Ludwig Tieck
Waldeinsamkeit
Ludwig Tieck

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543 Der Oheim, Herr von Wangen, war indeß mit seinem alten Freunde, dem Grafen, immer noch auf der Reise. Sie hatten, wie gesagt, schon einmal eine falsche Spur verfolgt und darüber einige Tage versäumt. Da sie sich allenthalben erkundigten, viel von einem Verwundeten sprachen, so erzählte ihnen ein verständiger Schulze, daß im nächsten Dorfe, eine Stunde von ihm, beim mitleidigen Prediger ein armer Blessirter einquartiert sei, von dem man vielleicht etwas erfahren könne, oder der wohl der Vermißte selber sei.

Alle Drei gingen zu Fuß nach dem bezeichneten Orte und fanden an dem verständigen Prediger einen unterrichteten, wohlwollenden Mann, der sie nach einiger Zeit in das Zimmer seines Kranken führte. Beim ersten Anblick sah der Oheim wohl, daß der blasse Leidende nicht sein Neffe sei, er setzte sich aber zu ihm an das Bett, um sich von ihm die Geschichte seiner Verwundung erzählen zu lassen.

Der Kranke nahm das Wort. Ich studire noch in einer von hier ziemlich entfernten Universität. Pfingsten lockte mich zu einer Fußreise über Land, und ich muß gestehen, daß das schöne, warme Wetter, die angenehmen Gegenden, die ich durchstreifte, mich weit über die Zeit meiner Ferien hinübergeführt haben. Konnte ich mich am Ende auch mit der Zeit vertragen, so hatte ich dagegen einen desto härtern Streit mit meiner Kasse zu bestehen, denn ohne zu rechnen, hatte ich, von meinem Leichtsinn verführt, fast alles ausgegeben. Ich strebte daher in Eil auf kürzeren Wegen nach der nächsten Stadt, weil dort ein wohlhabender Anverwandter von mir lebt, um seine Hülfe in Anspruch zu nehmen. So trat ich hier in der Schenke ab, als gleich darauf ein Wagen vorfuhr, an dem etwas zerbrochen war. Müßig ging ich mit zur Schmiede, die daneben lag, und sah der Reparatur zu. Zwei Menschen waren ausgestiegen, beide von verdächtigem 544 Aussehen; der eine schien ein abgedankter Offizier. Als die Schmide am Wagen arbeiteten, erklärte der Meister, wenn es so schnell von Statten gehen solle, wie die Herren verlangten, müsse der Wagen erleichtert werden und die beiden andern Herren ebenfalls aussteigen. Ein Mensch von ganz verwildertem Ansehen zeigte sich nun, schalt, daß man ihn inkommodire und im besten Schlafe störe, stellte sich neben den Offizier und sprach heimlich mit diesem. Der schüttelte mit dem Kopf und sah den Schmid und mich mit einem grimmigen Gesichte an, als wenn wir ihn beleidigt hätten. Verfluchte Wege! rief er dann, und dazu noch Kerls, die die Arbeit nicht verstehen; muß man einen so soliden Wagen in den abscheulichen Bergen zerbrechen! Der Schmid sah verdrüßlich auf und verlangte, daß nun auch der vierte Reisende aussteigen sollte. Das geht nicht, sagte der Ungezogene, er schläft gar zu fest. Als die Gesellen darauf beharreten, sagte der Offizier: Er ist krank! Neugierig, wie ich von Natur bin, hatte ich mich eilig auf den Tritt der Kutsche geschwungen und schaute in diese hinein. Da lag ein junger Mensch, mit einem Mantel zugedeckt, der ihm aber vom Gesicht heruntergefallen war, im allertiefsten, eisenfesten Schlaf. Das Gesicht des jungen Mannes war sehr blaß, aber schön, regelmäßige Züge, er lächelte im Schlaf, und ich weiß selbst nicht, was mich an dem Jüngling so sehr interessirte, daß ich selbst in dieser kurzen Zeit Kleinigkeiten beobachten konnte: so stach ein lichtbrauner Leberfleck auf seiner linken Wange, dicht am Munde, sonderbar hervor.

O, das ist mein Neffe! rief der Oheim; ganz unzweifelbar! Und er schlief so fest?

So sehr, antwortete der Verwundete, daß es mir, der ich ein wenig Mediciner bin, ein erkünstelter, unnatürlicher Schlaf schien. Die Fremden hatten unterdessen heimlich mit 545 einander gesprochen und mich nicht beachtet, jetzt aber riß mich der Offizier so gewaltig vom Wagentritt herunter, daß ich auf die Erde stürzte, indem er schrie: Marsch da! was hat Er da zu suchen? Ein Student, meine Herren, ist so was nicht gewohnt, und kann es noch weniger als jeder andere ehrliebende Mensch ertragen. Ich nannte den Bärbeißigen also einen Schuft und Schurken, Hasenfuß und Menschenräuber, daß er erklären solle, welche Bewandniß es mit dem Kranken und Schlafenden habe, und daß ich selber für seine pöbelhafte Beleidigung Satisfaktion verlange. Zugleich riß ich dem Wilden, Griesgrämigen, der neben ihm stand, den Degen von der Seite, und der Offizier zog ebenfalls. Ich war aber zu wüthig und blind in der Leidenschaft, und so erhielt ich im ersten Gang eine bedeutende schlimme Wunde, und jener grobe Mensch zog gesund und unverletzt ab. Die Reparatur des Wagens war nur halb gemacht, sie zahlten ansehnlich, ohne nur zu fragen, und fuhren mit der gebrechlichen Kutsche in größter Eile über Stock und Stein davon. Ich lag hier, der Wirth beklagte mich, aber der wackere Geistliche, der natürlich selber Student gewesen ist, nahm mich Aermsten in seine Pflege.

Der Baron ließ sich beschreiben, nach welcher Richtung die Entführer geflohen seien, dankte dem jungen Manne und nahm den Pfarrer, der nicht wohlhabend schien, beiseit. Er empfahl ihm den Jüngling und rieth, einen wackern Arzt und Chirurgen aus der Stadt kommen zu lassen, bat, den Kranken auf das Beste zu verpflegen, und drückte dem gastfreien, mitleidigen Manne, um diese Dienste leisten zu können, eine bedeutende Summe in die Hand.

Auch beim Schmid zog er Erkundigungen ein, der ihm aber auch über die verdächtigen Reisenden nichts weiter zu sagen wußte, als daß er ihm die Richtung beschrieb, in 546 welcher die Kutsche eiligst davongefahren und bald verschwunden sei.

So haben wir denn Kunde von meinem Neffen, sagte der Oheim, und doch keine. Aber ich zweifle nicht, daß der Arme das Opfer eines abscheulichen Verrathes ist. – Sie fuhren hierauf nach der Gegend ab, die ihnen war bezeichnet worden.


In jener kleinen Dorfschenke erwartete indessen Ferdinand Linden die Entwickelung seines Schicksals. Der mißtrauische Wirth ließ ihn nicht aus den Augen, weil er immerdar fürchtete, der Landstreicher, für welchen er seinen Gast hielt, möchte sich plötzlich, ohne zu zahlen, davon machen. Da er auch für den Boten zum Städtchen und für die Briefe hatte auslegen müssen, so war er um so wachsamer, denn er argwöhnte, daß der junge Mann diese Briefe nur geschrieben habe, um ihn sicher zu machen, und daß die Personen, an welche sie gerichtet waren, weder in jener großen Stadt, noch irgendwo lebten.

Linden vertiefte sich wieder in die Schriften des Wahnwitzigen, da er es recht gut bemerkte, wie ungern sein Aufseher ihn vor die Thür der Schenke hinausgehen sah, ihn auch jedesmal begleitete. Dieser Oktavband des Thörichten war nun seit vielen Tagen, nebst Olearii Reisebeschreibung, die ganze Bibliothek des jungen Mannes gewesen. Er hatte eine Scheu vor dieser seltsamen Schrift, und doch ward er immer wieder von den tollen Gedanken angezogen, die er, auch jetzt wieder einsam und verlassen, von allen Seiten überlegte. Diese Phantasieen waren ihm um so interessanter, weil er in diese Gegend des Forschens und der Anschauung mit seinem Geiste noch niemals gedrungen war. Aber es 547 entsetzte ihn, daß im Lesen er mit Lachen und Grauen wechseln mußte, und diese Empfindung führte ihn wieder auf die sonderbare Betrachtung, warum und wie in unserer Empfindungsweise dies möglich sei. Da nun außerdem auch rauhes, regnichtes Wetter einfiel, er immer noch keine Antwort auf seine Briefe hoffen konnte, so war seine Stimmung eine höchst trübselige. –

So waren zwei Tage vergangen, als am dritten, Morgens früh, er plötzlich wie von Centnerlasten der Langeweile und der Melancholie sich befreit und erlöst fühlte, – und wodurch? Durch das Erscheinen einer Figur, die er in seinen glücklichen Tagen immer zu den allerwiderwärtigsten gerechnet hatte, der er damals weit aus dem Wege ging, und seine Bekanntschaft mit diesem Wesen, soviel es sich nur thun ließ, durchaus verläugnete. Niemand anders nehmlich, als der Baßsänger, jener Kandidat der Theologie, trat am frühen Morgen in die Schenke. Die Verwunderung, das Erstaunen, sich hier zu finden, war gegenseitig.

Ist es möglich, rief der gerührte Kandidat, daß dergleichen in unserm aufgeklärten Jahrhundert noch vorgehen kann? Solche abscheuliche Barbarei? Was müssen Sie in der Zeit gelitten haben! – Er bot ihm seine Börse und seine Begleitung an, er berichtigte die Zeche im Wirthshause, brachte dem Schenkwirth durch Erzählung und Schilderung eine große Ehrfurcht vor seinem verkannten Gaste bei, so daß der phlegmatische Mann jetzt durch tiefe Verbeugung und Schmeichelei ebenso ekelhaft wurde, als vorher sein Argwohn beleidigend gewesen war. Beide erquickten sich an einem guten Frühstück, und der Kandidat erzählte, wie er am Sonntage eine Probepredigt in einem Dorfe gehalten, zu dessen Pfarre man ihm Hoffnung gemacht habe; nun sei er auf dem Rückzuge und freue sich, seinen verehrtesten Freund zugleich 548 auf die rechte Straße bringen zu können. Man nahm die Abrede, daß man bis zur nächsten Stadt zu Fuße gehen wollte, dort sollte ein Wagen gemiethet werden, auch könne der junge Edelmann eben daselbst mit einem Hut, vielleicht mit einiger Wäsche sich versehen, um nicht in dieser dürftigen Kleidung in der großen, prächtigen Stadt anlangen zu dürfen.

Der Wirth, der noch gern einen guten Kauf schließen mochte, bot für die Zwischenzeit zwei von seinen Hüten an, die aber Linden mit Ekel zurückwies. Während dieser Verhandlung kam ein junger schlanker Mann von edlem Aussehen hereingerannt, welcher den Wirth hastig so anredete: Bester Menschenfreund, wenn Sie ein christliches Gewissen haben, so zeigen Sie mir gleich einen gewissen Ort, mit dem kein Hausbesitzer prahlt, der aber nothwendiger ist, als seine Putzstube. – Der Wirth verstand sogleich den ausgesprochenen Wunsch seines neuen Gastes und führte ihn hinaus. Indem sich nun der Kandidat und Linden zur Abreise fertig machten, kam in Schweiß und außer Athem ein ältlicher Mann herein, der sogleich fragte: Ist mein Zögling nicht hier, ein langer, magerer Mann von dreißig Jahren, mit einem braunen Ueberrock, und graue Kamaschen an den Beinen? Der Wirth berichtete, daß er gleich wieder erscheinen würde, sobald er ein nothwendiges Geschäft verrichtet habe.

Der ältere Wandersmann setzte sich seufzend nieder, indem er sich den Schweiß abtrocknete. Ja, meine Herren, sagte er dann, dieser junge, verirrte Mann ist aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie. Ich bin sein Wächter, Erzieher, oder Gesellschafter, nennen Sie es, wie Sie wollen. Frühes Studiren und Anstrengung haben ihn irre gemacht, seine Verrücktheit ist vor einiger Zeit in Wahnsinn, selbst in Raserei ausgeartet; man hat ihn sogar binden und 549 fesseln müssen. Die Aerzte haben ausgefunden, daß unaufhörliches Fußreisen das einzige Mittel sei, ihn in einem leidlichen Zustande zu erhalten; auch ist dies Wandern zur wahren Leidenschaft bei ihm geworden, so daß er unermüdlich ist, und es mir oft sehr beschwerlich fällt, mit dem rüstigen, starken Manne Schritt zu halten. Dabei hat er die Laune, von mir, so oft er es nur möglich machen kann, fortzulaufen und sich zu verstecken, und je mühsamer ich ihn dann aufsuchen muß, je lauter äußert er seine Schadenfreude. Auch darf ich mir gar nicht merken lassen, daß er mir eigentlich unbedingt übergeben, daß er der Thörichte ist und ich der Klügere bin; wie von ungefähr, als ich dies mühsame Geschäft übernahm, habe ich ihn treffen und mit ihm Freundschaft schließen müssen. Ich verkäme ganz in diesem heftigen Wandern, wenn nicht eine andere Leidenschaft diese von Zeit zu Zeit ablösete. Er hat nehmlich weitläufige Tagebücher von allen diesen Fußreisen, schon mehr als zwölf oder dreizehn Theile zusammengeschrieben, die er dann zierlich binden läßt. In der Stadt seiner Angehörigen, zu denen wir Vagabunden doch immer wieder zurückkehren, stehen diese in einem zierlichen Schranke geordnet. Derjenige, der sein Vertrauen gewinnt, muß sich manchmal von ihm daraus vorlesen lassen, wo es dem Hörer dann unendlich schwer fällt, das Lachen zu unterdrücken. Dies Lachen darf aber niemals eintreten, denn der Lesende würde alsdann in die höchste Wuth gerathen, weshalb ich auch jedesmal ernstlich warne. Seine Angehörigen sind froh, daß er auf diese Art seine überflüssige Kraft ermüdet, um so die Anfälle von Wuth und Raserei zu verhindern. Ich glaube aber nicht, daß ich meine beschwerliche Pflicht noch lange werde erfüllen können; auch ist es möglich, daß er mir einmal davonläuft und ich ihn lange nicht, oder beschädigt und als Kranken wiederfinde.

550 Linden glaubte jetzt, diesen Kranken genau zu kennen, und war auf dessen Wiedererscheinen begierig. Der Kandidat drängte aber auf die Abreise, weil man keine Stunde verlieren dürfe, wenn man noch zeitig genug jene Stadt erreichen wolle. Jetzt kam Leopold (so hieß der Unkluge) herein; der Ausdruck seines Gesichts war sehr heiter, und mit lachender Miene sagte er: Wie wohl ist doch dem Unschuldigen zu Muthe, wenn er etwas Gutes und Nothwendiges ausgerichtet hat. Das kann der Bösewicht und der Unchrist niemals von sich rühmen, weil sie alle Wohlthaten des Herrn ohne Dankbarkeit annehmen und empfangen.

Plötzlich stand er schreiend auf. Was sehe ich, rief er laut, da in den Händen des abgerissenen, zerlumpten Atheisten? des Erbärmlichen, den der Erlöser mit dem braunen Leberfleck gezeichnet und gestempelt hat? Mein bestes Buch, mein Eigenthum, meine Reisebeschreibung, die ich damals in meinem grünen Waldarrest verfertigt habe; da, wo die Störche und Schwalben hausen, da, wo neben der Schlafstube das angenehme Kabinet für Nothgedrängte sich befindet. Her, mein Werk, Du Räuber und Dieb!

Er hatte das roth eingebundene Buch schon ergriffen und verbarg es in seinen Busen. Der ältere Gouverneur stand jetzt auf und sagte zu Linden: Gehen Sie jetzt um des Himmels willen eilig fort, denn da er nun den Haß auf Sie geworfen hat, fällt er gewiß in Raserei, wenn Sie in seiner Nähe bleiben. Und tritt dieser Zustand bei ihm ein, so sind wir Alle hier zu wenige und zu schwach, um ihn zu bändigen und zu bewältigen.

So gern nun gerade Linden noch geblieben wäre, um sich nach jenem Waldhause und andern Umständen zu erkundigen, so wurde er doch vom Kandidaten fortgezogen und von der furchtsamen Gesellschaft aus dem Hause getrieben, 551 so daß er sich, fast ohne zu wissen, wie es geschah, auf der Landstraße befand.

In der Schenke hatte der Verpfleger die größte Mühe, seinen Zögling wieder zu beruhigen und ihn aufzuheitern. Dieser küßte immer und immer wieder sein verlornes und wiedergefundenes Buch mit Inbrunst; er sagte, nun fange sein Leben erst wieder an, seitdem er diesen Schatz wieder erobert, nun sei die Lücke in seiner Bibliothek wieder ausgefüllt, nun würde das Jahrhundert und die Nachwelt nicht mehr einen unersetzlichen Verlust zu beklagen haben. Das, mein Gastfreund, sagte er nun schon mit einiger Heiterkeit, giebt ein neues und höchst interessantes Kapitel in meinem Reisejournal: den Abschnitt will ich nun einmal recht mit Fleiß und Delice ausarbeiten. Setzen Sie sich nieder, ermüdeter Mann, ich will mich gleich an diese merkwürdige Erzählung begeben.

Aus einer großen Brieftasche, die er immer bei sich trug, nahm er einige feine Blätter, setzte das kleine zierliche Dintenfaß vor sich nieder und zeichnete mit der Stahlfeder, indem sein Angesicht die heitersten Mienen zeigte, leicht und mit Schnelligkeit Alles nieder. Sein Pfleger hatte sich indessen ein Frühstück geben lassen, um sich nach seiner anstrengenden Wanderung und dem eiligen Laufen wieder zu stärken und zu seiner nicht leichten Pflicht Kräfte zu sammeln.

Beruhigt schrieb Leopold an seinen Memoiren, der Pfleger erfrischte sich, der Wirth stand müßig am Fenster, als man einen Wagen vorfahren hörte. Zwei alte Männer traten gleich darauf in die Schenke, der eine am Krückstock hinkend, der jüngere noch rüstig und stark. Die Herren bestellten sich ein Frühstück und setzten sich nachdenkend nieder.

Der schreibende Autor sah von seinem Blatte auf und musterte sie mit kritischem Blick, dann näherte er sich ihnen 552 und sagte freundlich zum jüngern: Sein Sie uns gegrüßt, verehrter Mann, denn ich irre mich gewiß nicht, wenn ich in Ihnen einen ächten Christen liebe und bewundere. Der Reisende gerieth über diese sonderbare Anrede in Verlegenheit, und der Pfleger, der an ähnliche Sachen schon gewöhnt war, machte sich herbei und mischte sich in das Gespräch, um Mißverständniß oder Unheil zu verhüten. Er machte unbemerkt einige Mienen und Geberden, die der Fremde auch sogleich begriff und dem Unverständigen eine freundliche Antwort gab, daß sein Bestreben allerdings dahin gerichtet sei, kein unwürdiges Mitglied der christlichen Gemeine vorzustellen.

So erlauben Sie mir, Ihnen nur Ein Kapitel, sagte Leopold eifernd, aus diesem meinem wiedergefundenen Werke, welches auf sonderbare Weise verloren gegangen war, vorzulesen.

Der Pfleger machte eine ängstliche Miene und sagte, mit etwas bezeichnendem Ton: Wenn diese Herren Zeit genug übrig haben und aufgelegt sind, so ernsthafte Sachen, die durchaus nichts Kurzweiliges enthalten, anzuhören.

Der Autor las: Als die ewige Güte beschlossen hatte, den Menschen zu erschaffen, konnte es ihr ebenso wenig darum zu thun seyn, ein ganz tadelloses Bild hervorzubringen, als es Einem von uns einfallen wird, das vollendete Muster eines durchaus tugendhaften Menschen zu werden. Wären keine Gegensätze von Oben und Unten, Gut und Schlecht, Thierisch und Geistig, so wären wir Alle nichts Besseres, als jene Marionetten, die mit den hölzernen Köpfen aneinanderschlagen können, ohne sich Schaden zu thun. Der Abzugskanal ist eben so nothwendig und edel, als der der Einfüllung, und wäre der erste nicht, den die Menschen sich so oft verschweigen wollen, so gäbe es keinen Ackerbau und 553 eben so wenig Viehzucht, auch nicht Schifffahrt und Handel, mithin keine Consistorialräthe und kein Ministerium, und die Welt würde bald in Anarchie versinken, denn eine einzige Mahlzeit könnte ohne Zweifel auf vier Wochen vorhalten, wenn es keine Verdauung gäbe. Diese ist nur Symbol und Vorbild jener Universalverdauung des ganzen Weltalls, die Düngung, die Geister und Seelen, Licht und Finsterniß, Dummheit und Verstand hervorbringt. Wie arbeiten auch alle Aerzte immer am eifrigsten, und mit Recht, gegen das, was die Sterblichen Verstopfung nennen, denn – –

Hier fiel der ältere Zuhörer in ein so unauslöschliches und heftiges Gelächter, daß er auf lange die Stimme des Vorlesenden, die eine der lautesten war, übertönte. Der Pfleger des Unmündigen erschrak, dieser aber ließ, wie in einem heiligen Schrecken, sein Buch fallen und sagte, als der Lachende wieder sich gesammelt hatte: Ungeweihter Mann, für Euch sind diese Geheimnisse freilich nicht, Ihr seid an den Ohren unbeschnitten. Aber dies mein Buch, dessen Inhalt Eurem Geiste zu hoch steht, ist eins der geheimnißvollsten und wichtigsten, die jemals geschrieben worden sind. Es wurde mir eingegeben in meiner trüben Zeit, als ich wie der Prophet Jeremia im finstern Waldneste saß, ein Gefährte der Turteltauben, Krähen und Dohlen, meine Meisterin eine blasse, gespensterartige Domina, mein Gesellschafter dort, der es gut mit mir meinte, und einige robuste Knechte, die dem Teufel angehörten und mich mißhandelten. Von diesen verdammten Geistern wurde mir auch aus Neid und Bosheit mein Buch entzogen, damit mein Name nicht berühmt werden, damit ich nur die Welt nicht erleuchten soll. Nun muß ein junger, bettelarmer Gelehrter dorthin, in jene Waldklause gerathen seyn, hat mir dort das Buch als Mörder und Dieb geraubt, und gedachte sich einen Namen damit zu machen. 554 Aber weggerissen habe ich es ihm mit meiner mächtigen Faust und hier, hier ist es wieder in meinem Besitz, und wer über seinen geheiligten Inhalt lachen kann, der ist ein Spötter, ein Gottloser, ein Lump –

Ereifern Sie sich nicht, junger Mann, sagte der ernsthafte Fremde. Herr Graf, Sie haben sich in der That übereilt, und ich muß vermuthen, daß Sie dem Studium der ächten Philosophie völlig entsagt haben, wenn Sie diese religiösen und welthistorischen Ansichten nicht fassen können.

So ist es recht, alter Herr! rief Leopold aus, Sie verdienen meine ganze Achtung. Nun sollen Sie auch dieses kostbare, einzige Buch in Ihre Hand nehmen dürfen, darin blättern und lesen. Nehmen Sie hin.

Der Baron Wangen (denn kein Anderer war dieser Fremde) nahm den Band, blätterte, las und lobte, als ihm plötzlich auf den letzten Blättern die wohlbekannte Handschrift seines Neffen in die Augen fiel. Himmel! rief er aus, Lindens Schriftzüge! er muß dort gewesen seyn, sich noch dort aufhalten! Lieber Graf, wir haben ihn endlich gefunden!

Was? schrie der Unkluge, fremde Gedanken zwischen die meinigen eingeschwärzt? Unrath geworfen in meine Weisheit? – Er faßte das Buch und riß zornig die fremden Blätter heraus.

Der Pfleger aber beruhigte den Thoren und sagte: Lassen Sie, liebster Leopold, nicht Ihre Begeisterung verrauchen, arbeiten Sie fort an Ihren so höchst merkwürdigen Memoiren, die die Welt schon lange erwartet. Man wird unwillig seyn, wenn Sie die Wünsche der Menschen noch länger täuschen.

Leopold setzte sich wieder an seinen Tisch und der Aufseher ging mit den beiden Fremden vor die Thür der Schenke, sich nicht weiter entfernend, damit der Unsinnige nicht etwa 555 entfliehen möchte. Hier beantwortete nun der Pfleger alle Fragen des Baron Wangen. Das kleine Waldhaus war ehemals als Jagdhütte benutzt worden, darauf von der Familie für den Unglücklichen erwählt, als er in eigentliche Tobsucht verfiel, die mit Melancholie und Lust zum Schreiben abwechselte. Das Haus lag entfernt von der Landstraße, mitten im Walde, und da es nur klein und unbedeutend war, vergessen und vernachlässiget, daß es sich zum Aufenthalt und Heilort für den Kranken besonders eignete. Seither war es, als baufällig, mit dem dazu gehörigen Waldbezirk um eine kleine Summe an einen Jagdfreund verkauft worden, den der Pfleger nicht zu nennen wußte. Dieser neue Eigenthümer, dies begriff Wangen, mußte aber im Complott Derer seyn, denen daran lag, den Neffen dort zu verstecken.

Ob mein Freund, sagte Wangen, sich dort noch aufhält, kann ich nicht wissen, das Buch aber, wie Sie selber sagen, beweiset, daß er eine Zeit dort gelebt hat: – getrauen Sie sich nun wohl, diese Hütte wiederzufinden?

Gewiß, antwortete jener, denn ich kenne die Gegend hier herum ganz genau, auch liegt das Haus nicht weit von hier. Begriffe ich nur, wie jener Bettler, der kurz vorher, ehe Sie eintraten, sich hier befand, zu dem Buche gekommen wäre, welches Ihnen die erste sichere Spur Ihres verlornen Neffen gegeben hat.

Ein Bettler? fragte Wangen.

So schien er, er befand sich hier mit einem andern confiscirten Menschen, der wie ein Vagabunde aussah. Zwei ganz verdächtige Subjecte. Ich war froh, daß sie sich entfernten, denn mein Pflegling gerieth über sein verlorenes und wiedergefundenes Buch in Wuth.

Sollte dieser Bettler – antwortete Wangen – vielleicht – ich werde wieder irre. – Aber erzeigen Sie mir 556 die Gefälligkeit, mich zu begleiten, zeigen Sie mir den Ort – dort muß ich auf alle Fälle nachforschen.

Mit Ihrem Wagen, antwortete jener, können wir nicht vor das einsame, versteckte Haus fahren: von der einen Seite ist der dichte Wald mit einem breiten Sumpf umgeben, und von der andern von einem kleinen Strom, über welchen nur eine Brücke für Fußgänger führt, wenn diese nicht seitdem auch eingegangen und verfallen ist; indessen will ich Sie so nahe als möglich an den verdächtigen Ort bringen.

Der Pfleger wußte schon, daß es keine Macht gebe, den unklugen Leopold in den Verschluß eines Wagens zu bringen, aber dieser versprach lachend mit den Pferden um die Wette zu laufen.

So geschah es, aber bald lenkten sie von der Straße ab, und Leopold verlachte seinen Aufseher, der nun, da die Kutsche fast gar keinen Weg mehr fand, drinnen saß, indeß der Fuhrmann vorsichtig und langsam sich eine Straße über Büsche, kleine Hügel, durch Farrenkraut und Gestrüpp suchen mußte.



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