine Drohung nicht und sprang, vom Wein erhitzt, auf mich zu – der Dämon des Wahnsinns erfaßte mich – ich führte einen gewaltigen Stoß und – tödtlich getroffen, taumelte W… in die Arme seiner hinter ihm stehenden Freunde. Ich benutze die allgemeine Verwirrung, werfe noch einen letzten Blick auf mein Opfer, reiße das Fenster auf, stürze hinaus in den Hof und gelange glücklich durch eine Hinterthür in's Freie.

Ohne im geringsten Gewissensbisse zu fühlen, nur auf meine Rettung bedacht, irrte ich mehrere Tage in entlegenen Gebirgsgegenden umher, bis ich auf den Gedanken verfiel, meine Eltern aufzusuchen. Ich machte mich sogleich auf den Weg und langte auch unangefochten nach wenigen Tagemärschen, die ich zu Fuße zurücklegte, in der Heimath an. Eine Besorgniß vor Entdeckung, die ich nicht unterdrücken konnte, veranlaßte mich, den Tag unbenutzt vorübergehn zu lassen und erst mit Anbruch der Nacht meinen Vater aufzusuchen. Diese kam herein.

Ich umschlich lauschend den Pfarrhof und spähte durch die geschlossenen Fensterladen, um zu sehen, ob ich meinen Vater allein treffen würde, doch konnte ich nichts entdecken, es war alles finster, still und ruhig; nur in seinem höher gelegenen Studirzimmer bemerkte ich Licht. Etwas bedrückt, doch ohne starke Besorgnisse öffnete ich das Hausthor und ging, ohne von Jemandem betroffen zu werden, die Treppe hinauf. Ich traf meinen Vater allein; er kehrte mir den Rücken zu und lehnte gedankenvoll mit gesenktem Haupte an seinem Schreibtische, auf dem eine Lampe stand, die ein mattes Licht im Zimmer verbreitete.

Durch das Knarren der Thürpfosten aus seinen Gedanken erweckt, wandte sich mein Vater um, und betrachtete mich schweigend von oben bis unten, ohne die geringste Ueberraschung zu zeigen. Ich wollte in seine Arme stürzen, vermochte aber nicht seinen Blick auszuhalten und blieb verwirrt in der Mitte des Zimmers stehen. Eine peinliche Pause erfolgte; ich wollte sprechen, ich konnte es nicht; zum ersten Male fühlte ich einen Anflug von Reue, doch ging diese augenblickliche Regung sogleich vorüber.

Da ich sah, daß mein Vater in seinem Schweigen verharrte und keine Miene machte, mich zuerst anzureden, ging ich trotzig auf ihn zu und wollte ihm die Hand reichen. Er wies sie zurück.

›Was willst Du hier?‹ fragte er endlich mit langsamer, gepreßter Stimme.

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte und blickte verlegen von Hm hinweg auf den Fußboden.

›Die Zeit ist vorüber, Karl,‹ fuhr er endlich nach einer langen Pause wieder fort, ›wo ich über Dich weinen konnte, jetzt habe ich keine Thränen mehr für Dich; komm, ich will Dir die Stelle zeigen, wo die letzten Thränen einem Manne – doch Du weißt wol nicht einmal, was die Thränen eines Mannes bedeuten – wo sie versiegten, die letzten Thränen Deines Vaters.‹

Dies sagend, nahm er mich bei der Hand und geleitete mich hinaus in ein anderes spärlich erleuchtetes Zimmer, in dessen Tiefe ein verhülltes Bette stand. Er führte mich dicht vor dasselbe, zog die Decke fort und deutete schweigend auf die darunter liegende Leiche. – Das Antlitz meiner todten Mutter starrte mir entgegen. Betroffen, doch ohne irgend großen Schmerz zu fühlen, wandte ich mich ab, im Umdrehn nur noch bemerkend, daß die Leiche in ihren gefalteten Händen ein zerknittertes Blatt Papier hielt.

›Karl,‹ sagte mein Vater mit feierlichem, gehobenen Tone, ›Karl, willst Du mir im Angesicht dieser Todten einige Fragen der Wahrheit gemäß beantworten?‹

›Ja, mein Vater.‹

›So höre! Habe ich Dir jemals ein böses Beispiel gegeben, habe ich Dich je in Deinen schlimmen Neigungen bestärkt?‹

›Nein.‹

›Habe ich Dir je eine böse Handlung ungerügt vorüber gehen lassen?‹

›Nein.‹

›Habe ich nicht stets durch Worte, Ermahnungen, durch harte Strafen Dich davon abzuhalten gesucht?‹

›Ja, mein Vater.‹

›Habe ich je eine meiner Pflichten als Vater gegen Dich, meinen Sohn, versäumt? Habe ich etwas unterlassen, Dir eine gute Erziehung zu geben?‹

›Nein.‹

›Deine Mutter?‹ fragte er weiter mit gewaltiger, volltönender Stimme, indem er zugleich das Papier aus den Händen der Todten riß – ›die Wahrheit, Karl!‹

›Nein, auch nicht meine Mutter.‹

›Dies hat sie getödtet – ich habe keinen Sohn mehr!‹

Mit diesen Worten warf er mir das Blatt Papier zu und verließ hochaufgerichtet das Zimmer.

Ich blickte betroffen auf das Blatt – es war der nach mir ausgeschriebene Steckbrief.«

 

Der Alte unterbrach sich hier, indem er mit der Hand über die Augen fuhr, als könnte er eine trübe Erinnerung hinwegwischen; der junge Arzt störte ihn nicht, sondern blickte auf ihn mit den getheilten Empfindungen des Mitleids und des Abscheus, als er wieder begann:

 

»Ich verließ in derselben Nacht mein Heimathhaus, um es nie wieder zu sehn. Mein Vater, wie ich später vernahm, starb bald darauf aus Gram über den doppelten Verlust seiner Gattin und seines einzigen Sohnes. Wenn ich mir Rechenschaft geben soll von den Gefühlen, die mich in jener verhängnißvollen Nacht bestürmten, so vermöchte ich es nicht; es liegen zu viele Jahre dazwischen, um die Erinnerung vollständig wach zu erhalten, das weiß ich nur, daß ich den Vorsatz faßte, ein anderer, besserer Mensch zu werden. Leider war aber die Neigung zum Bösen in mir so gewaltig und vorherrschend, daß es nur bei dem Vorsatze blieb und ich die Ausführung vergaß. Hier,« fügte er bitter lächelnd hinzu, »konnte ich an die Vorherbestimmung glauben und übte das Böse mit Lust. Ich will Sie mit der Herzählung der unerheblicheren Begebenheiten meines buntbewegten Lebens verschonen, sie sind ein fortlaufender Morast von Sünden und kleinen Vergehungen, ich will viele Jahre nur erwähnend besprechen.

Den verfolgenden Armen der Justiz wußte ich mich glücklich zu entziehen und durchstrich planlos einen großen Theil Deutschlands und der angrenzenden Länder, hier vagabondirend, dort bettelnd, bei passender Gelegenheit auch wol stehlend. Eine einzige gute That unterbrach die lange Stufenleiter meiner Verbrechen; sie war es denn auch, die mir später das Leben rettete. In den ausgebrochenen Kriegen, die halb Europa verheerten und die ich als Marodeur mitmachte, hatte ich Gelegenheit, einen königlichen Prinzen aus einer großen Gefahr zu befreien, die ihm von feindlicher Seite drohte, und ihn so dem nahen Tode zu entreißen. Mochte es nun sein, daß ich es zu jener Zeit nicht bedurfte, oder daß ich eine Ahnung von einer künftigen größeren Notwendigkeit hatte, genug, ich schlug die mir damals gebotene, reiche Belohnung aus und erbat mir dafür eine schriftliche Berechtigung, mir später zu jeder Stunde eine Gnade ausbitten zu dürfen. Dieser Schein wurde mir von dem Prinzen sogleich und willig ausgestellt.

Viele Jahre vergingen; ich hatte bereits mein fünfzigstes erreicht, und noch immer keine bleibende Stätte gefunden, obgleich ich mich darnach zu sehnen begann. Die Kraft der Jugend hatte ich nutzlos vergeudet, das Gold der Blüthenzeit in den Staub geworfen, mein Herz dem Raupenfraß gemeiner Gelüste geopfert, und dafür einen unstäten, wilden Sinn, den irren Drang nach immer neuen Begebenheiten geerndtet, den Fluch des doppelten Mordes auf mich geladen. Diese Gedanken, die nach und nach immer heftiger auf mich einstürmten, folterten mich in der Stille der Nacht, wie in der lärmenden Hast des Tages, und jagten mich ruhelos von Ort zu Ort. –

Es sind jetzt zwanzig Jahre her, eine lange, lange Zeit, ... da führte mich der Zufall in diese Gegend. Fast unter denselben Umständen, wie Sie, von Nacht und Regen überfallen, pochte ich um Einlaß in diese Mühle, die damals lebhaft im Gange war und ein bedeutend besseres Aussehen hatte, als jetzt. Es war Alles wohnlich und behaglich, innen und außen; die Fenster spiegelten blank und glänzend, das rothe Dach, jedem Wanderer gastlich zuwinkend, schimmerte weithin durch die grünen, gewaltigen Lindenbäume, die jetzt mit dürren, vertrockneten Aesten an den vergrauten Ziegeln des Hauses rütteln. –

Eine junge Frau öffnete mir die verschlossene Thür, hieß mich freundlich willkommen und geleitete mich in das Wohnzimmer, in dasselbe, wo wir uns jetzt befinden.«

 

Der Alte stand hier auf, versuchte einige Schritte zu gehen, hielt aber vor seinem Gaste plötzlich an und sagte zu ihm in beklommenem, leisen Tone:

»Wo Sie sitzen, Herr Doctor, saß auch er; ich mußte auf den Augen stumpf geworden sein, daß ich ihn nicht sogleich wiedererkannte, und doch stand sein Name mit brennenden Zügen in meinem Gedächtniß eingeschrieben.«

»Wer?« fragte Edmund, in demselben leisen Ton, als der Alte schwieg.

»Wer?« wiederholte dieser, indem er fieberhaft aufschreckte und sich zitternd im Zimmer umsah, als erblickte er etwas Gespenstisches – »ja so! Sie sind es, junger Herr! Nun, Sie brauchen mich nicht so verstört anzustieren, das Alter ist schreckhaft und furchtsam, wie die Kinder ... wie die Kinder.« –

Schauernd setzte er sich wieder hin, die letzten Worte mehrere Male vor sich hin murmelnd, bis er wieder zu sich selbst kommend mit erhobener Stimme fortfuhr:

 

»Mein Wirth bot mir einen herzlichen ›Guten Abend,‹ befahl, den Tisch zu decken, als er meine Ermattung bemerkte, und führte mich an den Ehrenplatz, den er sonst selbst einzunehmen pflegte. Seine Frau saß an meiner Seite, er mir gegenüber und beide bedienten ihren Gast. Ich wurde munter und aufgeweckt, erzählte dies und jenes, manches meiner Abenteuer, und kam zuletzt auch auf meinen Wunsch zu sprechen, nun auch irgendwo ein festes Asyl zu finden und mich zur Ruhe zu begeben. Als ich meine Erzählung beendigt hatte und schwieg, bemerkte ich, wie mein Wirth mit seiner Gattin, die bereits meine größte Aufmerksamkeit durch ihre Schönheit erregt hatte, leise flüsterte und etwas zu besprechen schien. Er sah mich lächelnd an, stand aus und sagte sich mir nähernd:

›Ich bin an ihrem Unglücke zum Theil Schuld, es ist billig, daß ich mein Unrecht einigermaßen gut zu machen suche, bleiben Sie bei mir, wenn Sie wollen, Sie sollen sich nicht zu beklagen haben – vergeben und vergessen sei alles Vergangene!‹

Er hielt mir die Hand hin – jetzt erkannte ich ihn – es war der Mühlenbesitzer W…, den ich einst im Spiel tödtlich verwundet hatte.

Sie werden nun glauben, daß ich, durch seinen Edelmuth gerührt, niedergedonnert von der furchtbaren Beschämung, ihm zu Füßen stürzte, seine Verzeihung zu erflehen suchte, meinen heißen Dank durch aufrichtige Thränen der Reue bezeugte – nein! das that ich alles nicht; ich nahm vielmehr seinen Vorschlag wie ganz hergebracht, gelassen an, und blickte dabei verstohlen, mit heimlicher auflodernder Gluth auf sein junges schönes Weib.

Ich blieb im Hause; aß, trank, führte ein sorgenfreies, unthätiges Schmarotzerleben und beschäftigte mich fortwährend mit Gedanken und Plänen, wie ich am besten und auf die gescheiteste Weise zu dem Besitze der Gattin meines großmüthigen Freundes gelangen könnte. Vergebens erschöpfte ich aber meinen Scharfsinn, verschwendete Bitten und Drohungen, sie blieb ihren Pflichten gegen den Gatten treu und gab mir ihren Abscheu offen zu erkennen.

Meine Leidenschaft wuchs zu einem rücksichtslosen und so unverhüllbaren Grade, daß sie endlich auch die Aufmerksamkeit des Mannes erwecken mußte. Wir geriethen in einen heftigen Streit, er warf mir meinen Undank vor und ersuchte mich, sein Haus zu verlassen. Ich sann auf Rache.

Der folgende Tag war ein Sonntag, an dem er jedes Mal zur Frühpredigt in die Stadt ging; der Weg, den er gehen mußte, war wenig besucht und führte durch einen dichten, finstern Wald, der an diesem Morgen, der ein dunkler und regnerischer war, doppelt unheimlich erschien; ich lauerte ihm darin auf – er kam nicht wieder nach Hause.

Der Jammer in der Mühle war groß, die Verzweiflung der jungen Frau, die ein Kind unter dem Herzen trug, wahrhaft erbarmungswürdig; mit noch bluttriefender Hand, aber mit der teilnehmendsten Miene von der Welt, wagte ich es, vor sie hinzutreten und sie zu trösten. Sie aber, die eine Ahnung des Vorgefallenen hatte, lenkte den Verdacht der Gerichte auf mich und nannte mich laut einen Mörder. Ich wurde verhaftet und zum Verhör gebracht.

Obwol sich keine Zeugen der Mordthat herausstellten, sprach doch meine Vergangenheit und mein früheres übelberüchtigtes Betragen zu dringend gegen mich, als daß der Versuch des Leugnens mir hätte glücken können. Mit Berücksichtigung des vorangegangenen Streites und der fehlenden Zeugen wurde ich in zweiter Instanz zu lebenslänglicher Kerkerstrafe verurtheilt. Der früher gegen mich erlassene Steckbrief war durch die Länge der Zeit gänzlich vergessen worden.

Wie ich noch gleichzeitig hörte, verfiel die Mühle schuldenhalber dem Fiskus und wurde als königliches Gut eingezogen und nicht wieder verpachtet. Die unglückliche Wittwe W… war obdachlos, dem Mangel und der Sorge preisgegeben. –

Bevor ich in das Zellengefängniß zu H… gebracht wurde, schrieb ich einen Brief an den Prinzen, dem ich das Leben gerettet hatte und erinnerte ihn jetzt an sein mir damals gegebenes Versprechen.

Ich scherzte, als ich die mir angewiesene Zelle betrat und bedankte mich für die hübsche Wohnung bei dem mich begleitenden Aufseher; dieser sah mich ernst und schweigend an, schloß die Thür hinter mir – und ich war für immer allein. Mit Gleichmuth betrachtete ich anfangs das kleine Gemach, bald bemerkte ich jedoch mit Mißmuth, daß kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett sich in demselben befand – nichts, als vier nackte, weiß getünchte Wände starrten mich an, die sparsam erhellt wurden durch einen einzigen Lichtstrahl, der von der Decke herabfiel. Ich legte mich verdrießlich auf den Boden und versuchte zu schlafen – der Druck meiner eisernen Ketten ließ es nicht zu, ich sprang auf und durchmaß die Länge des Zimmers, sie betrug kaum sechs Fuß. Ich kreuzte die Arme und versuchte ein Lied zu trällern – die Kehle war mir wie zugeschnürt, ich vermochte keinen Ton hervorzubringen. Nachdem ich mancherlei erschöpft, was ich für zweckdienlich hielt, mein peinliches Gefühl zu unterdrücken, alles nichts half, nichts wirken wollte, durchzuckte mich mit einem Male unter Fieberfrost der furchtbare Gedanke: hier lebenslänglich begraben zu sein! Ich schloß die Augen vor dieser gräßlichen Vorstellung und stürzte ohnmächtig zusammen.

Als ich aus meiner Betäubung erwachte, lauschte ich mit gespanntem Ohr: ich glaubte eine menschliche Stimme zu hören – jubelnd sprang ich empor – das Klirren der Kette weckte mich aus einer qualvollen, entsetzlichen Täuschung. Da stürzte ich verzweiflungsvoll auf die Knie und versuchte zu beten – ich hatte es verlernt, vielleicht nie gekonnt, Gott wußte nichts von mir! – Aufrasend schlug ich mit meinen Ketten an die steinerne Mauer – das Blut spritzte umher und rieselte von meinen Händen, aber Niemand kam, um mir zu helfen. Ich warf mich heulend und zähneknirschend auf den Boden und sprach die gräßlichsten Verwünschungen gegen Gott und die Menschen aus, ich schrak selbst vor der Furchtbarkeit meiner Stimme zusammen – es hörte mich weiter Niemand. Ich wälzte mich winselnd umher, kauerte fröstelnd aus einem Winkel in den andern, lachte auf, schlug mir mit der Faust in's Gesicht, sprang und hüpfte wie ein Toller herum – der Geist des Wahnsinns packte mich an. – Endlich wurde ich ruhiger und verfiel in ein dumpfes Brüten. –

Wie lange ich in diesem Zustande verblieb, weiß ich nicht; ich hatte kein Maaß für Raum und Zeit, ich wußte nicht, ob es Morgen oder Abend, ob die Sonne schien oder der Mond. –

Plötzlich hörte ich ein Geräusch an der Zimmerthür; ich horchte zwar hin, sprang aber nicht empor, um nicht abermals getäuscht zu werden, – aber nein, dies Mal war es keine Täuschung, nein, nein! ein kleines Schiebfenster wurde von außen zurückgeschoben, eine Hand streckte sich herein und reichte mir Brot und einen Krug mit Wasser. Das wiederholte sich von Zeit zu Zeit, doch niemals bekam ich ein Gesicht zu sehen, nie eine Stimme zu hören. Vergeblich war es, daß ich immer und wieder um Bücher, Papier oder Arbeit bat. – Die Hand reichte mir das tägliche Brod und verschwand.

Die Zeit ging unendlich langsam hin, ich hatte verlernt nach Stunden, Tagen und Jahren zu rechnen, ich wußte nicht, war es draußen Frühling oder Herbst. Nur wenn der Winter kam, da merkte ich es wol an der grimmigen, unbarmherzigen Kälte, die hereinzog und meine Hände und Füße mit Frostbeulen bedeckte. Auch war es in einem solchen Winter – die Leute haben ihn nachher in das Jahr 18.. verlegt und als besonders hart bezeichnet – daß ich krank wurde und sehr leiden mußte; aber da kam kein Doctor oder ein Krankenwärter, der mir helfen wollte, und ich war denn doch schon sehr alt und schwach geworden.

Auch gut bin ich geworden, lieber Himmel, recht gut, viel besser, als ich es war in den frühern Tagen meiner Freiheit. Woher das kommen mochte, ich weiß es nicht zu sagen, aber mein Starrsinn und unbeugsamer Trotz war gebrochen und es war mir oft im Schlaf – ich lernte auch nach und nach schlafen auf dem kalten, steinernen Boden, lieber Herr – als stieg ein Engel des Trostes zu mir hernieder, der mich mitleidig ansah, und ich lernte ihn lieben und zu ihm beten.

O, mein Gott! als ich da mein erstes Gebet zu stammeln lernte, welche Wonne und nie geahnte Seligkeit erfaßte mich da! Ich bat den Ewigen inbrünstig um Vergebung meiner Sünden und er schickte mir wieder den Engel zu, der mich lächelnd ansah und freundlich mit dem Haupte nickte. So war mir meine böse Vergangenheit vergeben, und ich erkannte mein Gefängniß als milde und gerechte Strafe an für meine großen Verbrechen. Die finstern Gestalten, die mich früher so oft in meinen Träumen schreckten, verließen mich nach und nach; mit der wachsenden Innigkeit meines Gebets verschwand der drohende Ausdruck in dem Antlitz meiner Mutter und meines edelmüthigen Freundes, die ich so grausam getödtet; er verwandelte sich in die liebevollen Züge der Vergebung und der Versöhnung. –

Manchmal kam freilich auch wieder die Zeit, wo ich mich bedrückt fühlte, die Last meiner Verbrechen wieder auftauchte, die furchtbare Einsamkeit mir schwer auf's Herz fiel. – In einer solchen Stimmung war es, als sich ein Schlüssel im Schloß drehte, die Thür aufging und der Aufseher, der mich bei meinem Eintritt ernst betrachtete, mit lächelnder Miene in die Zelle trat. Ich war emporgesprungen und sah ihn staunend an, ich wußte mich gar nicht zu fassen über den ungewohnten Anblick eines Menschen.

›Sie sind frei!‹ sagte der Aufseher.

Herr, wie soll ich Ihnen meine Empfindungen beschreiben! Frei! Das Wort ist so erhaben, daß es Alles in sich faßt, was der Mensch an irdischen Gütern schätzt! Ich war frei, frei! weiter fühlte ich nichts, und stürzte sprachlos, sinnlos vor Entzücken auf die Knie, blickte auf zum Allmächtigen und – weinte, weinte die ersten Thränen meines Lebens!

Zunächst fragte ich, wie lange ich im Gefängniß gewesen sei. ›Zehn Jahre,‹ antwortete der Aufseher, indem er mir zugleich Reisegeld und den schriftlichen Befehl des Prinzen, dem ich meine Begnadigung zu verdanken hatte, einhändigte, mich sogleich hierher in diese Mühle zu begeben, die ich fortan als meinen Aufenthaltsort zu betrachten hätte.

Es lag Gnade und Strafe in diesem Verfahren; ich wußte wol, wo ich mein Haupt niederlegen konnte, aber zu gleicher Zeit war ich auf dem Schauplatze meiner Schande und meiner verruchtesten That. –

Ich kam hier an; seit den Tagen des Mordes war Niemand hier gewesen, der Betrieb der Mühle auf höhere Anordnung gänzlich eingegangen, und auch ich durfte von der Gerechtsame keinen Gebrauch machen. Das Haus war öde und verfallen, die Bewohner der benachbarten Ortschaften vermieden es, hierher zu kommen, und nannten die Stelle: ›die unheimliche Mühle.‹

Mit der Versöhnung im Herzen, suchte ich eine menschliche Annäherung, ich wurde aber schnöde und verächtlich zurückgewiesen. Ich unterdrückte den aufsteigenden Groll, zog mich ganz zurück und sah und sprach Niemanden. Aber ich wurde immer hinfälliger und schwächer, ich konnte mir manches nicht allein besorgen und brauchte die Hülfe eines Zweiten nothwendig zur Bestellung des kleinen Ackers, der mir überwiesen war, und der mich ernähren sollte. Ich bot auf, was ich vermochte, bat und flehte, aber Niemand fand sich, der mit mir wohnen, sich meiner annehmen wollte. Ja, man ging mir überall aus dem Wege und erwiderte nicht meinen Gruß, ich war unter den Menschen einsamer fast, als in meinem Gefängniß. Ich mußte Gott bitten um keinen Rückfall zum Bösen und einen baldigen Tod.

Meine Noth nahm aber furchtbar überhand, meine Verzweiflung stieg von Stunde zu Stunde und schon umlauerte mich der entsetzliche Gedanke an Selbstmord, als ein Umstand eintrat, der mich lange Jahre zum glücklichsten, seit wenigen Tagen zum elendesten Menschen gemacht hat.

Ich war in einer frühen Morgenstunde beschäftigt, das kaum mehr haltbare Hausgeräth, welches Sie jetzt noch hier sehen, nach Möglichkeit herzustellen, als ein leises Pochen mich in meiner Arbeit unterbrach. Ueberrascht wandte ich mich um und öffnete selbst die Thüre. Ein junges Mädchen von ungefähr eilf Jahren trat mir weinend entgegen, in dürftiger, schwarzer Kleidung, ein kleines Päckchen mit Wäsche unter dem Arm. Nachdem ich sie hastig und erfreut zum Sitzen genöthigt hatte, flehte sie mich an, sie bei mir aufzunehmen, sie sei eine vater- und mutterlose Waise. Jubelnd im Innern, preßte ich sie an meine Brust und suchte sie zu trösten.

So hatte ich es endlich gefunden, das Herz, nach dem ich mich so lange in Sehnsucht verzehrt, nach dem ich so lange geschmachtet hatte, das meine Einsamkeit theilen wollte! Aus ihren früher n Verhältnissen erfuhr ich denn noch, daß ihre Mutter, eine arme Wittwe, die um das tägliche Brod habe arbeiten müssen, in der kleinen, einige Meilen entfernten Stadt M… vor drei Jahren im größten Elend gestorben sei; eine Bauersfrau, die sie gekannt habe und die mehrere Stunden von hier eine kleine Besitzung besaß, hatte sich der Verlassenen erbarmt und sie zu sich genommen. Aber auch diese brave Frau war vorgestern gestorben und die hartherzigen Erben hatten das arme Kind verjagt. Verzweifelnd und planlos auf der Landstraße umherirrend, habe ihr ein Knecht gerathen, sich an mich zu wenden, ich würde sie gewiß aufnehmen. –

O wie dankte ich Gott, daß er mir dieses Mädchen, das ich zu lieben beschloß, wie nie ein Vater sein Kind geliebt hat, zugeführt hatte. Ich fragte sie nach ihrem Namen, sie nannte sich Anna W… Ich bebte entsetzt zurück und starrte sie zitternd an – es war die Tochter des von mir Hingemordeten. Scheu und ängstlich suchte ich später zu erforschen, ob sie wisse, bei wem sie eigentlich sei, sie hatte Gottlob! keine Ahnung davon.

Viele Jahre lebten wir miteinander, und mein Gemüth wurde immer stiller, ruhiger, zufriedener. Nur eine Sorge lastete schwer auf mir; mit unbeschreibbarer Angst dachte ich manchmal daran, daß ein Umstand dem Kinde mein furchtbares Verbrechen enthüllen, und ich es wieder verlieren könnte! Freilich wurde sie von Allen geflohen und gemieden, wie ich selbst, als man sie in meiner Begleitung sah und wußte, daß sie in meinem Hause wohnte; aber wer hindert die Wege des Zufalls!

Anna war ein gutes, ernstes Kind, die niemals eine Klage vernehmen, mich nie empfinden ließ, daß der auf mir lastende Fluch der Einsamkeit auch auf sie übergegangen war. Wir waren arm, Herr, sehr arm, das kleine Feld am Hause mußten wir bebauen mit unsern Händen, ohne Hülfe von andern Menschen, Pferden und Pflug. Wir gingen hinaus und sammelten Knochen und Lumpen von der Straße und fuhren damit und den gewonnenen Gartenfrüchten allwöchentlich in die Stadt zum Verkauf.«

Den jungen Arzt durchzuckte an dieser Stelle ein Gedanke wie ein Blitz.

»Es war wenig, sehr wenig, was wir auf den Markt brachten, aber auch das zu verwerthen, wurde uns sehr schwer. Die Menschen gingen an uns scheu und ängstlich vorüber und wollten nichts von dem ›bösen Müller‹ kaufen und wir mußten oft zurückkehren nach Hause, ohne das tägliche Brod mitzubringen; aber wir mußten doch leben, Herr, und ich legte mich so lange auf's Flehen und Bitten, bis ich Jemanden fand, der sich unser erbarmte und für ein Geringes meine Ladung erstand.

Anna ertrug Alles geduldig mit mir und suchte mich zu trösten, wenn ich weinend auf meine Hände blickte, die, altersschwach und zitternd, kaum den Spaten mehr zu führen vermochten. In zerrissenen Kleidern, da selbst die Nath nicht mehr halten wollte, ohne Schuhe, Winter und Sommer, in Sturm und Hitze, arbeitete sie unverdrossen, nur mir jede Mühe zu ersparen.

›Lieber Vater,‹ sagte sie dann zu mir, wenn ich sie an meine Brust preßte und ihre erstarrten, von Arbeit zerrissenen Händchen mit meinen durch Alter blutlos gewordenen Fingern zu erwärmen suchte, ›lieber Vater, Du hast mich aufgenommen als Dein Kind, eine Waise kann Dir das nie wieder vergelten.‹

Das schnitt mir durch's Herz. –

Sie war von Natur sehr still, ernst und schweigsam, aber seit einigen Wochen fiel mir eine ungewöhnliche Hast und Unruhe an ihr auf. Wenn Sonnabends der beladene Karren vor der Thür stand, konnte sie kaum den Augenblick der Abfahrt erwarten; mit übermäßiger Anstrengung zog sie ihn fort, daß ich oft Mühe hatte, mit meinen schwachen Füßen ihr zu folgen; erblickte sie die Thürme der Stadt, so jubelte sie laut auf, hielt aber seufzend und keuchend auf einmal inne, und war alsdann nur durch liebevolle Worte zum Vorwärtsgehen zu bewegen.

Ich hatte zu sehr im Umgange mit Menschen gelernt, meine Augen zu Boden zu schlagen, und bemerkte deshalb nicht, ob sie vielleicht irgend Jemand in der Stadt besonders fesselte. Auf dem Rückwege war Anna schweigsamer und trauriger als je; mit gesenktem Haupte und verweinten Augen setzte sie sich bei der Ankunft zu Hause in einen Winkel und verschmähte Essen und Trinken. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte und beschwor und bat sie, mir zu sagen, was ihr fehle. Sie schüttelte traurig das Haupt und sagte nur immer:

›Vater, Du kannst mir doch nicht helfen!‹

Ich fragte sie, ob sie krank sei, ich wolle zum Arzt gehen und ihn fußfällig bitten, hierher zu kommen. Sie heftete ihre großen, wunderbar schönen Augen sinnend auf mich und fragte mit dem Tone schmerzlicher Begierde:

›Ist er ein Arzt gegen die Liebe, dann Vater, dann thu's!‹

Ich schrak heftig zusammen, das hatte ich nicht erwartet. O menschliches, schwaches, gebrechliches Menschenherz, das immer und wieder, in Noth und Elend zum Urquell seiner Bestimmung, zur Liebe zurückkehrt. Vergebens suchte ich mehr von ihr zu erfahren, sie nahm meine Hand und sagte schmerzlich:

›Laß das, guter Vater, der Tod wird mir wol zu Hülfe kommen.‹«

Tief bewegt unterbrach sich der Alte, indem er die Hände faltete und seinen gleichfalls tief erschütterten Gast betrachtete, dann fuhr er fort:

»Nein, der Tod hatte noch kein Erbarmen mit ihr, die Vorsehung ihr noch eine härtere Erfahrung bestimmt – sie sei gepriesen auch dafür! Zum ersten Male seit ihrer Ankunft ging am vergangenen Sonnabend mit Blumen zum Verkauf Anna allein in die Stadt. Ich saß am Fenster, von Gichtschmerzen gequält, die meine Füße lähmten, und wartete mit ängstlicher Freude auf ihre Rückkehr. Ich blickte hinauf zum wolkenlosen Himmel und lauschte dem Gesange der Vögel, als ich Anna wahrnahm, die verstört, mit irrem Blick und hastiger Eile auf das Haus zukam. Erschrocken versuchte ich es, aufzustehen und ihr entgegen zu gehen, als sie bereits athemlos in's Zimmer stürzte.

›Herr,‹ stammelte sie odemlos, ›Herr, ist es wahr, was ich in der Stadt von dem ersten Menschen, der mich anredete, erfahren habe, daß Ihr meinen Vater ermordet habt?‹

Das Gräßliche war geschehen, ich hielt mich am Stuhle fest, um nicht vor Bewegung hinzusinken. Sie wiederholte die Frage scheu, ängstlich, erwartungsvoll. –

›Ja, es ist wahr!‹

›Wahr!‹ rief sie hellauflachend, und stürzte besinnungslos zu Boden.

Nachdem ich mich selbst gewaltsam aus meiner furchtbaren Erschütterung emporgerafft, versuchte ich es, sie aufzuheben. Sie erholte sich langsam, schlug die Augen auf, starrte mich verwundert an, fing an zu lächeln, dann zu lachen, lauter, immer lauter, daß es gellend durch die alten Räume drang – sie war wahnsinnig geworden. –

Ich trug sie hinauf in ihre Kammer, auf meinen schwachen Armen, die ich wund rieb, bis ihnen meine Verzweiflung Kräfte gab, und wachte an ihrem Lager. Sie verfiel bald in die furchtbarste Raserei, bald starrte sie leise lächelnd vor sich hin, rief ihren todten Vater, den treulosen Geliebten. –

Gestern ging ich hin zur Stadt in die Wohnung des Arztes – ich wußte nicht, daß sich dort ein Zweiter aufhielt, und wollte ihn sprechen. Der Diener des Hauses drohte, mich die Treppe hinabzuwerfen, wenn ich mich nicht sogleich entfernte; ich blieb und ließ mich schlagen und wartete auf seinen Herrn, bis er kam. Er bedauerte den Vorfall, den ich ihm vortrug unendlich, fügte aber hinzu, er selbst sei unwohl und könne mich nicht zur Kranken begleiten. Ich ging zu dem Apotheker der Stadt, und da ich kein Geld hatte, bot ich ihm meinen Rock an gegen eine Erfrischung für meine Kranke; er betrachtete diesen genau und da er ihm wohl zu alt und fadenscheinig erscheinen mochte, sagte der Apotheker, er sei kein Trödler und wies mich ab.

Ich kam nach Hause, wie ich gegangen war, ohne Hülfe, ohne Trost, arm und elend, wie früher – jetzt werden Sie sich, mein Herr, wol den Schrei, der Sie so heftig erschreckte, erklären können.«

 

Der Alte hatte geendigt; er faltete die schwieligen, von harter Arbeit benarbten Hände und sprach ein leises Gebet. Heftig erschüttert, bis in das Mark der Seele ergriffen, sprang der junge Arzt empor und machte einige Gänge durch das Zimmer, durch dessen Fenster der erste Strahl des anbrechenden Morgens hereindrang. Der Sturm hatte sich gänzlich gelegt, draußen war es friedlich und heiter.

Der Alte nahm das Licht vom Tische und fragte Edmund, ob er ihn hinauf zur Kranken begleiten wollte. Edmund nickte bejahend und folgte seinem greisen Führer über eine schmale, morsche Treppe in ein kleines Zimmer, welches das beste im Hause zu sein schien, so viel einige Ueberreste von Tapeten erkennen ließen. In der hintersten Ecke war ein Strohlager aufgeschüttet und mit einem durchlöcherten Laken überdeckt, auf welchem das Mädchen lag, das Edmund sogleich als dasjenige erkannte, welches ihm so oft beim Vorüberziehn einen schmerzlichen Blick zugeworfen hatte.

Er trat lauschend näher, während ihm der Alte zur Seite stand und mit zitternden Händen den Leuchter hielt. Sie schien zu schlummern, aber von unruhigen Träumen gefoltert zu sein; häufig fuhr sie mit der linken Hand über die Augen, als wollte sie einen stechenden Schmerz verscheuchen, während ihre Rechte krampfhaft einen Zipfel des Leintuches hielt. Ihr Gesicht, dessen Züge sämmtlich das Gepräge der Schönheit trugen, war von einer krankhaften Blässe überzogen, und hie und da zeigten sich rothe Flecke, die Edmund mit Schrecken bemerkte; die Wangen waren hohl und eingefallen, die hohe Stirn mit kalten Schweißtropfen bedeckt, die langen Arme, abgehärmt und mager, von aller Hülle entblößt, umwallten die schwarzen Haare, die weit und fessellos über den Körper hingen. Ihre Kleidung war zerrissen und dürftig, doch konnte dem aufmerksamen Auge nicht entgehen, daß ein gewisses Bestreben nach Zierlichkeit und Reinlichkeit sich darin aussprach.

Leise fühlte Edmund ihren Puls und hing lauschend an ihrem Athem, als sie, wahrscheinlich durch einen Traum erschreckt, denselben Schrei wie früher mit herzzerreißender Gewalt ausstieß und eine heftige Bewegung zum Aufstehen machte. Edmund trat zurück und als er sah, daß sie sich wieder beruhigte und weiter schlief, winkte er schweigend dem Alten, ihm hinaus zu folgen.

Als sie an der Hausthüre angekommen waren, reichte Edmund dem Greise die Hand mit den Worten:

»Ich muß jetzt nach der Stadt, man dürfte mich vermissen; sollte ich nicht schon im Laufe des heutigen Tages wiederkommen, so geschieht es morgen gewiß; trösten Sie sich und seien Sie versichert, daß ich Alles anwenden werde, was Ihnen Erleichterung von Ihrer Besorgniß und Ihrer Pflegetochter Hülfe bringen kann.«

Er verhinderte mit Mühe, daß ihm der Alte dankend zu Füßen stürzte, und eilte zurück auf dem Wege zur Stadt.

Von mannigfachen Gedanken und Empfindungen bestürmt und mit dem Entschlusse, Alles zur Rettung der Unglücklichen aufzuwenden, kam er nach Hause, wo man ihn mit großer Besorgniß erwartete. Er war überrascht, seinen Vater hier zu finden, der während seiner Abwesenheit unvermuthet angekommen war. Nachdem dieser etwas von Nachtschwärmereien und dergleichen hatte fallen lassen, fragte er Edmund, ob er ihn nach G…, einer benachbarten großen Stadt, wo er einige Geschäfte abzumachen habe, begleiten wolle. Willig sagte Edmund zu, und noch an demselben Nachmittage reisten Beide dahin ab.

Einige Tage wechselnden Vergnügens vergingen für ihn und ließen keine Rückerinnerungen aufkommen, und als es dennoch ein Mal geschah, wurde sie bald wieder vergessen. Er verblieb noch kurze Zeit in G… und trat dann fröhlich und unbesorgt die Rückreise an, mit dem Vorsatze, sogleich bei seiner Ankunft die Bewohner der »unheimlichen Mühle« aufzusuchen.

Es war Nacht, als er in H… wieder ankam. Auf seinem Tische lag ein zusammengefaltetes Blatt, welches, wie die Wirthin lachend erzählte, »der böse Müller« gestern Morgen hier abgegeben habe. Es war ein vergilbtes, schmutziges, mit angefeuchteten Brodkrumen versiegeltes Papier, welches die Worte enthielt:

»Anna liegt im Sterben; kommen Sie schnell, oder es wird zu spät!« –

Unangenehm berührt, befahl der Arzt, ihn morgenfrüh zeitig zu wecken, und legte sich, von der Reise etwas ermüdet, zu Bette. Eben hatte er die Augen geschlossen und versuchte zu entschlummern, als ihn ein starker Lärm auf der Straße und Feuerruf erweckte. Ahnungsvoll sprang er rasch aus dem Bette, kleidete sich an und stürzte die Treppe hinunter. Auf seine hastigen Fragen hörte er, daß »die unheimliche Mühle« in Brand gerathen sei, wahrscheinlich auf Anstiften des bösen Müllers selbst.

Schnell ließ er ein Pferd satteln und jagte dahin. Er kam gerade noch an, um das Bewußtsein mit sich hinwegzunehmen, daß er nicht ganz schuldlos sei an der letzten verzweiflungsvollen That des unglücklichen Verbrechers. Es waren noch wenige Menschen auf dem Platze, die nur die Neugierde hierhergeführt hatte, und die müssig und unthätig dem furchtbaren Schauspiele zusahen, das sich vor ihren Augen entwickelte.

Die Mühle stand in hellen Flammen; wirbelnd schlugen sie hoch auf und leckten bereits an den Sparren des Daches, dessen Ziegel glühend und knisternd wie Feuersterne durch die Gewalt des Windes weithin in die Nacht hinaus geschleudert wurden; krachend stürzte das Gebälk im Innern des Gebäudes zusammen und nährte die feurigen Riesenwolken, die unter Qualm und Rauch sich durch die Finsterniß wälzten. –

Aengstlich, mit gespanntem Ohr, lauschte der Arzt, ob er nicht einen menschlichen Hülfeschrei vernehmen würde, aber nichts unterbrach die ringsum herrschende Stille, als das gewaltige Prasseln des immer heftiger wogenden Feuermeeres und das heulende Winseln eines Hundes, dessen wüthender Schmerz zum Himmel schrie; vergebens versuchte er in das Innere der Brandstätte zu dringen, vergebens eilte er da und dorthin – die Flammen schlugen ihm überall lechzend und gierig entgegen.

Da, mit einem Male, hoch oben, auf der äußersten Spitze des Giebels, zeigte sich die dunkle Gestalt eines Mannes, der mit dem einen Arm einen menschlichen, dem Anschein nach todten Körper nachschleifte, den andern hochaufgerichtet zum Himmel streckte – es war ein Augenblick – man sah sein weißes, spärliches Haar vom Winde bewegt, die faltenreichen Kleider eines Weibes – die brausenden Feuerwogen schlugen über sie hin – sie waren verschwunden.



 << zurück weiter >>