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Als man sich im Gasthofe an der Wirthstafel wieder versammelte, waren alle besorgt und geänstigt, daß Rosine ausblieb. Jedermann hatte geglaubt, sie habe diesen oder jenen der Gesellschaft auf den Markt begleitet und sich verspätet. Fritz, der von Allen am meisten bewegt war, mochte nicht gestehen, wie viel er von ihr wisse, und daß er sie im Gedränge der Menschen verloren habe. Er hatte vernommen, daß der Superintendent am Morgen seinen Vater hatte sprechen wollen, der mit allen Uebrigen schon früh das Haus verlassen hatte. Er nahm sich vor, gleich, wenn abgespeiset sei, alle Buden und Läden des Marktes zu durchforschen. Der Vater selbst ängstigte sich weniger als die Mutter, denn sein Geist war zum Theil auf andere Gegenstände gerichtet. Die Stunde war ganz nahe, in welcher er den verlornen Bernhard wieder sehn sollte. Er war der Meinung, daß er dieses Rendezvous, welches ihm auf so wunderbare Weise 138 war gegeben worden, nicht versäumen dürfe. Er nahm daher mit dem Amtmann die Abrede, daß dieser mit seinem Sohne die verlorne oder verirrte Rosine allenthalben suchen solle, und daß man sich am Abend wiedersehen würde. Titus war Gast bei seinem vornehmen Freunde, dem Herrn von Wandel. Im Gasthofe wurde fast nur von dem kleinen Caspar, dessen Klugheit und seiner Diebesbande gesprochen. Viele waren der Meinung, daß diese Gesellen sich noch niemals so frech betragen hätten, als während dieses Marktes, es fehle nur noch, daß sie am hellen Tage und in Gegenwart der Menschen und Wächter in die Silberläden öffentlich einbrächen. Man erzählte, daß Menschen in allen nur ersinnlichen Verkleidungen sich in der Stadt umtrieben, die zu dieser Gesellschaft gehörten, daß viele Subalternen der Polizei ihnen angehören, oder von ihnen bezahlt seyn müßten, weil es sonst unbegreiflich wäre, wie sie mit dieser Sicherheit arbeiten könnten, und immer im Voraus von allen Maßregeln, die gegen sie genommen wurden, unterrichtet wären. Der dicke Herr von Mayern, welcher wieder zugegen war, behauptete, auch vornehme, reiche Frauenzimmer, Töchter aus guten Familien, befänden sich mit in diesem Bunde und wären Theilnehmer am Gewinn.
Die Gesellschaft vom Lande erhob sich früh, um ihre Vorsätze auszuführen, und Fritz, der in einer tragischen Stimmung war, rannte fort, ohne nur seinen Vater noch einmal zu begrüßen.
Titus hatte seinem Gönner mit Begeistrung einige Kapitel seines humoristischen Romanes vorgelesen, von welchen der Herr von Wandel hingerissen schien, denn er lobte sie übermäßig, und ermunterte den vom Lob berauschten Verfasser, das Buch ja recht bald dem Druck zu übergeben. Er hatte ihm auch einen Verleger, einen jungen Anfänger, 139 empfohlen, der Enthusiasmus für die Literatur und ihre Fortschritte deutlich merken lasse. Der Gönner war auch so freundlich, sich nach den bürgerlichen und Familien-Verhältnissen des neuen Autors zu erkundigen. Von sich wußte Titus nicht viel, destomehr aber von der Familie seines Freundes, des Amtmanns, zu erzählen; es fand sich von selbst, daß auch der Hausstand Gottfrieds beschrieben wurde, und bei diesem Anlaß erzählte er von neuem, daß der alte Pfarrer, wie ihm der Magier verheißen habe, noch heute sein längst entlaufenes Pflegekind, das jetzt freilich schon über die dreißig Jahre hinaus seyn müsse, wieder finden solle, einen Bernhard, dessen Vater und Mutter immer unbekannt gewesen wären. Bei diesen Erinnerungen wurde Herr von Wandel aufmerksam und forschte diesem Bernhard weiter nach, doch konnte ihm Titus keine nähere Auskunft über diesen Vagabonden geben. Er muß also hier in der Stadt seyn, dieser verdächtige Mensch, sagte der Baron Wandel, und wahrscheinlich hängt er mit dem unklugen Magier zusammen.
Diesen muß ich auch noch besuchen, rief Titus aus, ich kann vielleicht aus ihm ein paar Kapitel in meinem Buche machen, das noch nicht geschlossen ist. Er bringt wohl auch das Wunderbare hinein, welches bis jetzt meinem Romane noch fehlt. Meinen Sie nicht auch, Herr Baron, daß ein ächter oder ein gaukelnder Wahrsager, Zigeuner, Spitzbuben und Diebe, vielleicht auch ein Mörder, aber nicht mehr, meiner Geschichte noch abgehen? Ich habe mich, durch meine Vorliebe für den Siebenkäs, zu sehr in das Bettelgesindel vertieft und verliebt, und habe hier in der Stadt doch nichts Besonderes von dieser Gattung angetroffen. Ich möchte mein Werk gern so bunt und vollständig als möglich machen, daß es Ihrer nicht, indem ich es Ihnen widme, und es durch 140 Ihren Namen der Lesewelt imponirt, ganz unwürdig sei. Wenn ich nur mit einem recht feinen Spitzbuben in nähere Bekanntschaft gerathen könnte! Heißt das, ohne meinem Rufe und meiner Moralität zu schaden. Ich habe immer die Gauner-Romane sehr geliebt, bin aber noch niemals mit einem ausgezeichneten Spitzbuben in Gesellschaft gewesen, denn das Gesindel, unter welches man zuweilen draußen auf dem Lande geräth, ist ganz ohne Bedeutung. Werden Sie aber meine Dedication auch nicht verschmähen?
Der Baron dankte mit Freundlichkeit im Voraus für dieses öffentliche Zeichen der Achtung, das ihm, von einem so ausgezeichneten Talente gegeben, im ganzen Vaterlande zur größten Ehre gereichen müsse.
Ein Bedienter brachte ein kleines Billet, der Baron erbrach es hastig, und Titus glaubte zu bemerken, daß er sich entfärbe. Verzeihen Sie, sagte er, ich muß nur eine Zeile antworten. Er ging in das Nebenzimmer und gab dem Diener ein Blatt, der sich schnell wieder entfernte. Jetzt, sagte der Baron, wie es schien, mit einiger Bewegung, muß ich mich auf einige Zeit von Ihnen trennen, denn mich rufen unabweisliche Geschäfte. Am Abend sehen wir uns dort im Keller wieder. – Beide verließen das Haus.
Im Gasthofe war indessen ein Diener der Polizei erschienen, welcher den Pfarrer Gottfried zum Präsidenten beschied. Doch war der Prediger, so wie die Uebrigen, schon längst entfernt und ihren verschiedenen Geschäften nachgegangen. Die Mutter aber, welche im Hause geblieben war, entsetzte sich vor dieser Citation, und wußte sich nicht anders zu trösten, als daß sie sich einem stillen, gemächlichen Weinen ergab.
Der Pfarrer Gottfried begab sich indessen mit klopfendem Herzen und gespannten Erwartungen nach dem schönen 141 Garten. Er setzte sich in die Laube und erwartete seinen Zögling, indem er die längst vergangenen Jahre in sein Gedächtniß zurück rief. Es schien fast, als sei seine Erwartung vergeblich, und er wurde über sich selbst verdrüßlich, daß er sich von einem angeblichen Magier habe hintergehen lassen. Als es ihm immer gewisser wurde, daß er nur geneckt sei, sah er einen großen, breitschultrigen Menschen nach der Laube schleichen. Der Fremde kam gleichgültig näher, nahm den Hut ab, und reichte dem Pfarrer die Hand, indem er sagte. So sehen wir uns nun doch einmal wieder, Herr Gottfried.
Sie kennen mich also? fragte dieser.
Wie sollt' ich nicht? antwortete der Fremde; denn wenn Sie auch viel älter geworden sind, so haben Sie doch noch dasselbe gutmüthige Gesicht, die freundlichen Züge, alles das Ehrwürdige, welches den ächten christlichen Geistlichen charakterisiren muß. – Er streifte den Aermel auf und zeigte ein braunes Mahl am Arme. – Sehen Sie wohl an dieser Brandstelle, als ich einmal mit Pulver fast Ihre Stube gesprengt und mich getödtet hätte, daß ich jener Bernhard bin, an welchem dazumal alle Ihre Lehren und Bemühungen nicht anschlugen?
Gottfried umarmte seinen gealterten Zögling nicht ohne Rührung und sagte dann: Mein lieber Sohn, ich habe Ihnen Nachrichten mitzutheilen, die Ihnen wohl erfreulich seyn können, nur möchte ich erst Einiges von Ihnen wissen, um zu beurtheilen, ob Ihre Angehörigen, die ich endlich entdeckt habe, sich Ihrer nicht zu schämen brauchen, oder ob die Erbschaft, die Ihnen zufällt, auch verdient in Ihre Hände zu kommen.
Bernhard sah den Pfarrer mit großen Augen an und sagte dann ganz ruhig: Geehrter Herr Pflegevater, wenn 142 meine Angehörigen etwas anders als einen ganz gewöhnlichen Taugenichts in mir erwarten, so befinden sie sich im allergrößten Irrthum. Mein Herr, ein unnützer Bursche, der mit einer Bande Seiltänzer davon läuft, der bald Springer, Bettler, Comödiant, Bedienter und allerhand dergleichen ist, und nur eben dicht am Straßenräuber und Galgen vorbeikommt, kann in dieser zu hohen und großen Schule und Turn-Anstalt unmöglich zu einem feinen wohlhäblichen Tugendhaften gedrechselt werden. Sehr bin ich meines bisherigen Lebenswandels überdrüßig, und habe, wenn es seyn muß, den Willen, besser zu werden. Ich danke Gott, wenn ich ein sicheres, dürftiges Auskommen finde, wenn ich dabei ein ehrliches Geschäft treiben kann; sind aber meine Verwandten von so verfeinerter Natur, daß sie nur einen Cousin suchen, der sich unter den gesichteten Rechtgläubigen gut ausnehmen würde, so ist es besser, sie kümmern sich gar nicht um mich, und lassen mich meines Weges weiter gehen.
Sie haben also wohl gar nichts gelernt? fragte Gottfried.
Zu viel, antwortete Bernhard, und das ist eben das Unglück, denn darum habe ich es in keiner Sache zu etwas Rechtem bringen können. Wenn ich ein kleines, nur ein kleines Kapital hätte, so ginge ich zu meiner Frau und finge einen Handel an, wie ich es schon vor sechs Jahren versuchte.
Verheirathet also? fragte der Pfarrer.
Ja wohl, an ein liebes Weibchen, von dem ich auch einen Sohn habe, wenn er noch lebt. Ich hatte sie auf meinen Irrfahrten im Reiche kennen gelernt, und sie gewann mich lieb. Ich war damals Tanzmeister. Ein kleines Vermögen, das sie ererbte, ward zu einer Handelseinrichtung verwendet. Aber wir hatten kein Glück. Und ich, um sie 143 nicht ganz arm zu machen, wanderte wieder aus, um ein besseres Verhältniß zu entdecken, das sich denn bis jetzt nicht hat finden wollen.
Gottfried erzählte ihm von seiner Abstammung, so viel er von dem alten würdigen Banquier erfahren hatte, und Bernhard sagte am Schlusse: Sieh! sieh! darum habe ich es niemals dahin bringen können, ein recht eifriger Christ zu seyn. Es steckt doch das meiste, was wir Vorzüge oder Fehler nennen, im Blute. Ich habe auch immer zu den Juden eine gewisse Inclination gehabt, und wollte in meiner dringendsten Noth mehr wie einmal zu ihrem Glauben übertreten; indessen ist es eben so gut, daß ich meine Religion noch so rein erhalten habe, denn es hätte mir sonst wie meinem guten Vater gehen können, der viel Verdruß, wie ich höre, mit seinem Gewissen gehabt hat.
Der Pfarrer erzählte ihm jetzt, daß ihm der sogenannte Magier von seinem Pflegesohne gesagt, und ihm diesen Platz des Wiederfindens bestimmt habe.
Das ist keine Kunst, antwortete Bernhard, denn zwei Tage früher kam ich zu diesem Charlatan in Dienst, und spielte seinen Armenier. Wie ich Sie kommen sah, erzählte ich ihm vorher die Schnurren, die er Ihnen gleich wieder vorgetragen hat.
Ihre Stimme, sagte der Pfarrer, ist mir so bekannt, als wenn ich sie schon sonst gehört hätte.
Ist auch geschehen, rief Bernhard aus, denn Sie trafen mich ja, alter Herr, dort in Schönhof als Einsiedler, das fatalste Gewerbe, das ich Zeit meines ganzen Lebens getrieben habe.
Ei! ei! rief Gottfried aus, so waren wir uns schon damals so nahe und ich wußte es nicht.
Als sie zu dem alten Banquier Wolf sich begaben, 144 ward, nach einigen Erzählungen und Reden, die Sache bald geordnet. Bernhard nahm sich vor, zu seiner Frau zurück zu kehren, und mit Unterstützung Wolfs ein ehrliches Gewerbe anzufangen. Das Kapital, welches ihm der Banquier nach und nach auszuhändigen versprach, war ansehnlich genug, um mit diesem und irgend einem Gewerbe, oder durch den Ankauf eines Gutes anständig leben zu können. Bernhard war auf seine Art erfreut und gerührt und sagte: Nun will ich der Welt und meinen Bekannten zeigen, daß es zehnmal leichter sei, ein ehrlicher Mann, als ein Schelm oder Abentheurer zu seyn. Die wenigsten vortrefflichen Menschen wären der Aufgabe gewachsen, und doch wird das arme Gesindel unserer Art immer so unbarmherzig von Polizei und Moralisten verfolgt. Freilich ist das Gesindel eben so intolerant, wenn es einmal oben auf kommt, und hängt, köpft und plündert die Ehrlichen unbarmherzig, vertreibt sie aus dem Lande oder wirft sie in Gefängnisse. So geht der Streit der Sekten hin und her, und keiner will glauben, daß der Gegner so viel Recht habe wie er.
Jetzt beurlaubte sich der Pfarrer, nachdem er diese Sache zu Aller Zufriedenheit geschlichtet hatte, um seine verlorne Tochter aufzusuchen. Er mußte aber versprechen, mit dieser und der Frau, so wie mit dem Amtmann Lindwurm und dessen Sohn am folgenden Mittage beim Banquier zu speisen. Bernhard blieb gleich bei diesem, der ihm noch Vieles eröffnen wollte, auch wohl die Absicht hatte, ihm guten Rath zu geben, und ihn zu seiner neuen Lebensbahn zu stärken.