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Im Hause Beermanns. Behaglich eingerichtetes Herrenzimmer. An der rechten Seite Schreibtisch, der bis an das große Doppelfenster gerückt ist. An der rückwärtigen Wand rechts ein langes Bücherregal; daneben ein Lederfauteuil. Mehr nach links eine Doppeltüre mit Glasscheiben. An der linken Seite vorne ein Rauchtisch, einige bequeme Lehnstühle. Dann eine einfache Türe.
Beermann kommt durch die Glastüre, geht an den Schreibtisch, sperrt eine Schublade auf und nimmt das Tagebuch der Hauteville heraus. Er sieht sich vorsichtig um, holt aus dem Bücherregal einen Band des Konversationslexikons, schlägt ihn auf und legt das Tagebuch darauf. Er setzt sich und beginnt zu lesen. In diesem Augenblicke wird die Glastüre leise geöffnet, und Frau Beermann sieht herein.
Frau Beermann: Bist du allein, Fritz?
Beermann schlägt erschrocken den Band zu, wodurch das Tagebuch eingeklemmt wird: Aber Lina, wie kannst du mich so erschrecken?
Frau Beermann: Ich wußte bis gestern nicht, daß du nervös bist.
Beermann: Ach was, nervös! Ich bin überarbeitet, aufgeregt. Wenn man jeden Tag eine Rede vorbereiten soll!
Frau Beermann: Und darin habe ich dich gestört? Entschuldige!
Beermann: Was willst du eigentlich?
Frau Beermann: Dich um eine Unterredung bitten.
Beermann: Das muß doch nicht jetzt sein! Morgen oder...
Effie öffnet die Glastüre und ruft: Papa, hast du vergessen?
Beermann ungeduldig: Auf was denn?
Effie tritt ein: Wir wollten doch heute zu der indischen Tänzerin gehen?
Beermann: Das geht heute nicht.
Effie: Ach Gott, und ich hab' mich so gefreut. Sie tritt zum letztenmal auf.
Beermann: Dann warten wir eben, bis die nächste kommt.
Effie: Ich weiß nicht, warum gerade wir so schwerfällig sind.
Beermann: Weil ich noch andere Sachen zu tun habe, als so ein Gehüpfe ansehen.
Effie lustig: Huh! Wie bös!
Beermann: Ich bin gar nicht aufgelegt für so was!
Effie tritt an den Schreibtisch und nimmt den Band des Konversationslexikons: Das kommt bloß von deiner Politik. Man muß dir die Schmöker konfiszieren.
Beermann erregt: Gib das Buch her!
Effie springt weg: Nein, Papachen! Du wirst uns noch krank damit!
Beermann schreit: Ich verbitte mir die Scherze. Du gibst sofort das Buch her!
Frau Beermann: Was hast du denn?
Beermann: Ich kann das unkindliche Betragen nicht leiden.
Effie legt das Buch auf den Tisch: Ich bitte um Verzeihung, lieber Papa!
Beermann nimmt hastig den Band und stellt ihn in das Regal. Jeder Scherz hat seine Grenzen; das darfst du nicht vergessen.
Effie: Und zur Strafe darf ich die Tänzerin nicht sehen?
Beermann: Ich möchte doch lieber mit dir gehen, als – – hier sitzen. Aber es ist einmal nicht möglich.
Frau Beermann: Geh jetzt, Kind! Ich muß noch allein mit Papa reden.
Beermann: Aber ich habe wirklich keine Zeit.
Frau Beermann bestimmt: So viel hast du.
Effie: Adieu, Papachen!
Frau Beermann setzt sich in den Lederstuhl, der neben dem Bücherregal steht. Beermann steht mit dem Rücken an den Schreibtisch gelehnt. Durch das Doppelfenster scheint die Abendsonne, so daß Beermann beleuchtet ist, während Frau Beermann im Halbdunkel sitzt.
Beermann: Lina, ist es notwendig, daß wir...?
Frau Beermann: Ja.
Beermann: Läßt sich's nicht verschieben?
Frau Beermann: Ich habe es manches Jahr verschoben, und jetzt ist es Zeit geworden.
Beermann verwirrt: Manches Jahr? Von was sprichst du denn?
Frau Beermann: Ich habe eine Bitte an dich.
Beermann: Aber gerne...
Frau Beermann: Blamiere uns nicht!
Beermann: Wie?
Frau Beermann: Du sollst uns nicht blamieren. Das ist meine Bitte.
Beermann: Sei so gut und gib mir keine Rätsel auf!
Frau Beermann: Was man weiß, muß man nicht erst erraten.
Beermann: Erklär dich doch deutlich!
Frau Beermann: N... n... nein! Ich werde mich nicht deutlich erklären.
Beermann: Das verlange ich als dein Mann.
Frau Beermann: N... nein!
Beermann: Das ist aber sehr traurig! Zwischen Eheleuten soll es überhaupt keine Geheimnisse geben.
Frau Beermann: Ist das wieder ein Grundsatz? Aber es sind ja keine Geheimnisse! Beermann zuckt die Achseln. Nein. Nimm an, ich wüßte einiges von dir.
Beermann hastig: Was?
Frau Beermann: Einiges. Was du sehr genau wissen mußt, und was ich nun auch weiß. Kleine Pause. Dein Grundsatz ist also nicht verletzt. Es gibt zwischen uns keine Geheimnisse.
Beermann: Ich kann mir nicht den Kopf zerbrechen.
Frau Beermann: Und du sollst auch nicht denken, daß ich hier auf dem Richterstuhl sitze.
Beermann mit falschem Pathos: Anstatt, daß du frei heraus sagst, was du gehört hast! Dann könnte ich mich rechtfertigen.
Frau Beermann: Das will ich gerade vermeiden. Es hat so was Jugendliches, sich rechtfertigen.
Beermann wie oben: Auf die Weise kann die niedrigste Verleumdung ein Familienglück zerstören.
Frau Beermann: Ach, Fritz! Wir haben so gar keine Zuhörer.
Beermann: Du nimmst mich nicht ernst?
Frau Beermann: Nein. Und das ist gut für uns beide. Jedenfalls für mich.
Beermann: Was dabei Gutes sein kann! Ich hätte mir was anderes erwartet.
Frau Beermann: Das hast du nicht. Wenn du ehrlich sein willst, mußt du mir's zugeben. Wir spielen einander seit vielen Jahren Theater vor. Du als christliches Familienhaupt und ich als gläubige Zuschauerin.
Beermann: Das ist recht hübsch!
Frau Beermann: Nicht hübsch, aber wahr. Wir können am Ende nichts dafür, denn es kommt von den angelernten Ideen. Ihr alle sollt imponieren, wir alle sollen bewundern.
Beermann: Und dir ist das nicht möglich?
Frau Beermann: Auch christliche Hausregeln müssen begründet sein. Was hätte ich bewundern sollen?
Beermann: Wenn du mich erst fragst!
Frau Beermann: Vielleicht habe ich es schneller aufgegeben als andere. Aber das liegt in unseren Verhältnissen. Wir waren immer zusammen. Woher soll ein Mann soviel Charakter nehmen, daß er jeden Tag vierundzwanzig Stunden damit wirkt?
Beermann: Also das stellt ungefähr deine Ansicht über unsere Ehe vor?
Frau Beermann: Es stellt sie genau vor.
Beermann: Nach so langer Zeit!
Frau Beermann: Ich habe sie ziemlich früh gewonnen.
Beermann: Und jetzt nach sechsundzwanzig Jahren erklärst du mir, daß du unglücklich bist!
Frau Beermann: Nein, Fritz! Es langt bei uns nicht zum Unglück. Es ist kein Ideal zertrümmert worden. Unsere Ehe weiß keines, und – deine Persönlichkeit, nimm mir's nicht übel, war nie so strahlend, daß ihr ein paar Flecken was geschadet hätten.
Beermann erregter: Aber irgendeinen Grund mußt du haben, daß du mir heute solche Vorwürfe machst.
Frau Beermann: Wir verstehen uns nicht, wenn du das Vorwürfe heißt.
Beermann: Was sonst?
Frau Beermann: Es war als Bitte gemeint: Du sollst uns nicht blamieren!
Beermann: So spiel nicht erst Verstecken! Womit blamiere ich euch?
Frau Beermann: Mit deinem sittlichen Priestertum, zu dem du kein Recht hast.
Beermann: Zu dem ich kein Recht habe?
Frau Beermann: Nicht das mindeste. Du schaffst dir aber Gegner, die dich und uns mit dir lächerlich machen, wenn sie einiges erfahren. Und man kann es erfahren, auch ohne es zu wollen.
Beermann lacht gezwungen: Linchen, ich glaube, du bist eifersüchtig?
Frau Beermann ruhig: Auf was? Kleine Pause. Ich hoffe, du traust mir den Geschmack zu, daß ich nicht auf ein sogenanntes Recht eifersüchtig bin? Und – sonst geht mir nichts verloren. Nein, Fritz, ich bin nicht eifersüchtig. Kleine Pause. Es dämmert. Ich mußte mich daran gewöhnen, ja. Denn diese Heimlichkeiten und kleinen Lügen und dazu die falsche Gravität verstimmen ein bißchen stark, und man hat Mühe, daß man sich das kameradschaftliche Gefühl erhält. Aber ich bin darüber weggekommen, weil – – ja, weil ich dich nie recht ernst genommen habe. Pause.
Beermann mit falschem Pathos: Lina! Was sagst du mir für Dinge! Ja, weißt du eigentlich, was du sagst?
Frau Beermann: Ich denke wohl.
Beermann wie oben: Das ist ja furchtbar! Jedes Wort ist eine... eine Katastrophe. Ich habe bis heute, ich habe bis zu dieser Stunde an unser behagliches, stilles Glück geglaubt, und jetzt soll alles vorbei sein!
Frau Beermann: Wenigstens dein Vertrauen auf meine Blindheit.
Beermann: Du mußt mich hören. Das ist kein Familienleben, wenn man kein Vertrauen mehr hat.
Frau Beermann: Oh, man kann sich auch daran gewöhnen.
Beermann: Nein, Lina! Siehst du, man hat dir Geschichten erzählt, und ich kann mich nicht verteidigen, weil ich keine Ahnung davon habe. Du mußt mir jetzt alles sagen. Das verlange ich von dir.
Frau Beermann: Wenn ich das wollte, hätte ich vor Jahren reden müssen.
Beermann: Warum hast du's nicht getan!
Frau Beermann: Du kannst dir denken, daß ich mir die Gründe wohl überlegt habe.
Beermann: Für so was gibt es keine Gründe.
Frau Beermann: Ich konnte darüber wegsehen und schweigen. Das war mein Recht. Aber reden und mich beschwichtigen lassen, das hätte ich nicht fertig gebracht. Dann hätte ich lügen müssen, und mir liegt das nicht so. Beermann macht eine Bewegung. Nein – unterbrich mich nicht! Diese Dinge sollen keine Folgen haben, die ich nicht will. Und sie haben sie, wenn ich sie nenne.
Beermann: Dann muß ich also diesen Verdacht auf mir ruhen lassen?
Frau Beermann: Ja.
Beermann: Mit einer Kälte redest du! Wenn das wahr wäre, was du glaubst, – das könnte dir doch nicht gleichgültig sein!
Frau Beermann: Verlangen deine Vereinsstatuten, daß man in solchen Fällen unglücklich ist?
Beermann: Wenn ich denke, wie lange du neben mir hergehst mit diesen Vermutungen, und kein Wort hast du gesagt. Aber warum denn heute?
Frau Beermann: Weil du daran bist, auch meine Freundschaft zu verlieren. Alles stört mich, was ich sehe und höre. Wie du mit einer Strenge prahlst, die dir selbst sehr unangenehm sein müßte. Seit Wochen ist um mich herum alles Lüge. Was du mir sagst, was du den Kindern sagst, was du am Abend vorher öffentlich gepredigt hast. Jedes Wort schmerzt in den Ohren und reizt zum Widerspruch; ich schweige, und das ist auch gelogen.
Beermann: Aber Lina!
Frau Beermann: Es ist unerträglich, wenn zuletzt jeder Blick, jede Bewegung gemacht ist! Und dazu kommt die Angst um die Kinder. Wie sollen die in ihrem Leben noch einmal unbefangen sein, wenn sie ein Zufall aufklärt? Denke dir, ich hätte ihnen zulieb geschwiegen, und jetzt forderst du alle Welt heraus, zu reden. Ich mag nicht so leben zwischen Sorge und Widerwillen. Was ich schon überwunden habe, taucht wieder auf und kommt mir heute häßlicher vor. Ich weiß nicht, ob ich heute noch an deine Gutmütigkeit glauben kann, und ob ich dir noch Freundin bin. Sie steht auf und geht zur Türe.
Beermann: Ich kenne dich gar nicht mehr. In unserer langen Ehe hast du nicht so viel ernste Worte geredet, wie jetzt in einer Viertelstunde.
Frau Beermann: Das war vielleicht ein Fehler; aber ich habe ihn gebüßt. Sie öffnet die Türe.
Beermann: Linchen! Und jetzt sagst du mir nichts mehr?
Frau Beermann: Bloß die Bitte: blamiere uns nicht! Ab.
Beermann steht noch eine kleine Weile in Gedanken vertieft. Dann dreht er das elektrische Licht auf, geht seufzend an das Bücherregal, holt sich aus dem Konversationslexikon das Tagebuch der Hauteville, öffnet es und liest im Stehen. Es klopft. Beermann steckt das Tagebuch hastig in die Brusttasche.
Beermann: Herein!
Justizrat Hauser kommt von links.