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Sie saßen auf einem Wiesenhang und ließen die Blicke kreisen. Unten lag ein Dorf, das wohl zur Stadt gehörte, aber doch ein Dorf geblieben ist. Die Häuser waren klein und niedlich, marschierten in zwei Reihen hin, drängten sich enger um die Kirche und wären vor dem Gewühl der Menschen und dem Lärm der Automobile sicher schon davongelaufen, wenn sie Beine gehabt hätten und nicht Häuser sein müßten. Brigitte konnte sich das ganz gut denken. Es ist ihr auch nicht besser gegangen, als sie fort mußte von daheim, von dem einsamen Hof auf dem Hügel, den stillen Stuben darin und der weiten Aussicht vor den Fenstern ins Grüne der Felder und in den Schatten eines Waldes hinein, fort in diese Stadt unter die vielen Fremden und ihr lautes Treiben. Johann Vorlenz wird das nie begreifen können. Er ist hier geboren worden und bedauerte jeden, der anderswo auf die Welt kommen mußte. Für ihn war Lärm und Leben gleichbedeutend, und er wäre in der Einschicht eines Bauernhauses bestimmt an der Ruhe gestorben. Sie machte ihn auch hier schon ängstlich und verzagt, stand wie eine Mauer zwischen ihm und ihr, dämpfte seine Stimme ab und schob die kühnen Vorsätze hinaus. Er hätte doch ein Zimmer nehmen und auf die Natur verzichten sollen.
Es wurde Abend. Die Sonne hatte genug und ging schlafen. Sie blinzelte noch eine Weile verdrossen herum, raffte dann ein paar Wolken als Polster zusammen und sank mit ihnen unten hinab. Die Lichter im Dorf waren ihr aber schon zuvorgekommen. Sie lugten aus allen Fenstern, sprangen in die gläsernen Birnen, die auf Drähten in der Straßenmitte hingen und plötzlich so anwesend wurden, als sie früher abwesend waren, blitzten vor den Automobilen her und trieben die Menschen mit ihren Strahlen wie mit Peitschen auseinander. Der Kirchturm wurde immer schwerer, immer dicker, immer höher. Das Zifferblatt der Uhr schwamm als ein riesiges Auge im Nebel und schielte nach allen Seiten. Oder war es der Mond? Nein, der hatte noch Zeit und schlenderte bei den Sternen herum.
Brigitte saß in sich gekehrt und lauschte. Die Grillen zirpten. Sie ließen sich durch die Nähe der Stadt nicht stören. Ihnen genügte eine Wiese, gleichgültig, wo sie war, wenn nur Gras darauf wuchs und Grillen darin wohnten. Ihr Gesang war laut und schrill. Er zersägte die Stille in kleinste Stücke, schärfte auch diese noch messerscharf zu und ritzte das Gehör in unzähligen Wunden, die wohl nicht schmerzten, sondern nur erregten. Man mußte an Dinge denken, die man sonst nicht dachte. Vorlenz zum Beispiel ... Aber der hätte die Grillen nicht gebraucht, von der Nachtigall gar nicht zu reden. Sie stimmte verstohlen ihre Töne, erst die tiefen, dann die hohen, trillerte und sang auch schon. Es war dasselbe Lied, wenn auch reiner und schöner, drang in das Herz und rührte von innen aus. Was die Nachtigallen singen, das kann man nicht sagen, das ist nur zu fühlen, wird zum Seufzer und bleibt ein Geheimnis wie der Vogel selbst, den man wohl hört, doch niemals sieht. Düfte stiegen auf und wehten als Schleier hin. Die Obstbäume blühten. Wen lockten sie? Frühling war. Ist das denn nicht genug?
Brigitte atmete beklommen. Sie griff sich mit den Fingern in der Erde fest, biß die Zähne zusammen und wartete. Sie wußte voraus, was kommen wird, und erwartete es, konnte sich nicht darauf freuen, wollte es aber auch nicht hindern. Vorlenz hatte einen Arm um ihre Hüften gelegt und sich besser angeschmiegt. Er liebte sie. Und das gab ihm ein Recht. Er war ein Mann. Und wenn die Grillen zirpen und die Nachtigallen schlagen und die Obstbäume blühen, dann muß ein Mann die Geliebte umarmen, muß geschehen, was die Grillen wollen, die Nachtigallen ersehnen und die Obstbäume hoffen. Brigitte wußte das und wehrte sich nicht. Vorlenz schob den Arm noch inniger um ihre Hüften, kroch mit der Hand in die Bluse hinein und suchte nach ihrem Herzen, fand andere Dinge, die ihm ebenso lieb waren, und ergötzte sich an ihnen.
Da fing unten im Dorf eine Glocke an zu läuten, schwang sich auf schweren Flügeln in die Luft, umkreiste den Hügel und machte die Nachtigall verstummen und die Grillen vergessen. Brigitte entzog sich dem unverschämten Arm, strich die Bluse glatt, bekreuzte sich, faltete die Hände und betete. Vorlenz schaute betroffen auf. Er hatte das noch nie gesehen und traute seinen Augen kaum. Es war. Und weil er nicht schlechter sein wollte als sie, auch nichts anderes zu tun wußte, tat er gedankenlos dasselbe. Er schlug ein Kreuz, ein ungenaues, miserables Kreuz, legte die Finger nur beiläufig ineinander, ließ den Kopf hängen und betete bloß nicht, weil er es längst vergessen und niemals gut gekonnt hatte. »Sie ist eine Fromme«, dachte er und hätte auch darüber lachen können, aber es kitzelte ihn nicht. Etwas wie Ehrfurcht stieg in ihm auf und machte ihn staunen, daß es wirklich erwachsene Menschen gab, die beten konnten, weil es Abend wurde, weil eine Glocke läutete und weil es der Pfarrer so verlangt. Daß es um Gottes willen geschah, fiel ihm nicht zu denken ein. Er hatte keinen Gott. Er hatte ihn noch nie gesehen oder gehört. Er brauchte auch keinen. Brigitte ließ sich nicht beirren. Sie war überhaupt kaum da, schien mit der Glocke zu fliegen und am Himmel zu kreisen, lächelte und mußte Schönes sehen, mußte glücklicher sein, als er war. Vorlenz rauchte und überlegte dabei: »Wenn sie glaubt, daß sie mir damit auskommt, daß ich heute wieder nach Hause geh und nicht weiß, warum ich fortgegangen bin, da täuscht sie sich, ... die Betschwester, die fromme!« Es war nicht nett von ihm, so zu denken, war auch gar kein Grund vorhanden. Die Glocke verstummte. Die Grillen raspelten wie früher. Auch die Nachtigall schlug an. Und Brigitte nahm ihre Hände auseinander und war wiederum, was sie gewesen ist. Nur er konnte es nicht sein. Er saß unwillig daneben und rauchte.
Es wurde finster. Der Mond zog auf. Die Sterne flunkerten mit ihrem Licht. Kein Mensch war da, kein Mensch sonst außer ihnen, als wären sie die einzigen auf Erden, Adam und Eva, vor kaum einer Stunde aus dem Paradies vertrieben. Ein Lüftchen hauchte durch das Gras. Es tuschelte von Schlangen. Irgendwo quietschte ein Hase. Schreie wurden, die nicht aus der Not des Lebens kamen, Jubelschreie, die nach Mehr verlangten.
Vorlenz warf die Zigarette weg. Brigitte hielt den Atem an. Ihr Blut stieg auf und ab, stieg immer höher hinauf und fiel immer tiefer hinab. Ihre Blicke flimmerten. Ihre Ohren sausten. Es wirbelte in ihr von roten Flocken, regnete Feuer, schlug mit Flammen. Er küßte ihre Lippen, und es war, als hätte sie seit Jahren Durst gelitten und wäre nun an einen Brunnen gekommen. Es war gut, wie er sie küßte. Vorlenz schlang einen Arm um ihren Nacken. Es war ein starker Arm und bettete sich weich auf ihm. Vorlenz küßte ihren Hals, die Brust, das Herz, das dumme, lächerliche Herz. Es hämmerte nicht mehr. Es war ganz klein geworden und pickte wie ein Küchlein an die Eischale, so pickte es an die Rippen. Als ob ihm Brigitte helfen könnte! Oder wollte! Als ob sie nicht selbst verloren wäre! Ach, so gern verloren!
Frühling war. Die Grillen zirpten, und die Nachtigallen schlugen. Liebe war und Liebe wurde. Alles drängte sich zum Leben. Der Himmel tat sich auf mit seinen Sternen, die aus Feuer sind und für sich selbst verbrennen. Auch die Erde dampfte, weil es in ihr glühte, alle Säfte stiegen, es in allen Wurzeln gärte und aus allen Blumen hauchte, – dampfte, weil sie einer Mutter Schoß war, aufgetan, um wieder Mutter zu werden.
Brigitte fühlte sich mit einbezogen, war eine Pflanze und blühte, wurde Tier und wollte nichts von ihrer Seele wissen, war ein Mensch, noch Mädchen, und sehnte sich und wußte nicht, daß eine Frau in höchster Lust sich immer nur nach einem Kinde sehnt.
Ihre Hochzeit war ein trauriges Fest. Die Braut erwartete das Kind, und der Bräutigam hatte sich betrunken. Er wurde fast dazu gezwungen. Er hatte gut gegessen, war bester Laune und sollte tun, als ob das alles anders wäre, bloß weil Brigitte nichts gegessen hatte und deshalb schlechter Laune war. Vorlenz konnte das nicht einsehen. Er wollte auch gar nicht. Mochte sie sitzen und Trübsal blasen. Er war fidel. Er zeigte Kartenkunststücke, die bedenklich machten, produzierte sich als Jongleur und schlug dabei drei neue Teller in Scherben. Er stand auf dem Kopf, ging auf den Händen und ärgerte sich, weil Brigitte nicht darüber lachte. Sie war still und kaum fröhlich zu nennen. Da griff Johann zur Flasche und trank, bis er betrunken war. Jetzt hatte sie es. Jetzt mußte sie ihm schöntun, ihn vor allen küssen, sich auf seine Knie setzen und ein Lied singen, ein ernstes Lied, zu dem sie alle lachten, denn es gab nun schon so viel Räusche als Gäste an der Tafel. Das Ende war ein Streit und wäre auch bald mehr geworden. Da versagte das elektrische Licht, ging alles in Finsternis unter, und das war Tumult genug. Ein Spaßvogel hatte die Drähte durchgeschnitten. Es war ein plumper Scherz, den aber keiner übelnahm, sogar Brigitte nicht. Sie flüchtete zu einer Nachbarin hinüber. Man hatte keine Ahnung, wo sie war. Man suchte sie auch nicht. So wichtig war sie bei diesem Fest, und so gut unterhielt man sich ohne sie.
Vorlenz war mit seiner Ehe recht zufrieden. Brigitte hatte Geld erspart. Es war nicht viel, aber es reichte doch. Und Vorlenz wurde Dienstmann. Er kaufte sich einen Handwagen und was sonst noch dazu gehörte, eine schöne Kappe vor allem und die Konzession. Er trug die Nummer siebenundsechzig an der Brust und war stolz darauf. Sie glänzte immer ohne Makel eines Fleckes und wurde zum Spiegel ihres Herrn. Sein Platz war eine Ecke in der Wipplingerstraße, ein guter Platz und eine feine Ecke. Vorlenz ist Laufbursche und Lastpferd in einem gewesen. Er lief mit Briefen herum und überbrachte herzliche Grüße und gefährliche Drohungen mit demselben freundlichen Gesicht, wagte allerlei dabei und berechnete sein Honorar darnach. Er mußte Pakete schleppen und durfte nicht fragen, was drinnen ist, mußte alles für zerbrechliches Glas nehmen und aufpassen wie ein Eierhändler. Einmal war er auch Leichenträger. Die Sache kam sogar vor das Gericht. Er war unschuldig. Er konnte doch nicht wissen, daß in der Hutschachtel ein totes Kind lag und die angegebene Adresse ein Friedhof war. Man hatte durch ihn bloß die Bestattungskosten ersparen wollen, und das ist auch gelungen. Dann wieder lud man ihm seinen Wagen mit Kisten und Körben voll, daß er kaum von der Stelle kam und mit ihm der Gedanke stehen blieb, ob es nicht schlauer wäre, ein Pferd zu kaufen, als selber eines zu sein. Brigitte warnte ihn. Er war ihr zu unbeständig, war immer nur darauf bedacht, etwas Neues anzufangen. Er hatte keine Pläne, sondern sie hatten ihn. Und das machte sie ängstlich.
»Was willst du eigentlich?«
»Wenn es mit einem Roß nicht geht, ein zweites nehmen«, lachte er und sah sich schon in einem Stall von drei, vier Pferden stehen. Es war noch lange nicht so weit. Er wollte aber doch auf der Hut sein und keine Gelegenheit dazu versäumen.
Brigitte gebar einen Knaben. Es kam ihr völlig unverdient vor, so glücklich war sie, und so schön erschien ihr die Welt. Sie drehte sich plötzlich anders, war leichter und lustiger geworden, tanzte ihre Tage hin und lachte mit der Sonne und weinte mit dem Regen, aber nicht weil sie traurig war, sondern weil sie nicht immer lachen konnte. Mütter verstehn das ohne weiteres. Die Väter haben es schon schwieriger damit. Doch das kam hier gar nicht in Frage. Der Junge wurde Thomas getauft. Es geschah nach einem Traum. Brigitte träumte:
Sie lag in den Wehen und wand sich vor Schmerzen. Kein Mensch war da, ihr zu helfen, keine Hand, ihr gutzutun, und keine Stimme, ihr verzagtes Herz zu trösten. Sie war ein Acker. Sieben Pflüge zogen Furchen durch ihren Leib. Dann kam das Kind. Es wuchs aus ihr, erst eine Zehe, dann ein Fuß, dann noch ein Fuß. Und dann plumste der Rumpf heraus. Er brachte auch die Hände mit. Aber es kam kein Kopf. Ein Kind war da und hatte keinen Kopf. Es zappelte wie eine Spinne in die Luft und suchte mit Armen und mit Beinen, jeder Finger, jede Zehe suchte. Doch es fand sich nichts. Brigitte durchwühlte ihren Bauch. Es war kein Kopf da, war ein Kind geboren worden und hatte keinen Kopf. Brigitte schrie, daß sie erwachte, und sah und wußte selber nicht, was davon Wirklichkeit und was noch Traum gewesen ist: Ein Mann kam, ein alter, uralter Mann. Er ist nicht durch die Türe und nicht durch das Fenster gekommen, stand plötzlich da, nahm seinen Kopf wie einen Hut ab und setzte ihn dem Jungen auf. Er paßte nicht. Er war zu groß und viel zu alt. Doch das schien nicht zu gelten, schien auch nicht mehr richtig. Und der Mensch verschwand. Er ging den Weg, den das Kind gekommen ist und nahm die Pflüge mit. Also ist es ein Bauer gewesen.
»Der Großvater war bei mir und will, daß wir ihn Thomas heißen«, sagte Brigitte und schlug die Augen auf. Sie dämmerte aus einer Ohnmacht zurück und konnte schon deshalb nicht wissen, woher ihr diese Worte kamen und wer sie in ihr gedacht hat. Es ist ein Geheimnis und wird immer dunkel bleiben. Vorlenz hielt nichts von Träumen, ließ es aber doch geschehen. »Ich bin der Vater, also muß er nach mir geraten«, meinte er und irrte sich. Aber das kann man bei einem Kinde nicht wissen, das muß die Zeit bringen, und sie brachte es.
Vorlenz hatte Glück. Er wurde an einem dreizehnten April in die Bandgasse dreizehn geschickt und fand einen Garderobezettel mit der Nummer sechsundzwanzig. »Das ist doch wieder dreizehn, ist zweimal dreizehn«, stieß ihm auf und blieb als Blase in seinem Gehirn zurück. Er war sonst keiner, der es mit dem Aberglauben hielt, und rümpfte auch jetzt die Nase. Komisch blieb die Angelegenheit auf jeden Fall, wie immer er sie drehte. Das war sicher, doch er lachte nicht. Er hätte es bei jeder anderen Zahl getan, bei dreizehn wurde er stutzig. Sie bedeutet Unglück. Und das schien ihm günstig. Er begann zu sinnieren und fand noch eine Menge kurioser Dinge, die da hergehörten. »Ich bin einunddreißig Jahre alt, macht einen Dreizehner von hinten ... Mein Geburtstag fällt in den Jänner, das ist der erste Monat oder der dreizehnte, wie man es nimmt ... Meine Nummer heißt siebenundsechzig, und das ist die Summe: sechs und sieben ...« Es war nicht überzeugend, was er da entdeckte, doch es bestimmte ihn. Vorlenz überwand seine Abneigung und setzte in die Lotterie. Er wagte viel für seine Verhältnisse. Der Kollekteur riet ihm, noch eine zweite Zahl zu nehmen, neun vielleicht, sie war in Mode, oder achtzig, das Alter des Kaisers. »Türnummern sind gegenwärtig auch beliebt«, wisperte er aufgeregt und rückte nervös an der Brille. Da schnellte Vorlenz hoch. Das hatte er ganz vergessen: »Dreizehn! Dritter Stock, Tür dreizehn!« Der Kollekteur kam völlig aus dem Häuschen und beschloß, die Probe mit dem Gimpel zu machen. Das Tier war ungehalten. Es hatte geschlafen, ist weit weg in einem Wald gewesen, hat ein Weibchen gesehen und ... wurde aufgeweckt. »Brav sein, Viki!« lockte der Kollekteur und reichte den Nummernkasten wie einen Futtertrog hin. Der Gimpel gähnte gelangweilt. Er hielt diese Dinge da durchaus nicht für ein Fressen und fand den Spaß schon öde, immer so zu tun, als ob es anders wäre. Aber die Menschen werden nun einmal nicht klüger. Und so machte er ihnen die Freude und rupfte wieder einen Zettel aus dem Kasten. »Achtzig!« meckerte der Kollekteur und rieb sich die Hände. Er war seiner Sache sicher. Auf den Vogel konnte man sich unbedingt verlassen. Es gab dafür Beweise, die kein Ignorant ableugnen konnte. Auch Vorlenz schwankte schon. Da bemerkte er, daß der Mann hier gar kein Mann war, sondern eine alte Frau, und sein Vertrauen wurde wesentlich erschüttert. »Was weiß ein Gimpel von der Lotterie?« lachte er bei sich und wußte kaum selber mehr davon. Er sagte auch kein Wort daheim. Er schlief nur schlechter, fand die Tage endlos lang und konnte den vermaledeiten Dienstag nicht erwarten. Der kam, weil er kommen mußte, kam auf Schnecken geritten und war nicht anzutreiben. Die Nacht von Montag her ist die schlimmste gewesen. Vorlenz hörte jede Stunde schlagen und begriff nicht, daß Brigitte schlafen konnte, wo er doch ... Sie wußte von nichts. Das war immerhin eine Entschuldigung. Aber sie hätte es fühlen müssen. Endlich kroch der Morgen an, blinzelte die Sonne zum Fenster herein, ratterten die ersten Wagen durch die Gasse. Vorlenz stand auf und ... ließ sich Zeit. Er hatte Angst. Es konnte auch anders kommen, ganz anders. Und das erfuhr er noch früh genug. Der Gimpel fiel ihm ein und die Neun. Sie war in Mode, und er hätte doch ... Aber er hatte nicht. Es wurde sieben, wurde acht. Vorlenz ging nicht. Er trödelte herum, suchte und hatte nichts zu finden, putzte seine Schuhe auf doppelten Glanz und bürstete sich immer wieder ab. Es war durchaus möglich, daß er gewann, doch es mußte nicht sein, und das machte ihm Sorgen. Brigitte holte die Milch für den Kleinen und fragte nebenbei:
»Soll ich dir die Zeitung bringen?«
Nein. Das fehlte noch! Er lief davon, lief an seiner Trafik vorbei, sprang auf die Straßenbahn und fuhr in die Stadt. Neben ihm saß ein Herr und las in einem Morgenblatt. Er hielt auf der Titelseite. Das war ungefährlich. Da konnte auch Vorlenz mithalten, doch es interessierte ihn nicht. Dann wendete sich das Blatt. Jetzt wurde es bedenklich. »Wenn er noch einmal um ...« Vorlenz konnte nicht zu Ende denken, denn es geschah auch schon. »Da unten ... da steht es«, wußte er aus Erfahrung und schloß die Augen, um es nicht zu sehen, um noch Zeit zu haben, noch eine Weile mit der Möglichkeit glücklich zu sein. Er hoffte nimmer und war beinahe sicher, daß er verloren hatte, konnte nichts mehr daran ändern und wagte doch nicht, hinzuschauen und es zu sehen. Er kämpfte einen Kampf, der um so schwerer war, je größer seine Feigheit wurde. Ihm gegenüber saß ein hübsches Mädchen, hatte die Beine übereinandergeschlagen, wippte mit einer Fußspitze und ahnte wahrscheinlich nicht, daß es ein Loch im Strumpf kriegte, daß eine Masche aufgegangen war und immer tiefer fiel. Aber das konnte Vorlenz nicht helfen. Er mußte sich ermannen und etwas riskieren, hob die Wimpern, verdrehte einen Augapfel und schielte hinüber, war plötzlich ganz dort, fiel über die Zeitung her und kollerte wie ein Truthahn, der seine Stimme erbricht:
»... tschuldigen Sie! ... Dreizehn! ... Mein Dreizehner!« Er riß das Blatt an sich und stürzte aus dem Wagen, sprang bei voller Fahrt ab und rannte schräg über die Straße, wischte gerade noch bei einem Automobil vorbei, schwenkte die Zeitung wie eine Fahne und wirbelte dahin. Der Dreizehner marschierte an der Spitze und der Achtziger schloß ab. Das Biest hatte also doch recht gehabt, auch recht. Vorlenz lief, was er laufen konnte. Er kam außer Atem nach Hause und hatte kaum Gesäß genug, um sich entsprechend mächtig hinzusetzen, und viel zu wenig Lärm in der Kehle, um es gehörig laut zu sagen:
»Ich habe gewonnen, ... ein Pferd und einen Wagen gewonnen.«
Brigitte nahm es mit einer Ruhe auf, die fast schon beleidigend war. Sie freute sich, gewiß, das war zu bemerken. Aber sie tanzte nicht, sie stellte sich nicht auf den Kopf, sie fiel ihm nicht einmal um den Hals. Er war doch wenigstens laut und fühlte sich. Sie drückte nur den kleinen Thomas an die Brust und lächelte verzückt:
»Kinder sind ein Segen. Gott ist mit ihnen, und so muß er auch mit uns sein.«
Vorlenz war gegen diese Auslegung. Er stand auf eigenen Beinen fest und brauchte diese Himmelskrücke nicht. Er war eben ein Mann und sie ein Weib, und das besagt alles.
Vorlenz ist also Fuhrwerker geworden. Er hatte ein Pferd, einen blanken, stämmigen Braunen und einen nagelneuen Wagen, der ihm so leid tat, daß er die Eröffnung des Geschäftes um eine Woche verschob, weil es regnete. Die witzigen Freunde rieten ihm zu einem Schirm. Aber da verstand Vorlenz keinen Spaß und wurde grob. Mit sich ließ er auch in dieser Tonart reden, doch Roß und Wagen mußten aus dem Spiele bleiben, sonst wurde er ungemütlich. Es hörte übrigens früher zu regnen auf, und damit war auch der Spott zu Ende. Vorlenz holte Butter und Eier von der Bahn und streifte sie den Händlern zu. Er sammelte seine Kunden auf dem Großmarkt, ging von Stand zu Stand, stellte sich vor und war in einer Weise höflich, wie man es von Fuhrleuten nicht gewohnt ist. Es trug seine Zinsen, und er hatte bald mehr Kundschaften beisammen, als Luzzi brauchen konnte. Vorlenz vergötterte sein Pferd und hätte sich am liebsten selber vor den Wagen gespannt und Luzzi auf den Bock gesetzt. Es war genug Arbeit für sie, wenn er täglich zweimal auf die Bahn fuhr, in der Früh, um die Waren zu holen, und nachmittag, um die leeren Kisten aufzugeben. Zwischenhin ruhte das Tier die Beine aus, robotete der Herr mit dem Kopf. Vorlenz hatte sich einen Schreibtisch angeschafft und schrieb jeden Frachtbrief dreimal, ehe er einmal gelang. Das war kein Vorteil und kostete Geld. Aber es mußte sein. Vorlenz erduldete Ängste einer Schularbeit dabei und preßte den Federstiel, als wäre die Tinte aus dem Holz zu quetschen, und schwitzte über den Gefahren der Orthographie, die immer größer wurden, je länger er schrieb. Was gab es doch für Ungeheuer von Worten! Und wie vertrackt kam manches heraus! Er bereute keine Stunde, die er neben die Schule gegangen war, aber es wäre ihm jetzt doch lieber gewesen, wenn er damals besser schreiben gelernt hätte. Sein Ehrgeiz wucherte wie Quecke in einem Acker, ebenso dicht und überheblich. Vorlenz war mit dem Stand der Dinge noch lange nicht zufrieden und sah große Ereignisse kommen. Er hatte sich extra feine Geschäftspapiere drucken lassen, und darauf prangte sein Name, seine Firma dick und fett in der linken Ecke oben, ein Monument, ... er gab es nicht geringer.
Brigitte hielt den Haushalt in Ordnung. Das Zimmer war ein Salon, unter Decken und Läufern begraben, alle selbst gehäkelt und gestickt und einer schöner als der andere. Da gab es kein Plätzchen unbelegt. Da gab es auch keinen Sessel richtig zum Sitzen, schon weil man nirgends die Beine ausstrecken konnte, gab es wohl einen Diwan, doch der durfte nur angeschaut werden, und das mußte freundlich geschehen. So war es, wenn Vorlenz kutschierte. Er brauchte sich bloß an den Schreibtisch zu setzen, und schon war der Salon verdorben, wurde ein gewöhnliches Zimmer daraus, in dem der Hut auf dem Bett lag, der Rock am Kastenschlüssel hing, die Schuhe auf dem Teppich standen, Papierfetzen herumflogen und sich überallhin die Zigarettenstummel verstreuten. Er war eben in keinem Salon geboren worden und konnte auch in keinem leben. Das merkte man, und das ließ sich nicht ändern. Blieb immer noch die Küche. Sie war Brigittens Herzkammer und spiegelte wie ein Juwelierladen. Es ist eine Freude gewesen, das anzuschauen, doch Vorlenz war blind dafür. Er fand es nur im Stall erquickend schön. Dort roch es nach seinem Sinn, dort wohnte Luzzi, und dort hätte er eigentlich auch sein müssen. Er ist immer schon ein Roßnarr gewesen und wurde es mehr und mehr. Er wusch das Tier täglich mit lauwarmem Wasser und striegelte es, daß jedes Haar nach einer Frisur lag und der Schweif wie eine seidene Quaste über jenen Teil hing, der ihm die größte Sorge machte. Luzzi hielt nicht rein, und das kränkte ihn. Brigitte konnte diese Liebe kaum begreifen. Sie hatten ein Kind, und er nahm sich das Pferd. Ihre Seligkeit war Thomas, der Himmel auf Erden und der Himmel im Himmel. Es konnte gar nicht anders sein. Vorlenz redete immer nur von Luzzi. »Vielleicht ist ihm der Bub nicht recht, ... vielleicht will er ein Mädchen haben«, meinte Brigitte und betete zu Gott, der sich um ein Kind nicht lange bitten läßt. Und im nächsten Jahr ist Rese dagewesen.
Luzzi verdiente das Brot und die Kleider, den Zins für die Wohnung und für den Stall, die Zigaretten und das Bier, alles, was sie hatten, war ihr Verdienst, war der Preis für ihre Mühe, ihre Arbeit. Sie selber kriegte nur ein bißchen Hafer und ein Bündel Heu dafür. Und da sollte Vorlenz nicht dankbar sein? Brigitte war es schon auch. Sie kam niemals in den Stall, ohne ein Stückchen Zucker mitzubringen, doch sie kam nicht oft. Und daran liegt es. Vorlenz hatte nun auch ein Mädchen. Er fand es putzig und possierlich, spielte gern ein Weilchen mit ihm, hatte aber nie so richtig Zeit. Einmal war der Wagen zu waschen, dann das Kummet zu glänzen, dann der Stall zu misten. Immer ging es um Luzzi, und das verdroß Brigitte, nicht weil, sondern wie es geschah. Sie erfüllte auch ihre Pflichten, kehrte, wischte, klopfte, scheuerte und kochte, tat alles gern und pünktlich, doch nur mit den Händen. Er war besessen und verschwendete sein Herz, und das sollte den Kindern gehören.
Die kämpften den schweren Kampf der Menschwerdung, rauften mit den Händen um das Greifen, mit den Füßen um das Gehen, mit den Augen um das Erkennen und mit der Zunge um den Namen der Dinge, die sie beirrten und verwirrten, so viele gab es und so unzählbar ist ihr Sinn gewesen. Thomas blieb voraus, nicht bloß dem Alter nach. Er lebte sich geschwinder ein und überholte sich selbst. Rese lag noch in den Windeln, und er ging schon. Er segelte durch das Zimmer, von einem geheimnisvollen Wind getrieben, verfehlte oft sein Ziel, kam aber doch irgendwo an und schien ungemein stolz darauf. Rese folgte langsamer nach. Sie war träger und genügsamer vor allem. Thomas stürmte. Rese schlich. Und so waren sie bald weiter auseinander, als es die Jahre gefordert hätten. Brigitte liebte beide mit dem gütigen Herzen einer Mutter und machte keinen Unterschied, gar keinen. Bloß daß Thomas der Erste war und es blieb. Aber das ist ja wirklich so gewesen.
Vorlenz saß nun auch an Sonntagen bei seinem Schreibtisch und rechnete. Er verdiente gut und hatte Geld erspart. Er wollte aber noch mehr verdienen, noch mehr ersparen. An Kunden fehlte es nicht, nur an einem zweiten Pferd und einem zweiten Wagen. Ein Kutscher ließ sich finden. Der ist billig zu haben, denn er kostet nichts, muß seinen Lohn erarbeiten und wird entlassen, wenn er es nicht kann. Das Pferd war schon beisammen, lag, wenn man so sagen darf, schon in der Sparkasse. Blieb nur der Wagen. Und an dem rechnete Vorlenz gerade herum. Es mußte kein neuer sein. Mit einem Tiegel Farbe ist da viel zu machen. Aber es fehlte immer noch eine kleine Summe, und die war mit den schönsten Ziffern nicht herauszubringen. Der Stall war groß genug. Und Luzzi würde sich gewiß unbändig freuen, einen Kameraden zu bekommen. Sie war zuviel allein, hatte keine Ansprache, wie er meinte, und ließ wahrscheinlich deshalb hie und da den Kopf hängen, auch wenn er sie noch so liebevoll klopfte und kraulte. »Ich habe doch auch meine Frau und die Kinder«, sagte sich Vorlenz und fand da gar keinen Unterschied.
Ringsum ging alles den gewohnten Gang. Die Bäcker backten das Brot, und die Kunden aßen es auf. Die Eisenbahnen fuhren ab und kamen an. Flugzeuge stiegen auf und erregten die Bewunderung aller. Man hatte sich noch nicht an sie gewöhnt, war aber auf dem besten Weg dazu. Das elektrische Licht brachte die letzte Petroleumlampe um, und keiner bedauerte es. So groß ist der Undank dieser Welt. Man telegraphierte ohne Draht und fand das ganz selbstverständlich, obwohl die wenigsten verstanden haben, wie es mit ihm gegangen ist. Das Automobil machte die Pferde allmählich zu raren, überflüssigen Tieren, entließ sie aus dem Haushalt des Menschen und schickte sie wieder in die Wildnis hinaus. Es gab aber keine mehr. Und so mußten die Pferde geschlachtet werden. Vorlenz allein bemerkte nichts davon. Er lebte in der Kleinwelt seines Geschäftes und seiner Familie und verspürte kaum etwas von den gewaltigen Stürmen draußen. Er saß im Trockenen und rechnete seine Zukunft aus. Es ging um ein zweites Pferd. Vorlenz haßte die Automobile und konnte nicht begreifen, was einer überhaupt daran findet. »Sie lärmen und stinken, haben keine Seele und keine Liebe«, und das war ihm vor allem wichtig. Er hätte auch über einen künstlichen Menschen gelacht, und so konnte er diese Wagen ohne Pferde unmöglich ernst nehmen. Sie schienen ihm nur eine Spielerei zu sein. Das ist bei den ersten Lokomotiven kaum anders gewesen und wird vermutlich immer so bleiben. Es hält zum Glück den Gang der Dinge niemals auf. Und so geschah, was geschehen mußte, kam eine neue Zeit und schlug die alte in Trümmer.
Krieg wurde, plötzlich, über Nacht fast stand die ganze Erde rundherum in Flammen. Das Böse brach wie eine Krankheit aus, schlimmer als die Pest und ärger als der Tod, denn es war Mord. Niemand konnte sich retten, niemand wollte es auch. Man war doch kein Verräter. Man hatte seine Ehre und war beleidigt worden. Man hörte es täglich und konnte es gar nicht überhören. Die Zeitungen rissen den Mund und die Leser die Ohren auf. Man mußte mit, wenn man ein Mann war, und das wollte jeder sein, Frauen und Kinder sogar wollten Männer sein. Nur die Feiglinge drückten sich und die Kranken. Man brauchte sie nicht. Es gab Gesunde und Starke genug. Sie nahmen das Vaterland auf ihre Schultern und trugen es an die Front. Und was die meisten bisnun bloß dem Namen nach gekannt und kaum jemals richtig geliebt hatten, das wurde plötzlich heiliger Besitz und mußte mit dem Einsatz des Lebens verteidigt werden: die Krone und die Grenze. Man hätte auch um eine Distel gestritten, hätte sich um ein Nichts geopfert. Denn was der Blitz den Wolken, die Flut dem Meere und ein Beben für die Erde, das scheint der Krieg den Menschen: Feuer, Kraft und Vernichtung, ein Protest gegen die drückende Last dieses Daseins und den Zwang des täglichen Lebens. Es gäbe längst keinen Krieg mehr, wenn es anders wäre. Man kann ihn verfluchen und beweinen, doch er wird immer sein, wo Menschen sind, steht schon im Kinde auf, heißt Zank und Streit, macht die Jugend undankbar und selbstisch, stürmt mit ihr dahin und ist durch keinen Gedanken, keine Bitte aufzuhalten, lodert hinter jeder Kraft und wird zur Roheit des Mannes und zur Untreue der Frau, ist Mißgunst und Verleumdung, Diebstahl, Totschlag, Mord, war der Anfang und ist das Ende dieser Welt.
Vorlenz warf sich in die Brust. Er hatte nicht umsonst bei den Deutschmeistern gedient und ist ein Korporal geworden. Er lechzte förmlich darnach, zu zeigen, was er konnte, er, der einfache Mann für die große Sache aller. Da gab es kein Bedenken, war jeder Gedanke von vorneher verboten, gab es nur den blinden Gehorsam, der sich selber adelte, wenn man freiwillig tat, wozu man auch gezwungen werden konnte. Vorlenz verkaufte Roß und Wagen, rückte zum Regiment ein und war nur noch Korporal, das heißt ein Mensch, der in einer Uniform steckt, zwei Sterne auf dem Kragen und ein Herz in der Brust trägt, das für Kaiser und Vaterland schlägt, bis es eine Kugel auslöscht. Er hatte Frau und Kinder vergessen, war weder Gatte noch Vater mehr, sondern bloß ein Soldat, hatte Luzzi verkauft und hätte unmöglich mehr dafür tun können. Es ist vieles rätselhaft in diesem Leben. Aber kann eine Welt gut sein, in der es den Tod gibt? Kann ewiger Friede werden, wo das Tier die Pflanze frißt und sich der Mensch von beiden nährt? Brigitte klagte nicht und weinte nicht. Es wäre ihr anmaßend und sündhaft vorgekommen, gegen Gott zu klagen und ein Schicksal zu beweinen. Ihr Glaube war blind und taub. Er ließ sich durch Augen und Ohren nicht betrügen. Was kam, das mußte kommen. Und wenn der Himmel eine Qual schickt, dann hat sie der Mensch zu tragen, auch wenn er nicht weiß warum. Gott wird es schon wissen.
Die Kinder lebten noch im Paradies. Sie hatten wohl keine Flügel, waren aber doch Engel. Alles, was sie berührten, wurde lebendig, der Stein zum Vogel, weil er flog, wenn man ihn warf, und ein Stück Holz zum Hund, der bellen konnte, wenn man ihm seine Stimme borgte. Thomas liebte es, mit einem Bleistift umzugehen und Briefe zu schreiben, der Mutter, wenn sie in der Küche kochte, und der Katze auf dem Dach, daß sie herunterkommen sollte. Jedes Blatt Papier kritzelte er an und steckte es in den Ofen. Das war der Briefkasten. Er wurde über Sommer voll. Und für den Winter hatte Thomas schon ein anderes Spiel gefunden. Rese war Mama von sieben Puppen, einer ganzen, vier halben und zwei eingebildeten. Die ganze Puppe konnte sogar schlafen, und das ist für eine Mutter, die sieben Kinder hat, besonders wichtig. Die halben Puppen waren meist auch das nicht mehr, hatten Arme oder Beine oder gar beides verloren und paßten eher in ein Spital, denn in eine Kinderstube. Auch kopflose Puppen gab es darunter. Sie wurden mit aufopfernder Sorgfalt gepflegt und hatten es wahrscheinlich nötig. Die eingebildeten Puppen waren zwei Kochlöffel ohne Kleider, ohne Hüte, zwei nackte, ausgemusterte Löffel, die aber doch richtige Puppen gewesen sind und ihre eigenen Namen hatten: Finni und Mimi. Wer wollte da etwas sagen? Und wer wollte es begreifen lernen?
Der Vater zog in den Krieg. Die Kinder träumten im Paradies. Die Mutter stand inmitten und mußte ihre Kraft zusammennehmen, um die Erde unter sich nicht zu verlieren. Es ging allen Müttern dieser Tage so, und es ist ihr Verdienst, daß es heute überhaupt noch Menschen gibt, nicht bloß Soldaten und nicht bloß Kinder.
Vorlenz war mit den ersten Truppen fortgezogen. Er hatte eine tadellose Montur ausgefaßt, ließ sie bei einem Schneider noch schnell auf den letzten Schnitt umbauen, trug verbotene, silbergespritzte Sterne und war von einem Oberleutnant kaum zu unterscheiden. Er putzte noch während der Fahrt an sich und konnte es gar nicht erwarten, den Russen zu zeigen, wie ein österreichischer Korporal ausschaut und was er leisten kann, wenn man ihn auf den rechten Platz stellt. Und dafür wollte er schon sorgen. Er hielt seine Leute fest an der Stange und duldete keinen Unfug. Er exerzierte mit ihnen, obwohl sie wie Datteln in einer Kiste aneinander pickten, übte Gewehrgriffe und wiederholte das Exerzierreglement. Er war das Muster eines Unteroffiziers der Reserve und zog in den Krieg, wie er seinerzeit zur Parade gegangen ist: marscheins, kopfhoch und Brust heraus. Die ersten Schüsse legten dieses Ideal für immer um. Man sah nicht, woher sie kamen, wußte nicht, wem sie galten, und das war gut, denn es sind die eigenen Truppen gewesen, die sich verschossen hatten. Überhaupt war alles anders und wurde es immer mehr. Was nützte es, ein ausgezeichneter Soldat zu sein, wenn eine Granate kilometerweit geflogen kommt und jeden ohne Ausnahme niedermacht, der in ihren Sprengbereich fällt? Wozu ist man ein Korporal geworden, wenn es der gemeine Mann ebenso gut oder schlecht hat? Vorlenz war enttäuscht. Er hatte nie von solchen Kriegen gehört und hätte sich niemals für sie begeistert. Ein Kampf Mann gegen Mann, Kraft gegen Kraft schien ihm gerecht und ritterlich, aber dieses Morden, Maschine gegen Maschine, dieses dreckige, aufreizende Gefühl, nur Opfer und nichts sonst zu sein, das verleidete ihm den Spaß gründlich. Er hatte, und nicht bloß er, den Krieg mit einem Manöver verwechselt, in dem es wohl ein bißchen Blut, aber doch nicht Tote in Haufen und Verwundete nach Tausenden gab. Auch sonst war manches nicht in Ordnung. Er marschierte, bis ihm die Stiefel in Fetzen gingen, marschierte barfuß, bis auch die Haut in Fetzen war, marschierte auf dem Fleisch und meinte schon auf den Knochen zu gehen, so brannten ihn die Sohlen und so verbrannte ihn die Wut. Es war kein Sieg. Er ging den Weg des Rückzuges, und jeder Schritt war ein Dolchstoß in seine Seele. Er hatte immer noch ein Quentchen Ehre in der Brust. Sein Kamerad zur Rechten war schon damit fertig. Und so wird es auch bei ihm nicht lange mehr dauern.
Das Brot war knapp geworden, das tägliche Brot, das geringe, mißachtete Brot, sonst wie Wasser auf dem Tisch, ein Ding, um das man sich nicht sorgen mußte, das selbst der Arme hatte und das man den Bettlern schenkte, – das Brot, sonst nur begehrt, um Butter darauf zu streichen, wenn es frisch und knusperig war, – das gemeine, gewöhnliche Brot, das man sonst den Spatzen vor die Fenster bröselte, war knapp geworden und kostbar wie das Leben selber und machte Geschwister zu Feinden, machte Bruder und Schwester zu Dieben. Man mußte das alles erst begreifen lernen. Es wollte nicht in das Gehirn, war Wirklichkeit und schien doch nur ein böser Traum zu sein. Es gab kein Brot. Versteh das einer, der es jeden Tag gegessen hat wie Brot, wie nichts! Auch die Kartoffeln fehlten. Man muß das langsam lesen, Silbe für Silbe und Buchstaben für Buchstaben, um so nahe an den furchtbaren Sinn dieser Worte heranzukommen, als nötig ist, um den ganzen Unsinn dessen, was wir Krieg heißen, zu erfassen. Erdäpfel, sonst bloß nebenbei und ohne richtigen Bedarf vom Markte mitgenommen, wurden abgewogen wie Gold und ängstlich voreinander versteckt. Vielleicht ging es den Schweinen auf dem Lande besser. Die Menschen in der Stadt stellten sich nächtelang um ein paar faule, übelriechende Kartoffeln an. Die Eier wurden eine Rarität. Sie waren nicht mehr Beigabe, sondern einziges Essen geworden, ein Stück per Kopf und bald auch dieses nimmer. Die Hühner wurden stolz. Man kann es ihnen nicht verdenken, denn wo die Weisheit des Menschen versagt, kommt die Dummheit des Tieres zu Ehren. Das wußten selbst die Ochsen, und sie machten aus dem Rindfleisch eine Delikatesse, die nur von reichen Leuten und mit silbernem Besteck verzehrt werden durfte. Es war beinahe komisch. Leider hatte der Magen nicht Humor genug, um es lustig zu finden. Er knurrte und krümmte sich und schmerzte. Man litt Hunger, abscheulichen, brutalen Hunger. Man, das waren Menschen, die von Kindheit an ihr Frühstück, ihren Mittagstisch, ihr Abendessen hatten, ohne irgendwie Besonderes daran zu finden. Und sie sollten nun auf einmal hungern, sollten in der Früh keinen Kaffee mehr trinken, weil es an Milch mangelte, sollten zu Mittag nicht satt werden und abends fasten, weil Krieg war, und weil man sparen mußte. Es dauerte lange, bis sie das begriffen. Wer aber hätte es den Kindern sagen können, die ihren Mund aufsperrten wie die Vogeljungen ihre Schnäbel? Wer hätte das Herz dazu gehabt? Und wer den Mut? Brigitte ging in die Bedienung und nähte Soldatenwäsche, nur um es nicht sagen zu müssen.
Es war ein schlimmer Winter. Man fror an Leib und Seele und vermochte beide nicht zu wärmen. Von Vorlenz kam seit Wochen keine Zeile. Er konnte gefangen sein, verwundet oder tot. Es standen täglich ihrer viele in der Zeitung. Sie wurden anfangs noch mit Namen genannt, später schon in Summen abgetan: dreißig Tote ... zweihundert Verwundete. Man nahm es nicht genau. Die Lüge triumphierte, wurde in den Gassen ausgerufen, wurde von keinem mehr geglaubt, dennoch von jedem ohne Murren hingenommen. Man siegte und kam doch nicht vorwärts. Die anderen hatten enorme Verluste, und man trieb immer neue Massen an die Front, vergriff sich an der Jugend und schickte Achtzehnjährige hinaus. Sie weinten, doch das taten nun auch schon die Männer. Draußen floß Blut, und daheim tropften die Tränen. Es war eine verruchte Zeit. Die Kohlen gingen aus. Das Licht wurde gedrosselt. Die Preise stiegen. Das Geld verdiente sich schwerer denn je. Und der Krieg nahm kein Ende.
Auch die Kinder spielten Erschießen. Rese stellte sich an die Wand und Thomas schoß nach ihr. Es waren nur Papierkugeln. Rese ist aber doch tot gewesen und mußte umfallen und stilliegen, bis sie wiederum erschossen werden sollte. Thomas trieb drei Tage dieses Spiel. Dann kriegte Rese ihre Rolle satt, und er kam an die Mauer. Sein Gesicht war bleich und seine Knie zitterten. Er hatte Angst. Es war kein Zweifel: Thomas fürchtete sich. Sein Herz schlug sichtbar, sein Atem war zu hören. Rese zielte schlecht und schoß daneben. Er fiel aber doch um, blieb liegen und rührte sich nicht, lag immer noch und regte keine Hand und keinen Fuß. Rese rief nach der Mutter. Brigitte stürzte hin, riß den Jungen hoch und rüttelte und küßte ihn. Er schlug die Augen auf und schien verwundert, daß er nicht tot war, weinte erst still und schluchzte dann, als ob ihm doch Tödliches geschehen wäre. Vielleicht war es auch so. Kinder leben in einer Welt, die bloß dem Schauplatz nach die unsrige ist, sonst aber für sich selbst besteht, ihre eigenen Gesetze und ihre eigenen Schicksale hat. Der Arzt sprach von Unterernährung und Nervosität und konnte nicht helfen, denn er hatte nur Pulver zu vergeben, und die machen nicht satt. Sie spielten auch nie wieder Krieg, Rese und Thomas.
Vorlenz wurde verwundet. Er kroch nächtens aus dem Schützengraben, um sich abseits hinzusetzen und mit seiner Not allein zu sein. Da schaute der Mond neugierig aus einem Wolkenfenster herab und grinste. Es war auch zu lustig, was er sah. In diesem Augenblick funkte es drüben auf, bellte ein Schuß, und der Korporal Vorlenz schlug hintenüber. Die Kugel war durch das Sitzfleisch eingedrungen, am Schenkelknochen entlanggelaufen und beim Knie herausgesprungen. Es ist kein rühmlicher Schuß gewesen, das muß jeder sagen, und das haben auch die Kameraden empfunden, denn der ganze Graben lachte, als ob dem famosen Schützen drüben damit bloß ein Scherz gelungen wäre. Vorlenz brüllte. Er litt rasende Schmerzen und mußte doch liegen bleiben, bis der Mond abzog, dieser gemeine, hinterlistige Verräter, dem er es zu danken hatte, daß er verwundet wurde, wirklich zu danken, denn es war sein Glück. Der Schuß ist ein kleiner Haupttreffer gewesen. Die Wunde heilte in einigen Wochen ohne Umstände zu, nur das Bein blieb steif, und das war der Gewinn dabei. Vorlenz hinkte, zur Superarbitrierung am meisten, nach der Abrüstung schon weniger und schließlich gar nicht mehr. Es hing von der Witterung ab, nur daß er sein eigener Wettermacher war und es sich richten konnte, wie er wollte.
Brigitte freute sich, weil er doch mit dem Leben davongekommen war und alles wieder anders werden mußte. Es ging freilich langsam, ließ sich ungehörig Zeit. Aber man muß auch das begreifen, muß sich darum bemühen, wenn der gemächliche Verstand es nicht von selbst versteht. Vorlenz ist vom Kutschbock herab in den Krieg gezogen, hat Roß und Wagen hingegeben und ein Gewehr dafür genommen, hat sich vor dem Feind gehalten und um sein Leben gekämpft, hat den Dreck der Schützengräben und die Angst des Trommelfeuers ausgekostet, ist ein tapferer Soldat gewesen und nun gar ein Held geworden und konnte nicht von heut auf morgen wieder Zivilist sein und dort anfangen, wo er aufgehört hatte. Das Leben ist kein Strickstrumpf. Das mußte auch die Frau einsehen. Es war sein gutes Recht, sich zu erholen, auf dem Diwan zu liegen, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen, die Zeitung zu lesen und alles besser zu wissen, weil er doch draußen gewesen ist und es an sich erfahren hatte. Es war gewiß auch richtig, daß er in das Wirtshaus ging und Kameraden suchte. Er war es nicht gewohnt, allein zu sein und den Familienvater zu spielen, immer nur klagen zu hören und sich über das schlechte Brot zu entrüsten. Der Krieg ging weiter. Und wer je Soldat gewesen ist, der weiß, daß man eine Uniform nicht ablegt wie einen Frack, sondern darin stecken bleibt, auch wenn man nackt ist. Das alles war verständlich. Und Brigitte gab sich redlich Mühe, ihn nicht zu stören, ihm das Leben so bequem als möglich einzurichten und kein Wort zu sagen, das ihn kränken könnte. Sie rackerte sich Tag und Nacht, litt nicht bloß Hunger, sondern schlief auch kaum. Oft konnte sie die Arme nimmer heben, so schwer und müde waren sie geworden; oft fielen ihr die Augen ganz von selber zu, beim Trog, im Stehen packte sie der Schlaf. Es war nicht leicht, vier Münder zu stopfen, und wurde täglich schwieriger. Doch er sollte es nicht wissen, durfte es nicht merken. Es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, daß er sich ausruhen und vergessen konnte, was man mit ihm getrieben hatte. Es ist schrecklich gewesen und darf einen Menschen schon ein bißchen aus der Ordnung bringen. Vorlenz war ein anderer geworden und sollte es nun wieder werden. Doch er wollte nicht. Er hatte alles geopfert, Roß und Wagen verkauft, um einen lächerlichen, betrügerischen Preis verschleudert, sich auch noch selbst dazugeschlagen und ist als begeisterter Soldat für Kaiser und Vaterland in den Krieg gezogen, obgleich er Kaiser und Vaterland niemals gesehen hat. Der Kaiser war immer billig zu haben. Er fuhr seit Jahrzehnten täglich Punkt zwölf Uhr über die Mariahilferstraße. Das wußte jedes Kind und hat auch Johann Vorlenz gewußt. Doch es ist ihm viel zu beschwerlich gewesen, sich dort zehn Minuten hinzustellen und zu warten. Sein Leben gab er leichter für ihn hin, obwohl es nicht einmal derselbe Kaiser war und er für diesen neuen gar nichts fühlte. Und das Vaterland, sein Vaterland war eine große Wandkarte mit unzähligen schwarzen Ringen darauf. Jeder Ring bedeutete eine Stadt, und jede Stadt hatte ihren Namen. Es gelang schon dem Schüler Vorlenz nie, sie alle aufzusagen. Gesehen hat er keine davon, Wien vielleicht, aber auch das nicht ganz. Und doch ist ihm diese Wandkarte sein Leben wert gewesen. Er wäre sonst nicht in den Krieg gezogen oder wenigstens nicht mit Hurra. Sein Herz ist schon in einer Woche Deserteur gewesen; er selber ist es erst nach jenem Schuß geworden. Er ließ Kaiser und Vaterland sein, machte kehrt, kam heim und wurde wiederum enttäuscht. Das Leben war auch da ein Kampf geworden. Jedes Stück Brot, jeder Bissen Fleisch, jede Zigarette mußte erobert, erschwindelt und erbettelt werden. Der Preis sprang nebenbei mit und spielte gar keine Rolle, wenn man ihn bezahlen konnte, und anders nützte auch das Schwindeln und das Betteln nichts. Draußen kommandierten die Generäle, herinnen die Fleischer, die Milchfrauen und die Greisler. Das Geld für Roß und Wagen war noch da, aber man kriegte längst kein Roß und keinen Wagen mehr dafür. Pferde waren überhaupt nimmer zu haben. Die mußten hinaus und sich erschießen lassen wie die Menschen. Und mit dem Wagen allein war Vorlenz nicht gedient. Er weigerte sich auch sonst. Er wollte Ruhe und Frieden haben. Er hatte ein Recht darauf, ein höheres als mancher, dem es besser ging, weil er daheim geblieben ist und sich um Kaiser und Vaterland nicht gekümmert hat. Er, der Korporal Vorlenz, war ein Held. Und nun sollte er hungern? sollte nicht einmal rauchen dürfen, weil es Geld kostete, und weil er keines hatte? sollte Wasser trinken? und Gott danken, wenn es nicht noch schlechter kam? sollte arbeiten? mit einem Bein? denn das andere war invalid. Er hatte es doch schriftlich. Oder gilt das nichts mehr? Ist auch das ein Schwindel? Er war ungehalten, schrecklich ungehalten gegen sich und die anderen. Sie praßten, und er hatte Sorgen. Sie taten, als ob nichts geschehen wäre und nichts mehr geschehen würde. Vorlenz war empört und protestierte gegen dieses Unrecht, indem er sich keine Arbeit suchte, Wein trank und rauchte, über das schlechte Essen schimpfte und Brigitte dafür verantwortlich machte. Vorlenz ist wohl nach Hause, aber nicht heimgekommen. Er war ein anderer geworden, wenn auch nur in der Weise eines Windrades, das sich gedreht hat und nun in der Gegenrichtung läuft. Er war ein Soldat auf Urlaub, und das ist ein Mensch, der keine Gegenwart kennt, in der Vergangenheit lebt und auf die Zukunft pfeift. Der Zivilist richtet alles, was er tut, auf Dauer und Beständigkeit ein, denkt immer an eine Art von Pension und hat neben dem Magen auch noch eine Brieftasche, für die er arbeitet. Ein Soldat auf Urlaub weiß von diesen Dingen nichts. Er hat meist nur eine Börse für das tägliche Kleingeld und lebt von ihr. Er kann nicht sparen, weil ihm der Trieb fehlt, es zu tun. Der Krieg hat viele Männer zu Urlaubern auf Lebenszeit gemacht. Vorlenz ist gewiß kein Edelmensch gewesen. Er hat immerhin einen Platz voll ausgefüllt und sein gutes Recht erworben, da zu sein. Jetzt war es umgekehrt. Jetzt hielt er es für die Pflicht der anderen, sich um ihn zu kümmern und ihm einen Fauteuil an der Sonne zu verschaffen. Das Windrad hatte sich gedreht. Brigitte konnte das unmöglich so verstehen. Sie ahnte aber doch, daß da ein Opfer war und daß sie helfen mußte, daß er nicht anders konnte, auch wenn es manchmal schien, als ob er bloß nicht wollte, und daß die Not, an der sie alle litten, nichts war, mit dem verglichen, was er leiden mußte.
Vorlenz hatte mit Berichten nicht gegeizt. Er hörte sich schon immer gerne reden. Jetzt aber war er ein Brunnen geworden, aus dem es unaufhörlich plätscherte. Ob alles wahr gewesen ist? Er hatte viel erlebt, dennoch mußte er manches zweimal sagen, und da geschieht es ganz von selber, daß sich dies und jenes ändert, eine Kleinigkeit sich vordrängt und auf einmal alles anders wird. Es ist schwierig, mit der Wahrheit zu protzen. Und er mußte sich doch zeigen. Er war ein Held und konnte nicht darauf verzichten, es zu bleiben. Die Freunde im Wirtshaus zum ewigen Leben wollten auch ein bißchen Pulver riechen und gemütlich gruseln, wollten auch ihren Krieg haben, und das mußte Vorlenz besorgen. Er ist ihre Truppe gewesen und war ihnen noch die Rechtfertigung schuldig, wieso er nach Hause kam, wenn die anderen draußen geblieben sind. Vorlenz feuchtete sich an und legte los. Aber es ging nicht richtig vorwärts. Das Bier war schlecht, roch dumpf und schmeckte sauer. Man trank also Wein. Der löste die Zunge besser und machte die Gedanken freier. Vorlenz schwelgte in Erinnerungen, trank ihnen fleißig zu, ließ sich immer wieder selber hoch leben und war gegen Mitternacht doch dort, wo ihn die anderen haben wollten:
»... Ich spring aus dem Graben. Da knallt es, kommen die Erbsen schon geflogen. Eine harte Kost. Sie bleibt verdammt im Magen liegen. Ich schmeiß mich auf den Bauch. Die Russen meinen mich tot, maustot. Ich bin es nicht. Ihr seht es ja. Ich krieche wie ein Wurm im Dreck. Es hat Ströme geregnet und aus der Erde Butter gemacht. Ich komm nicht weiter und picke fest, die Hände und die Füße und der Bauch besonders. Der Kamerad liegt seine hundert Schritte weit. Aber das ist keine Promenade. Das hört sich nur so an. Ich warte. Ich spiele den Russen einen toten Mann vor und warte. Es wird dann doch Nacht, eine polnische Nacht. Kein Stern am Himmel. Auch der Mond hat sich gedrückt. Und das paßt mir gerade. Ich laufe, was einer laufen kann, und hab ihn auch schon. Er lebt noch, der Kamerad. Er drückt mir die Hand. Ich knie mich hin und gib ihm zu trinken. Er hat es im Bauch, Hose und Darm aufgerissen. Das hält keiner aus, keine Hose und kein Darm. Ich will ihn aber doch nicht verlassen, will ihn mitnehmen. Da blitzt es. Da blitzt ein Scheinwerfer auf. Und da gackert auch schon eine Maschinspritze und trifft mich ins Knie, weil ich doch knie, schlägt da hinein und fährt da heraus.« Er zeigte ungenau und beeilte sich, als ob er nicht gerne davon reden würde: »Weiß nicht, wie sie uns beide geholt haben, weiß nur, daß der andere tot ist und daß ich lebe.«
Es war nicht ganz so, wie wir wissen, aber das stört die Weltgeschichte kaum. Sie hat schon ganz andere, größere Lügner gefunden. Vorlenz bestellte noch ein Viertel Wein und trank auch dieses aus. Dann war er betrunken.
Brigitte betete vor dem Marienbild. Es war angeraucht und speckig wie ein verrußter Bauernschinken und hätte auch sonst etwas darstellen können, war also mehr Einbildung als ein Bild. Der Mantel hatte sich noch am besten gehalten. Er ist einmal blau und gold gewesen. Das Blau war fort, aber das Gold ist geblieben. Und eine Hand. Sie lag auf der Brust, spreizte die Finger und krampfte die Nägel ein. Man konnte unmöglich hinschauen, ohne Schmerzliches zu empfinden. Und so war es eigentlich ein trauriges Bild. Vorlenz hätte lieber ein anderes aufgehängt, eine richtige Malerei, wie er sagte, Landschaften mit tanzenden Mädchen oder Früchte, ein ganzes Kompott von Früchten. Es wäre ihm damals nicht darauf angekommen, als sie noch Geld hatten, als er Fuhrwerker war und es sich leisten konnte. Aber Brigitte wollte nicht. Sie hatte das Bild von zu Hause mitgebracht und hielt es heilig. Immer brannte ein Flämmchen ewiges Licht davor und sie hätte eher keinen Bissen gegessen, als auf das Öl dafür verzichtet.
Vorlenz kam heim. Er war im Rausch kein Mann und fast auch kein Mensch. Er torkelte im Zimmer herum, stieß an den Tisch und rempelte die Stühle an, stolperte über ein Nichts auf dem Boden und griff blindlings in das Bild an der Wand, drückte die Scheibe ein und verwundete sich. Thomas erwachte mit Entsetzen. Er speilte die Augen auf, daß sich die Sterne fast verloren und nur das Weiße groß und schrecklich im Gesichte stand; er öffnete den Mund, als wollte er sich selbst verschlingen. Vorlenz tappte im Spaß nach ihm, beschmierte das Bett mit Blut und gröhlte vor Freude, weil er es lustig fand. Thomas verging vor Angst und Grausen. Es war das erstemal, daß er den Vater fürchtete, wurde zum erstenmal, daß er ihn haßte. Rese hatte es also leicht, Liebkind zu werden.
Brigitte bangte vor dem Wein aus anderen Gründen. Er befreite Vorlenz von jener Scheu, die noch immer zwischen ihnen stand und es verhinderte, daß er sie nahm, wie man eine Sache nimmt, die einem zugehört und sich nicht weigern kann. Heute war es anders. Heute ist Vorlenz nicht bloß mit einem Rausch, sondern auch gleich mit der Reue nach Hause gekommen. Er lag auf dem Rücken, hielt die Augen offen und stierte geradeaus zur Decke.
»Du hast es leicht,« greinte er hinüber, »du bückst dich, gibst die Hände zusammen, leierst ein Vaterunser herab, und alles ist wieder gut.«
»Willst du es nicht auch versuchen, Mann?« fragte Brigitte und setzte sich neben ihn auf das Bett.
»Mich mag er nicht«, lehnte Vorlenz trocken ab und drehte sich weg.
Dieser Tage ist Vorlenz Beamter geworden. Das Schicksal fließt als breiter Strom über uns alle weg. Niemand kann es aufhalten, keiner sein Ziel verändern. Aber man kann doch in der Mitte durch, am rechten oder linken Ufer hin, im Schatten oder in der Sonne schwimmen, kann einen Nebenarm nehmen und sich in einem toten Gang zur Ruhe setzen, – jeder kann etwas für sich erreichen, wenn er es nur tüchtig will. Man muß aber nicht wollen, kann sich unbekümmert treiben lassen und wird einmal auch ein Ziel erreichen und, wenn man Glück hat, vielleicht weicher zu liegen kommen, als man sich selbst gelegt hätte.
Vorlenz könnte das beweisen. Er stand beim Tor und rauchte eine Zigarette. Der Rauch stieg in die Luft und war im ersten Stockwerk noch zu riechen. Dort schaute Herr Stein aus dem Fenster. Der Tag war herrlich und verlockend, ein Frühlingstag, wie man ihn sonst nur in Gedichten findet, zart und blau und warm und gut. Herr Stein schaute sich nach dem Wetter um. Er hatte das nicht nötig, wurde weder von der Sonne, noch vom Regen belästigt, weil vor dem Tor schon sein Automobil stand, tat aber doch so, als ob er zu Fuß gehen müßte und schlechte Stiefel hätte. Wahrscheinlich wollte er sich bloß der Gasse zeigen wie ein Herrscher seinem Volk, er, der reiche Salomon Stein, der den Krieg schon gewonnen hatte, selbst wenn ihn die unverläßlichen Soldaten draußen verlieren sollten. An seiner Krawatte blitzte ein Riesendiamant. An seinen Fingern funkelten protzige Ringe. Sein Mund gleißte vor goldenen Zähnen. Sein rechtes Auge trug ein elfenbeingerändertes Monokel. Eigentlich war das linke Auge schwächer, aber dort wollte das Ding nicht richtig halten, und so mußte das rechte Auge damit verdorben werden, denn ohne Monokel war Herr Stein nicht zu denken. Sein Schnurrbart ringelte sich wie ein Wurm, der in der Mitte festgehalten wird und mit den Enden ausschlägt. Seine Haare waren leicht ergraut, wurden mit Nußöl aufgefärbt und spiegelten fettig. Salomon Stein war Spekulant und Hausbesitzer, einer von jenen vielen, die aus dem Schaden der anderen ihren Nutzen zogen und an der Armut aller reich wurden. Der Krieg war sein bestes Geschäft. Er verdiente an ihm und spekulierte gegen ihn. Es schien ihm sicherer so. Herr Stein lieferte Kleider und Schuhe für die Armee, legte aber sein Geld nur in fremden Valuten an, untergrub auf diese Art die eigene Währung, hatte jedoch immer beide Hände im Spiel, die Rechte offen und die Linke versteckt, und konnte niemals verlieren, ohne dabei auch etwas zu gewinnen. Er tat es aus Begabung. Er war ein Genie. Das mußte man ihm lassen. Vorlenz nannte ihn einen Gauner, obwohl ihm der Mann wie keiner sonst imponierte. Seine Unternehmungen halten einen Zug ins Große. Er war kein Taschendieb. Er machte seine Fischzüge am hellichten Tag und beschönigte nichts. Er kroch um keinen Orden, gab nichts auf Titel, ist ein Raubmensch gewesen und hatte gar kein Bedürfnis, besser zu scheinen, als er war. Vorlenz konnte übrigens bloß um die äußeren Umstände dieses Lebens wissen, um das prachtvolle Automobil, die tadellosen Anzüge und den Duft der echten Havanna. Er hatte sich schon öfters eine Brise voll genommen. Heute aber roch Herr Stein an seiner Zigarette. Er wurde aufmerksam, beugte sich aus dem Fenster, sah den Mann beim Haustor lümmeln und hatte auch schon wieder ein Geschäft im Sinn.
»Sie da!« rief er herab und winkte.
Vorlenz knackste zusammen. Das war der Korporal in ihm. Dann begehrte er auf. Das war der Revolutionär. Und dann dienerte er nach oben. Das war der Mensch Vorlenz, der Dienstmann von einmal und der Arbeitslose von heute. Durch den Flur lief er, ohne zu denken. Dann kamen die Stufen und mit ihnen auch die Gedanken. »Was will er? kann er von mir wollen? Der Zins ist bezahlt. Und sonst ...« Er wurde langsamer im Steigen und Denken. »Vielleicht geht es um einen Posten. Er ist doch Unternehmer. Und ich bin frei, bin ein Mann, und Männer sind heutzutage rar.« Vorlenz hielt auf dem ersten Stufenabsatz an und streckte sich. »Er soll aber nicht glauben, daß er mich geschenkt bekommt, dieser feine Herr Stein!« Vorlenz stapfte weiter. »Ich bin Unteroffizier gewesen, bin es schließlich noch, und wenn er meint, daß ich ihm einen Handlanger abgebe, dann wird er sich täuschen, dann soll er mir den Weg ersparen!« Vorlenz dämpfte die Zigarette aus, steckte den Stummel ein, klopfte verhalten an die Tür und wartete, glänzte noch schnell die Schuhe an den Hosenbeinen und war so aufgeregt, daß er dem Dienstmädchen die Hand küßte und es gar nicht zu bereuen hatte. Das Ding war jung und hübsch und stach ihm schon lang in die Augen. Herr Stein tat freundlich, vergab sich aber nichts, blieb immer was er war, und ließ doch bei dem anderen niemals die Meinung aufkommen, daß er es nicht auch sein könnte. Vorlenz durfte sogar sitzen. Herr Stein blieb stehen oder lief herum. Er war nervös und hätte sich schonen müssen, hätte ... Es war natürlich keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Können Sie zählen? Versteht sich, ja. Es ist auch keine Kunst. Aber eine Stunde lang, acht Stunden täglich tage-, wochen- und jahrelang immer nur zählen und sich nicht irren, sehen Sie, das ist beinahe schon eine Kunst.«
Vorlenz war nicht schnell von Begriffen und humpelte hintennach:
»Zählen? Ja, das kann ich.«
»Es geht um Schuhe«, erklärte Herr Stein und wurde ohne Grund leiser: »Sie werden en gros geliefert: eintausend, zweitausend und so weiter. Sie begreifen? Schön. Was die Fabrik verläßt, ist Lieferung. Wenn man sich also irrt, ... gut, Sie verstehen. Ich habe nun aber einen Menschen dort, der nicht verläßlich ist, vielleicht mit Absicht, das wird vor Gericht entschieden, oder ohne seine Schuld, dann kann ich ihm auch nicht helfen, kann ihn nimmer brauchen. Er muß fort, je eher, desto besser. Und Sie ... Das wäre doch etwas für Sie.«
Vorlenz bedachte sich laut:
»Arbeiter also?«
»Hofräte kann ich nicht ernennen«, entschuldigte sich Herr Stein und lächelte ironisch.
Vorlenz drückte sich herum:
»Ich bin mein eigener Herr gewesen, wie Sie wissen; hab Roß und Wagen gehabt, wie Sie wissen ...«
»Hab ich den Krieg angefangen? Bin ich ein General? der Hötzendorf? der Hindenburg?«
»Ein Arbeiter also«, entschloß sich Vorlenz schwer genug und immer noch nicht ganz.
Jetzt erst ahnte Salomon Stein, auf welchen Leim dieser sonderbare Vogel ging, und hielt ihm die richtige Spindel hin:
»Geistiger Arbeiter natürlich. Beamter, wenn Sie wollen.«
Ob er wollte! Beamter! Johann Vorlenz, Beamter! Ob er es wollte! Mit hüpfendem Herzen, mit tausend Freuden und ohne Bedingung. Beamter! Vorlenz stand stramm, als stünde er nun doch vor einem General, um die Ordre für die nächste Schlacht entgegenzunehmen.
»Sie leiten die Abfertigung, zählen die Partien nach und streichen in den Listen ab. Jedes Paar über die Zahl wird mit einer Prämie honoriert.«
»Und wenn eines fehlt?« erkundigte sich Vorlenz dienstbeflissen.
»Das kommt nicht vor«, winkte Herr Stein augenzwinkernd ab. »Das kann gar nicht vorkommen. Sie verstehen doch?«
Vorlenz war schon Beamter geworden und nickte. Er bekam eine Karte an den Fabrikdirektor mit, und das war so viel wie ein Dekret.
Brigitte konnte sich zuerst kaum fassen vor Freude, machte sich dann gleich über seine Sonntagskleider her und bürstete und putzte sie, denn es war klar, daß er sich jetzt von einem Hilfsarbeiter unterscheiden mußte, auf den ersten Blick und ohne Zweifel. »Jeden Tag rasieren! Immer einen Kragen nehmen! Und ein Sacktuch haben! Sich auch damit schneuzen! Auf die Schuhe halten! Und sich geben! Nicht immer schimpfen! Und nicht spucken! Es ist doch verboten, sogar in der Straßenbahn verboten.« Ihre Ordnung war schon gemacht. Sie hatte nicht umsonst in feinen Häusern gedient und wußte, was sich gehörte, wenn einer Beamter ist. Dann erst fragte sie schüchtern an:
»Und was kriegst du für einen Lohn?«
»Wir haben über den Gehalt noch nicht gesprochen«, sagte Vorlenz, schon im Ton gehoben und das Wort Gehalt für ihr Gedächtnis deutlicher geprägt. Die Summe war nicht groß, weit kleiner, als sie beide insgeheim erwartet hatten, es war aber doch ein Gehalt und kein Lohn. Und das entschied. Der Lohn bleibt, was er ist; ein Gehalt steigt mit den Jahren und der Tüchtigkeit. Man fängt von unten an und hört dann oben auf, je älter, desto höher oben. Vorlenz war Korporal geworden; warum sollte er nicht auch einmal Direktor werden? Brigitte widersprach ihm nicht, obwohl sie es hätte tun können, denn sie war überzeugt: Was da geschehen ist, das hat kein Zufall gemacht, dafür ist auch Herr Stein bloß ein Werkzeug gewesen, das kam von ganz wo anders her. Sie wußte die Adresse, sagte aber nichts. Vorlenz hätte wahrscheinlich nur gelacht darüber und alles wiederum verdorben. »Gott will dir zeigen, daß er dich doch mag, auch wenn du es nicht verdienst«, schwieg Brigitte bei sich und war glücklich, weil es ihr Gott war und weil es auch für sie geschah.
Vorlenz trat seinen Dienst mit einer Würde an, die ihn lächerlich machte. Er nahm feierlichen Abschied von Frau und Kindern und zeigte mit jeder Geste seines aufgeblasenen Wesens, daß er die Bedeutung dieses Augenblickes wohl zu schätzen wußte. Er ging und hätte gern gesagt: »... in ein neues Leben.« Aber das getraute er sich nicht, das verhinderte die Feigheit vor dem Wort, die Scham vor Brigitte und der gelinde Zweifel: »Ich muß mir die Sache erst einmal anschauen, dann ...« Dann konnte er es immer noch sagen. Auf der Gasse war er kühner. Da schritt er aufgerichtet wie ein Rufzeichen hin, und wenn er von einem Bekannten dennoch übersehen wurde, dann klopfte er ihn auf eine Achsel und fragte herablassend: »Auch schon ins Büro?« Er wurde nicht verstanden, und das war sein Schmerz. Er wagte aber wieder nicht deutlicher zu sein und hatte auch keine Zeit mehr, sich näher zu erklären. Das konnte morgen oder wann geschehen. Heute mußte er pünktlich sein. In der Fabrik war es schon schwieriger, sich dieses Selbstbewußtsein zu erhalten. Da gab es einen Direktor, der wie ein Götze in seinem Himmel thronte, dann einen Vize, wie es hieß, der immerhin Papst oder so etwas gewesen ist, gab es Beamte, die es wirklich waren und Vorlenz deutlich fühlen ließen, daß er es doch nicht sein konnte. Der Portier allein nahm seine Würde wahr, verbeugte sich erst tief, dann immer seichter und war nach einer Woche schon so weit, daß Vorlenz grüßte und er sich nachlässig bedankte. Das war ein Fehler, und was das Schrecklichste daran gewesen ist, er war nicht wieder gut zu machen. Herren werden geboren. Das ist eine alte Weisheit, aber sie tröstet keinen. Der Portier gab seinem Amt die Würde. Bei den meisten ist es umgekehrt. Und bei Vorlenz war es noch anders. Er blieb auch als Beamter ein Diener, und das wurmte ihn. Er stand im Hof und zählte. Die Schuhe flogen paarweise von Hand zu Hand an ihm vorbei in den Wagen. Er war ein Jäger und schoß mit Blicken. Er zielte gut, zählte genau. Die erste Woche brachte eine Prämie von hundertfünfzehn Stück. Das war eine Leistung. Sie imponierte selbst Herrn Stein. Auch der Direktor schien zufrieden, obwohl er diesen Mann nicht mochte, ihm nicht traute. Vorlenz merkte das und fing beizeiten an, sich vor ihm zu hüten. Die Arbeiter murrten: »Er ist doch einer von uns und hält es mit den anderen.« Die Beamten rümpften ihre Nasen und sagten geringschätzig: »Er strebert.« Vorlenz kümmerte sich nicht darum. Er stand auf seinem Posten und wollte ihn behalten und die Prämien dazu. Er spürte gleich, daß da etwas nicht richtig war und daß es Löcher gab, die er zustopfen mußte, viele Löcher, wenn nicht schon ein ganzes Sieb. Es ging um ein Komplott. Das hatte er bald weg. Man stahl. Nicht einer. Das mußten mehrere sein. Vorlenz hatte alle in Verdacht, und so konnte ihm keiner entgehen. Man bedrohte ihn. Man warf ihm Blicke zu, die ihn erschlagen hätten, wenn es Steine gewesen wären. Man spuckte in die Richtung, wo er stand. Man zeigte seine Fäuste, und das hieß: Wenn du dich unterstehst, dann ...! Er unterstand sich trotzdem. Vorlenz war ein Spion, und das ist immer eine brenzliche Rolle. Er selber hielt sich bloß für einen redlichen Beamten und hatte Mühe genug, es auch zu bleiben. Während der Arbeit war er gefeit, doch in den Pausen der Nacht, vor dem Einschlafen besonders oder nach dem Essen, wenn er sich hinlegen und ausstrecken wollte, da versuchte ihn allerlei, schlich sich immer öfter ein Teufel an und lachte ihn aus: »Bist ein Schaf und spielst den Wolf, bist gegen kleine Diebe und hältst es mit den großen.« Gedanken sind wie Mücken. Sie schwirren auf und stechen. Man merkt gewöhnlich an dem Stich erst, daß sie dagewesen sind, kratzt sich und wird damit den lästigen Gedanken los. Vorlenz juckte es anderswo. Sein Geschäft war kein Vergnügen. Das stieß ihm täglich bitterer auf. Er hatte nichts zu denken, nichts zu schreiben, nichts zu entscheiden, hatte nur zu zählen, von eins bis tausend und von sieben Uhr früh bis sechs Uhr abends, jeden Tag der Woche und nun schon einen Monat lang. Es war zum Auswachsen. Jeder Schuster braucht auch den Kopf dazu, um ein paar Stiefel zu machen, und ist doch nur ein Schuster. Von einem Schneider gar nicht zu reden. Er muß geradezu ein Künstler sein, wenn der Rock ordentlich sitzen und die Hose richtig fallen soll. »Und was bin ich?« fragte er verdrossen. »Ein Nußknacker, der Zahlen frißt und selber nichts zu fressen hat.« Es gab seit einer Woche keine Prämien mehr. Die Diebe sahen sich vor. Irrtümer wurden selten. Und der Betrug ging andere Wege. Das stand fest. Nur Vorlenz konnte nicht dahinter kommen, obwohl er alles dransetzte, denn das Gehalt, ... er knirschte vor Wut, wenn er nur daran dachte, ... das Gehalt war lausig, niederträchtig, war eine Gemeinheit. Salomon Stein kamen seine Zigarren teurer als dieser Beamte. Vorlenz war und blieb ein Tropf. Er verstand das Einfachste nicht. Jeder weiß, daß eine Katze, die Mäuse fangen soll, nicht überfüttert werden darf, weil ihr sonst der Speck lieber ist, als die Maus. Nur Vorlenz konnte das nicht begreifen. Es gibt eben zu viel Begriffe und zu wenig Verstand auf der Welt.
Thomas hatte den Tortenring als Kappe auf dem Kopf, einen langen Bleistift hinter dem Ohr stecken, die Zahnbürste als Zigarre im Mund, legte die Hände auf den Rücken und stampfte im Zimmer auf und ab. Er war Beamter und plagte sich. Rese spielte den Diener und schubste die Leute herein, ging nicht höflich dabei um und schimpfte in allen Tonarten der Gasse. Man kann sich also denken, wie der Herr Oberrat mit dem Gesindel verfuhr. »Wie heißen Sie? ... Wo wohnen Sie? ... Was wollen Sie?« Fort mit ihm! Der Nächste her! »Ah! ... Sie?« Der Oberrat rückte an einer Brille, die nicht vorhanden war, und stemmte den linken Arm in die Seite. »Sie sind's, Herr Nowotny?« Es klang nicht gut für ihn. »Sie haben meiner Mutter, der Frau Vorlenz, keine Kartoffeln gegeben?« Der Greisler zuckte wie ein Gichtkranker zusammen und wollte sich entschuldigen. Aber das galt hier nicht, das kostete Geld und Prügel. Thomas blätterte in Mutters Kochbuch, feuchtete den Finger an und hatte auch schon, was er suchte. »Fünfundzwanzig auf den Hintern!« Rese amtierte, nahm den Teppichklopfer und schlug in den Diwan hinein, daß es nur so staubte. Der Oberrat hatte genug. Er schwitzte schon und nahm die Kappe ab, setzte sich an den Tisch und ließ das Rathaus sperren. »Sollen morgen kommen!« brummte er und war nimmer zu sprechen. Rese säuberte das Zimmer von den Luftgestalten und arbeitete wie ein Hausknecht am Kirchtag.
So stellten sich die Kinder Vaters Tätigkeit im Amte vor und wären sehr verwundert gewesen, es anders zu wissen.
»... Dreihundertfünfundzwanzig ... sechsundzwanzig ... siebenundzwanzig ...«
Vorlenz gähnte. Er war müde und verdrossen. Er ließ auch bald das Zählen sein, dachte wohl untenhin mit, sah aber nicht aus darnach. Der Arbeiter ihm zunächst mochte ihn schlafend meinen, mit offenen Augen und Ohren geistig schlafend oder doch so wenig bei der Sache, daß er den alten Schwindel versuchte und die Reihe noch einmal von vorn begann:
»Dreihunderteinundzwanzig ...«
»... einunddreißig willst du sagen!« fuhr Vorlenz den Betrüger an und hatte seine Ehre wieder einmal gerettet und zehn Prämien dazu. Aber es freute ihn nimmer. Dieses Amt war langweilig und ekelhaft. »Immer Anzeiger sein, immer den Wachthund spielen, immer nur vom Schaden der anderen profitieren!« begehrte er gegen sich selber auf und empfand etwas wie Solidarität in ihm lebendig werden.
Brigitte hatte längst darauf gewartet und war gar nicht überrascht, als er eines Tages rundweg erklärte:
»Das trifft eine Kaffeemühle auch. Dazu braucht man kein Mensch zu sein.««
»Es ist überall das gleiche, lieber Mann«, beschwichtigte sie ihn und setzte überflüssig fort: »Für uns ein Leben lang und für den Herrgott, seit die Welt besteht.«
»Laß mich aus mit dem!« knurrte Vorlenz wild. »Ich bin kein Pfaffe. Und wenn ich sage: genug, dann ist es genug.«
»Warum schreit Vater immer so?« fragte Thomas nach überstandenem Schrecken.
»Weil er eine laute Stimme hat«, log die Mutter und schickte den Jungen in den Hof.
Dort standen zwei Bäume und deshalb war es eigentlich kein Hof, sondern ein Garten. Die Bäume hungerten nach Licht und Luft. Man sah es ihnen an, daß sie krank waren und nichts zu essen kriegten. Ein halbes Jahr Erholung irgendwo in einem Wald würde ihnen gut tun. Man konnte sie aber doch nicht ausreißen und forttragen. Die Menschen hatten es besser. Die packten ihre Koffer und reisten ins Gebirge. Nicht alle konnten das. Es gab ihrer viele, die auch daheim bleiben mußten, selbst wenn sie krank waren und fort sollten. Thomas gehörte zu diesen. Er wollte nicht essen. Er machte den Mund bloß auf, weil es die Mutter verlangte, aß also mehr für sie als für sich selbst. Und das schlägt keinem an. Rese konnte immer essen, ob süß, ob sauer, ihr Appetit kam mit den Speisen und war an keine Mahlzeit gebunden. Brigitte hätte sich eigentlich darüber freuen müssen. Sie konnte aber nicht, denn wenn sie Rese pampfen sah, dann mußte sie an Thomas denken, der nichts nehmen wollte, und grämte sich, daß es nicht umgekehrt war, obwohl sie dann vermutlich ganz dieselben Sorgen hätte. Ein bißchen schwerer lag ihr Thomas immer schon am Herzen. Es gab da Verborgenheiten, die kein Wort ausschöpfen kann. Rese war ein Kind des Vaters, Thomas der Sohn seiner Mutter. Es zeigte sich im Spiel und ganz besonders auch im Zorn. Rese rief immer nur den Vater zu Hilfe, selbst wenn er nicht daheim war und Mutter in der Küche stand. Thomas hatte ihn noch nie gerufen, niemals um etwas angegangen. Er flüchtete mit allem, was ihn bewegte, zur Mutter und teilte mit ihr, ob es nun Freude war oder Leid, sie mußte mit ihm lachen oder weinen, dann erst war sein Glück vollständig, sein Unglück vergessen.
Es ging auch um Geld. Vorlenz brauchte das Gehalt für sich allein und mußte noch dazu sparen, wenn er auskommen sollte. Er rauchte höchstens dreißig Zigaretten an einem Tag und hätte gern fünfzig in die Luft geblasen; er trank fast nie mehr als drei Viertel Wein und litt gewiß noch Durst dabei. Er liebte Delikatessen über alles, feine ungarische Salami, Emmentaler Käse, Fische in Aspik, Oliven, Datteln, Feigen und bekam doch nichts davon, nur hie und da, wenn ihn der Gusto stärker packte und er nimmer widerstehen konnte. Er legte jeden Samstag pünktlich Geld für einen Anzug auf die Seite, sprach ein paar große Worte dazu und glaubte bis nächsten Mittwoch selber daran. Dann war die Rede vergessen und das Geld verschwunden. Vorlenz hatte kein Verständnis mehr für dieses Leben. Er lag immer noch an der Front und verschoß sein Pulver, ohne zu denken, was morgen wird und übermorgen ist. Wer ihn behinderte, der war sein Feind. Und das konnte sich Brigitte doch nicht sagen lassen. Sie kränkelte, hatte aber keine Zeit, sich niederzulegen und auszuruhen. Denn das ist ihre Krankheit gewesen. Und da konnte kein Doktor helfen. Mochte der Rücken auch schmerzen, als würde sie ans Rad gebunden! Mochte das Herz auch manchmal stehenbleiben und sich umschauen wie ein Droschkengaul, der nimmer weiter kann! Sie mußte klopfen, bürsten, reiben, waschen, mußte die schwere, unrühmliche Arbeit einer Frau im Hause auch für andere tun und noch froh sein, wenn sich wieder eine neue Plage fand. An drei Tagen in der Woche schlich sie abends wie ein Schatten fort und stellte sich die Nacht durch um Fleisch oder Kartoffeln an. Es war zumeist vergebens. Aber manchesmal bekam sie doch etwas und dann war ihre Freude größer als der Schlaf, den sie versäumt hatte, und die Müdigkeit, an der sie litt. Ihre Kinder sollten nicht erfahren, was der Hunger ist, aus dem der Neid kommt und der Haß auf jeden, der es besser hat. Vor ihrer Türe mußte das Schicksal einer Welt umkehren und weitergehen. Es gab Wohnungen genug herum, in denen kein Kasten mehr stand, kein Bild mehr hing und der Fußboden das Bett war; gab Menschen, die nichts sonst hatten als die Kleider auf dem Leib und die Tuberkulose in den Lungen. Ihre Kinder, Thomas und Rese, wußten vom Krieg bisnun kaum mehr als den Namen und den nur, weil er in aller Mund war, die Stadt am Morgen weckte und abends nicht zur Ruhe kommen ließ. In ihrem Zimmer lag noch der Teppich auf dem Boden, hing noch die Uhr an der Wand, fehlte kein Kasten, ist nichts verloren gegangen, nur ein bißchen Wäsche war beständig auf der Reise ins Versatzamt, doch die mußte wiederum zurück. Brigitte ließ sich nicht unterkriegen. Die kleine, schwache, spielzeugzarte Frau trotzte dem Aufruhr einer Welt und setzte sich durch. Ihr Vertrauen war auf Gott gesetzt, und so mußte sie siegen. Es ist nicht leicht gewesen und wurde mit jedem Tag schwieriger. Mehl und Brot und Fleisch und Fett, alles, was auf den Tisch kam, um in den Magen zu kommen, wurde nur gegen Karten abgegeben und reichte kaum für einen Esser hin. Es warteten aber ihrer drei. Brigitte zählte sich selber nie. Für Geld war mehr zu haben. Für Geld ist immer alles zu haben. Und so mußte sie verdienen, immer mehr und mehr verdienen. Der Krieg mit den Waffen war grausam, doch der Krieg mit der Habsucht des Menschen, dem Geiz der Bauern und der Bosheit der Händler ist noch viel grausamer gewesen. Dort fielen Soldaten; hier mußten Säuglinge sterben. Es gab Helden da wie dort. Aber eine Mutter wie Brigitte Vorlenz hat es nur ganz selten gegeben.
Es regnete, hat gestern geregnet und wird auch morgen wieder regnen. Man weiß das. Man spürt es in den Knochen und auch sonst.
Vorlenz hatte dieses Wetter satt, das Leben überhaupt und seine Arbeit ganz besonders. Er zählte immer noch. Es fielen aber keine Prämien mehr ab. Sein Eifer wurde dadurch nicht gehoben. Das Pflichtbewußtsein sank seiner Schwere nach immer tiefer. Auch der Standpunkt zur Sache hatte sich schon wesentlich verschoben. »Meine Sorge, daß der Jude Stein etwas verliert!« Vorlenz hätte niemals eingesehen, daß es wirklich seine Sorge war und daß er gar keine Berechtigung hatte, so zu denken, weil er doch deswegen aufgenommen worden ist und anders keine Leistung für ihn übrigblieb. Und wenn auch, es wäre schon zu spät gewesen. Vorlenz war bereits so weit, daß er den Dieben recht gab und sich selbst für einen Lumpen hielt. Er hatte es satt. Er wollte nicht mehr aufpassen, nicht mehr zählen, nicht mehr Beamter sein, vor allem aber nicht mehr aufstehen müssen, sondern liegen bleiben, wenn es regnet wie heute, wenn die Schuhe naß werden wie Schwämme und die Kälte in den Gedärmen heraufsteigt, bis einem das Herz gefriert und der Humor vergeht.
»Bin krank«, sagte er kurz und drehte sich mit einem heftigen Ruck zur Wand.
»Was fehlt dir denn, Mann?« stürzte Brigitte hin und zitterte auch schon vor Angst.
»Die Lust, im Regen zu ersaufen, mir einen Schnupfen zu holen und krank zu werden«, belferte Vorlenz. »Ist das nicht genug? Willst du noch mehr? Soll ich den Krebs kriegen, damit du zufrieden bist? Oder gleich sterben, damit du Ruhe hast?« Seine Stimme war so voller Haß, daß sich Brigitte sehr zusammennehmen mußte, um nicht auch gehässig zu werden.
»Sei vorsichtig, du!« warnte sie bloß. »Ich weiß von einem, der am Morgen mit dem Tod gespielt hat und abends kalt und steif auf dem Brett gelegen ist.«
»Fahr ab mit deinen Geschichten!« drohte Vorlenz und sprang aus dem Bett, daß die Decke Flügel kriegte und noch allerlei geflogen wäre, wenn Brigitte nicht schnell das Umhängtuch genommen und die Türe hinter sich geschlossen hätte.
Der Weg in die Fabrik war wohl nicht weit. Man ging bei schönem Wetter eine Viertelstunde. Heute schlug eine andere Uhr. Es regnete Peitschenhiebe ins Gesicht, stach mit Eisnadeln gegen die Wangen, pfiff ein gefrorener Wind. Er wollte Brigitte das Tuch entreißen. Ihr Mantel war noch verpfändet, lag irgendwo in einem Magazin mit ebenso unglücklich anderen beisammen und machte keinem Menschen warm. Aber das ist kaum ein Grund, wenn es ums Geld geht. Vorlenz war besser ausgerüstet. Er hatte noch seinen Soldatenrock und wäre kaum naß darunter geworden. Doch er war krank, weil er nicht gesund sein wollte, und sie mußte ihm die Mauer machen, mußte für ihn lügen und tat es für sich selber nie. Ihre Füße patschten in einem Brei von Schnee und Schmutz. Die Schuhe waren schlecht. Sie konnte sich keine besseren kaufen. Sie mußte für die Kinder sorgen. Doch das zählte hier nicht, das ist ihre Schuld, nicht die seine gewesen. Brigitte hatte kaum jemals erwartet, daß er sich darum kümmern wird. So töricht war sie nicht. Aber daß er liegen blieb, nur um liegen zu bleiben, daß er sie fortschickte, um nicht selber fort zu müssen, das hätte sie doch nicht für möglich gehalten. Ihr Herz verschluckte sich, und ihre Lippen zuckten; die Wimpern schlugen und ... Nein, nein, es waren sicher nur Regentropfen, denn es goß in Strömen.
Das Tor stand offen. Brigitte drückte sich in einen verborgenen Winkel und wartete, hatte keine Ahnung worauf und wartete in Nässe und Wind, hatte es kalt, daß sie die Brüste schmerzten, und wartete doch. Wie ihr diese Lüge schwer fiel! Und wie sie diesen Mann verachten mußte, obwohl er ihr Mann war und sie zwei Kinder von ihm hatte! Arbeiter schritten an ihr vorbei in den Hof hinein, harte, verwitterte Gestalten, denen es gewiß nicht einfallen würde, in ihren Betten zu bleiben und ihre Frauen herzuschicken, weil es regnete. Vorlenz war kein Mann. Er stak wohl in Hosen und mußte sich rasieren, war aber doch kein Mann. Was er eigentlich gewesen ist, hätte Brigitte nicht sagen können. Sie kannte keinen Schimpf, der auf ihn paßte. Ein Narr war anders, und ein Schurke ist es auch.
Da heulte die Sirene auf und rief zur Arbeit wie zu einer Strafe. Brigitte stieß sich durch das Tor, wankte über den Hof und betrat die Kanzlei wie eine Bettlerin, die man schon einmal abgewiesen hat und die doch wieder kommt, weil ihr nichts anderes übrigbleibt. Vorlenz war übel angeschrieben.
»Zuviel getrunken? ... Zu spät nach Hause gekommen? ... Oder überhaupt noch nicht daheim?«
Brigitte öffnete schon die Lippen, um die Wahrheit zu sagen und diese Last von sich zu werfen, ... da klingelte das Telephon und rief den Direktor ab. Es blieb also bei der Lüge, ist aber keine mehr gewesen. Es geschah nämlich ein Wunder. Andere mögen es anders erklären. Für Brigitte war es ein Wunder:
Vorlenz ist wirklich krank geworden und hatte Fieber.
»Das hab ich nur dir zu verdanken, das ist nur geschehen, damit du nicht gelogen hast, du Heilige, du Scheinheilige, du!« Er geiferte vor Wut und mußte doch stilliegen und sich pflegen lassen.
Brigitte war glücklicher denn irgendwann, hob die Blicke verstohlen zu Maria auf und grüßte sie wie eine gute Schwester, dankte ihr und tat ein stummes Gelübde: »Eh dein Licht ausgeht, will ich selber verlöschen.«
Es war eine Angina. Vorlenz hörte den Namen mit Grauen. Er klang ihm heimtückisch und gefährlich, als ob der Arzt etwas damit hätte verschweigen wollen. Seinem Gefühl nach lauerte dahinter unbedingt der Tod, und davor hatte er rasende Angst. Er warf sein Leben nur in Worten leicht von sich, doch er starb nicht gern. Keiner tut es wahrscheinlich. Vorlenz packte über die allgemeine Furcht hinaus noch ein anderes Entsetzen: Der Tod war finster, ein Keller ohne Fenster, eine Nacht ohne Sterne. Vorlenz war kein Philosoph. Er konnte den letzten Dingen nicht mit dem Gehirn an den Leib rücken, mußte sich den fehlenden Verstand durch seine Phantasie ersetzen und dachte in Bildern, weil man sie sehen kann und dabei manches sichtbar wird. Brigitte brauchte das nicht. Die hatte ihren Glauben, Maria an der Wand und Gott selber im Himmel. Ihr konnte nichts geschehen. Er aber, Johann Vorlenz, er stand ohne jedes Licht da und mußte sich zurechttappen, wußte nicht einmal wohin und meinte insgeheim doch eine Art von Paradies damit, recht irdisch freilich und von diesem Leben bloß durch die ewige Dauer des Angenehmen und Schönen verschieden. Doch er war seiner Sache nicht sicher. Und deshalb lebte er lieber so lang als möglich und so gut es sich machen ließ. Vor allem mußte er wiederum gesund werden. Und er setzte alles dran, was in seinen Kräften stand. Er lag so still, daß man ihn kaum atmen hörte, und so anspruchslos in seinem Bett, daß es sich selbst für den Tod nicht auszahlte, ihn mitzunehmen. Er verbot auch der kleinsten Zehe, aus der Decke zu gucken. Es könnte schon vermessen aufgenommen werden und ihm das Leben kosten. Er gurgelte mit einem Eifer, wie er sonst nur trank. Es sollte diesem Giftmischer in der Kehle nicht gelingen, ihn unterzukriegen. Dafür wollte er schon sorgen. Bloß Angina durfte man die Geschichte nicht nennen, da wurde er schwächlich und verzagt, ließen seine Kräfte nach und gaben den Kampf auf. Brigitte sprach deshalb immer nur von einem Halsweh, und das hörte er schon lieber, das klang nach einer Kinderkrankheit und konnte nicht gefährlich sein. Halsweh hatte er mit Begeisterung. An einer Angina wäre er sicher gestorben. Vorlenz war auch darin kein Mann, wie sich Brigitte Männer vorstellte, dennoch ein Mensch, den man lieben konnte, liebhaben mußte in seiner rührenden Angst vor dem Tod, der eben jetzt gar keine Zeit hatte, sich um so armselige Patienten zu kümmern, und seine Geschäfte nur im großen machte. Es war grauenhaft, was man davon hörte, konnte aber doch über einem lächerlichen Halsweh eine Woche lang vergessen werden.
Draußen wütete ein Hundewetter, prasselten Eisnägel an die Fensterscheiben, pfiff der Wind über den Rauchfang, daß das Feuer im Ofen lustig dazu tanzte und gar nicht daran dachte, auch noch im Zimmer warm zu machen. Die Kinder froren. Und Brigitte legte immer wieder eine Schaufel Kohlen nach, doch nicht als ob es Kohlen wären, sondern schwarze Diamanten, jedes Stück ein Schatz und darum eine Sorge. Kälte und Hunger waren die Feldherren für den Krieg im Hinterland, und sie verstanden ihr Gewerbe, muß man sagen. Sie schossen langsam, doch sie zielten gut und trafen Tausende auf einen Schuß. Brigitte stand allein, und das erhöhte ihren Mut. Vorlenz ließ sich mit Würde pflegen, lag andächtig unter seiner Decke, streckte hilflos die Nase in die Luft und gurgelte verzweifelt. Das Fieber sank denn auch gehorsam. Der Appetit ließ nichts zu wünschen übrig, gar nichts. Der Patient hatte jeden Tag einen anderen Wunsch und fragte in seiner Einfalt nicht, woher Brigitte all die Sachen nehmen sollte. Sie verlor überdies noch eine Menge Arbeitszeit durch ihn, konnte nicht in die Bedienung, nicht ins Waschen gehen, war schon beim Fleischer in Schulden gekommen und ließ nun auch beim Greisler aufschreiben, hatte schon den Teppich verkauft und nahm nun auch die Uhr von der Wand, um sie zu versetzen.
Da trat das große Ereignis ein. Es klopfte zuerst bescheiden an die Türe und war dann doch Herr Stein, der reiche, allmächtige Salomon Stein. Brigitte vermochte kaum zu grüßen vor Überraschung und Entsetzen. Vorlenz fing sofort zu fiebern und zu schwitzen an. Er war eine feige Seele und immer auf die Flucht bedacht. Die Kinder ließen erschreckt ihre Spiele sein und standen mit offenen Mündern wie Automaten da, die auf den Einwurf warten. Herr Stein blieb an der Türe stehen, blickte rundherum, war sichtlich angenehm berührt und sagte mit Hochachtung ohne besondere Adresse:
»Sehr nett.«
Brigitte fiel allerlei vom Herzen und sie entschuldigte sich auf das Geratewohl:
»Der Teppich ist beim Putzen, und die Uhr ... Wir wissen nicht, was ihr fehlt.« Sie war also doch eine richtige Frau und log sogar, wenn es um Eitelkeiten ging.
Herr Stein setzte sich an das Bett. Vorlenz lag habtacht. Er klappte unter der Decke die Fersen zusammen und bog die Zehen auswärts, hatte beide Arme steif an die Seiten gepreßt und hob den Kopf wie zum Rapport.
»Die Sache in der Fabrik steht schief. Die Umtriebe werden größer. Will nichts gegen meinen Mann da gesagt haben. Ist kein Grund vorhanden. Irgendwo muß aber doch ein Loch sein, und da fallen die Stiefel durch, dutzendweise, wenn nicht gar ärger. Begreife durchaus, daß Sie nachgelassen haben, Herr Vorlenz. Es ist kein Vergnügen und macht nach einer Weile schlapp. Das haben wir schon oft erfahren müssen. Die Kerle sind unheimlich schlau. Man darf aber nicht locker lassen, Sie besonders, lieber Freund, Sie müssen hinter die Kommode kommen. Wir erwarten es, um nicht zu sagen, wir verlangen es. Unser Vertrauen ist Ihre Existenz. Bedenken Sie das, Herr Vorlenz! Wenn Sie uns nicht enttäuschen, wenn die Sache auffliegt, dann soll es Ihr Schaden nicht sein, ... darüber wird sich reden lassen.« Salomon Stein lieferte für die Armee und hatte im Umgang mit den Offizieren ihre barsche, hingeschleuderte Sprache angenommen.
Vorlenz fühlte sich geehrt wie selten. Man brauchte ihn. Die reichen Herren oben brauchten ihn, den armen, geknechteten Beamten, weil es in ihrer Unternehmung stank und weil sie selber nicht Witz genug hatten, der trüben Quelle auf den Grund zu kommen. Er hätte längst, ... wenn er hätte. Doch er wollte nicht. Man war zu wenig mit ihm umgegangen, hatte ihn bloß darauf verpflichtet und sich nicht weiter mehr um ihn gekümmert. Jetzt änderte sich alles. Jetzt hat man ihn persönlich aufgerufen, hat ihm einen Besuch gemacht und fast darum gebeten. Vorlenz lag auch nicht mehr habtacht, zog sogar das rechte Knie herauf und schnitt ein Gesicht, als ob er sich die Angelegenheit erst überlegen müßte.
Herr Stein war nicht empfindlich. Er stand auf und reichte der Frau die Hand.
»Wenn Sie mich einmal brauchen, dringend brauchen ... Ich heiße Stein, bin aber keiner«, scherzte er und klemmte das Monokel fester. Brigitte schlug die Augen nieder und errötete. Die Kinder hielten immer noch ihre Münder offen. Sie bekamen jedes ein Geldstück in die Hand gedrückt, sollten sich dafür bedanken, machten aber jetzt die Münder schleunigst zu.
Vorlenz war gesund. Er kleidete sich an und ging in die Fabrik. Es klirrte förmlich von unsichtbaren Säbeln an seiner Seite, so begierig war er, den Kampf mit den unverschämten Dieben aufzunehmen. Drei Tage gab er sich Zeit. Bis dahin mußte die Bombe platzen. Von seiner Krankheit war nicht mehr die Rede. Dazu mußte man lange Weile haben. Und er war beschäftigt.
Brigitte blieb verwirrt zurück. Es roch nach Seife und Zigarren im Zimmer, nach einer feinen Seife, das war klar, und einer vornehmen Zigarre, das begriff auch ihre Nase und verwirrte sie. Die Kinder drehten das Geld verlegen in den Fingern und wußten nicht, was sie davon halten sollten. Der Mann war ihnen wohl bekannt, doch immer nur so, daß sie sich drückten, wenn er vorüberkam. Er hatte ein Automobil, war also das, was sie einmal werden wollten: reich und lustig. Sie meinten offenbar glücklich damit, sagten aber lustig. Es war ihnen vermutlich leichter zu denken. Von Glück redet nur einer, der auch das Unglück kennt. Und davon waren sie noch weit entfernt.
Vorlenz stand als ein Spürhund im Hof und nahm an allem Witterung. Nichts entging seinen Blicken, kein Laut seinen Ohren. Man hütete sich. Man blinzelte einander zu, deutete mit den Händen und steckte einmal auch die Köpfe zusammen.
»Was gibt's?« faßte er sogleich energisch zu.
Es antworteten alle für einen und darum keiner für sich allein:
»Einen Narren mehr auf der Welt.« »Einen, der selber nichts zu fressen hat und doch für die anderen ist.« »Für die Geldsäcke.« »Und Ausbeuter.« »Für die Kriegsgewinner.« »Damit ihnen die Austern nicht kalt werden.«
Wie sollte ein Hungerleider wissen, was Austern sind und ob man sie kalt oder warm ißt? Aber einer wußte es doch. Und weil er lachte, fanden es alle lächerlich.
Brigitte erkundigte sich jeden Abend, wie weit Vorlenz gekommen ist. Er sagte nicht so und nicht so, machte nur dunkle Andeutungen, war aber immer noch voller Zuversicht. Und das gab auch ihr wieder Hoffnung. Der Teppich war verkauft und damit verloren. Aber die Uhr ist doch gerettet worden und hing schon wieder an der Wand. Sie schlug auch gleich eine bessere Stunde. Brigitte fand Arbeit, nicht bloß eine Beschäftigung, sondern richtige Arbeit. Herr Stein hatte sich ungebeten für sie verwendet. Brigitte dankte ohne innere Freude, so furchtbar und verworfen kam ihr diese Arbeit vor. Sie ging in eine Kapselfabrik und mußte Patronen füllen. Jede war ein Schuß, und jeder Schuß konnte ein Menschenleben kosten, einen Vater töten, einen Bruder morden und eine Mutter um ihren Sohn bringen, den einzigen vielleicht. Es war entsetzlich zu denken und kam ihr grauenhaft vor, als Frau, als Mutter zu tun, was sie tat. Ihr Herz war ohne Schuld. Es ließ die Hände Patronen des Todes füllen und legte niemals eine davon weg, unter all den Hunderten, die täglich zu füllen waren, legte es keine einzige weg, ohne zu beten: »Geh nicht los! Schieß in die Luft! Tu keinem weh! Ich bitte dich.«
Die Kinder waren fast den ganzen Tag allein. Sie schliefen noch, wenn Brigitte fortging, aßen bei einer Nachbarin und freuten sich, weil es anders war und weil das Kindern immer eine Freude macht.
Vorlenz hatte nach einer Woche alles ausgespürt. Die Kerle stahlen keine Schuhe mehr, sondern stopften sie mit Leder voll, mit Oberteilen, Sohlen, Absätzen und Zungen, verkauften diese an einen Hehler und teilten den Gewinn. Es waren ihrer zehn, die zwei Chauffeure, drei Auflader, ein Magazineur und vier Hilfsarbeiter. Der Diebstahl war so plump, daß man sich wirklich wundern mußte, wie er seit Monaten Tag für Tag geschehen konnte. Er verriet sich selbst, wahrscheinlich weil er so plump war und deshalb über die eigenen Beine stolperte. Es ereignete sich bei der letzten Fuhre. Man beeilte sich. Einer trieb den anderen an, als ginge es bloß um die Zeit, als wäre jeder nur darauf bedacht, fertig zu werden und nach Hause zu kommen. Es war seit Wochen dasselbe Spiel: Man hielt den Tag über mit der Arbeit zurück, um sich bei der letzten Fuhre beeilen zu müssen. Es wurde dann schon ziemlich finster, war die Kanzlei geschlossen und kein Beamter mehr im Hause, Vorlenz ausgenommen, doch der zählte nimmer, der ist längst taub und blind geworden. Er stand seit acht Uhr im Hof, klapperte vor Kälte, war steif und stuff und hatte es beinahe wieder aufgegeben, die Halunken zu erwischen. An seiner Seite rasselten keine Säbel mehr, hingen bloß zwei lange Arme herab und vergruben ihre Hände in den Hosentaschen. Drei Tage hatte er sich Frist gegeben, und nun wurde die Woche um. Er stand bald auf dem rechten, bald auf dem linken Bein und zählte, plapperte die Zahlen rein mechanisch her, tat kaum noch einen Blick auf die Ware und unterschied sich bloß dadurch von einer Maschine, daß er sich öfters irrte, was die Maschine niemals tut.
»... vierhunderteins ... zwei ... drei ...« Die Stiefel flogen schwer und plump an ihm vorbei in den Wagen. »... zehn ... elf ...« Der zwölfte wurde schlecht geworfen, polterte an den Rand und fiel hinab, ein Oberteil mit ihm.
»Halt!« brüllte Vorlenz, jählings zu heftiger Anwesenheit erwacht, stürzte triumphierend hin, wurde aber von eisernen Fäusten empfangen und von drei Stimmen angepfaucht, die ihre Worte wie Messer in seine Ohren stachen und darin stecken ließen:
»Maulhalten!« »Kuschen!« »Oder du gehst um die Ecke!« Das war Brant, ein Riese an Kräften und ein verwegener Raufbold. Er soll auch schon einen Totschlag abgesessen haben. Man mußte sich hüten. Vorlenz war allein. Sie waren ihrer drei. Und kaum er es dachte, waren sie schon ihrer fünf.
»Weiter!« befahl Brant, stellte Vorlenz wie eine Strohpuppe auf seinen Platz zurück und fing für ihn zu zählen an: »Vierhundertdreizehn ... vierzehn ...«
»... fünfzehn ...«, schnappte Vorlenz ein und hatte dieses Spiel verloren. Man gab sich gar keine Mühe mehr, ihn zu täuschen; man zeigte ihm geradezu, daß jeder Schuh voll Leder war. Er schaute weg und zählte auswendig, irrte sich oft und wurde höhnisch aufmerksam gemacht.
»Neunhundertneunundneunzig ... tausend ... eins ... zwei ... drei ...« Man schmiß noch fünfzig Paar über die Zahl in den Wagen, und er zählte, wurde ausgelacht und zählte.
»Wartet nur, ich werde schon ...!« drohte Vorlenz bei sich und dachte an morgen, an den Direktor, an Salomon Stein, an die Polizei und das Gericht, an seinen Lohn, seine Beförderung, an einen Orden ... Weiß der Himmel, wie er daran denken konnte.
Die Wagentüre krachte zu. Der Chauffeur kurbelte an und tutete davon.
Vorlenz wischte sich den Schweiß von der Stirn und wollte gehen. Aber da hakte sich Brant in seinen Arm und entschied, ohne viel zu fragen:
»Du kommst mit!«
Vorlenz wollte nicht, sagte aber doch kaum nein. Er hatte keine Macht, sich durchzusetzen. Der andere war stärker. Was nützt da der beste Wille? Morgen standen Recht und Gewalt an seiner Seite, fünfzig Beamte und hundert Polizisten, der ganze Staat, wenn es sein muß. Vorlenz weigerte sich also nicht. Es wäre Selbstmord gewesen. So viel war sicher. Und er mußte sich erhalten. Es war seine Pflicht und sein Verdienst.
Sie gingen in eine Budike, Vorlenz, Brant und noch zwei, setzten sich an einen Tisch und tranken, redeten vom Krieg, erzählten ihre Abenteuer, schnitten mächtig dabei auf, glaubten gewiß keiner dem anderen, taten aber doch so und tranken vor allem. Vorlenz taute auf und wurde warm. Er verlor allmählich auch das drückende Gefühl, ein Gefangener zu sein und in Notwehr zu handeln. Über weite Umwege, die wirklich nichts sonst als Herumwege waren, kamen sie dann doch darauf zu sprechen:
»Was läßt er denn springen, der Lump?«
Vorlenz wußte es nicht, wußte es tatsächlich nicht. Aber das konnte er diesen Burschen unmöglich weismachen, und so log er, um nicht als Lügner dazusitzen:
»Den doppelten Gehalt.«
»Auch was! Zweimal Hunger!« lachte Brant und ging auf das Geschäftliche über: »Wir bieten dir zwanzig Prozent vom Reingewinn.« Man merkte gleich, daß er der Kopf in dieser Sache war. »Zwanzig Prozent, das macht ... He, Wirt! Eine Kreide!« Sie kam über den Schanktisch geflogen. Und Brant berechnete.
Vorlenz gingen die Augen über vor Zahlen, die zu Geld werden und ihm gehören sollten. Das war eine reelle Aussicht und kein leeres Versprechen. Er schwankte zwar noch, wahrscheinlich um sich im Wert zu steigern, hatte in Wirklichkeit gar keine Wahl, sich anders zu entscheiden und zögerte nur aus Anstand, wenn man will. Seine Vernunft war längst entschlossen. Sie mußte es doch sein. Er ist allein gewesen. Sie waren ihrer drei. Sollte er sich für diesen Salomon Stein, diesen Ausbeuter, diesen Kriegsgewinner umbringen lassen? massakrieren lassen? Vorlenz übertrieb mit Absicht, um auch vor sich selbst als Opfer zu erscheinen. Aber da fiel ihm Brigitte ein, blickten ihn ihre Augen an und machten seine Seele bang und seine Lippen stumm.
»Na?« stupfte ihn Brant, daß er fast vom Sessel kollerte. Vorlenz zuckte unschlüssig mit den Achseln.
»Du gehörst doch zu uns! Und nicht zu dem!« sprachen die anderen zwei auf ihn ein, wie man störrischen Kindern zuspricht, die nicht folgen wollen.
Brant dauerte die Sache schon zu lang. Er zog sein Messer aus der Tasche, schnappte es auf und stocherte damit in den Zähnen herum. Er hatte nichts gegessen, bloß getrunken, und so konnte das nur eine Geste sein. Vorlenz verstand sie auch. Es half ihm aber nichts. Brigitte war doch stärker als die drei Starken.
»Was geht dich denn der Jude an? Er stiehlt im großen, wir im kleinen«, setzte man ihm zu, und Vorlenz wollte schon zur einen, konnte aber nicht zur anderen Hälfte.
Da legte Brant das Messer vor ihn hin und wies auf eine Scharte in der Schneide.
»Das kommt schon von einer Rippe ... Verstehst du mich?«
Ob er verstand.
»Na, also!« lachten alle drei und streckten ihre Hände über den Tisch. Vorlenz schlug ein. Er hätte auch seinen Kopf verschachern müssen. Und da war ihm ein Geschäft doch lieber.
»Es gibt noch mehr Messer in der Sache außer diesem da«, warnte Brant. »Und wenn du etwa zündeln gehst, dann ist es dein letzter Gang.«
Vorlenz schwur mit jedem Finger einen Eid auf seine Ehre und war auch schon mit Begeisterung der Vierte im Bund.
Brigitte hatte sogleich weg, daß etwas vorgegangen ist. Er schwieg zwar, aber seine Mienen schwätzten, seine Augen redeten, sein ganzes Wesen wurde zum Verrat. Er war ein Fenster, das sich wohl schließen konnte, doch dabei durchsichtig blieb. Brigitte fragte rechts und fragte links. Er wich gewandt und findig aus, ließ aber doch erkennen, daß er die Sache schon beim richtigen Zipfel hatte.
»Sind feine Spitzbuben das und nicht zu verachten«, plapperte er und machte sich durch diese Milde verdächtig. Er zeigte auch sonst kein Interesse mehr, damit berühmt zu werden.
»Warum soll ich denn? ... Weißt du warum?«
»Herr Stein hat doch gesagt, daß es ... daß es dein Schaden nicht sein wird ... und da meine ich, daß du mir dann helfen könntest ... es wird immer schwerer.«
»Jaja, schon recht. Ich werde auch. Nur weiß ich noch nicht wie. Muß warten. Die Geschichte kann auch anders sein, ganz anders.«
Er kniff aus. Das ließ schon seine Stimme hören. Brigitte hatte verläßliche Ohren dafür und fing an, sich insgeheim zu fürchten.
Es geschah nichts, blieb alles, wie es war, nur daß Vorlenz keinen Tag ohne Geschenke für die Kinder kam, für Thomas besonders, der ihm doch gar nicht so nahe stand. Einmal war es ein Luftballon, dann eine Mundharmonika, bald dies, bald das, und zu den Weihnachten ist es ein Hutschpferd gewesen, kein schäbiger Gaul aus gestrichenem Holz, sondern ein edles arabisches Hutschpferd, mit echtem Pelz und wirklichem Roßschweif. Thomas ließ sich berücken. Er fühlte zwar sein bißchen Unbehagen, als er den Vater küssen mußte, aber es geschah nur einmal, und das Pferd war für immer sein Pferd geworden. Mochte Rese noch so weinen und streiten. Er ritt und sie mußte gehen. Er war der General und sie die Infanterie.
Brigitte hatte andere Gedanken bei dem Ding.
»Sag einmal, du«, begann sie zögernd und nahm den Vater auf die Seite. Der brauste sogleich zornig auf und sprudelte giftig über:
»Gestohlen. Wo denn sonst her? Doch nicht gekauft? Bin immer schon ein Dieb gewesen. Das meinst du doch. Das liegt dir auf der Zunge. Lüge nicht! Ich kenne deine Mucken. Ich weiß schon, was du von mir hältst.«
Er war nicht zu beruhigen, fing immer wieder davon an und quirlte sich selber auf, ist schwer beleidigt worden und konnte sich nicht rächen oder wollte nicht. Er setzte sich an den Tisch, hielt es nicht lange aus, sprang auf, lief hin und her und hatte keinen Platz, sich auszulaufen, ging fort und sagte nicht wohin und hätte, wie er war, auch in den Tod gehen können, ist aber nur in das Wirtshaus gegangen.
Brigitte wartete gepeinigt bis zum Morgen. Vorlenz kam nicht nach Hause. Es geschah zum erstenmal und fiel drum schwerer ins Gewicht. Brigitte taumelte in die Fabrik, stand schlaftrunken vor dem Arbeitstisch, füllte Patronen und dachte bei jeder: »Wenn sie doch losginge! Wenn sie mich zerreißen würde! Daß ich tot wäre und nichts mehr wissen müßte!« Da fiel ihr eine fertige Hülse aus der Hand, rollte über den Boden gerade unter den Fuß des Aufsehers und wurde zertreten. Brigitte schloß die Augen, griff sich an die Brust und wußte erst wiederum von sich, als der Mann vorwurfsvoll sagte:
»Passen Sie besser auf! Die Dinger sind kein Spielzeug.«
Als ob nur Kugeln gefährlich wären! Als ob es nicht auch Hutschpferde gäbe, die einem schaden können, seine Seele aufreißen und blutig schinden, eine Hoffnung vernichten und ein Leben zerstören! Als ob man immer nur körperliche Schmerzen leiden würde und das andere nichts wäre, eine schlechte Laune vielleicht, eine kleine Verstimmung! Brigitte wußte es besser. Sie hätte sich lieber einen Finger abhauen lassen, als diese Angst gelitten: »Er stiehlt. Er ist ein Dieb. Und wenn er es noch so leugnet, er hat doch gestohlen.«
Brigitte machte sich für eine Stunde frei und suchte ihn. Vorlenz stand im Hof und zählte, stand wie ein Baum im Wind, wackelte mit dem Kopf und lallte mit der Stimme, zählte aber doch sicher und ohne zu stocken. Der Direktor lauerte hinter dem Fenster und rechnete mit. Vorlenz irrte sich nicht. Er war strenger denn je, fuhr seine Leute herrisch an und hielt auf Ordnung wie nur irgend einer, rügte sogar Brant und ließ sich nicht beschummeln. Er war wohl betrunken, doch sein Dienst ist nüchtern gewesen. Die Spießgesellen wußten schon, wie es gemeint war, und fügten sich gern, um dem Direktor eine lange Nase zu drehen und sich verstohlen in die Faust zu lachen.
Brigitte ging unbemerkt, wie sie gekommen ist. Und das war gut. Vorlenz besaß einen ausgeprägten Sinn für die sogenannte Freiheit des Mannes und duldete keine Einmengung in dieses Vorrecht. »Denn zuerst ist der Adam gewesen, und dann die Eva gekommen.« Im übrigen war er sich selbst genug. Seine Grundsätze standen mit vier Füßen auf der Erde. Das ist nicht immer eine Anerkennung. Er hielt es dennoch dafür und richtete sich auch darnach. Sein Weg war vorgezeichnet. Und er ging ihn, ohne sich umzublicken, ohne rechts- oder linkshin zu schauen. Es war der einzige Weg und mußte schon deshalb der rechte sein, selbst wenn er ins Unrecht führte. Vorlenz gab nichts auf Worte und hätte so feine Unterschiede wohl kaum verstanden. Er ging und wußte schon wohin.
Zu Hause war ein Unglück geschehen. Thomas hatte sich den Arm verstaucht. Er ist vom Hutschpferd gefallen und hätte sich den Arm auch brechen können. Brigitte war entsetzt und fühlte alle Schuld bei sich. Sie hatte sterben wollen, hatte an die Kinder nicht gedacht und wurde nun bestraft. Das Schicksal war gerecht. Es traf sie mitten in die Brust, dort, wo sie lieblos gewesen ist.
Vorlenz kam mißmutig aus der Fabrik. Er war nicht ausgeschlafen und auch sonst verärgert. Brigitte wollte ihm nicht sagen, wie es eigentlich geschehen und daß es das Hutschpferd gewesen war. Sie hielt es für klüger, davon zu schweigen, und berichtete nur allgemein:
»Er ist gefallen und hat sich den Arm verknackst.«
Vorlenz blickte sie strenge an, jeder Zoll ein Vater, der Rechenschaft verlangt.
»Ich war doch nicht zu Hause«, stammelte Brigitte und gedachte wieder ihrer Schuld.
»Das ist es ja,« fuhr Vorlenz auf und schüttelte die Fäuste in der Luft, »das ist es ja, daß wir verdienen müssen, beide verdienen, unser bißchen Brot zu haben, wenn wir nicht verhungern sollen«, setzte er mit einer Rede ein, die völlig fremd in seinem Munde klang und wahrscheinlich von anderswo hineingekommen ist. Dann erst fragte er ohne viel Neugierde und gewiß nur, weil er sich dazu verpflichtet meinte: »Wo ist es denn passiert?« Brigitte wollte nicht gleich hören. »Wo es geschehen ist?« wiederholte Vorlenz und horchte nun schon aufmerksamer hin.
»Vom Sessel«, antwortete Brigitte leise und versteckt.
Man mußte die feinen Ohren dieses Jungen haben, um es auch zu hören. Thomas schnellte hoch, öffnete schon die Lippen, diesen Irrtum aufzuklären, denn es konnte nur ein Irrtum sein, erblickte die Mutter, sah sie beschämt die Augen senken, sah sie blutig erröten und empfand mit Widerwillen, daß er nicht reden sollte, wenn er auch müßte. Ein Zwang bestimmte ihn, ein Schloß versperrte seinen Mund. Was daraus werden konnte, ist noch am selben Abend geworden.
Brigitte hatte den kranken Arm in einen frischen Umschlag gewickelt, setzte sich ans Bett und sagte wie immer gute Nacht. Doch Thomas wollte sie nicht küssen.
»Der Mond schaut zu.«
»Ist doch gar keiner«, lachte die Mutter, zeigte zum Himmel hinauf und lachte.
Thomas blieb ernst, riß die Augen groß auf und sprach mit einer Stimme, in der es verhalten pochte und bebte:
»Er ist heruntergefallen ... Der Mond ist vom Himmel gefallen.«
Wieder lachte Brigitte und hatte kein Arg, was dieser Spaß bedeuten könnte und schon gar nicht, daß es überhaupt kein Spaß gewesen ist. Da schrie Thomas, die Augen voller Tränen und die Stimme voller Wasser:
»Ich hab es gesehen, ... selber gesehen ... Der Mond ist heruntergefallen, ... vom Himmel gefallen ...« Er hörte nicht auf zu schreien, fing immer wieder damit an und schnappte nach Luft und dampfte vor Hitze, schrie, was er schreien konnte, nahm keine Worte mehr dazu, schrie nur, schlug mit den Füßen, spuckte und kratzte und war kaum zu kennen, kaum er selber mehr, nur noch ein böser, ungezogener Junge, der Schläge verdient und nicht früher Ruhe gibt, als bis er sie bekommt.
Die Mutter ließ ihn sein, setzte sich zu Rese an das Bett und erzählte ihr die Geschichte von den sieben Zwergen und der schönen Königstochter.
»Kann ich auch eine werden, wenn ich brav bin?« fragte das Kind, immer gewohnt, aus allem den Nutzen zu ziehen.
»Eine Königstochter.«
»Das kann man nicht wissen, das kann niemand wissen«, schmunzelte Brigitte, streichelte ihr die Haare zurück, suchte Thomas mit den Blicken, beugte sich über Rese und küßte sie.
Eine Weile war es gestorben still um sie alle.
Dann warf sich Thomas hin und schluchzte zum Erbarmen.
»Ich bin ... ja auch ... nicht vom ... vom Sessel ... gefallen.«
Brigitte fuhr es wie ein Messer durch das Hirn und schnitt alle Gedanken entzwei bis auf den einen: Er weiß, daß ich gelogen habe. Ihre Reue kam um die Tat zu spät. Brigitte wollte Vorlenz nicht kränken. Er sollte nicht glauben, daß alles Böse immer nur von ihm kam. Das war die Absicht, und sie ist ohne Zweifel gut gewesen. Es hat aber Thomas getroffen. Und so konnte wieder nichts schlechter sein. Brigitte ging hin und versprach ihm offen in die Hände:
»Ich will morgen mit dem Vater reden und ihm alles sagen.«
»Aber der Mond ist doch vom Himmel gefallen«, beharrte Thomas eigensinnig. »Wo wäre er denn sonst?«
Der Beamte Vorlenz wurde entlassen. Er kriegte seine Bezüge für ein halbes Jahr vorausbezahlt, verlor aber den Posten. Man nannte das abbauen und verwirrte Vorlenz damit. Eine Entlassung ist immer etwas Anrüchiges gewesen, das wußte er; ein Abbau war ehrenhaft, das ließ er sich nicht nehmen. Er hatte das erhebende Gefühl einer persönlichen Auszeichnung und war stolz darauf, den Herren oben so viel zu gelten, daß sie ihm die Freiheit gaben und noch Geld dazu, eine Unmenge Geld. Vorlenz kam mit einer dicken Brieftasche nach Hause und großmaulte in seiner unbändigen Weise:
»Jetzt hat es ein Ende! ... Jetzt fängt ein anderes Leben an!«
Brigitte wankte, tastete nach einem Halt, erwischte Thomas, der hinter ihr stand, und stützte sich so schwer auf ihn, daß er beinahe umsank, zur Hilfe in die Luft griff, das Tischtuch faßte und es mit einem Glas herunterriß. Es klirrte wohl, brach aber nicht. Vorlenz bückte sich vor allem um die Brieftasche und streichelte sie und blätterte darin. Es machte ihm ein großes, wollüstiges Vergnügen, und er wiegte sich wie einer, der dem Leben ein Schnippchen geschlagen hat und sich im Trockenen weiß. Dann legte er bedächtig eine Note hin. Man sah ihm deutlich an, daß er die prickelnde Empfindung eines Gönners dabei hatte und weit entfernt war, sich etwa gar verpflichtet zu fühlen. Es war sein Geld und sollte es bleiben. Brigitte rührte keine Hand darnach. Sie wollte nur wissen, was vorgefallen und wie es gekommen ist und ob es wirklich sein Geld war, sein ehrliches, verdientes Geld. Er ließ leichtfertig die Achseln hüpfen und das Herz dazu, konnte ihr ohne zu zwinkern in die Augen schauen und wußte sich nach außen rein wie Schnee, wenn er aus den Wolken fällt. Was später daraus wird, das weiß auch der Himmel vom Schnee nicht. Vorlenz kümmerte sich kaum darum. Er war mit Anstand entlassen worden und konnte froh sein. Jeder wäre es an seiner Stelle gewesen. Es gab doch Leute, arme Leute herum, die sich gar nicht mehr erinnern konnten, was ein voller Magen und eine warme Stube ist, die sich einer mit dem anderen zudecken mußten und nur deshalb nicht verhungerten, weil keiner von ihnen satt war. Er aber, Johann Vorlenz, er war mit einer feisten Brieftasche in Pension geschickt worden, um sich das Leben einmal näher anzusehen. Es verlohnte sich die Mühe, gab eine Menge nachzuholen. Und er hatte Geld, massenhaft Geld. Seine Finger zählten immer wieder die schmutzigen Scheine nach, und seine Augen leuchteten dabei. Kein Bild konnte so schön, keine Aussicht heller und kein Duft lieblicher sein. Es roch nach Reichtum, und das tut jeder Nase wohl. Vorlenz hatte die Brieftasche unentwegt bei sich stecken und griff alle Weile darum. Es geschah nicht aus Angst. Er sagte bloß »mein Kätzchen« zu ihr und schnurrte dazu. In der Nacht lag sie unter seinem Kopfpolster und wurde die Quelle seltsamer Träume. Ein Wald hielt sich am längsten. Baum stand neben Baum, jeder hing voller Früchte, und jede Frucht war ein goldener Gulden. Man brauchte nur zu rütteln und war ein gemachter Mann, ein abgebauter Vorlenz oder so. Er verriet es natürlich keinem. Die Sache bleibt demnach unser Geheimnis. Man kann doch nicht wissen, auch er selber konnte nicht wissen, was heute oder morgen wird. Und dann ist ein solches Bäumchen eben so viele Gulden wert, als auf ihm hängen. Vorlenz hatte immer gut geschlafen, aber so unvergleichlich gut wie in der Wiege dieses Traumes hatte er noch keinen Schlaf getan.
Brigitte lebte wie ein gehetztes Wild, das überall den Jäger schleichen sieht und nirgends Ruhe vor sich selber findet. Sie wartete von Stunde zu Stunde auf das wirkliche, das wahrhafte Ereignis. Die Entlassung des Mannes konnte nur Vorbote sein. Das Schreckliche kam erst, war schon auf dem Weg und meldete sich deutlich an. Die Uhr blieb stehen. Vorlenz hatte sie gestern wie gewöhnlich aufgezogen. Die Gewichte baumelten noch hoch in der Luft, und doch sind die Zeiger stehengeblieben. Vielleicht waren die Räder verstaubt? ist ein Zahn gebrochen? Aber man tupfte bloß an den Kasten und die Uhr ging wieder und schlug. Dann geschah auch noch dies: Das ewige Licht rauchte und stank. Brigitte putzte tagtäglich selber den Docht, reinigte das Glas, goß frisches Oel nach und ist heute kaum nachlässiger gewesen als sonst. Dennoch rauchte und stank das Licht. Ein böses Zeichen und eine schlimme Botschaft. Nur die Kinder wunderten sich nicht. Sie hatten Laternanzünder gespielt, Wollfäden an den Schürhaken gebunden und damit gezündelt. Wenn also ein Zeichen geschehen ist, dann war es ein gutes, denn wie leicht hätte daraus ein Feuer werden und alles mit sich verbrennen können. So ahnungslos steht der Mensch in dieser Welt, und so klein ist, was er Großes um sich meint.
Einen Monat nachher wurden auch die Diebe abgefaßt und verhaftet. Die Angelegenheit war überreif und platzte ganz von selber. Der zweite Chauffeur kam aus den Seligkeiten eines Rausches zur letzten Fuhre angefahren. Er hielt das Lenkrad wie ein Wiegemesser in den Händen und torkelte mit dem Wagen herum, als wäre nicht er, sondern die Straße besoffen. Auch das Tor lief auf und ab. Er konnte es nicht finden, suchte rechts und links und stieß dann fuchtig darauf los. Es krachte, splitterte und klirrte. Er hatte nur das halbe Tor gefunden. Der Wagen bäumte sich, und der Chauffeur flog aus dem Sitz, überschlug sich in der Luft und plantschte mit dem Hosenboden in eine Pfütze. Er fand das herrlich und lachte. Der Direktor hatte weniger Humor. Er kochte vor Erbitterung. Das Tor war schwer beschädigt. Der Wagen mußte in die Reparatur. Und überhaupt ... Er schimpfte, brüllte, tobte. Der Chauffeur besänftigte ihn brüderlich. Er schwur, den Schaden gutzumachen. Der Direktor meinte sich gefrotzelt und benahm sich gar nicht mehr wie ein Direktor. Er war wütend und wurde gemein. Er hatte keinen Grund, tatsächlich keinen. Der Chauffeur wollte es wirklich, wollte das Tor ausbessern und den Wagen reparieren lassen. Er hatte doch Geld genug. Er verdiente täglich an der letzten Fuhre mehr als sonst ein Arbeiter die Woche lang. Das konnte der Direktor freilich nicht wissen. Er hörte es aber gern. Es freute ihn geradezu. Er wurde freundlich, hieß den braven Mann sich setzen, bot ihm eine seiner besseren Zigarren an und hatte diesen lächerlichen Unfall scheinbar schon vergessen. Er ließ sogar eine Flasche Weinbrand bringen und spielte den Wirt, daß dem Chauffeur mit dem Herzen auch der Mund aufging. Er konnte doch nicht neidiger sein, als man mit ihm war, und präsentierte die ganze, verwahrloste Geschichte wie einen famosen Witz, schenkte sich kein Detail, sprudelte alle Namen heraus und vergaß auch sich selber nicht. Es war ein gemütliches Beisammensein. Der Direktor lud dann sogar die Freunde dazu ein, hatte aber heimlich schon die Polizei verständigt, und das war nicht schön von ihm, das hieß den Spaß verderben. Der Chauffeur legte beim Anblick der Uniformen seinen Rausch wie einen Hut ab und wollte sich mit Respekt entfernen. Man hielt ihn nur schwer zurück. Auch die Freunde waren nicht erbaut. Sie wurden freilich kaum darnach gefragt.
Vorlenz erfuhr am selben Tag noch, was geschehen war, und lachte sich verwegen in die Faust. Seine Beschränktheit dachte mit keinem Gedanken daran, daß er auch mit hineinverwickelt werden könnte. »Bin beizeiten abgedampft«, frohlockte er und gebärdete sich ganz, als ob er selbst gekündigt hätte und das Geld nur ein anderer Orden für seine besonderen Verdienste gewesen wäre. Vorlenz war in jeder Lage zu beneiden. Er ging nicht unter und flog nicht auf. Er war ein Kater. Wie immer man ihn warf, er fiel auf die Füße. Und wenn es nicht anders ging, dann lief er auf allen Vieren davon. Er hatte einfach kein Talent, sich Sorgen zu machen. Auch das muß einer können. Es wird bei manchem eine große Kunst und verdirbt vielen das schöne Leben so gründlich, daß sie schließlich den Tod für eine wohltätige Einrichtung halten. Vorlenz blieb dazu herzlich unbegabt. Er war stets vergnügt und lachte sich selber aus, wenn sonst kein Grund vorhanden war.
Brigitte wagte kaum zu atmen aus Angst, es könnte irgend einen bösen Luftzug wecken, irgend ein wissendes Ohr treffen und aufmerksam machen: »Du bist auch da? Und er? Dein Mann? Alles in Ordnung? Nichts gestohlen? Noch nicht angeklagt? Oder schon im Kittchen?« Sie verließ das Haus nur, um in die Fabrik zu eilen, sperrte sich sonst in ihrer Wohnung ein, ging auf den Zehen umher und lauschte an der Türe, ob nicht schon Schritte kamen, Stimmen laut wurden und ihren Namen suchten, seinen Namen. Er war ein Dieb. Die anderen sind es doch auch. Und so muß auch ihn ihre Strafe treffen, und wenn es heute nicht wurde, dann konnte es morgen sein. Die Gerechtigkeit verlangte es. Und als Brigitte eines Mittags unverhofft mit Herrn Stein im Flur zusammenprallte, wäre sie fast in die Knie gesunken und hätte auch gleich um Verzeihung gebeten. Aber da begann er selber zu reden:
»Er hat es nur Ihnen zu verdanken, daß wir ihn laufen lassen, nur Ihnen, Frau Vorlenz. Sagen Sie ihm das!«
Brigitte dankte nicht einmal, nickte nur und lächelte und fühlte, daß ihr leichter wurde, um eine Sorge leichter, und daß sie sich wieder zu atmen getraute, mit vollen Lungen und ohne die tausend Ängste, die bisnun immer um sie her gewesen sind und ihr Herz ankläfften wie bissige Köter, die eine Beute stellen. Wieder war etwas zu Ende. Wiederum fing ein Neues an.
Vorlenz brannte das Geld in den Händen. Er war noch kein richtiger Dieb und litt an seinem schlechten Gewissen, wie man etwa an einem verdorbenen Magen leidet. Es ging nicht viel tiefer bei ihm, war keine Reue aus besseren Gründen, sondern nur so eine Art von Hühnerauge auf der Seele und die beständige Furcht, es könnte wer draufsteigen und ihm Schmerzen bereiten. Ganz sicher fühlte er sich doch nicht mehr, seit die Geschichte aufgeflogen war und die guten Freunde im Landesgericht logierten. Und er begann ein wüstes Treiben, um die verdächtigen Scheine los zu werden. Als ob das die einzigen Beweise seiner Schuld gewesen wären! Brigitte redete ihm zu, das Geld zurückzugeben. Er war perplex. Das gab es? Das war möglich? Er starrte sie wie einen Wechselbalg aus Irrtum und Verbrechen an. Es gab wahrhaftig einen Menschen, der glauben konnte, daß er, Johann Vorlenz, auf sein wohlverdientes Geld, auf eine Auszeichnung in Geld verzichten sollte, weil ein paar Lumpen neben ihm gestohlen haben und er ... Da stockte die Erregung schon, beschwichtigte sich der Sturm und säuselte ein anderer Wind: »Ich bin nicht unschuldig. Das ist richtig. Aber man legt keinen Wert darauf, mich auch zu haben. Hätte man mich sonst entlassen? mit Gehalt und vor der Zeit entlassen? Es genügt wahrscheinlich, daß die anderen sitzen. Oder bin ich geflohen? hab ich geleugnet? Kein Grund, meine Herren, gar kein Grund vorhanden, denn man hat mich nicht einmal gefragt.« Er spielte den Großartigen und forderte Salomon Stein unmittelbar heraus. Er wartete vor dem Tor auf ihn und grüßte nicht. Es war kein Hochgefühl, was er dabei empfand, aber es war doch frech, und das befriedigte ihn. Er pfiff mit Absicht laut auf der Stiege und hatte sich das früher nie erlaubt. Er läutete einmal sogar oben an und tat nachher, als hätte er sich bloß im Stockwerk geirrt. Man darf ihm das alles nicht übler ankerben, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Jeden Mörder zieht es mit magischer Gewalt an den Ort seiner Untat. Jeder Dieb hat die unüberwindliche Sehnsucht, den Bestohlenen zu fragen, ob ihm denn nichts fehle. Irgendwie steckt dahinter noch ein winziger Rest von Anständigkeit, von einem mißratenen Rechtsgefühl, aus dem dann jene sonderbaren Querulanten kommen, die sich selber stellen und nicht eher Ruhe geben, als bis sie ihr Urteil sicher haben. So weit ging Vorlenz nicht. Das fehlte noch! Er wollte schon auch gefragt werden, aber bloß um nein sagen zu können. Brigitte sollte es tun, hätte es längst tun müssen. Er hörte sie gerne reden, auch wenn es gegen ihn ging. Sie sprach wie ein Buch, eines, das er niemals lesen würde, aber doch gern sprechen hörte. Es war immerhin ein gutes Zeichen, daß Vorlenz noch Ohren dafür hatte und nicht einfach taub wurde, wenn sie ihn von oben her anpackte. Diesmal aber hatte sie sich lächerlich vergriffen. Das Geld zurückgeben? Nein, so dumm war Vorlenz nicht.
Es gab ein Fest. Thomas ging den ersten Schulweg, erfüllte seine erste Pflicht, begann die Arbeit seines Lebens. Bisnun ist alles Spiel gewesen, auch wenn er es ernst genommen hatte. Die Erwachsenen haben es doch immer nur für Spiel gehalten. Nun aber wurde es anders. Er fühlte das und fühlte sich. Er warf den Kopf hoch, straffte sich größer auf, blähte den Brustkorb und redete um ein Stockwerk tiefer. Es klang drollig und machte doch niemand lachen. Brigitte war von der Weihe dieses Tages so durchdrungen, daß sie ihn gleich nach Mitternacht begann, mit jeder Minute aufgeregter wurde und in der Wohnung wie in einem Käfig hin- und herlief. Rese freute sich, weil sie zu Hause bleiben durfte und nun doch das Hutschpferd hatte. Es stand im Stall beim Bett und war an einem Haken in der Mauer festgebunden. Aber das hinderte Rese nicht. Und Thomas hatte kaum die Türe hinter sich geschlossen, als sie auch schon oben saß, ein General wie er, nur daß sie in eine Schlacht ritt, und er in die Schule mußte.
Vorlenz feierte ein anderes Fest. Anlaß war der Geburtstag eines Freundes, den er knapp drei Wochen kannte und auch gar nicht so sehr liebte. Sie gingen ins Gasthaus, aßen und tranken, waren beide gut bei Appetit und aßen jeder für zwei und tranken jeder für vier. »Iß, Bruder! Trink!« Der Freund ließ sich das wohl gesagt sein und hieb ein, daß ihm der Schweiß auf die Stirne trat und der Wein den Durst kaum stillen konnte, den er davon kriegte.
Brigitte hatte einen schweren Tag. Die Miete war zu zahlen, und der Fleischer hatte gemahnt. Auch die Greislerin drängte. Man stundete ihr gern, aber es konnte nicht für immer sein. Rese erkrankte, war gestern schon nicht recht beisammen und legte sich heute nieder. »Schafblattern«, beruhigte der Arzt die aufgeregte Mutter und wollte gar nicht wiederkommen. Er hatte recht. Es gab auch Diphtherie herum und Scharlach. Was sollte er da mit Schafblattern beginnen? Es verlohnte sich kaum der Weg. Für Brigitte lag die Sache verschieden. Sie konnte nicht in die Fabrik, verlor einen Arbeitstag und wird wahrscheinlich eine ganze Woche verlieren müssen. Sie konnte auch sonst nichts verdienen, nicht aufräumen und nicht waschen gehen, bloß ein wenig nebenher flicken, doch das reichte kaum auf Brot. Es war empörend. Sie sagte nicht was. Thomas schien es auch so zu wissen und fragte unvermittelt nach dem Vater.
»Weiß nicht, wo er ist«, antwortete Brigitte, hatte völlig wahr gesprochen und doch dabei gelogen, denn sie fühlte genau, daß er im Wirtshaus war und luderte.
»Trink, Bruder! Trink!« Sie konnten nimmer essen, nur noch trinken. Vorlenz war fertig. Seine Augen schimmerten wie Fischschuppen, seine Stimme schlappte mit den Worten hin wie müde Füße in ausgetretenen Pantoffeln. Er war eigentlich ein schwacher Esser und bald angefüllt. Der Freund ist tüchtiger gewesen. Sein Magen war ein Gummiranzen und hatte immer noch ein bißchen Platz. Der Wirt vom ewigen Leben verstand seine Gäste zu wickeln und rückte mit einer Kost an, die sich heimtückisch durch die Nase an den Gaumen schlich, und nicht lang fragte, ob einer noch konnte oder gar wollte. Sardellen in Salzöl, Gurken in Essig und Mixpickles gingen überall und immer noch. Man mußte einfach, und so gab es auch für diese Gäste keine andere Wahl. Vorlenz hatte sich dennoch überschätzt. Er verschwand auf eine Weile, ist gesund und satt gegangen und kam dann bleich und leer zurück, mehr tot als lebend. Man bettete ihn behutsam auf eine Bank und wartete, der Wirt in Bängen um die Zeche, der Freund in Sorge um sein Fest. Vorlenz genas nach einer Stunde friedvollen Schlafes und war fröhlicher denn je. Er zahlte mit der Geste eines Menschen, der gar nicht weiß, wieviel er eigentlich verdient, und deshalb auch nicht denken muß, wieviel er ausgibt.
Brigitte musterte den Kasten durch. Es war noch Wäsche da, Handtücher, Hemden, Hosen, Überzüge. Und sie rechnete, berechnete voraus, was sie dafür bekommen könnte, und hatte zu wenig. Wieder fingen sich die Blicke an der Uhr. Aber das wollte sie vermeiden, das war schon das Letzte vor dem Kasten und den Betten. »Lieber noch das Medaillon.« Es war von ihrer Mutter, und sie trennte sich mit Wehmut, nicht weil es aus Gold gewesen ist, sondern weil es von der Mutter kam und heilig war wie jedes Ding, das aus der Jugend stammt.
Vorlenz wollte nach Hause. Der Entschluß trat wie ein Wetterumsturz auf, war plötzlich da und hatte keine Vorgeschichte. Der Freund glaubte zuerst an einen schlechten Scherz und lachte ihn zuschanden. Vorlenz blieb dabei. Möglich, daß er doch insgeheim bemerkte, wie das Geld in seiner Tasche schmolz, und daß er geizig wurde. Jeder arme Teufel wird es, wenn er sich verleiten läßt, einmal den großen Herrn zu spielen. Möglich auch, daß er an die Kinder dachte. Rese hatte so lustige Augen, und Thomas schaute so böse drein. Er müßte eine Geige kriegen und spielen lernen. Dann könnte Rese dazu singen und Brigitte ... Ja, nun fiel ihm auch Brigitte ein, und alles war dahin, als hätte es der Wind verblasen. Vorlenz fürchtete sich vor ihr. Es war ehrliche Angst, ganz wie sie kleine Jungen anfällt, wenn sie sich schlimm betragen haben und Schläge erwarten. Die Ängste waren echt, die Schläge nur ein Bild. Dennoch kippte alles damit um, und Vorlenz blieb aus Bosheit und aus Rache, obwohl er nichts zu rächen hatte. Der Freund schlug ein Kaffeehaus vor. Man schlenderte zu zweit hin und saß bald zu viert an einem Tisch. Vorlenz war wieder obenauf. Er ließ die Scheine wie Tauben flattern und freute sich über jeden Gast, dem es auf seine Kosten schmeckte. Man spielte Karten, ein dummes, einfältiges Spiel, das den Verstand kaum anging und das Vorlenz in den kleinen Fingern hatte. Es ereignete sich aber, daß er verlor, einmal und fünfmal, immer wiederum verlor. Er lachte ohne Verdruß. Er hatte Geld und konnte sich das leisten. Er wollte dieses Geld nicht einmal haben und verdoppelte den Einsatz. Einer war, der jedesmal gewann, der Dritte am Tisch, ein verrufener Tagedieb, der überall dort auftauchte, wo etwas zu krebsen war. Vorlenz hatte es scharf auf ihn. Er kannte diese Sorte Spieler, die immer Falschspieler war, und nahm ihn genauer unter die Augen. Aber es fruchtete nichts. Auch dieses Spiel geriet daneben. Jetzt stieg Vorlenz der Kamm. Jetzt ging es nicht mehr um das Geld. Das war ihm längst gleichgültig geworden. Jetzt ging es um seine Ehre, und da ließ er sich nicht lausen. Der Dritte mischte die Karten. Vorlenz hielt ihn mit den Blicken wie mit Klammern fest. Doch der Vogel wollte sich nicht fangen. Kein falscher Griff, nicht einmal der Versuch dazu geschah. Und man begann zu spielen. Vorlenz stand gut. Das Blatt schien sich zu wenden. Der Dritte legte aus. Vorlenz gab zu. Stich folgte auf Stich, bald da, bald dort. Dann fiel dem Dritten eine Karte aus den Fingern. Das kann vorkommen, soll aber nicht sein. Vorlenz war auf der Hut, ließ sich durch diesen plumpen Köder nicht beirren und hatte das Spiel beinahe schon gewonnen. Der Dritte war in Nöten, spekulierte hin und her, kratzte sich den Schädel, nieste plötzlich, daß es nur so sprühte, schneuzte sich dann, entfaltete das Taschentuch und ... Da schlug ihm Vorlenz die Karten aus der Hand. Sie stimmten schon nicht mehr.
»Gauner!« sagte er gutmütig, eher anerkennend als zornig, schmiß das Spiel hin und machte nimmer mit. Die Unterhaltung war durch diesen Zwischenfall nur unterbrochen, aber nicht gestört worden. Man labte sich an einer Runde Benediktiner, die kein Ende nahm, wahrscheinlich weil sie rund gewesen ist. Vorlenz bezahlte immer noch, was um ihn her genossen wurde, fischte eine Banknote nach der anderen aus der Brieftasche und nahm es auch damit nicht genau. Er mußte aber doch schon künstlich warm gehalten werden, wenn er nicht unvermutet abkühlen und ausreißen sollte. Das besorgten die Freunde. Sie gossen ihn mit Schnaps voll, daß er kaum stehen konnte, und trieben ihren Ulk mit ihm, auch wenn es umgekehrt schien. Vorlenz merkte nicht, daß er betrogen wurde, daß er der Narr war und die anderen sich auf seine Spesen lustig machten, obwohl er kommandierte und sich wie ein Sklavenhalter übernahm. Es war immerhin schwierig, über die nächsten Stunden weg in einen gemütlichen Abend hineinzukommen. Vorlenz fing bereits verdächtig an zu räsonieren. Das durfte nicht geschehen. Noch war Geld in seiner Tasche. Und das konnten diese guten Freunde nicht vertragen. Sie schleppten ihn wie ein Paket auf Menschenfüßen, ein kostbares Wertpaket, versteht sich, an bösen Blicken und versteckten Fäusten vorbei durch die Straßen in ein Kino. Vorlenz mochte die lebenden Bilder nicht leiden. »Alles nur Schwindel!« schimpfte er und wollte nicht hinein. Aber da half ein bißchen sanfte Gewalt nach, und er saß schon, weil er ohnedies kaum stehen konnte und der Sessel gut war. Man gab ein verlogenes Rührstück von einem Soldaten und seiner Braut, die Krankenschwester wird, ihren Bräutigam blind und verstümmelt wiederfindet und sich dennoch glücklich schätzt, weil er ein Held geworden ist. Vorlenz glotzte stumpf auf die Leinwand, verdaute inzwischen und gluckste unpassend, weil er von rechts und links gekitzelt wurde und sich mit den Ellbogen dafür bedankte. Er war überhaupt nur teilweise anwesend, vom Schädel abwärts und von den Knien hinauf. Die Füße waren schon eingeschlafen und der Kopf wollte es gerade auch tun. Doch da flimmerte eine Szene auf, die ihm naheging. Zwei Kinder beteten zur Nacht, ein Knabe und ein Mädchen. Die Mutter saß dabei und ... »Das ist doch ...« Vorlenz rieb sich die Augen, »... das ist doch Brigitte!« entfuhr es ihm laut. Man ermahnte ihn zur Ruhe. Und er schwieg, er stürzte in sich ab wie ein Stein in den Brunnen, hockte auf einmal elend und verlassen da und weinte dicke, unmögliche Tränen, ganze Stricke von Tränen. Ob es nicht bloß der Wein war? Man könnte glauben. Oder ob ihn nicht doch das Herz stieß? Auch das wäre zu denken. Auf alle Fälle war es komisch, und man lachte, obwohl das Spiel gerade traurig lief, lachte den alten Esel aus, der weinen mußte, weil er einen Rausch hatte und den Katzenjammer kriegte. Vorlenz konnte nicht an sich halten, ging völlig aus dem Leim und schluchzte. Da wurde er wiederum gekitzelt, mußte dem plumperen Reiz nachgeben und kicherte mitten in seine ehrlichen Tränen hinein, meckerte, daß eine Ziege von ihm hätte lernen können, und bog sich vor Lachen. Das Publikum war wieder nicht zufrieden und stampfte mit den Füßen. Vorlenz verstummte aus anderen Gründen. Er schaute rechts und links, hielt den Mund vor Staunen offen, blinzelte ungläubig und schaute noch einmal schärfer hin. Es war kein Zweifel möglich. Er saß zwischen zwei charmanten Damen, einer großen blonden und einer kleinen schwarzen, hatte weder die eine noch die andere jemals gesehen und war doch schon mit beiden gut bekannt. Man kitzelt einen fremden Menschen nicht. Das wagt kein Finger. Und wenn schon einmal – es gibt auch das im Leben, – dann leugnet man es nachher ab. Diese Damen aber lächelten ihm zu. Vorlenz schwoll förmlich an und brodelte über. Er dachte gewiß mit keinem Gedanken an die Möglichkeit, daß ihn die Freunde damit überraschen wollten und daß er es einzig ihnen zu verdanken hatte. Er war ein Mann, und Männern kommen solcherlei Gedanken nie. Er fühlte sich persönlich auserwählt und wurde zum Hahn unter den Hennen, hatte plötzlich keinen Rausch mehr oder doch schon wieder einen anderen, spielte den Kavalier, bot jeder Dame einen Arm, saß wie ein Faschingskönig inmitten und fing den Tag erst richtig an. Er endete um vier Uhr früh.
Rese hatte eine schlechte Nacht gehabt. Brigitte war gerade noch ins Bett gekommen und schlummerte ein wenig obenhin. Da wurde draußen leise, leise ein Schlüssel in das Schloß gesteckt, vorsichtig umgedreht, die Türe langsam auf- und wieder zugemacht. Vorlenz hatte sogar die Schuhe ausgezogen. Er kam wie ein Dieb ins Zimmer geschlichen, stahl sich aus den Kleidern, huschte in das Bett und schlief auch schon und schnarchte fast in einem. Brigitte rührte sich nicht. Ihr ekelte vor ihm. Er stank nach häßlichen Gerüchen, Wein und Rauch und Schweiß, auch nach Parfüm. Es fiel ihr schwer, so still zu sein, daß er sie schlafend meinte. Nun er schlief, konnte sie doch ein bißchen weinen.
Vorlenz blieb bis Mittag liegen und stand auch dann bloß auf, weil er Hunger hatte. Es gab aber nichts zu essen. Rese kriegte eine Suppe, Thomas auch noch ein Gemüse. Brigitte fastete. Vorlenz wagte nicht zu fragen. Er kleidete sich an, zögerte noch eine Weile um die andere herum und ging dann, wußte wahrscheinlich selber nicht wohin und war zum Abendessen wieder da. Es duftete nach Grießkoch. Er war sonst kein Freund davon, freute sich aber heute doch darauf. Es wurde wieder nichts. Die Kinder pampften. Auch Rese hatte Appetit. Und was er eigentlich noch nie so recht gesehen hatte: selbst Brigitte aß und ließ es sich schmecken. Nur er bekam nichts, saß mit am Tisch und mußte husten, wenn der Magen knurrte, damit man es nicht hörte, litt Hunger und kriegte nichts zu essen. Brigitte hatte noch kein Wort mit ihm gesprochen, sah ihn kaum an und machte, als ob er überhaupt nicht anwesend wäre oder nur so nebenher wie Luft, schlechte, verbrauchte Luft, vor der man sich in acht nehmen mußte. Thomas mied ihn seit je, und Rese war krank, konnte gerade noch essen und war gleich darauf wieder krank.
Vorlenz biß die Zähne zusammen, zog den Bauch ein und trollte sich wie ein geprellter Fuchs, der in den Stall kommt, um eine Gans zu stehlen, und sie schon in der Küche für den Bauern schmoren hört. Er mußte gehen, sonst hätte es Streit gegeben. Das ist wieder bloß ein Selbstbetrug von ihm gewesen. Vorlenz war viel zu feig, auch nur mit einem Wort davon zu reden, und fürchtete sich heimlich schon vor dem verhängnisvollen Augenblick, der ihn doch heute oder morgen dazu zwingen wird. Sein Geld war fort. Er hatte nichts zu rauchen, nichts zu essen, hatte nur Hunger und ging in das Wirtshaus wie das Tier zum Brunnen. Doch der Wirt vom ewigen Leben hatte keine Kreide, nur Grundsätze, den einen besonders: »Ware gegen Ware.« Wobei er neuerdings noch anfügte: »Schlimm genug, seine gute Ware für schlechtes Geld hergeben zu müssen.« Da war also nichts zu machen. Auch die Freunde schienen keine Freunde mehr. Sie hatten jeder knapp so viel, als sie selber brauchten, und konnten ihm nicht helfen, wollten es auch nicht. Sie taten recht daran. Die Zeiten waren kläglich, und wenn einer teilte, dann ging ihm auch schon etwas ab. Vorlenz erfuhr es leider einen Tag zu spät. Gestern ... Aber das stillte seinen Hunger nicht. Der Kellner wartete ihm wenigstens mit einer Zigarette auf. Vorlenz fraß den Rauch mit einer Gier in sich, daß er fast daran erstickte. Es war das einzige, was er an diesem Tag zu schlucken bekam. Davon ist wohl noch keiner satt geworden, aber so war es auch nicht gemeint.
Vorlenz pilgerte dicht vor Torschluß nach Hause und bemühte sich um ein freundliches Gesicht. Es hatte keinerlei Erfolg. Man bemerkte es wahrscheinlich kaum. Eine Gurke mag noch so süß tun, man weiß doch, daß sie sauer ist. Ihm war zum Explodieren. Es gab aber keinen Funken, keine Reibung, und so wurde auch aus der Explosion nicht viel. Vorlenz schlief erbärmlich schlecht, weil ihn der leere Magen drückte und weil er überall Fleisch roch, gebratenes Fleisch, gebackenes Fleisch, Rindfleisch sogar, obwohl er sich nie darum gerissen hat. Die Nacht war lang und wurde oft gestört. Bald brauchte Rese Wasser; bald mußte sie eines lassen; bald war dies und bald das. Brigitte lief beständig einen Weg. Vorlenz hätte ihr gern geholfen, aber das wäre Anbiederung, wenn nicht gar Ärgeres gewesen. Und so blieb er liegen, warf sich nur unwillig herum und tat beleidigt, weil man ihn nicht schlafen ließ. Brigitte hatte wirklich andere Sorgen und ruhte kaum besser auf ihnen.
Der Tag begann um sieben Uhr. Thomas mußte in die Schule, mußte sich sauber waschen, ordentlich ankleiden, seine Sachen zusammenpacken und frühstücken. Der Kaffee stand schon im Zimmer auf dem Tisch. Aber das Brot war nicht zu finden. Thomas und die Mutter suchten in der Küche. Rese schlief. Und Vorlenz trank die Schale aus, setzte sie an den Mund und leerte sie auf einen Zug. Mochten sie sagen, was immer! Er hatte Hunger, sie aßen, und er hatte Hunger. Das war auch eine Schande, ihre Schande. Brigitte ahnte längst, was mit dem Brot geschehen war, und griff nur so beiläufig um. Thomas suchte mit Eifer, schaute in alle Laden, kroch in jeden Winkel und hätte nie gedacht, daß sich ein Brot so gut verstecken konnte. Es war tatsächlich nicht zu finden. Vorlenz wußte genau warum. Er ist nächtens aufgestanden und hinausgegangen, hat es heimlich mitgenommen und draußen gegessen. Und nun war auch die Schale leer. Brigitte starb das Wort auf den Lippen. Thomas machte sich nichts daraus. Er stand zwar nicht gut mit dem Vater, doch ein Spaß bleibt immer lustig. Und so ist Vorlenz zu einem Frühstück gekommen.
Er schämte sich aber doch, der Dieb im eigenen Hause zu sein, und zog belemmert ab. Sein Sinn war, etwas Gutes zu schaffen und sich wieder in Ansehen zu bringen. Das konnte nur geschehen, wenn er Geld verdiente. Er mußte sich vor allem selbst erhalten. Das war Grundbedingung. Er mußte auch noch ein übriges tun. Das war seine private Forderung. Man sieht, er machte es sich keineswegs leicht. Vorlenz ging auf den Markt und war mit aller Welt freundlich und zu jeder Arbeit entschlossen. Das ist viel gesagt und noch mehr vorgenommen. Aber man machte keinen Gebrauch davon. Man hatte ihn aus dem Gesicht verloren und damit auch vergessen. Er suchte alte Bekannte auf und trug sich deutlicher an, war nirgends willkommen und konnte sich nicht erklären warum. Die Ursache lag auf der Hand. Wer einmal sein eigener Herr gewesen ist und Roß und Wagen gehabt hat, der erweckt Verdacht, wenn er das nächste Mal zu Fuß anrückt und dienen will. Vorlenz hätte das unbedingt geleugnet. Er war doch noch derselbe von einst, war wohl einige Jahre älter, aber die Dinge hier sind auch nicht jünger geworden; er konnte, was er damals gekonnt hatte, und wollte nicht mehr, nicht weniger auch; er war derselbe und noch ein Held dazu. Ist er nicht steif geschossen worden? Vorlenz humpelte seit langem wieder einmal. Es fruchtete aber nichts, gab schon zu viel Blessierte, saß in jeder Ecke einer und zeigte den Stummel eines Armes oder den Stumpen eines Beines her, stand irgendwo ein Blinder und nahm alles Mitleid für sich weg, auch wenn er keine Schlacht gesehen hatte, gingen überall jene Gespenster um, die sich im Frost grausamer Kriegserinnerungen schüttelten, und wäre es auch nur, um ein Geschäft zu machen. Sie griffen an das Herz. Vorlenz konnte bloß humpeln. Er war kein Konkurrent, wollte es auch nicht sein. Er konnte arbeiten und war nur deswegen gekommen. Auf einem Markt wird alles feilgeboten. Warum sollte er es nicht auch mit sich selber tun? Die Ware Mensch ist allerdings im Preis gesunken, doch etwas ist sie immerhin noch wert gewesen. Vorlenz philosophierte, und so verging ihm wenigstens die Zeit. Der Hunger blieb. Er war durch die Schale Kaffee nicht gesättigt, nur begossen worden und wuchs vom Magen in das Gehirn hinauf. »Was gibt es heute?« Lächerliche Frage, wenn kein Tisch gedeckt wird und kein Koch vorhanden ist, umso lächerlicher, wenn es auch gestern nichts gegeben hat. Vorlenz überlegte, was ihm augenblicklich lieber wäre, eine Semmel oder eine Zigarette. Er hatte sich noch nicht entschieden, da wurde an seiner Nase vorbei der Rest einer Ägyptischen weggeworfen, sicherlich drei Züge lang und köstlich von Geruch. Vorlenz bückte sich ohne zu denken, was er tat, und paffte auch schon. Es ist bloß ein Zug, aber ein tiefer gewesen. Er füllte ihn mit Behagen an, soweit sein Körper hohl und leer war. Doch der Magen rollte sich wie ein beleidigter Igel zusammen. Er wollte essen, aber nicht rauchen. Vorlenz war auf eine Spur gewiesen worden und suchte das Rinnsal nach Zigaretten ab. Da fiel auch die Semmel vom Himmel, nicht gerade eine Semmel, aber doch etwas zum Essen, süß und gut und nahrhaft wie das biblische Manna. Es geschah mit einem höllischen Geprassel und riß alle seine Nerven jäh zusammen. Ein dicker, schwerer Sack war von der Höhe eines vollbeladenen Wagens gerutscht und an der Erde in tausend Nüsse zerplatzt. Vorlenz ist im Geschützdonner an der Front kaum jemals so unsinnig erschrocken. Der Kutscher fluchte und wußte sich in der Verlegenheit gar nicht zu helfen. Die Pferde tänzelten aufgeregt herum. Und was an Menschen in der Nähe war, das bückte sich um eine Nuß. Nur Vorlenz tat es nicht. Weiß Gott, was ihn zurückhielt! »Paß auf da!« rief ihm der Kutscher zu und trödelte um einen neuen Sack. Vorlenz hatte also ein Geschäft, fast schon einen Beruf. Er stand wie ein Posten auf der Feldwache und hätte jeden niedergeschossen, wenn er ... wenn er vor allem ein Gewehr gehabt hätte. Es gab Leute genug, denen die Finger lang wurden, gab vor allem eine Menge Kinder, die sich um jede Nuß abseits vom Haufen balgten. Vorlenz erkannte mit strategischem Blick, daß diese Außenseiter nicht zu halten waren, und rettete sie in seine eigene Tasche. Da brüllte ein frecher Bengel, so laut er konnte:
»Der stiehlt ja selber!«
Das war zuviel. Vorlenz stand gewissermaßen in einem Amt und mußte seine Ehre blank halten. Es gehörte sich so. Er war ein Korporal auch außer Dienst. Man hatte ihn zu respektieren, dieser Bengel vor allem. Vorlenz stürzte sich wütend auf den Jungen, der vor ihm zum Wiesel wurde, hinter dem er täppisch wie ein Bär nachtappte. Jetzt meinte er ihn zu haben. Jetzt hatte er ihn schon, griff aber wieder in die Luft und verlor jegliche Fassung als Mann und Korporal. Er schnaubte, kochte, kläffte, jagte dem Wiesel von Jungen nach, erst zickzack rechts, dann zickzack links, dann um den Haufen herum in gefährlichen Kreisen, die immer kleiner, immer enger wurden. Nun sprang der Junge mit einem Satz gar über den Berg. Und Vorlenz, der lange, ungefüge Vorlenz ihm nach, nicht ganz freilich, denn er knatterte mitten hinein, daß die Nüsse erschreckt auseinander stoben und nach allen Seiten hin die Flucht ergriffen. Es war ein Riesenspaß. Dennoch lachte niemand, hatte keiner Lust dazu, wurden plötzlich alle verwandelt, stürzte sich jeder auf die Nüsse, stopfte seine Säcke voll und lief davon, ein Dieb dem anderen nach. Die Zeit brach aus. Krieg war und eine Schlacht begann. Man hatte Hunger, hatte kaum Brot zu essen und durfte an Nüsse gar nicht denken, weil sie viel zu teuer waren und nur für die reichen Leute zum Dessert gehörten; man lebte in Not, und da ist jedes Mittel gut, sich durchzuschlagen. Nüsse für die Kinder! Nüsse für die Kranken! Nüsse für sich selbst, die Hungrigen seit gestern oder wann! Und was vor einem Augenblick noch einträchtig beisammenstand und sich gemeinsam lustig machte, das wurde im Nu zu Feinden, stieß und schlug und raufte sich und stahl dabei. Es gab keine Scham, gab keinen Rang mehr, keine Unterschiede, keine Herren, keine Diener, nur noch Diebe. Und ehe der Kutscher mit dem neuen Sack angetrottet kam, war der ganze Haufen weg und der Platz leer, als hätten ihn Ameisen kahl gefressen. Vorlenz rannte hinter den anderen als der Letzte fort. Auch seine Säcke standen weit mächtig ab. Der Schutzmann konnte nicht überall gleichzeitig sein. Das war richtig. Aber wie kamen die Offiziere im Hauptquartier dazu, daß sie deshalb statt Nußrouladen mit Schlagobers nur Mandelschnitten mit Chaudeau erhielten? Vorlenz gönnte ihnen beides nicht. Er aß vor allem einmal die Nüsse aus der rechten Tasche. Es waren ihrer siebzehn. Und sie schmeckten ausgezeichnet. Dann griff er in die linke Tasche und verspeiste noch vierzehn. Sie wurden immer besser. Aber dann hatte er doch genug, das heißt, er besann sich, einmal gehört zu haben, daß Nüsse äußerst nahrhaft sind und man mit einem Dutzend ungefähr ein Mittagmahl ersetzen kann. Es stimmte in der Praxis nicht so ganz. Er hatte siebzehn und vierzehn Nüsse gegessen und aß immer noch fünf. Dann hörte er auf, aber nicht weil er nimmer konnte, sondern weil er doch ein übriges tun und etwas nach Hause bringen wollte. Vorlenz beeilte sich, um mit den Füßen schneller zu sein als mit den Zähnen, naschte nur noch gelegentlich und brachte mit Überwindung doch sieben Nüsse heim, vier gute, zwei wurmige und eine taube. Er legte sie ohne ein Wort zu sagen auf den Tisch und freute sich, die Kinder knabbern zu sehen und selber nichts davon zu haben. Nur ein Brösel, ein ganz kleines Bröselchen, das sich zu ihm hin verirrte, tippte er mit einem Finger auf und kostete es. Brigitte wurde gerührt und hätte sich beinahe schon verleiten lassen, ihn für besser zu halten, als er war. Aber es lag doch zu Schweres zwischen ihnen und konnte nicht so leicht vergeben oder gar vergessen werden.
Es gab Kraut zu Mittag, nichts als ein Stück Brot und Kraut dazu. Vorlenz wurde wieder nicht zu Tisch gebeten. Er trug es gern. Die Nüsse hielten noch vor, und Kraut war niemals sein Geschmack. Es wurmte ihn dennoch, wie ein unliebsamer Fremder behandelt zu werden und nebenher leben zu müssen. Er sprach nicht von Recht. Das war verwirkt. Aber die anderen hatten auch Pflichten. Und das vergaßen sie. Was er getan hat, konnte jedem einmal passieren. Vorlenz verteidigte sich nicht. Er war geständig. Er bereute. Und das hätte man ihm gutschreiben müssen. Er wollte nicht gelobt werden. Doch man durfte den Streit nicht endlos hinschleppen. Es hatte vor allem keinen Sinn. Er gehörte zu ihnen und wird dableiben. Darauf konnten sie sich verlassen. Wozu also das böse Gesicht? Und nun gar dieses Benehmen! Er war freundlich. Er hatte sogar den Kindern Nüsse gebracht. Sie aber ..., Brigitte besonders, die blieb fest und war es noch. »Ein Dickschädel!« erregte sich Vorlenz. »Ein Bauernschädel!« Man hätte ihn unbesorgt einladen können. Kraut mochte er nicht. Das wußte Brigitte. Und so wäre es leichter denn je gegangen. Außerdem lagen die Nüsse noch steinschwer in seinem Magen und stießen ihm ranzig auf. Es wäre doch besser gewesen, weniger davon zu essen. Aber das weiß man immer erst nachher.
Brigitte tummelte sich fort in die Fabrik. Fünf Stunden Arbeit war der halbe Taglohn, und sie brauchten Geld, hatten nur Schulden und gar kein Geld. Rese war über das Ärgste schon hinaus und spielte ganz allein im Bett, wenn man nur in der Nähe war und sich ein bißchen um sie kümmerte. Thomas hatte zu tun. Und Vorlenz konnte aufpassen.
»Um sechs Uhr bin ich wieder da«, sagte die Mutter für alle und war weg, noch ehe irgend einer fragen konnte, der Vater vor allem, obwohl er schon den Mund öffnete und ihn wahrscheinlich bloß aus Feigheit wieder schloß. Er liebte es nicht, das Kindermädchen zu machen, und hatte auch kein Talent dazu. Mit Rese unterhielt er sich recht gern eine Weile oder zwei, aber mit dem Jungen wußte er nichts anzufangen, Verdruß und Streit, doch das konnte Brigitte unmöglich gemeint haben. Vorlenz hätte sich diese Sorge ersparen können. Thomas hatte eine Aufgabe zu zeichnen und ließ sich durch ihn nicht stören. Er war ein musterhafter Schüler und Liebkind bei seinem Lehrer. »Ein sonderbarer Vogel, dieser Sohn«, sinnierte Vorlenz nicht zum erstenmal und geriet in ein Dickicht von Zweifeln hinein. »Wenn ich wirklich der Vater bin ...,« das ging zu weit, das durfte er sich selbst nicht bieten. »Was wenn?« fuhr er den Einfall an. »Ich weiß es doch. Das spürt man, ob schon einer da gewesen ist oder ob man der Erste war, das spürt man schon.« Er warf sich in die Brust wie jeder Mann, der von seiner Frau spricht. »Aber ein Mucker bin ich nie gewesen, bin schon auch in die Schule gegangen und hab gelernt, was einer muß, aber ...,« seine Blicke trieften vor Verachtung, »... so einer kann nur von der Mutter kommen, das ist ihre Marke, nicht die meine.«
Rese wollte unbedingt wissen, wie man tot ist.
»Wenn man nicht mehr lebt.«
»Und wann ist das?«
Vorlenz machte sich die Sache leicht:
»Bis man stirbt.«
Damit war Rese nicht zufrieden. Und so mußte er sich schon deutlicher ausquetschen, was ihm bei seiner Unbeholfenheit in diesen Dingen schwer fiel:
»Bis man keine Hand mehr heben, keinen Schritt mehr machen und keinen Bissen mehr essen kann, dann ist es aus, dann steht das Werkel still.«
Vorlenz war nicht geübt, mit Kindern zu reden, fand alles, was sie sagten, lächerlich, hielt alles, was sie fragten, für dumm und konnte auch als Vater keine Ausnahme gelten lassen. Er ist deshalb schon öfters mit Brigitte übers Kreuz gekommen, die da anderer Meinung war und hinter allem mehr sah, als er sehen wollte. Rese hatte noch eine brennende Sorge:
»Und wann kommt man in den Himmel?«
»Nachher«, schnauzte sie Vorlenz ohne Ursache ab und fühlte seine Lage ungemütlich werden.
»Aber du nicht«, petzte Thomas vom Tisch herüber.
»Warum nicht?« Vorlenz schmiß den Kopf herum, erhob sich langsam, ging auf den Knaben zu, blieb dicht an seiner Seite stehen und bückte sich drohend hinab.
»Weil ...,« Thomas verschlug es die Rede, »... weil es dort oben, ... weil es nur Wasser gibt, ... Regenwasser, und ...« Er verstummte ganz.
»Und?«
Ihre Gesichter standen Nasenspitze bei Nasenspitze.
»... weil du lieber Wein trinkst«, stotterte Thomas und schloß die Augen, um ihn nicht Angesicht vor Angesicht zu haben.
Vorlenz war so verblüfft, daß er sich gar nicht zu geben wußte. »Ist das ein Witz?« fragte er seinen Verstand. »Oder schon mehr? schon eine Frechheit?« Er konnte sich nicht entscheiden, schwankte zwischen Heiterkeit und Wut, hielt eine Ohrfeige für das beste und versäumte bloß den passenden Augenblick dazu. »Lausbub!« fuhr er den Jungen verspätet an, hatte das lästige Empfinden, sich doch nicht richtig benommen zu haben, fand das Vergnügen hier schon seit einer Stunde langweilig und ging fort, sagte kein Wort wohin, setzte den Hut auf, schlug die Türe zu und war weg. Rese zog ein Mäulchen und versuchte zu weinen. Thomas freute sich. Jetzt war er der Vater und spielte, ohne daß er es ahnte, die Mutter. Rese konnte sich wirklich nicht beklagen. Sie bekam alles, was sie wollte, nur die Zündhölzer nicht. Das war verboten.
Vorlenz holte sich Zigaretten. Sie wurden bloß auf Karten abgegeben, und er hatte noch den letzten Abschnitt gut. Er hätte nur auch Geld haben müssen. Die Trafikantin borgte ungern, aber in diesem Fall tat sie es doch. Vorlenz gefiel ihr. Da ist nichts zu sagen. Der Geschmack tut, was er will. Die Trafikantin war alt und häßlich und mochte eigentlich alle Männer, schon weil sie Männer waren und der eine, den sie ersehnte, darunter sein mußte. Vorlenz war überdies ein Held. Er hatte im Feuer gestanden, und das zählte doppelt bei ihr. Der Gedanke, einen Mann in ihren Armen zu halten, der den Tod gesehen hat, war ihr größtes Entzücken. Es blieb nur leider beim Gedanken. Vorlenz konnte sich nicht überwinden. Es war sonderbar, ist aber doch so und nicht anders gewesen. Er schäkerte bloß ein bißchen mit der alten Funsen, und das reichte in der Regel für die Zigaretten aus, wenn auch nur, um sie nicht gleich bezahlen zu müssen. Es kostete ihm schließlich nichts als eine Lüge und das wog niemals schwer bei ihm.
Es wurde finster und die Kinder kriegten es mit der Furcht. Die Flamme vor dem Muttergottesbild flackerte rot und leuchtete nicht. Eine Nacht ohne sie wäre weniger unheimlich gewesen. So aber geisterte es bald da, bald dort in plötzlichen Reflexen auf und ließ die Blicke nicht zur Ruhe kommen. Rese sah überall den schwarzen Mann, und Thomas hätte blind sein müssen, ihn nicht auch zu sehen.
Vorlenz stand auf der Straße herum und rauchte, lehnte im Hausflur und rauchte, hätte es auch daheim tun können und war doch lieber nicht zu Hause. Er wollte ihr schon zeigen, ihr, das war Brigitte, wollte er schon zeigen, daß man ihn nicht einfach auf die Seite legt wie einen abgenagten Knochen. Vorlenz hatte keine Phantasie oder nur so viel, als zwischen Kopf und Bauch Platz fand. Er war empört, aus ganzer Seele und mit vollem Recht. Sie, das war wiederum Brigitte, hätte ihn doch fragen können oder gleich beschimpfen oder sonst etwas tun. Aber dieses da, an ihm vorbei zu schauen und sich zu gebärden, als ob er ihr die Luft verpestete, das konnte er nicht leiden, das war eine Roheit und sollte ihr teuer zu stehen kommen. Er dachte an gewisse, sehr intime Angelegenheiten. Vorlenz entdeckte die naturgemäße Überlegenheit des Mannes und vergaß bloß, daß Brigitte keine Frau war, die nach ihm als Mann Verlangen trug.
Schlag sieben schlenderte er doch hinauf und zündete das Licht an. Die Kinder zitterten über den tausend Ängsten, die sie gepeinigt hatten, und waren froh, nun wieder in Sicherheit zu sein. Vorlenz empfand das Gegenteil. Er wurde immer klein und verzagt, wenn er bei sich zu Hause eintrat, und war an keinem Ort so unsicher und mutlos wie daheim. Er wollte nur schnell alle Schrecken aus dem Gesicht der Kinder verscheuchen und machte ihnen ein paar alte Späße vor, die so plump waren, daß sich auch Holzpuppen dabei geschüttelt hätten. Und so ist wirklich alles bald vergessen gewesen. Kinder sind wie Veilchen: Wenn es regnet, dann klappen sie zusammen und wollen auch gleich sterben; aber wenn die liebe Sonne wieder scheint, dann spreizen sie sich auf und lachen, als ob es nie geregnet hätte.
Brigitte brachte Brot und Eier mit. Es war eine Seltenheit, war ein Ereignis. Thomas bewunderte die schöne weiße Schale, und Rese konnte es kaum erwarten, den gelben Dotter zu sehen. Vorlenz war mit den Nüssen auch schon fertig und hätte ganz gern eine bescheidene Eierspeise gegessen. Aber es wurde nichts daraus. Brigitte sah nur die Kinder und hatte auch keine anderen Gedanken als die einer Mutter: »Willst du noch? Hast du genug? Kannst du nimmer?« Vorlenz fing in sich zu kochen an. Er knisterte förmlich vor aufgespeichertem Haß. Es gab sogar Tee mit Zucker. Brigitte stellte die Tassen auf, eine für Thomas, eine für Rese und noch eine. Vorlenz reckte sich schon. Aber es war nicht seine Tasse. Da ballte er die rechte Hand zur Faust und ... steckte sie gemächlich wieder in die Hosentasche. Er war schlapp, seit er sich mit einer Schuld belastet fühlte und sein eigener Dieb geworden war. Er hätte sich sonst diese Strafe nicht gefallen lassen. Die Kinder schlürften und machten jedesmal verzückt und selig: Aaa! Brigitte schenkte ihre Tassen immer wieder voll und war beglückt, weil es den Kleinen so gut schmeckte. Sie selber nippte bloß. Vorlenz hatte kaum Platz in seiner Haut, noch weniger an diesem Tisch und fast auch nicht im Zimmer, stand einmal da und einmal dort und überall sich selbst im Weg. »Was soll das? Und was will sie eigentlich von mir? Es muß doch einmal kommen, heute oder morgen, nein, nicht morgen, heute, jetzt, sofort.« Er ging auf Brigitte zu, räusperte sich, machte den Mund auf und hatte nichts zu sagen, kein Wort, kein einziges Wort war da zu sagen, solange sie den Mund geschlossen hielt und schwieg. Vorlenz packte ohnmächtiger Zorn, wirklich ein Zorn, der ohne Macht war und nach einer Tat suchte wie der Lahme nach dem Stock. Etwas mußte geschehen, irgend etwas. Er wollte ihr den heißen Tee in das Gesicht schütten, griff aber um den Sessel, hatte eigentlich das Messer auf dem Tisch gemeint und ließ den Sessel sein, ging auch am Tisch vorbei auf das ewige Licht zu, hob schon die Hand, um das verhaßte Bildnis dieser Mutter aller Mütter von der Wand zu reißen, und blies doch nur die Flamme aus, spuckte sie tot und keuchte:
»So, da hast du es!«
Seine Rache war kleinwinzig und lächerlich, dennoch stand er totenbleich daneben und ließ die Arme hängen, als hätten ihre Hände einen Mord begangen, einen grausamen, unbegreiflichen Mord.
Die Kinder freuten sich über den Spaß, denn dieser Ernst lag viel zu weit von ihrer Einfalt ab. Rese bewunderte den Vater immer schon und jetzt besonders. Er war stark und groß. Sie meinte: mächtig, aber das fiel ihr nicht ein. Rese hatte schon oft versucht, das Ding dort oben auszupusten, doch ihr Atem war zu kurz. Das Flämmchen wackelte kaum. Thomas hatte den Vater für böse gehalten und war herzlich froh, daß es nun anders gekommen war. Er kriegte vor jeder lauten Stimme Ohrensausen und verlor das Gleichgewicht, wenn er in eine Aufregung hineingeriet. Brigitte wurde von Mitleid und Empörung gleich stark ergriffen, ging in die Küche hinaus, um das Geschirr zu waschen, und weinte in das Schaff hinein, war schon seit einer Woche angefüllt mit diesen Tränen, konnte sie nicht mehr verhalten und weinte still, wie einer lächelt, der nicht lachen kann, so weinte sie. Vorlenz kroch in das Bett. Er hatte Hunger und wollte ihn verschlafen. Auch Thomas legte sich nieder. Rese bettelte ihn noch um eine lustige Geschichte an. Thomas erzählte gern, hatte den Kopf wie eine Kiste voll davon und log, was er nicht wußte, aus sich selbst zusammen. Er wäre freilich auf den Tod erschrocken, hätte man ihm gesagt, daß es nur Lügen waren. Thomas hörte tagtäglich so viel Neues von der Welt und sah auch nichts davon mit eigenen Augen, mußte immer nur glauben, was man ihm sagte, und verlangte nicht mehr bei seinen Geschichten. Hatte er schon den Krieg gesehen? Und doch gab es ihn. Hatte er schon einen Kanonenschuß gehört? Und doch wurde immerfort geschossen. Der Vater hat es mitgemacht, und die Mutter weiß es auch. Kein Wunder, wenn der Junge daraus den kindlichen Schluß zog: Alles, was man denken kann, ist auch irgendwo wirklich. Es mußte ja nicht gleich um die Ecke sein. Die Welt ist groß und wird schon Platz dafür haben. Und so erzählte Thomas seine Geschichten, als ob er selbst dabeigewesen wäre, und würde sich sehr gekränkt haben, wenn man ihn deshalb für einen Lügner gehalten hätte. Möglich, daß dieser Thomas Vorlenz noch einmal ein Dichter wird. Der Anfang war gemacht: Er glaubte an sich selbst. Und das ist wichtig. Rese war das beste Publikum. Sie zweifelte nie und nahm alles für wahr hin, was er sagte. Diesmal aber war es eine schlimme Geschichte.
Zwei Katzen fingen eine Maus, die eine von vorn und die andere von hinten. Und weil sie nicht einig wurden, wem die Maus gehörte, fraßen sie sie beide, die eine von vorn und die andere von hinten. Der Hunger war groß, aber die Maus war klein. Und weil die Katzen doch zu wenig damit hatten und schon im Fressen waren, fraßen sie sich selber auf, eine die andere, zuerst den Kopf und dann den Bauch und dann den Schwanz, bis nichts mehr da war, keine Katze und keine Maus. Es ging nicht ganz so schnell. Thomas erzählte geizig und legte jedes Wort wie einen Taler hin. Er wußte genau, was sich Katzen denken, wenn sie eine Maus verspeisen, wußte auch, was diese Maus sich dachte, solange sie noch denken konnte, und hörte auch dann nicht auf zu wissen, als weder Maus noch Katzen übrig waren. Rese gruselte gern, legte sich nur immer besser hin und schlief dort ein, wo sich die Katzenschwänze fraßen und wo die Geschichte ohnedies zu Ende war.
Der Vater schnarchte und sägte seinen Hunger klein und redete im Schlaf davon: »... nicht fett, ... schon unterspickt, ... aber nicht fett ...« Es war immer dasselbe, immer nur der Magen, was ihn bedrückte.
Brigitte wurde fertig mit dem Geschirr und mit den Tränen und ging nun auch zu Bett. Sie löschte die Lampe aus, erschrak über die ungewohnte Finsternis, suchte das Flämmchen vor dem Bild, hatte nichts vergessen, hatte bloß gehofft, daß er es wieder anzünden würde, er, der es ausblasen konnte. Es war nicht geschehen und Brigitte ließ es bleiben.
»Maria wird sich schon zu helfen wissen«, dachte sie und gab sich anderen Gedanken hin. »Ich weiß es. Alles. Was er getan hat, und was mit ihm geschehen ist. Aber ich darf nicht fragen, kann ihm nicht beistehen, kann ihm kein Geld geben und muß ihn hungern lassen, wenn wir nicht verhungern sollen. Vielleicht sieht sein Verstand doch ein, daß ein Mensch arbeiten muß, ... daß er längst arbeiten müßte ...« Brigitte war auf Sorgen gebettet und konnte nicht schlafen. Schmerzen peinigten sie. Der Rücken war wie ausgedörrt. Die Arme lagen schwer und tot, nur die Hände zitterten wie nasse Vögel, die ihr Nest nicht finden können. Die Füße liefen irre Wege in die Luft. Das Herz konnte nicht mit, holperte hintennach und blickte sich beständig um, ob keiner kommt, der helfen könnte. Er kam nicht. Er schlief und träumte vom Essen: »... schon unterspickt, aber nicht fett ...«
Es war geschehen. Vor dem Bild ragte das Flämmchen wie ein Schwurfinger auf und leuchtete sein ewiges Licht. Maria hatte sich geholfen. Brigitte fragte nicht, wie es gekommen ist, wollte gar nicht wissen, wer es getan hat. Es war, also ist ein Wunder geschehen, wenn schon nicht mit dem Licht, so doch mit dem, der es ausgeblasen hat.
Die Uhr setzte zum Schlagen an. »Schon sechs?« Brigitte eilte vom Zimmer in die Küche, von Handgriff zu Handgriff, hatte noch eine Menge zu tun und wurde kaum fertig damit. Sie bat die Nachbarin, sich um die Kinder zu kümmern, ihnen das Essen zu geben und aufzupassen, weil sie doch in die Arbeit mußte und der Mann ... Frau Grießner kannte diese Walze schon auswendig, und so konnte sich Brigitte ihre Worte sparen. Wand an Wand zu wohnen heißt Ohr bei Ohr leben. Da sind Geheimnisse nicht zu verbergen, da gibt es bald keine Mauer mehr, braucht es keinen Mund, der reden müßte; da wird alles offenbar, und wenn man es noch so versteckt hält.
»Er ist gestern auch nicht geblieben«, klatschte Frau Grießner und wäre vermutlich daran gestorben, wenn sie es verschwiegen hätte. Brigitte wunderte sich bloß, daß Thomas nichts gesagt hatte. Er war sonst anders. Aber sie dachte deshalb nicht schlechter von ihm. »Wahrscheinlich hat er nur vergessen und sagt es noch. Oder ...« auch das war möglich, »... er hat den Vater nicht verklagen wollen.« Und das gefiel ihr fast noch besser. Brigitte tummelte sich fort in die Fabrik, um wieder einen ganzen Arbeitstag zu haben, einen vollen Lohn zu kriegen, wieder einmal ein Stück Fleisch zu kaufen und eine Suppe zu kochen, eine gute, starke Suppe.
Thomas sprang gleich nach ihr aus dem Bett und machte sich bereit. Er war immer der Erste beim Schulhaus und mußte es sein. Er war Portier, machte den Lehrern das Tor auf, wenn sie kamen, und war überzeugt, daß sie anders draußen stehen und auf ihn warten müßten. Und das konnte er doch nicht zulassen. In der Welt des Kindes regieren eigene Begriffe. Wir dürfen wohl darüber lächeln, können es aber nicht ändern. Thomas verteidigte seine Stellung mit einem Pflichtgefühl, das kein anderer Junge mehr aufbrachte. Es gab nämlich noch einen zweiten, der es darauf abgesehen hatte. Er war älter und größer als Thomas, doch er war ohne Berufung, wollte kein Opfer bringen und verschlief sich fast alle Tage. Thomas wünschte ihm den besten Schlaf und verrichtete sein Amt mit einer Würde, die ihn kasperlig machte. Aber das ist wahrscheinlich auch nur so eine Anmaßung von uns Erwachsenen, um den Schein zu wahren, von dem wir leben, und nicht sagen zu müssen, daß alles bloß ein Spiel ist, was wir treiben, ein gutes oder ein schlechtes und nur ganz selten auch einmal ein lustiges. Thomas wußte von jedem Lehrer, wo er wohnte, von welcher Seite und um wieviel Uhr er anmarschierte, und war schrecklich aufgeregt, wenn einer früher kam, der später kommen sollte. Alle hatten ihn gern und jeder fand ein liebes Wort für ihn. Er war hübsch, und das gefällt; er war bescheiden, und das wirkt; er war besessen, und das machte ihn köstlich. Er ließ sich liebkosen und schmunzelte kaum aus Hochachtung und Dienstbeflissenheit. Thomas war Portier, und das ist doch ein ernstes, würdiges Geschäft.
Auch Rese wollte nimmer im Bett bleiben. Es war ihr zu fad, und das konnte Vorlenz begreifen, schon weil es ihm besser paßte. Die Krankheit war vorüber und ist seiner Meinung nach das übertriebene Getue niemals wert gewesen. Er hatte schon andere, viel schwerere Dinge gehabt und ist nicht daran gestorben. Das war richtig, ohne deshalb recht zu sein. Vorlenz wusch sich, fand ein Stück Brot vor, machte Tee und frühstückte, als ob das immer so gewesen wäre. Vielleicht war es auch so gemeint. Brigitte hielt die Sachen nicht versperrt, und das fiel auf, wenn einer Augen dafür hatte. Vorlenz dachte kaum darüber nach, nahm, was er fand, und ließ es sich schmecken. Dann setzte er den Hut auf, zündete sich eine Zigarette an, schaute zufällig auf das Flämmchen vor dem Bild und lachte belustigt auf. Rese wußte nicht warum, rief aber doch im selben Augenblick verwundert aus:
»Vater, das Licht brennt!«
»Kein Wunder, wenn man es anzündet«, schmunzelte Vorlenz und steckte das Kind zur Nachbarin hinüber. »Ich habe einen Posten in Aussicht und muß mich umtun«, log er dort und machte sich patzig. Frau Grießner nickte nur beiläufig und dachte sich ihr Teil. »Den Posten kenn ich. Er fängt im Wirtshaus an und hört beim Branntweiner auf.« Vorlenz hatte einen schlechten Leumund. Es störte ihn aber nicht weiter. Er ließ die Leute reden und hörte bloß auf das, was ihm Vergnügen machte.
Rese ging recht gern zur Nachbarin hinüber. Frau Grießner war Stickerin und hatte immer eine Menge Seidenfäden, rote und grüne, blaue, gelbe, weiße. Rese knüpfte sie kunterbunt aneinander und machte einen langen, närrischen Faden daraus, der von der Türe bis zum Fenster reichte und bald eine Brücke, bald eine Wiese war.
Vorlenz ging es entschlossen an. Er hatte wohl gefrühstückt, aber noch lange nicht gegessen. Er brauchte Geld, mußte verdienen, und wenn er Schnee schaufeln müßte. Es war nach dem Kalender noch recht weit dahin und deshalb ungefährlich. Vorlenz hatte seit dem Ereignis – er deutete den Tag auch vor sich selber immer nur ungefähr an – weder Bier noch Wein getrunken, war demnach auch durstig, und das quälte ihn am meisten, das mußte anders werden, wenn er sich nicht aufhängen sollte. Er hatte dem Schicksal schon damit gedroht. Es war ein guter verläßlicher Strick. Man darf wohl auch das nicht ernster nehmen, als es gemeint war. Vorlenz flunkerte gern und hätte sich schön dafür bedankt, sein Wort zu halten. Er lebte schlecht, doch er lebte, und das schien ihm vor allem wichtig. »Arbeit wird sich finden«, dachte er und hatte sie auch schon gefunden.
Dicht vor dem Volkstheater rollte ein Rad an ihm vorbei, nichts als ein Rad auf weichem Gummireifen und mit blanken Nickelspeichen. Vorlenz stutzte erst, schoß ihm dann nach und fing es ein. Das Rad war einem Automobil davongelaufen. Der Wagen stand in der Straßenmitte. Der Chauffeur sprang ab. Im Kupee aber saß eine junge, reizende Dame, steckte den Kopf aus dem Fenster und war so erregt, daß sie die Türe gar nicht finden konnte. Vorlenz kam auch ihr zu Hilfe, riß den Schlag auf, zog den Hut, verbeugte sich und lächelte. Die Dame war ein Fräulein, und er hatte Fräulein gern. Es war ein Glück, da helfen zu können. Und er half den Wagen heben und das Rad anstecken, half die Nabe suchen und den Schraubenschlüssel finden, half besonders dann der jungen Dame wieder in den Wagen steigen und tat beschämt, als er ein Trinkgeld kriegte, überwand sich aber doch und murmelte ein »Oh!« zum Dank und auch ein bißchen anderes. Der Wagen rollte ab. Das Fräulein winkte noch einmal zum Spaß. Und Vorlenz fühlte sich verlassen. Es war toll. Er konnte wirklich glauben ... Nein, er konnte nicht, es hätte sonst kein Trinkgeld gegeben.
Vorlenz ging in das nächste Wirtshaus, setzte sich an den nächsten Tisch und saß einer Überraschung gegenüber, die um nichts geringer war als die seine. Der Flickschuster Böhm, ein Mann aus seinem Zug, war von der Front auf Urlaub gekommen und begrüßte ihn mit einem lauten:
»Servus, Pane Korporal!«
Das konnte kein Zufall sein. Das war Bestimmung. Vorlenz hatte diesen Böhm nie leiden mögen und ihn oft gehunzt, ihm seine Stiefel an den Kopf geworfen und zwei Tage Hausarrest verschafft, weil er ein Schwein war und kein Soldat. Aber das mußte längst vergessen sein, denn der Flickschuster grinste wie der Vollmond, wenn er sich in klarem Wasser spiegelt.
»Servus!« salutierte Vorlenz nachlässig zurück und spielte den großen General, der sich auf Kriegsdauer gemein macht, aber doch bis in die Fingerspitzen ein General bleibt. Erinnerungen wurden ausgetauscht. Sie sind der beste Kitt, um eine schadhafte Bekanntschaft zu reparieren.
»Weißt du noch ...?«
Wer hätte das vergessen können? Es war ein Stück Leben, und das bleibt lebendig, auch wenn es vergangen ist. Vorlenz hatte noch Glück gehabt. Sein Zug ist völlig aufgerieben worden. Der Schuster war der einzige überlebende Rest. Er hat sich beim Angriff mehr nach hinten gehalten und so dem Vaterland einen Soldaten gerettet. Die große Silberne war der gerechte Lohn für diese Tat.
»Bin auch zum Gefreiten eingegeben«, schloß der Held und blähte schon den Hals, um für den einen Stern, der ihm – weiß Gott! – vom Himmel auf den Kopf gefallen ist, genügend Platz zu haben. »In drei Tagen geht es wieder los«, prahlte er und schwenkte sein Glas. »Direktion Italien!«
Das hatte sich Vorlenz auch einmal gewünscht. Das wäre ein Wildbret für ihn gewesen. Die Russen kannte er nicht, hatte nie von ihnen gehört und wirklich ohne jedes Ziel in sie hineingeschossen; aber gegen Italien, das lag ihm als einem guten Österreicher schon im Blut und gärte von ehedem.
Sie tranken, redeten und tranken. Der Schuster hatte Geld. Vorlenz war flau und drückte sich beim Zahlen, konnte trotzdem nicht anders, war ein Korporal und konnte diesem Gemeinen gegenüber unmöglich anders, lud ihn für den Abend in das ewige Leben und begriff erst nachher, was er für ein Narr damit gewesen ist. An einen redlichen Verdienst war nicht zu denken. Das hatte er schon aufgegeben. Blieb nur eine Requirierung, und wenn es bei ihm selber sein mußte. Die Ehre stand auf dem Spiel, und da gab es keinen Pardon. Vorlenz war durch die Begegnung wieder ein Soldat geworden und konnte nur militärisch fühlen, nur dienstlich handeln. Er hatte sich einen Befehl gegeben und mußte gehorchen. Ein Korporal hatte befohlen. Einwände gab es nicht. Hindernisse mußten genommen, Rücksichten niedergetreten werden. Bajonett auf! Marsch!
Er war auch da ein schlechter Kämpfer und ließ sich Zeit, schlenderte auf künstlichen Umwegen nach Hause, lungerte beim Tor herum und verhinderte sich mit Absicht von Weile zu Weile. Es dämmerte schon, als er oben eintrat und in die erste Verlegenheit geriet. Thomas und Rese saßen auf einem Schemel beim Fenster. Er las in der Fibel und sie hörte zu. Es war eine Idylle. Vorlenz empfand das nur so allgemein, ohne dieses Wort zu kennen, und fühlte sich in seinen Absichten gestört, wäre lieber in einen Streit hineingekommen und provozierte ihn:
»Wirst dir noch die Augen verderben mit dem Gefasel!«
»Wir dürfen kein Licht machen«, erwiderte Thomas und las weiter. Rese rückte näher an den Bruder heran, als ob ihm das helfen könnte.
Vorlenz ging ärgerlich im Zimmer hin und her, hatte den Hut noch auf dem Kopf und die Hände in den Manteltaschen stecken, ging breitspurig und wackelig, stieß an den Tisch und stieß von ungefähr auch an die Pendeluhr. Sie blieb beleidigt stehen, und das hatte er gewollt. Die Kinder merkten nichts. Thomas kroch mit der Nase in der Fibel um und sah schon wirklich nimmer. Rese wurde ungeduldig.
»Licht machen!« bat sie, ohne eigentlich zu bitten.
»Wie spät ist es?« fragte der Vater, obwohl das gar keine Beziehung zu der Sache hatte, nur die Finsternis und nicht die Stunde anging.
»Die Uhr steht«, schrien die Kinder gleichzeitig auf und waren paff, als müßten nun auch ihre Herzen stehenbleiben. Vorlenz trat näher hin und konnte auch nichts anderes sagen, legte Hut und Mantel ab, hob die Uhr vom Haken und bastelte daran herum, immer sorgfältig darauf bedacht, nichts zu verderben oder sie am Ende gar in Gang zu bringen. Die Kinder schauten sich die Augen heraus und wollten von jeder Schraube wissen, wozu sie gehörte und warum sie da und nicht dort war. Rese wunderte sich vor allem über die Räder, weil sie Zähne hatten und doch nichts zu beißen kriegten. Thomas machte Licht. Es war verboten. Aber es ging um die Uhr, und da hätte es die Mutter auch erlaubt. Vorlenz stocherte und schraubte eine Viertelstunde lang mit aller Vorsicht in dem Werk, ehe er sich zu sagen getraute:
»Wird zum Uhrmacher müssen.«
Er war ganz traurig, und so wurden es die Kinder auch. Jetzt wäre der beste Augenblick gewesen, die Uhr an sich zu nehmen und fortzutragen. Aber die Hände wollten nicht anpacken und die Beine nicht gehen. Es war unbegreiflich, doch es war so. Vorlenz hätte sich an die Wand stellen und erschießen lassen wollen. Aber es war niemand da, der geschossen hätte. Und so machte er sich und den Kindern einen Wurstel vor, suchte, was er nicht zu finden wünschte, probierte alles mögliche, nur nicht das Richtige, und wartete bloß, bis ihm der Mut kam, ein Dieb zu werden, um ein Ehrenmann bleiben zu können. Er war sehr geschickt, und wenn die Uhr auch noch so wollte, sie konnte nicht gehen.
»Wahrscheinlich ist sie krank«, meinte Rese mit Bedauern und dachte an ihre Schafblattern dabei. Thomas hatte noch eine Rechenaufgabe zu schreiben und ließ den Vater sitzen und die Uhr stehen. Es war schon spät geworden. »Fast schon zu spät«, stieß sich Vorlenz und legte das Werkzeug weg, zog den Mantel wieder an, setzte den Hut auf, stand unschlüssig da und ließ wieder einige Weilen vergehen, ehe er so weit war.
»Muß zum Uhrmacher«, würgte er dann gegen Thomas hin widerspenstig aus der Gurgel, wartete auf eine Antwort, bekam keine, brummte etwas und stahl sich fort, die Uhr wie einen Kindersarg unter dem Arm und den Hut tiefer in die Stirn gedrückt.
Rese fand alles an ihm gut. Thomas legte den Bleistift weg, starrte auf den leeren Fleck an der Wand und verspürte plötzlich einen Drang, dem Vater nachzulaufen und die Uhr ... Ja, was denn? Ihm die Uhr wegzunehmen? Das lag nicht in seiner Kraft. Mit ihm zu gehen? Das hätte der Vater kaum geduldet. Und warum auch? Ja, warum denn? Thomas wußte selber nicht, was er eigentlich wollte, und da fiel ihm die Mutter ein. »Sie wird es schon machen«, sagte er laut und mußte doch an etwas ganz Bestimmtes denken.
Vorlenz hatte Pech. Frau Grießner stand im ersten Stockwerk unten und tratschte mit der Hausbesorgerin. Das war gefährlich. Und Vorlenz flüchtete auf die Bodenstiege hinauf, wartete dort, hatte keine Zeit zu verlieren und mußte zusehen, wie sie verging. Es nahm kein Ende. Die Frauen hatten einander so viel zu sagen, als hätte sich die Welt seit gestern zehnmal gedreht und alles durcheinandergebracht. Vorlenz verwünschte seine Schlappheit, die allein an diesem Mißgeschick schuld war, fluchte den gluckenden Weibern unten und war schon nahe daran, ihnen die Uhr auf den Schädel zu schmeißen. Aber das hätte mit der Uhr auch den Zweck der ganzen Sache verdorben. Im ewigen Leben gab es nur auf gute Ware Kredit. Die Pendeluhr war immerhin ein bürgerliches Nachtmahl mit Suppe, Braten und Kompott, Bier oder Wein und einem süßen Zubiß wert. Er dachte sogar an einen echten Gumpoldskirchner und fühlte ihn schon süffig auf der Zunge prickeln. Es war herrlich. Doch er mußte sich gedulden, er, der die Ungeduld selber war, mußte Minute auf Minute zuwarten, durfte sich nicht rühren, durfte nicht einmal husten und hatte ein Kratzen in der Kehle, als hätte er Drahtbürsten verschlungen. Es mochte eine halbe Stunde oder mehr vergangen sein. Dann wurde es still. Die Hausbesorgerin stapfte nach unten, Frau Grießner stieg nach oben. Jetzt knarrte ihr Schloß. Und jetzt war die Bahn frei. Vorlenz nahm die Uhr zärtlich in seine Arme und schlich auf den Zehenspitzen hinab. Die Nachbarin hatte nichts gehört, sie war wohl in der Küche, hatte aber doch nichts gehört. Vorlenz frohlockte. Dann kam die eigene Türe. Und da gab es ihm einen Riß, als tupfte ihn wer auf die Schultern. Vorlenz hielt erschrocken an und sah sich um. Es war niemand, kein Mensch, also auch keine Hand. Er beeilte sich trotzdem. Die Stiege war leer. Nur der Affi vom Hausherrn, ein kleines, wuschelhaariges Köterchen, sprang ihm gehässig entgegen und kläffte. Sie mochten einander nicht, er und das Hündchen. Vorlenz versetzte ihm auch heute wieder einen heimlichen Tritt in den Hintern und hätte es nicht tun sollen. Der Uhrkasten klappte auf und wedelte mit der Türe, als könnte das den Affi versöhnen. Vorlenz war wütend. Er mußte die Uhr niederstellen und die Sache wiederum in Ordnung bringen. Es ging nicht gleich. Er war nervös und die Türe eigensinnig. Sie schnappte nicht ein, wollte offenkundig nicht und trieb es arg. Vorlenz kniete sich hin und ... Da kam Brigitte die Stiege herauf. Sie erriet mit einem Blick, was geplant war, prallte im ersten Entsetzen zurück und mußte sich am Geländer festhalten, um ihr Gleichgewicht zu finden. Vorlenz erhob sich entmutigt und sagte mit einer Stimme, die weder Flügel noch Füße hatte, sondern auf dem Bauch zu kriechen schien:
»Muß zum Uhrmacher.«
Sein Gesicht zerrann in ein garstiges Grinsen.
»Aber nicht heute«, faßte sich Brigitte schnell und vertrat ihm den Weg. Das war Kampf und forderte heraus. Vorlenz stellte sich. Er durfte nicht zurück, wenn er ein Mann sein und siegen wollte. Und er mußte doch, über sie und alles weg, was immer kam, er mußte fort und die Uhr mit ihm. Brigitte wich nicht, breitete die Arme aus und sperrte die Stiege ab. Vorlenz zuckte höhnisch mit den Achseln, barg die Uhr kostbar an seiner Brust, als müßte er sie vor Brigitte schützen, schritt gegen sie an und warnte lächelnd:
»Platz ... oder es gibt Scherben!«
Brigitte ging es um den Menschen, nicht um das Ding. Mochte es hin sein! Wenn nur er gerettet wurde. Und sie flehte mit Blicken, mit Worten und mit Händen:
»Tu's nicht, Johann!«
Das war nun wieder dieser Stachel aus der Dornenkrone, der sich brennend in sein Herz bohrte und es schmerzen machte, war wieder dieses gemarterte Heiligengesicht, vor dem er nicht bestehen konnte und das Zittern in den Knien kriegte, war wieder jene Stimme aus der anderen Welt, die ihm gestohlen werden konnte, wenn er nicht selbst ein Dieb gewesen wäre. Aber diesmal sollte sie ihn nicht kleinmütig machen, diesmal stand er fest auf seinen Beinen und war nicht bloß ihr Mann, sondern der Korporal Vorlenz, der sein Wort gegeben hat, sein Ehrenwort, und es halten wird, was auch geschehen muß.
»Laß mich!« pfauchte er in aufspringender Wut, knirschte mit den Zähnen und hob die Uhr wie einen Stein zum Wurf und hielt sie doch als einen Schatz umklammert, der ihm fast sein Leben galt. Brigitte fürchtete sich nicht. Sie wußte, daß er feige war und daß ein Dieb nicht von der Beute läßt, wenn er sie halten kann.
Da klinkte im ersten Stockwerk oben eine Türe auf und knackste vornehm wieder in das Schloß zurück. Herr Stein kam über die Stiege herab, hielt vor den beiden an, setzte eine Zigarre in Brand, ist gewiß nur deshalb stehen geblieben und machte doch eine Höflichkeit daraus. Brigitte grüßte verwirrt und trat zur Seite. Vorlenz konnte kaum anders.
»Bitte!« deutete Herr Stein mit jovialer Geste und ließ die beiden an sich vorbei über die Stiege hinauf. Brigitte dankte mit einem jäh von Tränen überschwemmten Blick. Ihr war gewiß, daß dieser Mensch in diesem Augenblick nicht bloß ein Mensch war, sondern ein Engel, den ihr Gott in höchster Not gesendet hat, um sie vor einem Unglück zu bewahren, ein leibhaftiger Engel, auch wenn er ein Jude war und Salomon Stein hieß. Vorlenz bedachte ihn mit anderen Titeln. Aber das verübte der Haß, und die Wahrheit steckt immer nur in der Liebe.
Die Uhr wurde wiederum an ihren Platz gehängt und aufgezogen. Sie schlug freudiger und heller, schlug wie das Herz eines Delinquenten, der schon unter dem Galgen stand und noch im letzten Augenblick begnadigt wurde.
»Hat doch keine Blattern bekommen«, sagte Rese und bedauerte es fast. Sie hätte die Uhr gern in das Bett gelegt, ihr Umschläge gemacht und sie schwitzen lassen. Thomas erlebte, ohne sagen zu können warum, einen Triumph, der zwischen Gerechtigkeit und Schadenfreude ungewiß schwankte. Brigitte fühlte ein Schweres leichter und ein Gutes schlechter werden. Das Schwere war die Angst. Sie wußte längst, daß Vorlenz alles Geld hinausgeworfen hatte und daß er seit jenem Tag mit dem Gedanken umging, sich auf jede Weise wieder Geld zu verschaffen. Das Ende war der Diebstahl im eigenen Haus. Er ist nicht gelungen. Damit war es vorbei. Das wurde ohne sichere Gründe klar, man kann nicht erklären wie. Das Gute war ihre Liebe oder doch jene Zuneigung, die sie als Frau dem Manne gegenüber hatte, der schließlich auch ihr Mann geworden ist. Er verdiente keine Liebe. Er gab nichts dafür. Sein Herz gehörte ihm selbst. Es hatte nicht einmal Freunde und geizte mit jedem Schlag. Es kannte wohl auch keinen richtigen Haß, konnte nur aufbrausen und poltern, legte sich aber gleich wieder hin und schlummerte sein Leben fort wie ein fetter Fisch, der selbst im beweglichen Wasser auf einem Fleck steht und wartet, bis ihm das Fressen zugeschwommen kommt.
Vorlenz begriff nicht, daß er weiterlebte, daß er sich nicht mit dem Hosenriemen erhängte, daß er nicht ein Messer nahm und sich den Hals absägte, daß er wirklich weiterleben wollte und sogar noch Hunger hatte. Brigitte kochte. Es gab einen mageren Sterz mit gerösteter Pferdeniere. Der Sterz war gut, aber die Niere roch nach Stall. Thomas rümpfte die Nase und Rese hatte auch sehr bald genug. Brigitte ist der Appetit vergangen. Und so war es noch ein Glück, daß Vorlenz diesen Hunger hatte. Er tat anfangs wohl ein bißchen herum, als ob er damit nur ein Opfer brächte, widersprach sich gleich darauf mit jedem Löffel voll und schmatzte schon nach einer Weile, daß es den anderen grauste. Kein Bröselchen Sterz und kein Tüpfelchen Niere blieb zurück. Vorlenz legte Messer und Gabel weg, rückte den Teller fort, wischte sich den Mund ab und sagte gegen Brigitte hin, die gar nicht wußte, wie sie es aufnehmen sollte:
»Danke schön.«
Das war neu und brachte sie in Unordnung, kurbelte ihr Herz an und machte es laufen, ihm zu oder sich selbst davon, es ist nicht klar geworden, und so blieb auch Brigitte stehen, nickte nur und lächelte steinern. So einfach war es nicht, daß alles gut wurde, bloß weil er sich satt gegessen hatte; so einfach durfte das nicht sein. Er sollte nur auch den Mut und die Worte finden und sagen, was da seit dem Ereignis verschwiegen wurde und beide auseinander brachte, je länger es dauerte, desto weiter auseinander. Vorlenz schien dicht davor zu stehen, strich um Brigitte herum, faßte sich dann doch und fragte auf das Geratewohl:
»Kannst du mir Geld geben? oder borgen? ... Ein Kriegskamerad ist von der Front gekommen, und da möchte ich ...«
Brigitte blickte auf, blickte ihn an, hob nur die Wimpern und hielt ihm die Augen wie einen Spiegel hin, und Vorlenz wollte schon nicht mehr. Er wurde klein und schwach. Er wußte nicht, was tun, konnte unmöglich fort und wollte doch nicht bleiben, flüchtete vor sich selbst, kroch in das Bett und sah nicht bloß aus wie ein Hund, den man geprügelt hat, er war es auch. Mochte der Flickschuster warten und auf ihn schimpfen! Das galt ihm gleich. Es hat dem Herrn Korporal eben nicht gefallen, sich gemein zu machen. Das war alles und wog nicht viel. Aber das andere ... Vorlenz war ein Weichling wie jeder miserable Kerl. Er hielt die Menschen allgemein für dickhäutige Elefanten und ging selber ohne Haut herum. Man hätte schon deshalb zarter und rücksichtsvoller mit ihm sein müssen, meinte er und fühlte sich von allen mißhandelt, von Brigitte besonders, die überhaupt kein Verständnis für ihn hatte. Er verdiente Mitleid, schon weil er der unglückliche Johann Vorlenz war und nicht der oder jener sein konnte, dem es besser anschlug. Es gab ringsherum eine Menge Leute, die sich als Beispiel hiefür aufdrängten, gab vor allem diesen Salomon Stein, der auch nur zwei Hände hatte, um sie in die Tasche zu stecken und mit dem Geld zu klimpern. Vorlenz besaß die verfluchte Gabe vieler Menschen, bei den anderen immer nur das Gute und Schöne zu bemerken und bei sich selber dafür blind zu sein. Es wurde ihm leichter gemacht als sonst einem, das muß man gestehen. Er ist aber immerhin lebendig aus dem Krieg zurückgekommen, während viele Tausende draußen geblieben sind; er hatte immerhin noch seinen Fuß und konnte gehen, während andere ohne Arme und ohne Beine in den Spitälern lagen und zeitlebens Krüppel waren; er konnte immerhin arbeiten und brauchte nicht zu betteln. Also da fing es schon an, sich nach der falschen Seite zu drehen. Er war kein Bettler. Das stimmte ungefähr. Aber hatte er nicht gestohlen? stehlen müssen? Ist er nicht sein eigener Dieb geworden? Und kann es Ärgeres geben? Die Uhr hing wohl noch an der Wand, doch das war kaum sein Verdienst, das ist Brigitte zu danken, oder, wenn man es genauer nahm, dem Juden Stein, vielleicht sogar ... Vorlenz weigerte sich, den Faden weiter abzuwickeln. Er hatte genug davon, mehr als genug. Es drückte und würgte ihn. Er wollte nicht bereuen und schon gar nicht Buße tun. Er wollte lustig sein und lachen, sich auslachen, weil er so dumm gewesen ist, so lächerlich dumm. Aber es erdrückte und erwürgte ihn beinahe, war ein Panzer, der seine Brust abschnürte und ihn nicht atmen ließ. Er schnappte nach Luft, schluckte Speichel und ... – das war doch wirklich toll, einfach toll! – ... und weinte, kriegte die Augen naß, hatte die Tränen rinnen und weinte ...
Brigitte lag neben ihm und schlief. Er horchte hinüber. Sie rührte sich nicht. Vorlenz fand das ungerecht. Er wälzte sich herum, und sie schlief. Da war etwas nicht in Ordnung und verstimmte ihn. Er wischte seine Tränen weg und dachte erbittert, als ob das wirklich eine Rache für die Frau daneben sein könnte: Sie soll nicht sehen, daß ich geweint habe. Im Grunde seiner Seele war ihm aber leid darum. Brigitte schlief nicht, lag nur still und hielt die Lider geschlossen, weil sie diesen Menschen neben sich nicht sehen wollte und weil es ohnedies finster war. Sie ist seiner müde geworden, nicht überdrüssig, das wäre anders und könnte schlimmer gedeutet werden. Er war ihre Last. Sie hatte ihn Jahr um Jahr ertragen, hatte ihn mitgeschleppt, konnte nun nimmer weiter, ist müde geworden und mußte ihn bleiben lassen, wo er gerade war, auch wenn er zurückblieb. Vorlenz warf sich auf die andere Seite, atmete tiefer und tiefer, murmelte unverständliches Zeug und fuhr dann jählings auf, als wäre er wirklich nur im Schlaf erschrocken. Brigitte ließ sich täuschen, drehte ihm das Gesicht zu und fragte mit angstvoller Stimme:
»Was gibt's denn?«
Da öffneten sich seine Lippen und sagten ohne eigentlichen Auftrag:
»Ich möchte fort ... an die Front ... nach Italien ... und nimmer kommen ... überhaupt nimmer!«
Brigitte hörte wohl, was er da sprach, dachte sich aber kaum etwas dabei. Ihre Ohren waren nicht zu schließen, doch ihr Herz war geschlossen. Mochte er hingehen, wo es ihm gefiel ... fort ... nach Italien ... und nimmer kommen! Ihr war es gleich. Sie wendete sich ab, vergrub den Kopf in ihre Polster und hätte sich eher die Augen ausgekratzt, als ihm gezeigt, daß sie feucht wurden und überliefen.
Es geschah zum erstenmal in ihrem Leben, daß Brigitte ohne Mitleid war und hart wurde.
In dieser Zeit begann ein neuer Krieg, der zehnte oder zwölfte. Man zählte gar nicht mehr, las in der Zeitung, was es an frischen Lügen gab, und fügte sich, weil auch die Wahrheit nichts geholfen hätte. Eine große Offensive sollte vorbereitet und der Feind vernichtet werden. Die Männer wurden noch einmal gesiebt, ... zum zehnten oder zwölften Mal. Man zählte gar nicht mehr. Es war beinahe schon langweilig geworden. Auch der Tod verliert an Ansehen, wenn er durch Jahre täglich den Massenmörder spielt. Bloß das eine wurde nicht begriffen: Waren denn überhaupt noch Männer da? und einer ganz darunter? Mißverstand des Unverständigen! Man brauchte doch nur nachsichtiger zu sein und auch die halben für ganz zu nehmen, dann gab es immer noch eine Million tapferer Krieger, um sie dem Sieg zu weihen, der doch einmal kommen mußte, ... fragt sich nur zu wem.
Vorlenz hinkte zur Kommission, wie einer sonst Besuch macht. Er war seiner Sache sicher. Das Bein schmerzte hundsföttisch, wenn man ihn fragte, und hineinschauen konnte doch keiner. Man mußte ihm also glauben. Er konnte nicht gehen und nicht stehen, vom Marschieren gar nicht zu reden. Das mußte jeder einsehen, der nicht gerade blind war, nur der Oberstabsarzt sah es nicht. Er schickte Vorlenz zur Konstatierung in ein Spital, und damit begann die Angelegenheit auch schon zu stinken. Vor der Kommission war jeder Mann ein Mensch, der zu Gericht kam, um sein Urteil zu erhalten; bei der Konstatierung war jedermann ein Schwindler. Der Arzt hatte bloß den Auftrag, ihn als einen solchen zu entlarven. Vorlenz wurde auf eine Woche interniert, mußte täglich zur Untersuchung, schlüpfte geschickt durch alle Fallen, ohne sich zu fangen, wurde bald heiß, dann wieder kalt mißhandelt, litt die Martern elektrischer Schläge, wurde mit Nadeln gestochen und geritzt, wurde barbarisch aus dem Schlaf geschreckt und war doch nicht zu überraschen, hielt in allem den Kopf oben und hinkte unten und hatte schon die besten Aussichten, morgen frei zu gehen. Da kam die lächerliche Geschichte mit der Küchenordonnanz. Sie war erkrankt. Man munkelte sogar von Typhus. Dennoch war der Posten umworben wie selten einer. Vorlenz scherwenzelte für den letzten Tag darum. Morgen war er doch schon zivil, und das entschied für ihn. Der Koch hätte am liebsten täglich einen anderen genommen. Es hatte seine triftigen Gründe, und sie waren an den Fingern herzuzählen, aber Vorlenz kümmerte sich nicht um diese Dinge. Er war Korporal und Ordonnanz in einem, schleppte schwere Wasserkübel und hinkte fleißig. Er schämte sich nicht, wie ein gemeiner Mann dem Koch, der nichts als Koch war, das Holz zu hacken, für ihn die Küche aufzuwaschen und dabei zu hinken. Vorlenz kannte keine Scham. Es gab Krautfleisch, und das hatte er zum Fressen gern. Der Koch war eine noble Natur. Er hob zwei große Schöpfer voll aus dem Kessel und fischte noch ein extra fettes Stück dazu. Vorlenz rann das Wasser aus den Mundwinkeln, und er setzte sich schon lüstern hin, zückte die Gabel und schwang das Messer ... Da kriegte der Koch einen plötzlichen Durst und schickte ihn um Bier. Das war nicht schön von ihm. Aber hätte sich Vorlenz weigern sollen? oder können? Er war ein Korporal. Das ist richtig. Doch er hatte sich freiwillig zur Ordonnanz gemacht. Und das entschied hier. Er lief also, was er laufen konnte, vergaß in der Eile, daß er doch zu hinken hatte, und lief wie besessen, weil ihm nichts so zuwider war als kaltes Krautfleisch extrafett. Der Doktor stand im Hof und rauchte vor der Nachtvisite noch eine Zigarette. Er stand im Dunkel einer windgeschützten Ecke dicht neben der Tür. Vorlenz flitzte an ihm vorbei und wurde abgeschnappt.
»Hab ich dich nun, du Gauner?« lachte der Doktor und assentierte ihn auch gleich: »Tauglich! Morgen um sechs zur Kompagnie! Und dann adieu!«
Vorlenz riß sich zusammen, salutierte stramm, holte das Bier und kam gesund zurück. Aber das Krautfleisch hatte seinen Geschmack verloren, wahrscheinlich weil es kalt geworden ist und überhaupt.
Brigitte wähnte sich an allem schuldig. Sie hatte gewünscht, was nun geschah. Sie ist ohne Mitleid hart gewesen und war es noch. Sie konnte Vorlenz nicht um Verzeihung bitten, brachte kein Wort des Trostes für ihn heraus und hatte, was auch kam, nur ein Gefühl sittlicher Befriedigung. Es mochte unbarmherzig sein, aber sie konnte ihn nicht bedauern. Vorlenz trug es übrigens leichter, als sie befürchtet hatte. Er ließ das verlogene Hinken sein, reckte sich ehrlich auf und war mit einem Schlag wiederum der Korporal von ehedem. Brigitte gab ihm Geld. Er sollte nicht meinen, daß sie geizig war und alles nur deswegen geschehen ist. Vorlenz rückte zur Kompagnie ein und ging schon nach drei Tagen ab ins Feld gegen Italien. Er freute sich geradezu und schwärmte den Kindern vor:
»Dort gibt es keinen Winter. Dort ist immer Sommer. Dort wachsen Orangen und Feigen. Dort gehen die reichen Leute hin, wenn sie es schöner haben wollen als bei uns. Dort ... Dort ... Und dort ...«
Vorlenz war kein Erzähler und spie alles, was er wußte, aus wie Kerne, nur daß die Kirschen fehlten. Es war auch kaum richtig, was er sich zusammenreimte. Die erste, aber gründliche Enttäuschung steckte schon im Tornister: Es war eine dicke, unbegreifliche Wollweste, wie man sie kaum wärmer für die Russen oben kriegte, – waren plumpe Fäustlinge, die aus den Händen ganze Schaufeln machten, – war eine gestrickte Haube mit riesigen Ohrschützern dran, – lauter überflüssige, unbegreifliche Dinge, die genau so taten, als ob Italien am Nordpol läge, wo doch jedes Kind schon in der Schule lernt, daß Feigen und Orangen nur in der wärmsten Sonne gedeihen und deshalb so süß sind. Es war zum Lachen, aber es lachte keiner. Vorlenz erfuhr sehr bald warum. Er kam auf die Marmolata, einen Berg, so hoch, daß er beinahe schon ein Loch in den Himmel stieß, und so voller Schnee, daß selbst der Sommer zum Winter wurde und wer dort oben leben mußte, besser ein Eisbär als ein Mensch gewesen wäre. Auch sonst war die Gegend nicht nach seinem Sinn. Wenn die Sonne schien, mußte man schwarze Brillen tragen, um nicht blind zu werden, und wenn der Wind ging, dann mußte man sich verankern wie ein Schiff, sonst ritt man durch die Luft davon. Es gab nichts als Eis und Schnee herum, den Schützengraben und ein erbärmliches Essen, oft nicht einmal das. Nur der Himmel war herrlich blau, aber davon wurde man nicht satt. Die Italiener schossen wie verrückt und legten ihr ganzes Geld in Bomben und Granaten an. »Wenn man so denkt,« überkam es Vorlenz, »was dafür alles geschaffen werden könnte, daß es keine Not mehr geben würde, keine Kranken ohne Spitäler, keine Hungrigen ohne Speisehäuser und keine Durstigen ohne Freibier ...« Er schwelgte besonders im letzten Teil dieser Überlegung. Aber Soldaten dürfen nun einmal nicht denken. Das ist gegen die Dienstordnung und kann im Krieg sogar bestraft werden, denn ein Soldat ist bloß die notwendige Ergänzung des Gewehrs, und das wird mit Kugeln und nicht mit Gedanken geladen. Ohne ihn wird jede Waffe zum einfachen Gerät, die Kanone eine Röhre auf Rädern, das Bajonett ein zweischneidiges Messer, das auch zum Brotschneiden gehören könnte; ohne ihn geht kein Schuß los, fällt kein Feind, und das ist doch der erste und letzte Sinn aller Kriege: Töten, um nicht getötet zu werden. Soldaten sind keine Menschen, nur Ziffern in einer Zahl, Bestandteile der Kriegsmaschinerie. Wer es anders meint, der ist ein Revolutionär, und wer es gar öffentlich sagt, der wird ein Rebell und hat sein bißchen Luft verwirkt. Vorlenz wußte aber doch einen Ausweg, der ungefährlicher war, und ging ihn.
Brigitte wartete in Ungeduld auf eine Nachricht. Sie fühlte sich diesmal mit dem Schicksal ihres Mannes mehr denn je verbunden, hatte es gewollt und glaubte sich verantwortlich dafür. Tage vergingen, wurden Wochen und brachten keine Zeile von ihm. Er schrieb nicht gern. Das hatte Gründe. Doch es beruhigte sie nicht. Die Zeitungen berichteten von schlimmen Dingen, schweren Kämpfen, großen Verlusten. Man hörte von drei Toten in der nächsten Nachbarschaft, einem jungen Burschen, der kaum schon ein Mann war, und von zwei Männern über fünfzig Jahren, die es nimmer gewesen sind. Der Krieg hatte alle Scham verloren und kannte keine Rücksicht mehr. Kinder und Greise wurden seine Opfer, und er war noch immer nicht satt. Nach einem Monat wurde Vorlenz als vermißt gemeldet. Und damit begann die ärgste Pein für Brigitte. »Ist er tot? gefangen? oder verwundet? Liegt er irgendwo ohne Arme, ohne Beine? ohne Hilfe? ohne Wasser? ohne Brot?« Alles das gab es, alles, was vordem kein Mensch auch nur zu denken gewagt hätte, ist Wirklichkeit geworden und hieß Krieg. Brigitte betete für ihren Mann. Er konnte es brauchen. Er war in Not und kaum gerüstet, um zu sterben. »Er ist nicht böse, ist nur schwach gewesen, vielleicht weil ihm die Kraft gefehlt hat, vielleicht weil er es gar nicht besser wußte ...«
Die Zeiten waren hart. Es gab kein Mehl, kein Fett, kein Fleisch, nur Hunger, Elend und Verzweiflung. Es gab keinen Nächsten mehr, keinen Bruder, keine Schwester, keine Freunde, nur Feinde, die einander jeden Bissen neideten und glücklich waren mehr zu haben, auch wenn andere deswegen darben mußten. Es gab nur Arme und Reiche, die zueinander standen wie Bettler und Diebe, denn was den einen fehlte, das glaubten sie von den anderen gestohlen. Es war eine große Zeit der Niedertracht und des Verbrechens. Und Gott? Er sah es doch. Er ließ es doch geschehen. Wo war Gott in dieser Zeit? Dort, wo er immer ist, bei sich zu Hause, bei den Guten, die jederzeit bleiben, was sie sind, und bei den Klugen, die niemals irre werden und auch von diesem Kriege wußten, daß ihn nur die Erde und mit ihr der Teufel führte und daß Gott in diesem Kampf nicht für, noch gegen seine Menschen war, und in Brigitte, die den Glauben hatte und von all dem gar nichts wissen wollte.
Thomas konnte lesen und entdeckte eine neue Welt. Eigentlich waren es viele Welten oder doch Teile davon wie Sterne eines fremden Himmels, die in ihm aufgingen und flimmerten. Es war ein schönes Spiel, Buchstaben mit den Blicken einzufangen, sie in Worte zu binden wie Blumen zu einem Strauß und ihren Duft zu riechen, der für die Umwelt der Augen und Ohren betäubte und Dinge sah, die nicht hier waren, und Laute hörte, die kein Mund gesprochen hatte. Man las: der Wolf, – und er wurde sichtbar, ein Ungeheuer von Wolf mit feurigen Blicken und blutigem Rachen, obwohl man doch in einem Zimmer saß und es gar keine Wölfe bei uns gibt, ... las von den sieben Geißlein und konnte sie zählen, so genau war das, was überhaupt nicht ist, denn sonst hätte man ihnen doch geholfen und den bösen Wolf vertrieben, ... las, daß sie gefressen wurden, und schauderte, als ob es eben jetzt mit aller Grausamkeit geschehen würde und man es schon knacken hörte. Es war die Welt der Schreiber und Dichter, eine Welt, die man hinnehmen mußte, wie sie war, stärker und eigensinniger als die wirkliche Welt, in der man sich doch vieles richten kann und nie erlauben wird, daß ein einziger Wolf sieben junge Geißlein frißt. Es war die Welt der Phantasie, von der man bis jetzt nicht einmal weiß, ob sie noch zur Erde oder schon anderswohin gehört. Thomas fragte kaum darnach. Er konnte gar nicht genug lesen und wurde von allem Gedruckten mit der Kraft eines unheimlichen Magneten angezogen. Er las jedes Firmenschild, jeden Zeitungsfetzen, der ihm zufällig in die Hände fiel, vor allem aber jedes Buch, das er bekommen konnte und am liebsten seine Märchen, obwohl er sie längst auswendig wußte und keine Augen mehr brauchte, um sie zu lesen. Rese hörte bewundernd zu. Sie konnte sich keinen Buchstaben merken und sollte doch in diesem Herbst auch in die Schule gehen und es lernen.
»Ach, nein«, seufzte sie, meinte sich vermutlich noch hundert Jahre davon entfernt und rückte bis dahin noch näher an den Bruder heran. »Ich höre lieber zu.«
Es war die Zeit, in der auch Brigitte heimgesucht wurde. Sie lag in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Arm und Bein und Hand und Fuß, jede Zehe und jeder Finger war müde und wollte fort von ihr, zerrte und dehnte sich und schmerzte. Es war wie eine Feuersbrunst in ihr, als hätten sich die Gelenke heißgelaufen und alle Knochen in Brand gesteckt. Die Lunge lag schwer in der Brust. Auch das Herz wollte nimmer mit. Es klopfte ungestüm an die Rippen, als ob dort eine Tür wäre und nur jemand zugesperrt hätte. Der Kopf war voller Winde. Sie brausten in den Ohren, wußten nicht ein noch aus und rasten in Wirbeln um das Gehirn herum. Den Augen flimmerte es rot und gelb. Die Zunge war dürr und der Gaumen welk. Brigitte litt Hunger, unbändigen, toll gewordenen Hunger. Sie konnte nicht schlafen. Die Uhr schlug Stunde um Stunde. Die Nacht verging schleichend und träge. Brigitte litt Hunger. Der Morgen kam grau und verdrossen. Brigitte hatte kein Auge zugetan, hatte nur Hunger, nagenden, beißenden, quälenden Hunger. Sie stand auf und trank Wasser. Doch der Magen ließ sich nicht foppen. Er knurrte und brummte, bäumte sich auf und spie das Wasser aus, weil er nicht durstig war, sondern Hunger hatte, ehrlichen, aufrichtigen Hunger. Brigitte legte sich wieder hin, biß die Zähne zusammen, krampfte die Finger ineinander und preßte die Lider zu, wollte schlafen und wollte doch eigentlich nichts sonst als essen. In der Küche war Brot, aber das gehörte den Kindern. Im Kasten stand eine Schale mit Fett, nicht Butter, nicht Schmalz, nur etwas, das fett war. Doch damit mußte sie kochen. Es lag auch ein Ei dort, ein einziges, kostbares Ei. »Nein! Nein!« wehrte Brigitte einen vorlauten Gedanken ab und stand doch schon neben dem Bett und war auch schon auf dem Weg in die Küche. »Nein! Nein!« bat sie verzweifelt und zwang den armen, ausgezehrten Leib auf das Bettuch nieder. Sie weinte und schämte sich ihrer Tränen. Sie wollte an Vorlenz denken. Er hatte wahrscheinlich auch nichts zu essen. Und dachte doch immer nur: »Hunger! ... Ich habe Hunger ...« Die Uhr hielt an. War sie stehen geblieben? Oder stand die Zeit selber still? Es verging keine Weile, kam eine Ewigkeit mit der anderen gegangen und nahm kein Ende. Brigitte setzte sich auf und legte sich wieder hin, lag auf der rechten Seite und meinte es anders besser, warf sich auf den Rücken, saß wieder und krümmte sich, stöhnte und weinte. Der Wind im Kopf war zum Sturm, das Brausen in den Ohren zum Rauschen von Wasserfällen, das Flimmern vor den Augen zum schwarzen Wetter geworden, in dem es bedrohlich blitzte. Brigitte sprang auf, lief in die Küche, riß die Lade auf und aß das Brot, schmierte Fett auf und aß und schluchzte, konnte nicht anders und mußte essen und schluchzen und hätte beides lieber nicht getan.
Frau Grießner half, soweit ein Mensch, der selbst nichts hat, hier helfen konnte. Brigitte hatte ihre Schuld wie einen Mord gebeichtet und war kaum zu trösten.
»Eine Sünde ist es, eine Todsünde!«
»Hunger war es, nichts als Hunger«, widersprach die Nachbarin sanft und gab von ihrem Brot, das weißer war, und schenkte von ihrem Fett, das beinahe Butter gewesen ist. Frau Grießner bekam von ihren Eltern aus Böhmen Lebensmittel zugebessert, Eier, Mehl, Kartoffel, sogar Fleisch und Würste. Sie kamen nicht regelmäßig an und gingen oft auf dem Transport verloren. Es gab eben überall hungrige Magen, die mit langen Fingern nach allem griffen, was sie erwischen konnten. Frau Grießner brauchte nicht viel. Ihr Mann war seit drei Jahren in Sibirien gefangen, und sie selber lebte fast nur von Kaffee. Er stand den ganzen Tag fertig in einer Kanne auf dem Herd und wurde nach Bedarf in eine Schale gegossen. Frau Grießner konnte also schon ein bißchen helfen. Brigitte stand allein. Vater und Mutter sind gestorben. Simon, der ältere Bruder, war Herr auf dem Nußhof daheim, war ein großer, besitzreicher Bauer und darbte wie ein Bettler, weil sein Herz ein Geldbeutel war und nicht genug bekam, obwohl es schon in Gold erstickte. Simon hatte eine arme Magd zur Frau genommen und sorgte dafür, daß sie Magd blieb und nicht Frau wurde. Es war wohlfeiler so. Brigitte hatte nur einmal nach Hause geschrieben: »... Ich habe zwei Kinder. Helft mir, damit sie nicht verhungern müssen! ...« Die Antwort war kurz und bündig: »... Wir haben drei Kinder und erwarten ein viertes. Du kannst dir also denken ...« Das konnte sie, aber es gereichte diesem Simon nicht zur Ehre.
Brigitte rackerte sich ab und brachte trotz allem nicht so viel zusammen, um das verpfändete Medaillon umsetzen oder gar auslösen zu können. Es durfte aber nicht verfallen, war ein Andenken von ihrer Mutter, ist durch die Hände vieler Mütter gegangen und durfte Rese nicht verloren gehen. Es mußte also ein anderer Weg zu diesem Geld gesucht werden. Brigitte wußte ihn längst und weigerte sich nur, ihn zu finden.
Nächsten Tag war es dann doch entschieden. Sie stand zeitlicher auf als sonst und ging leiser um als gewöhnlich. Die Kinder schliefen noch, und das war gut. Sie sollten nicht sehen, wie es geschah, wenn sie auch späterhin bemerken mußten, daß es geschehen ist. Brigitte horchte. Thomas lag wie ein Toter und rührte sich nicht. Rese pfiff wie ein Mäuschen. In fünf Minuten war die Stunde voll, schlug die Uhr. Und das durfte nicht mehr werden. Es könnte die Kinder wecken, und dann wäre wiederum ein Tag verloren gewesen. Brigitte stieg auf den Zehenspitzen hin, stand davor still und überlegte immer noch. Das Pendel schwang. Es tackte wie ein Puls. Die Uhr ging, und das war Leben. Der Zeiger rückte vor und pickte wiederum eine Minute aus der Zeit. Es gurgelte im Werk. Brigitte streckte ihre Arme aus und wartete auch noch die kommende Minute ab. Als ob sich da inzwischen etwas ändern könnte! Dann hob sich der Hammer. Doch er schlug nicht mehr. Brigitte riß die Uhr mit einem jähen Ruck vom Haken, hielt sie wie eine Fackel hoch, blickte angstvoll um sich und horchte. Die Kinder hatten nichts gesehen, nichts gehört, lagen und schliefen, Thomas wie ein Toter und Rese wie ein Mäuschen. Brigitte schlug ihre Schürze um die Uhr und wankte, ließ Kopf und Arme sinken und schwankte. Es war aber auch ein böser, unrechter Gedanke, jetzt an Vorlenz zu denken, war auch nicht richtig und kränkte sie ohne Grund. Er wollte die Uhr verkaufen und vertrinken. Sie tauschte einen Verlust mit dem anderen aus und rettete, was ihr wertvoller dünkte. Das war kein Diebstahl, das mag traurig sein, aber nicht schlecht. Ein Knarren machte sie erschrecken. Rese hatte sich umgedreht. Brigitte lief mit der Uhr davon, lief aus dem Zimmer und durch die Küche, lief zur Nachbarin hinüber und wäre beinahe hingefallen, so aufgeregt und so erschrocken war sie. Frau Grießner besorgte den Weg ins Versatzamt, löste das Medaillon aus und brachte noch Geld nach Hause, bares, ehrliches Geld. Thomas kriegte Schuhe davon und Rese ein Kleid und Brigitte, nein, die hatte nun doch das Medaillon wieder und war so glücklich darüber, als hätte sie es eben jetzt geschenkt bekommen. Die Kinder merkten nichts. Ferien waren und da gab es keine Zeit, da brauchten auch keine Uhren zu schlagen.
Frau Grießner hatte einen Brief aus China bekommen. Er ist durch die halbe Welt gereist und über Holland in ihre Hände gelangt. Er hat ein Jahr dazu gebraucht, und so konnte der Schreiber schon lange tot und, was er geschrieben hat, längst nimmer wahr sein. Es war ein Brief von ihrem Mann. Der ist mit vier anderen, einem Deutschen und drei Bulgaren durchgebrannt und hat sich zu den Chinesen geflüchtet. Es geht ihm gut. Er arbeitet in einer Ziegelei und wartet nur, bis der Krieg aus ist, dann ... ja, dann ... Frau Grießner drehte den Brief in den Fingern und konnte sich nicht freuen, konnte ihm nicht glauben. Er kam aus China und hätte auch vom Monde kommen können. So verlegen war sie und so sehr wurde sie dadurch um alle Wirklichkeit betrogen. Wenn es Amerika gewesen wäre oder sonst ein Land, jedes auf Erden, nur nicht dieses, dann ... ja, dann ... Frau Grießner schüttelte den Kopf. In China wuchs der Tee, den sie nicht mochte; und die Chinesen waren doch jene Menschen, die den Zopf erfunden hatten. Einer stand sogar im Prater und drehte ein Ringelspiel. Und nun sollte ihr Mann dort sein, der ernste, nüchterne Herr Grießner! Sie schämte sich, wußte wahrscheinlich kaum warum, schämte sich aber doch und sagte keinem Menschen ein Wort von diesem Brief, nicht einmal Brigitte, wenigstens heute nicht, morgen vielleicht ... Das kann aber niemand wissen, keiner behaupten.
Es geschah am Tag der größten Hitze. Die Sonne lastete wie ein Fluch auf den Menschen. Sie schleppten sich beladen und vergiftet hin. Die Luft war dürr, der Boden heiß. Die Sohlen brannten und die Lungen fauchten. Man lechzte nach einem Regen, suchte den Himmel nach Wolken ab und versank mit den Blicken in der unendlichen Bläue wie der Stein in einem Brunnen. Es war so heiß, daß der Asphalt unter den Tritten zu Teig wurde und die Schritte an ihm kleben blieben, war so heiß, daß ein Tropfen Wasser, auf das Pflaster verspritzt, im Nu verdampfte, so unerträglich heiß, daß Menschen und Tiere sich verkrochen und die Stadt wie ausgestorben schien. Und da geschah es. Brigitte trat aus der Fabrik auf die Gasse, blinzelte geblendet, hob die Hände zum Schutz an die Augen und taumelte zurück, spürte ein Erdbeben unter den Füßen, suchte in der Luft nach Griffen und taumelte ihren Weg hin, ohne zu sehen, ohne zu hören, wäre beinahe unter eine Straßenbahn gekommen und kam heim, sie wußte gar nicht wie. Da war das Haus und dort das Tor. Das Haus stand schief, und das Tor versank. Sie lief noch schnell hinein, lehnte sich an die Mauer, sah Herrn Stein und grüßte ihn und ... lag dann in ihrem Bett, hatte ein nasses Tuch auf dem Kopf und Frau Grießner neben sich sitzen.
»Schon besser?«
»Wo bin ich?«
»Schon vorüber?«
»Was ist das nur?« fragte Brigitte und schaute irre herum.
»Der Krieg!« seufzte die Nachbarin und rang die Hände ineinander. »Der notige Krieg!«
Er war die Ausrede aller dem Schicksal gegenüber. Er war das einzige Übel geworden, ganz als wäre diese Welt vordem ein Paradies gewesen.
Brigitte ist ohnmächtig zusammengestürzt, wurde in ihre Wohnung getragen und erwachte nun erst zu neuem Leben. Frau Grießner fachte es auch gleich gehörig an:
»Der Hausherr läßt Ihnen sagen ...«
Brigitte war noch nicht so weit und mußte es zweimal hören und wurde nicht müde, immer wieder zu fragen:
»Die Bedienung übernehmen? Unten bei Herrn Stein? ... Nicht mehr in die Fabrik gehen? Daheim bleiben können? Und die Kinder haben?« Sie konnte sich gar nicht fassen vor Freude und jubelte mit der Stimme. Sie wurde redselig, sie, die Schweigsame, hatte kaum Atem genug, um alles zu sagen, was sie bedrängte.
»Ein feiner Herr! Ein guter Herr! Auch wenn er Jude ist«, lobhudelte Frau Grießner und wisperte betulich: »Er hat Sie getragen, hat geholfen, Sie da herauf zu tragen, hat mit angepackt und Sie ins Bett gelegt.«
Brigitte errötete so jäh, als würde sie mit Blut begossen, und preßte die Hände an das Herz, wie Mädchen tun, wenn sie sich vor Gefühlen schützen wollen. Es war lächerlich und war doch schön zugleich.
Frau Grießner wunderte sich überhaupt:
»Hab gar nicht gewußt, was Sie für eine sind, ganz wie ein Fräulein, wie ein Jungfräulein so zart und weiß und viel zu schade für diesen Flegel von Mann.«
Das mochte Brigitte nicht hören. Sie hatte auch keine Zeit mehr zu verlieren, schickte die Nachbarin fort und hatte es schwierig damit. Frau Grießner wollte nicht gehen. Sie klebte auf ihrem Sitz und berichtete, was man sich rundum von Herrn Stein erzählte, daß er nur seidene Wäsche anzog, sich mit Kölnischem Wasser wusch und auf der Brust ein Amulett trug, das ihn vor Krankheiten bewahrte. Brigitte glaubte das recht gern. Und so verging doch eine gute Stunde. Dann kriegte es die Nachbarin eilig. Und dann stand Brigitte auf. Die Kinder legten ihren Schrecken wie Masken ab und freuten sich närrisch, weil die Mutter nicht tot war, sondern nur geschlafen hatte. Thomas zitterte wohl ängstlich nach, doch Rese war so ausgelassen fröhlich, daß er gar nicht anders konnte und auch lachen mußte, schon weil zum Weinen kein Grund mehr war. Brigitte wackelte noch unsicher mit den Beinen, fand das aber lustig und war überhaupt wie umgewechselt. Sie kleidete sich an und brauchte ungewöhnlich lang dazu. Einmal war die Bluse nicht recht, dann wieder saß die Schoß nicht richtig. Auch die Haare machten ihr Sorgen. Sie wollten nicht halten und hielten doch längst. Das war es: Brigitte wollte mehr als sonst, wollte schöner sein, und das konnte nicht gut gelingen. Sie nahm sogar das Medaillon, nahm es heimlich aus der Lade und hing es sich in der Küche um den Hals. Sie schämte sich wahrscheinlich vor den Kindern und ist doch nur kindlich gewesen. Dann huschte sie aus der Wohnung, schlich über die Stiege hinab, stand unten vor der Türe und wagte nicht anzuklopfen. Herr Stein hatte es kaum so dringlich gemeint, so aufdringlich, zudringlich ... Brigitte wollte schon umkehren. Aber da fiel ihr ein, daß sie morgen wieder in die Fabrik müßte, daß alles vergessen werden könnte. Und sie klopfte an.
Herr Stein war freundlich, doch in Geschäften ohne Ausnahme knapp. Er war es nicht bloß heute, ist es aber kaum jemals zu so unglücklicher Zeit gewesen. »... Sie haben das und jenes zu tun, ... und ich bezahle dafür ...« Brigitte griff mit beiden Händen zu, obwohl sie enttäuscht war und sich betrogen fühlte. Weiß der Himmel oben, was sich das einfältige Ding da unten eigentlich erwartet hatte! Schlechtes konnte es nicht gewesen sein, das bleibt gewiß, immerhin anderes, und das ist ausgeblieben.
Brigitte kündigte in der Fabrik und fegte nächsten Morgen schon die Zimmer im ersten Stockwerk, bürstete und wischte, empfand jedes Staubkorn als einen Flecken auf ihrer Ehre und rieb ihn rein, als müßte sich die Welt drin spiegeln, jene Welt natürlich, die sie nun zu hegen hatte und die die Welt des Reichtums war. Er stand in großen, gediegenen Kasten schwer und stämmig da und verteidigte sein Gut mit Schloß und Schlüssel. Das war unfreundlich von ihm, erhöhte aber den Respekt. Er lag in weichen, schwellenden Teppichen auf dem Fußboden und erlaubte keinem Schritt, laut und vordringlich zu sein. Er blickte in prunkvollen Bildern von den Wänden, protzte in Gold und Silber getrieben auf den Tischen und lud mit wollüstig breiten Sesseln, wahren Himmelbetten von Sesseln, zum bequemen Sitzen ein. Brigitte war glücklich, hier herumgehen und Ordnung halten zu dürfen, überglücklich, wenn sie an die Fabrik mit ihrem Schmutz und die Patronen mit der Todesladung dachte.
Salomon Stein war Witwer. Seine Frau starb bei der Geburt ihres Kindes. Phine war jetzt schon eine kleine, verwöhnte Dame. Sie wußte genau um den Wert ihres Daseins und hielt den Preis, indem sie sich immer kostbarer machte, immer mehr für sich begehrte und nie genug bekam. Sie war in den Künsten der Verführung schon recht gut bewandert. Es gab keinen Wunsch, den ihr der verliebte Vater nicht erfüllen mußte, wenn sie darum bat, wenn sie die Lippen schürzte, kokett mit Blicken angelte und bettelnd in die Händchen patschte. Phine war der größte Schatz dieses reichen Mannes und wurde auch darnach behütet. Fräulein Lola hatte sonst nichts zu tun, als die Prinzessin durchs Leben zu tragen, ihr beim Essen zuzureden und im Spiel alles das zu werden, was nicht gut da sein konnte: ein Tunnel, um durchzukriechen, ein Baum, daran herumzuklettern, oder ein Eselchen, darauf zu reiten. Man sagte auch ... man, das waren die bösen Zungen, und die sagten, daß Fräulein Lola und Herr Stein ... Aber das war bestimmt nur ein häßliches Gerede und glaubte niemand recht, vor allem Brigitte nicht. Sie hörte vieles und erfuhr dann oft genug, wie wenig davon wahr gewesen ist. Lügen gedeihen auf dem schlechtesten Boden am besten und der ist überall zu finden. Herr Stein war ein Mann ohne Frau. Das gab zu denken, doch es mußte nicht gerade Fräulein Lola sein. Sie war affektiert, das heißt ungnädiger als eine Gnädige, war hochnäsig, als hätte sie mit der Nase voraus das Licht dieser gemeinen Welt erblickt, und eitel wie ein Zirkusaffe, wenn er für die Galavorstellung besonders angezogen wird. Auch das sind vermutlich nur Vorurteile gewesen, doch sie hatten schon etwas für sich. Fräulein Lola war auch hübsch. Das ließ sich kaum bestreiten, aber ... Brigitte hätte mit einer ganzen Menge Einwände aufwarten können, rupfte jedoch nur den einen heraus: Herr Stein ist vornehm und gebildet, und sie war, wenn man auch Fräulein zu ihr sagen mußte, doch bloß ein Kindermädchen. Merkwürdig bleibt, daß eine Bedienerin diesen Unterschied machte und so streng auf einen Adel hielt, der sie selber in Mitleidenschaft zog. Das Rätsel wog nicht schwer. Man muß sich nur erinnern. Es war die Zeit, da Vorlenz noch Beamter war. Er wurde krank und lag im Bett. Herr Stein kam auf Besuch. Er roch nach Seife und Zigarren. Brigitte war verwirrt, litt Herzklopfen und errötete wie ein Schulmädchen. Es war unschicklich, dumm und lächerlich, aber es war so und wirkte heute noch nach. Gleiches will gleich behandelt sein. Das ist ein Recht, auch wenn es um ein Unrecht geht. Brigitte tat entrüstet und war doch bloß eifersüchtig. Sie hätte das natürlich niemals zugegeben und bis an ihr Lebensende geleugnet, vielleicht sogar ohne zu lügen. Man weiß doch nie, was über einen kommt, fragt sich auch gewöhnlich nicht und kann schon deshalb keine Antwort darauf finden. Das Menschlichste am Menschen ist sein Herz, denn es gibt keine Dummheit, die es nicht mitmachen würde. Es hätte sonst Brigitte damals schon auslachen oder züchtigen müssen. Von heute gar nicht zu reden. Wie gut für sie und für uns, daß wir Menschen sind und ein Herz haben! Es wird uns deshalb auch kaum gelingen, jemals Götter zu werden. Der Ehrgeizige wird das vielleicht bedauern, doch der Kluge weiß, daß es leichter ist, Dummheiten zu machen, als sie verantworten zu müssen.
Frau Grießner hatte sich einen Mieter genommen. Sie kam mit dem Sticken allein nicht mehr weiter. Es gab immer weniger Arbeit für sie, und das hieß immer weniger Geld. Robert Eigerle war ein kleiner, schmächtiger Mensch mit Händen wie ein Mädchen und einem blassen, sommersprossigen Gesicht, das ohne Leben war, weil es nur eine große schwarze Brille und keine Augen dahinter hatte. Eigerle war blind. Er hat am zweiten Kriegstag einen Schuß quer durch den Kopf bekommen und das Licht der Welt verloren. Er war noch jung. Aber das zählte nicht. Er war blind. Und das machte ihn alt. Jugend ist Laufen und Tanzen. Er mußte sich mühselig vom Tisch zur Türe tasten und lebte in einem Sarg, so eng, daß er sich allenthalben stieß und ängstlich wurde, wenn er sich drei Schritte weit entfernen sollte. Jugend ist Lachen und Singen. Er war still und abgeschlossen wie ein Buch, das nicht zu Ende kam, weil der Dichter vor dem Schluß gestorben ist. Was einmal war, wurde Erinnerung, und was noch werden konnte, ist gering und wird das Buch nicht füllen. Eigerle machte Besen und Bürsten und war so geschickt, als hätte er Augen an den Fingern, zehn Augen für zwei. Er sah jedes Haar damit und irrte sich nie. Seine Ware war gesucht und wurde gern gekauft. Er verdiente nicht schlecht, gönnte sich aber keinen Überfluß. Er sparte für die Zeit, wo er auch an den Fingern blind wurde und nimmer arbeiten konnte. Er war genügsam wie ein Bettelmönch und aß nur, weil es sein mußte und nicht, weil es ihm schmeckte, obwohl er einen gesunden Gaumen hatte und fein von derb wie jeder andere unterscheiden konnte. »Ich bin bloß ein halber Mensch und darf auch bloß die halben Bedürfnisse haben«, sagte er ohne Bitterkeit und konnte noch lächeln dazu. Frau Grießner fand ihn reizend, Brigitte nur bedauernswert. Eigerle hätte beides nicht begriffen. Er war, wie er sein konnte, und das schien ihm lange nicht so gut, daß man ihn bewundern, aber auch wieder nicht so schlecht, daß man ihn bedauern müßte. Einmal ist er ein Taschner gewesen und war Spezialist in Damensachen, aparten Spiegeln, winzigen Börsen und anderen Nichtigkeiten der galanten Welt. Heute mußte er Besen und Bürsten machen und konnte auch das. Er ist im Blindeninstitut sorgfältig ausgebildet worden, hat aber das private Leben dem Dasein in der Anstalt vorgezogen. »Ich bin nicht immer blind gewesen und gehöre unter die Sehenden, auch wenn ich mein Augenlicht verloren habe«, erklärte er dem Direktor und mußte entlassen werden, obgleich man ihn gern behalten hätte. Er war fleißig und bescheiden, und das zeichnet überall aus.
Frau Grießner hatte schon deshalb Glück mit ihm. Eigerle bekam eine Zimmerecke als Werkstatt zugewiesen. Brigitte fand es zu finster dort.
»Er ist doch blind!« lachte Frau Grießner und hatte recht, nur hätte sie nicht dazu lachen müssen.
Eigerle schlief in der Küche. Sein Bett war ein riesiger Truhenkasten. Er wurde tagsüber als Kochtisch und Kredenz benützt, und das ist weder gesund noch appetitlich gewesen. Brigitte hatte ein Feldbett auf dem Boden stehen und hätte es ihm gern geborgt. Aber Frau Grießner wollte nichts davon wissen, und so war auch nichts damit zu machen, denn das unterscheidet den Kopf vom Schädel, daß man in den Kopf durch den Verstand kommt, während man den Schädel einschlagen muß, was wieder dem Verstand nicht gut tut.
Thomas fürchtete den neuen Mann. Rese ging ihm ohne weiteres zu. »Er kann mir ja nicht nachlaufen«, sagte sie schnippisch und fühlte sich schon deshalb überlegen. Thomas empfand ein körperliches Unbehagen, wenn ihn der Blinde mit den Händen suchte, und fühlte es gefroren über den Rücken rinnen, wenn er ihn an sich zog und herzte. Eigerle war ein Kinderfreund, ist es immer gewesen und wurde es nun erst recht. Er meinte sich ihnen näher, ihrem Wesen mehr verwandt. Sie schauten, doch sie sahen nicht, weil zum Schauen bloß Augen, zum Sehen aber mehr gehört. Eigerle wollte immer nur ein Lehrer werden, aber das hat sich nicht machen lassen. Er mußte sobald als möglich aus dem Haus und damit aus der Kost. Sein Vater lebte mit einer fremden Frau, und der waren die Kinder im Wege. Deshalb ist ein Taschner aus ihm geworden. Lehrer hätte er jetzt auch nimmer sein können, und so war es ihm eigentlich gleich. Die Liebe konnte ihm keiner nehmen. Nur die Kinder mußten kommen, und das hatte ihm Frau Grießner versprochen. Eigerle wußte eine Menge schöner Geschichten, alte und neue, auch solche, die nicht einmal Thomas gelesen hatte, weil sie nirgends geschrieben standen. Und das galt für Rese das Höchste. Sie schnurrte auch jede Weile hinüber, setzte sich auf einen Schemel, stupfte den Onkel und sagte wichtig:
»Du, ich bin da!«
»Oho!« kickste Eigerle jedesmal wiederum erstaunt, obwohl er sie längst an den getrampelten Schritten, an ihrem hastigen Atem und am Geruch erkannt hatte. Blinde lernen wieder, was die Menschen, seit sie Menschen geworden sind, vergessen haben, lernen riechen und ziehen ihre Vorteile daraus. Rese war das natürlich gleichgültig. Sie wollte nur ihre Geschichte haben und wurde ungehalten, wenn es nicht sofort losging.
»Die Hexe machte Licht. Sie drückte auf einen kleinen, weißen Knopf an der Wand. Man hätte glauben können, daß es eine Klingel war. Es ist aber ein anderer Knopf gewesen. Er läutete nicht, er machte Licht. Es flammte mitten im Zimmer, zehn Stiefelweiten von ihr entfernt in einer gläsernen Birne auf, die unter einem grünen Hut an einer dicken Schnur von der Decke herabhing und ...«
»Das haben wir schon«, wies ihn Rese unfreundlich zurecht und stupfte ihn fester. Es war eine lange Geschichte, in die er sich da verwickelt hatte. Sie dauerte schon die ganze Woche hin und wollte noch immer kein Ende nehmen.
»Ja, ja,« erinnerte sich Eigerle schmunzelnd, »das haben wir schon. Aber daß der Pluto, der große, bissige Hund, Augen aus winzigen Laternen hatte, das weißt du noch nicht; und daß er des Nachts, wenn die Hexe schlief, damit durch das Haus lief und alle Räume, die Küche, die Zimmer, den Keller und den Boden nach Räubern absuchte, das hast du auch noch nicht gehört ...«
»Du!« unterbrach ihn Rese, dachte eine Weile nach und fragte dann so leise, als ob es ein Geheimnis zwischen ihnen wäre: »Du bist doch blind?«
»Ja«, nickte Eigerle und wollte weiter: »Der Pluto ...«
»Hast du auch keine Laternen?« wisperte Rese aufgeregt.
»Wo?«
»In den Augen, ... wie der Pluto.«
»Nein.«
»Und siehst nichts?«
»Gar nichts.«
»Wie ist das, du?« wollte Rese wissen, lehnte sich an seine Knie und schaute auf seinen Mund. Er hatte es nicht leicht. Es fiel ihm allerlei ein, aber das Richtige ... Ja, das war es vielleicht:
»Scheint die Sonne noch?« erkundigte er sich und kam in den Verdacht, ein Spaßvogel zu sein.
»Das wirst du doch sehen!« lachte Rese und zwickte ihn zur Strafe in das Bein, weil er so dumm war.
»Und was siehst du alles?« fragte Eigerle weiter.
»Den Tisch, das Fenster, ein Bett, der Frau Grießner ihr Bett, und die Uhr, vier Sessel, nein, fünf, einen Kasten und dich, ja, dich sehe ich auch«, zeigte Rese nach jedem Ding, damit ihr keines unter den Augen entwische.
»So, und jetzt schau dir alles gut an!« warnte Eigerle, als könnte doch eines davon verloren gehen. »Und wenn ich drei zähle, bis drei, dann machst du die Augen zu!« Er zählte laut und langsam: »Eins! ... Zwei! ... Drei!«
Rese klappte die Lider zu und schrie sogleich erschrocken auf: »Pfui! Das ist häßlich.«
»Nein, traurig«, verbesserte Eigerle, griff zu den Bürsten, arbeitete und hatte keine Lust mehr, die Geschichte weiter zu erzählen. Kinder sind kalte, grausame Spiegel. Wer vor sie hintritt, darf nichts zu fürchten haben, sonst geschieht ihm, was diesem Eigerle geschehen ist. Er war im Innersten betroffen und gekränkt und mußte doch erkennen, daß hier jede Absicht fehlte, ihm weh zu tun, und jede Empfindlichkeit nur ein Mißverständnis sein konnte. Finsternis macht bang. Das wird an Kindern klar und stimmt auch anders oft. Schön ist das Licht, die Sonne und der Tag. Die Nacht scheint böse, sonst würden sie die Menschen nicht verschlafen. Blindsein ist nicht bloß Dunkelheit, war auch nicht dieses: Mach die Augen zu, und du bist blind! Das wäre ärger als der Tod, und Blinde leben doch. Sie haben eine Welt wie andere Menschen auch, die Welt der Dinge, aber ohne ihren Schein, die Welt des Wissens und die Welt der Phantasie. Eigerle hatte durch dreißig Jahre seine Augen gehabt, war also nur zu jener Hälfte blind, die er noch leben sollte. Er konnte nichts Neues mehr sehen. Das ist richtig. Aber war nicht das Alte auch schön genug? Kommt es immer bloß auf die Menge an? Oder ist es wichtiger, das, was man einmal geschaut hat, in sich aufzuhängen als eine Galerie von Bildern und immer wieder zu betrachten? Er hatte Blumen und Bäume, Wiesen und Wälder gesehen. War das nun anders geworden? Die Welt ist, sie wird nicht. Immer werden Berge hoch und Täler tief, wird das Wasser naß und der Schnee kalt sein. Es ist eine grobe Sache, so zu denken. Aber was nützt dem Lahmen die beste Musik, er kann doch nicht darnach tanzen. Es ging diesem blinden Mann kaum besser. Er fand sich ab, und das war schon viel. Von den Menschen hatte Eigerle genug. Ihre Gesichter waren meist nur Maskeraden. Die Männer verbargen sich hinter Bärten und die Frauen hinter Schminke. Auf diesen Anblick konnte er verzichten. Da waren ihm seine Ohren schon lieber. Sie ließen sich nicht so leicht täuschen und hörten tiefer hinein, als Blicke sehen können. Den Augen ist bald etwas Lust, dem Gehör das wenigste Musik. Einen einzigen Menschen hätte Eigerle für sein Leben gern gesehen, und das war Brigitte Vorlenz. Er liebte sie seit dem ersten Wort aus ihrem Munde, das in sein Ohr wie Honig träufelte und in seiner Seele mild und süß zerging. Er machte sich auch gleich ein Bild von ihr. Sie war blond mit einem Stich ins Kupferrote, hatte ein rundes, rosiges Gesicht und war groß, größer als er. Das Bildnis stimmte nicht. Vielleicht ist Eigerle noch zu wenig lange blind gewesen, um durch das Gehör die Augen völlig zu ersetzen. Vielleicht hatte Brigitte eine Stimme, die nicht zu ihr paßte, viele haben sie und sprechen eigentlich fremd. Wahrscheinlicher aber ist, daß Eigerle wie jeder Mann das Idealbild einer Frau in sich bewahrte und Brigitte so sah, wie er sie gern gesehen hätte. Sonderbarerweise entsprach Frau Grießner weit eher dieser körperlichen Vorstellung, obwohl ihn ihre Stimme abstieß, weil sie nach Blech klang und er Trompeten überhaupt nicht leiden konnte. Frau Grießner merkte nichts davon. Sie trug fortan schönere Kleider, als ob das Eigerle sehen könnte, und kochte besseres Essen, obwohl sie ihr eigenes Geld dabei zusetzen mußte. Sie gab sich sanft und beinahe zärtlich und ahnte nicht, wie wenig Wert der Blinde darauf legte. Ein Wort von ihr genügte und sein Herz wurde zum Igel, rollte sich feindlich zusammen und stellte die Stacheln auf. Doch das empfinden Frauen erst, wenn es zu spät ist. Ob Männer klüger sind? Man sagt so, aber es muß deshalb noch lange nicht wahr sein.
Eigerle gab jeden Abend ein Konzert. Er spielte auf der Ziehharmonika, als wären fünf Musikanten drin und dudelten und fiedelten. Er konnte mit zwei Griffen in die Klappen traurig machen, daß man sich selber leid tat, und gleich darauf wieder lustig sein, daß einem die Beine durchgingen, weil sie tanzen wollten, über die Erde fort in den Himmel hinein. Brigitte hatte niemals Schöneres gehört und versäumte keinen Tag, hinüberzukommen und zu bitten:
»Spielen Sie doch! ... Ich hör' es so gern.«
Was hätte Eigerle mehr gebraucht, um glücklich zu sein? Er setzte sich auf die Kohlenkiste, präludierte erst leise und spielte dann los. Das Instrument war seine Seele, und er ließ sie jubeln wie einen Wald voll Vögel, ließ sie klagen wie ein kleines Kind, das nach der Mutter weint, gestand in Tönen, was er in Worten niemals sagen würde, meinte Brigitte damit und hoffte, daß sie ihn eines Tages schon verstehen werde, spielte heute, spielte morgen, war schon seit einem Monat hier und spielte noch immer, ohne verstanden zu werden.
Eigerle fing um sechs Uhr morgens mit der Arbeit an, hielt bis Mittag durch, ging dann eine Weile in die Sonne, spazierte vor dem Hause auf und ab, horchte das Leben in seinen Geräuschen ein, kam ausgeruht zurück an seinen Tisch, arbeitete bis sieben, hörte keine Minute früher auf und war strenger mit sich, als es ein fremder Brotherr sein könnte. Dann aß er zu Abend, schlürfte seinen Tee und ließ sich die Zeitung vorlesen. Dann spielte er. Die Kinder schliefen immer schon und hörten beide nichts.
Einmal aber träumte Thomas, daß er ein großer Zauberer war und ein kleines Stäbchen hatte. Er brauchte nur damit zu winken, und schon sprang ein Lüftchen auf und sang mit einer dünnen Stimme, die zum Lachen war, denn sie quietschte wie ein silbernes Ferkelchen und ringelte das putzige Schwänzchen dabei. Man mußte das offenbar hören, denn zu sehen gab es doch nichts. Thomas, der Zauberer, winkte noch einmal, und es kam der Wind. Er strich auf brummigen Saiten und fegte über gläserne Tasten hin, daß einem vor lauter Getue die Ohren vergingen. Es war aber noch nicht genug. Und Thomas, der Zauberer, winkte und winkte. Da gab es ein ganzes Gewitter. Es brauste und sauste, dröhnte und stöhnte. Das konnte nur eine Orgel sein. Thomas hatte sie in der Kirche gehört und ließ sie nun mit Donner und Hagel kommen, – daß er aufwachte vor Lärm und nicht wußte, was eigentlich gewesen ist und was noch war. Es klang wirklich. Und er horchte. Es musizierte. Und er setzte sich auf. Es war ein richtiges Spiel. Und er stieg aus dem Bett und ging ihm nach. Er tastete sich von Ton zu Ton aus dem Zimmer, huschte über den Gang und stand still. Er war am Ort und klinkte auf und fiel aus dem Himmel seines Traumes. Eigerle war der Zauberer, nicht er. Eigerle ließ das Lüftchen singen, den Wind brummen und das Gewitter dröhnen, nicht er. Eigerle hatte wohl kein Stäbchen, aber ein anderes Ding in den Händen und dehnte und streckte es, lief mit den Fingern über schneeweiße Knöpfe und spielte so schön, daß man sich in einer Kirche meinte und doch nur in einer Küche war. Frau Grießner saß da und die Mutter. Sie hörten vor lauter Hören nichts und erschraken dann beide:
»Was gibt es? Was gibt's denn?«
»Nichts«, deutete Thomas, legte einen Finger quer über die Lippen und starrte den Blinden wie ein leibhaftiges Wunder an.
»Wer ist da?« fragte Eigerle und brach das Spiel entzwei.
»Ich«, sagte Thomas, tippte auf den Zehen zu ihm hin, streichelte seine Hand, berührte auch das Instrument dabei und bat mit erregter Stimme: »Ich möchte auch ... Laß mich probieren!«
Er durfte sich setzen und kriegte das Ding an die Brust. Es war schwer und nicht bequem. Das Stäbchen ist leichter gewesen. Thomas versuchte es dennoch. Er zog den Blasebalg aus und quetschte ihn, aber es pfauchte nur und spielte nicht. Man lachte, die Mutter ganz leise, Eigerle vergnügt und Frau Grießner so laut, daß sich der Junge schämte. Er war kein Zauberer. Das konnte man sehen, das konnte auch Eigerle hören. Thomas legte das Ding fort, war böse, wußte vermutlich selber nicht auf wen, schlich in sein Bett zurück, machte die Augen zu, wollte auch nichts mehr hören, zog die Decke über den Kopf und schlief ein, als hätte er immer nur geschlafen. Brigitte war mit ihm gegangen, und so ließ Eigerle auch bald das Spielen sein. Frau Grießner suchte vergeblich nach einem Grund. Sie hatte eine neue Bluse angezogen und sich die Haare lockerer gesteckt, was ihr gut stand und sie hübscher machte. Eigerle hätte das fühlen müssen, wenn er es schon nicht sehen konnte. Doch er fühlte nichts.
Krieg war. Man hatte es beinahe schon vergessen, war schon so daran gewöhnt, Hunger und Angst zu leiden, Tote zu zählen und nichts mehr dabei zu empfinden, daß man sich dieses Leben kaum anders vorstellen konnte. Kriegsjahre zählen doppelt. Also war schon acht Jahre Krieg. Erst acht? Man konnte sich doch gar nicht mehr erinnern, daß es jemals leichter, schöner, fröhlicher gewesen wäre. Glückliche Menschen, die auch das Unglück so gewöhnen können! Man hatte sich abgefunden wie einer, der jahrelang krank ist und keine Hoffnung mehr hat, jemals gesund zu werden, sich allmählich abfindet und immer weniger Schmerzen leidet, immer weniger Lasten trägt, auch wenn er kränker wird, so hatte man sich abgefunden. Krieg war und keiner fragte: Nimmt das denn noch kein Ende? Oder wird es immer so bleiben? Sind das noch Lebende? Oder gehen schon Leichen um? Sterben nicht schon Tote? Brechen nicht schon die Gräber auf? Gibt es noch einen einzigen Menschen, der von sich sagen darf: Ich bin ein Mensch? Krieg war, wie die Luft ist, das Wetter, Sonne oder Regen; Krieg war in allem, was man aß, im Brot und Fleisch, in allem, was man trug, jede Hose, jedes Hemd war Krieg und alles, was man dachte, was man redete, der Haß war Krieg und die Liebe. Gab es denn noch Liebe? O ja, der Kaiser liebte seine Krone, der Adel seine Vorrechte, die Offiziere den Glanz und der Reichtum sein Geld, nur der Arme hatte nichts als seine Kinder und litt zu allem, was er leiden mußte, auch noch an der Liebe.
Krieg war und plötzlich nicht mehr Krieg. Die Revolution hatte ihn erschlagen. Sie war eines Tages da, man wußte nicht woher, man wußte auch nicht recht wohin mit ihr. Sie war das Ende und sollte ein Anfang werden. Sie war Befreiung und erweckte Schrecken. Sie war Erlösung und machte Angst. Einmal ist aus der Revolution der Engel die Hölle geworden. Waren die Menschen nun bessere Engel? und konnte aus ihrer Revolte der Himmel kommen? Man weinte, lachte und weinte, jubelte und weinte, hoffte und weinte. Man konnte nicht anders. Man war müde, seiner selbst und dieses Daseins müde. Man war mit seinen Kräften fertig und sollte Neues beginnen. Man hatte allen Glauben verloren und sollte Zukünftiges erfüllen. Man ist Sklave gewesen und sollte nun frei sein, gestern noch Diener und heute ein Herr. Man war ein Staubkorn seiner Zeit, Ballast, nicht mehr, und sollte nun Geschichte machen und war bange wie ein Kind, das plötzlich majorenn gesprochen wird. Man schickte den Kaiser fort und weinte. Man setzte den Adel ab und weinte. Man nahm den Offizieren die Säbel aus der Hand und weinte. Man umarmte Soldaten, küßte Väter und Brüder und weinte. Man konnte nicht anders. Man war zu sehr geduckt, zuviel geprügelt worden. Man hatte keine Muskel, kein Blut und keine Nerven mehr. Man war ein armseliges Bündel aus Haut und Knochen, in dem die Angst hockte, nicht vor dem Tod, das war schon überwunden, die Angst vor der Angst, und das ist das Ärgste in diesem Leben. Es gab keine Freude mehr ohne Tränen, gab keine Menschen mehr, nur schwache, ausgemergelte Kinder, deren Lachen weinen machte, und sieche, zermürbte, ausgesogene Greise, die zu allem weinen mußten, weil sie nimmer lachen konnten.
»Revolution!« und »Republik!«
Man hörte Worte und verstand sie nicht. Man lief wohl auf die Gasse, aber nur weil auch die anderen gelaufen sind. Man winkte einer Fahne zu und hatte das auch sonst getan. Die Farben waren anders. Doch wer schaute noch? Man ist jahrelang blind gewesen und sollte nun sehen. Ein Mann stand auf und sprach vom Volk. Wer war der Mann? und wer das Volk? Es hat vor ihm schon Männer gegeben. Männer haben den Krieg geführt. Männer sollen nun Frieden bringen? Auch Frauen drängten sich vor. Es wurde ihnen nicht leichter gemacht. Sie waren Opfer gleich allen gewesen und sollten nun Sieger sein? Und das Volk? Wer war das Volk? Alle suchten, und einer schaute den anderen an. Bist du es? Ich darf es nicht von mir sagen. Es gab kein Volk mehr, gab ein paar Führer, die berufen waren und vergebens riefen, gab Schreier, die es überall gibt, und Stumme, die es hier nicht hätte geben sollen. Man war kein Volk. Man ist die Ewigkeit dieses Krieges lang nur einer des anderen Feind gewesen, hatte einer den anderen um jeden Bissen Brot im Munde beneidet, hatte nur Böses und Schlechtes voneinander gesehen und gehört und sollte nun Freund sein, Genosse und Bruder.
Ein Wort mit Flammen geschrieben und in Stein gemeißelt, hier wurde es in einen Teig geknetet. Revolution muß ausbrechen wie ein Brand und über die Vernichtung des Alten unter Schmerzen einer Geburt das Neue gebären. Hier wurde das baufällige Alte gestützt und gepölzt, wurden bloß die Firmenschilder geändert. Es gab keine Männer mehr, die etwas füreinander wagen konnten, gab nur Kinder und Greise, und die revoltieren nicht, die lassen mit sich geschehen, was geschieht. Sie haben die Lasten des Krieges ertragen und trugen nun an der Revolution. Es wurde nicht besser. Wie hätte es auch werden sollen? Man hatte bloß Ideale zu geben, und das ist keine Kost für den Hunger. Man konnte nur auf die Zukunft vertrösten, und davon hatte jeder genug, das ist im Krieg auch nicht anders gewesen. Man hätte Brot und Fett, Mehl und Fleisch austeilen müssen und Geld geben, um in dieser Asche ausgebrannter Menschheit noch einen Funken von Verstand und Ehre, von Begeisterung und Freude zu erwecken. Man konnte aber keine Wunder wirken, und so ist aus dieser Revolution wohl eine Republik, aber kein Volk von Brüdern hervorgegangen.
Frau Grießner hatte Angst. Ihr Mann logierte zwar in China, und das war für sie die Gegend zwischen dem Mond und den Meeren, aber einmal mußte das Kriegsende auch dorthin kommen und ihn herüberbringen. Das war natürlich eine Freude. Und Frau Grießner freute sich auch. »Aber da ist nun,« dachte sie mit Entsetzen, »ist nun dieser Robert Eigerle, den ich mir eingenistet habe, ein Mann, wenn auch erblindet, immerhin ein Mann.« Und das konnte ihr übel aufgenommen werden. Herr Grießner verstand keinen Spaß, wenn es um seine Ehre ging. Er hatte sonst nicht viel zu verlieren und war selbst ein Ehrenmann. Eigerle mußte gekündigt werden. Das stand fest. Fragte sich nur, wer es ihm sagen wird. Frau Grießner konnte und Brigitte wollte nicht. So ging wiederum ein Monat hin. Es wurde kaum leichter dadurch, wurde bloß dringlicher und mußte eines Tages doch geschehen.
Der Blinde stand vor einem Rätsel. Er fand alle Gründe lächerlich, nur war ihm das Lachen vergangen. Er liebte Brigitte, und Herr Grießner konnte ohne Sorgen sein. Die Frau war anderer Meinung. Sie kannte ihren Mann und kannte vor allem sich selber. Und so mußte Eigerle fort. Er wußte nicht wohin. Es gab viele, die ihn gern genommen hätten. Er zahlte pünktlich und war bald zufriedengestellt. Doch er wollte nicht weg, wollte in der Nähe bleiben und am liebsten ganz nahe sein. Auch Frau Grießner glaubte, daß es besser wäre, wenn er hinüberzöge. Brigitte konnte sich aber nicht dazu entschließen. Sie hatte andere Ängste. Ihr Herz war wohl nicht leicht in Flammen zu setzen, dennoch entzündlich wie jedes Herz. Und dann hatte der blinde Mann schon jenen Eindruck auf sie gemacht, der zur Freundschaft zieht, was nicht mehr ungefährlich ist. Er war bescheiden, rücksichtsvoll und zart. Er liebte sie. Das ganz besonders war es, was sie ängstlich machte und was sie zur Freundschaft zog. Mehr konnte sie nicht geben, durfte auch nicht werden. Eigerle hatte noch kein Wort mit ihr davon gesprochen. Aber das fühlt eine Frau mit anderen Sinnen, braucht weder Augen noch Ohren dazu, weiß es und kann oft selber nicht sagen woher. Auch Eigerle wußte, was es bedeutet, wenn eine Stimme vor jedem Wort verlegen stehenbleibt und Atem holt und doch nicht weiterkommt. Er hörte tiefer und mehr als bloße Laute. Er hörte den Herzschlag dahinter, und es bedrückte ihn, weil er ihr Kummer machte. Brigitte ließ es nicht merken. Sie war auch in der Liebe stark. Aber das ging nun doch über ihre Kräfte, ihn herüber zu nehmen und stark zu bleiben. Dann war auch kein Platz. Das mußte selbst ein Blinder sehen. Mit dem Schlafen wäre es vielleicht gegangen. Die Küche war sogar größer. Doch das Zimmer war kleiner. Es standen wohl nur zwei Betten darin, seit Vorlenz wiederum Soldat war, aber ... Und das war auch ein Grund: Wer sagt schließlich, daß er wirklich tot ist? und wer kann sagen, ob er nicht eines Tages doch noch zurückkommt? Brigitte schauderte. Das fehlte gerade. Das wäre so ein Ding nach seinem Geschmack, sich vor sie hinzustellen und ihr eine moralische Rede zu halten, sich aufzuplustern und mit Worten und Fäusten gleichzeitig loszuschlagen. »Nein! Nein!« wehrte sie erschrocken ab und wollte nichts mehr davon wissen. Sie hatte allerdings ganz die Kinder vergessen. Rese ließ nicht locker. Es gab da noch eine Menge Geschichten, die sie hören mußte, gab noch dies und das und überhaupt:
»Wir haben Platz genug.«
Auch der Bruder meinte so.
»Wo denn?« fragte die Mutter, um sich zu retten.
»Dort unter dem Bild«, zeigte Thomas, holte seinen Meterstreifen, maß den Tisch aus und die Ecke und hatte recht: »Platz genug.«
Eigerle stand in der Tür und wartete. Sein Unglück war ihm nie so offenbar wie nun. Brigitte wußte nicht ein noch aus, konnte nicht nein und durfte nicht ja sagen, lief wie gefangen hin und her und fand keinen Ausweg, drückte dem Blinden verstohlen die Hand und seufzte, kaum glücklicher als er:
»Es tut mir ja so leid.«
Eigerle hoffte nun doch. Er ließ sich durch die Worte nicht beirren und hielt sich mehr an den Klang, und der ist hoffnungsvoll gewesen. Die Kinder hatten die Bank schon aufgestellt, den Tisch schon hingerückt und sprangen nun vergnügt herum.
»Es geht.« – »Er bleibt.«
Brigitte mußte lächeln, und damit war der Anfang schon gemacht. Eigerle blieb vorläufig und ohne Versprechen. Er war so lange Gast hier, bis Brigitte einen anderen Platz für ihn gefunden hatte, einen guten Platz, wie sie selber sagte, und das gab ihm geheime Sicherheit, daß es doch für länger, wenn nicht gar für immer war.
Rese meinte nicht anders, als daß es nur zu ihrer Unterhaltung geschehen sei, saß immerfort neben Eigerle auf der Bank und stupfte ihn:
»Erzähle, du!«
»Nein, Rese, das geht nicht«, legte sich die Mutter ins Mittel, »Herr Eigerle muß arbeiten und kann nicht immer mit dir spielen.«
»Dann soll er wieder gehen!« maulte der kleine Undank und wartete schier darauf.
Da fing der Blinde ganz mechanisch zu erzählen an. Seine Stimme klang verzagt und hatte kaum die Kraft, ein Ohr zu treffen. Eigerle wollte gern alles tun, um sich zu halten und bleiben zu dürfen, wollte lustig sein, auch wenn er es nicht gerade war.
»... Die Hexe tanzte durch das Zimmer, tanzte auf einem Bein, auf einer Zehe nur, denn Hexen können alles ...«
Er verstummte plötzlich. Brigitte stand neben ihm. Er fühlte es. Er hatte nichts gehört und merkte doch, daß sie zu ihm getreten war und daß sie sprechen wird. Sein Herz hielt still, und jeder Tropfen Blut erstarrte.
»So ist das nicht, Herr Eigerle«, sagte Brigitte und streichelte seine Hand. Er dankte ergriffen, brauchte kein Wort dazu, dankte durch ein Lächeln und sagte mehr damit, als er hätte tun dürfen.
Er blieb also, und man gewöhnte sich an ihn. Brigitte konnte freilich nicht verhindern, daß sie jedesmal, wenn ihre Blicke den fremden Mann dort streiften, an Vorlenz denken mußte. Und es war gewiß nicht ihre Schuld, daß es immer nur häßliche Gedanken waren, und daß sie an diesem da nur Schönes finden konnte. Der eine hatte alles, was ein Mensch braucht, um glücklich zu sein. Er war gesund, und das ist auch ein Reichtum. Er hatte Kinder, und das ist ein Segen. Er hatte eine Frau ... Aber das wagte Brigitte kaum zu erwägen. Es ging anderen vielleicht besser. Doch das wird immer so sein. Geld ist gut, wenn man es hat. Man darf aber nicht glauben, daß es von selber kommt. Man muß es suchen, muß sich darum bemühen, wenn man nicht darauf verzichten kann. Der andere, – ihre Blicke liefen auf Eigerle zu, – der andere wurde vom hellen Tag weg in die tiefste Nacht gestoßen, ist schlechter dran als irgendeiner und klagt doch nicht, trägt sein Los und hilft sich, wie er kann. Hat ihn das Unglück besser gemacht? Oder ist er schon früher gut gewesen? Seine Augen konnten keine Antwort geben. Sie sind durch den Schuß verlorengegangen. Blieb nur die Stirne. Brigitte fragte mit bangen Blicken. Sie spiegelte klar und rein, war ohne Falte und ohne Schatten. Dahinter wäre kein Makel zu denken. Blieb noch der Mund. Seine Lippen erinnerten an eine Knospe, die zu früh gesprungen ist und sich gerne wieder schließen möchte. Sie haben gewiß noch kein schmutziges Wort gesprochen. Der ganze Mensch war überhaupt mehr Kind als Mann. Und doch ist ihm das wildeste Leid geschehen, denn er wurde um die Tage seines Lebens beraubt und wird nur noch Nächte haben, finstere, qualvolle Nächte. Brigitte wurde vom Mitleid bedrückt, und das war bedenklich für sie, die ein gutes Herz hatte und eine Frau war.
Eigerle tat nichts dazu. Er spürte mit Sorgen, daß sie seine Anwesenheit beengte, daß er nicht bleiben sollte, und daß er doch nicht gehen konnte. »Wohin denn?« fragte er sich verzweifelt und dachte wahrscheinlich zur Entschuldigung: Ich bin doch blind. »Warum denn?« fragte er weiter und wehrte sich vergebens gegen den Gedanken: Ich bin doch auch ein Mensch, bin auch ein Mann und habe ein Recht auf Liebe. Das hatte er freilich nicht. Das hat kein Mensch auf Erden. Das kann, muß aber nicht sein. Liebe ist Gottesgabe, und es gibt viele, die ihr Leben lang darum betteln, ohne ein Almosen zu empfangen. Eigerle arbeitete und aß und schlief. Er saß zeitlich am Morgen schon auf seiner Bank und richtete Borsten zu, weil das in aller Stille geschah und die Kinder nicht weckte. Seine Hände waren wie Gespenster, die sich durch ein Dickicht von Dunkel tasteten, seine Finger wie Fühler, die mit unsichtbaren Augen blickten und kein Härchen übersahen. Er setzte sich mittags an den Tisch und war mit allem zufrieden, was kam, sagte nie ein Wort, daß es zu wenig oder gar schlecht wäre, tröstete Brigitte, wenn sie klagte, und teilte mit Rese, wenn das kleine Raubtier immer noch hungrig war. Er hatte in der Küche das Feldbett stehen und schlief darin, als wenn er auf einer Wolke in den Himmel reiste. Musik machte er nicht mehr. Brigitte hätte ihn erst darum bitten müssen. Aber sie tat es nicht. Und er wußte warum. Sein Spiel nahm ihr die Kraft des Widerstandes, den sie brauchte, um nicht schwach zu werden. Eigerle erfuhr das durch einen Sinn, der zwischen Ahnung und Wissen lag und ihm schon allerlei aus diesem Leben geoffenbart hat, was ihm sonst verborgen geblieben wäre. Er wollte sie nicht überrumpeln, nicht verführen. Sie sollte sich frei entscheiden und richtig wählen. Wenn dieser Johann Vorlenz war, was er von ihm gehört hatte, dann konnte die Wahl nicht schwer sein. So meinte der Blinde. Brigitte mußte mit sehenden Augen an dieselbe Sache heran und hatte es bloß schwieriger als er. Sie war nicht von vorneher für alles Schöne. Aber daß Robert Eigerle feiner und deshalb auch irgendwie besser als Vorlenz war, das empfand sie deutlich genug, um sich von dem einen ab dem andern zuzuwenden. Es hätte dafür keiner Beweise bedurft, sie drängten sich täglich selber auf.
Einmal brachte ihm Rese den Arbeitstisch durcheinander. Es ist aus purer Bosheit geschehen und verdiente Strafe. Vorlenz wäre mit beiden Händen losgegangen. Auch Brigitte wollte es schon tun. Aber da sagte der Blinde mit seiner sanften Stimme, die viel von der Unsicherheit seines Wesens hatte: »Wir haben kein Recht, Kinder zu schlagen; wir haben nur die Pflicht, sie zu erziehen, und das kann kein Stock besorgen, das muß die Liebe machen, auch wenn wir darunter leiden müssen.« Er hätte doch ein Lehrer werden sollen, dieser Bürstenbinder. Brigitte fing an, sich über ihn zu wundern: »Er ist blind und sieht doch besser als mancher, der nicht bloß Augen, sondern auch Brillen hat.«
Wieder einmal gab es einen Streit mit Thomas. Er hatte alles zu einer Hausarbeit vorbereitet, das Heft auf den Tisch gelegt und die Tinte hingestellt, suchte noch etwas und kramte in der Schultasche herum. Da verließ der Blinde seinen Platz, steuerte vorsichtig durch das Zimmer, kannte den Weg schon auswendig, stieß aber unvermutet vor einen Schemel, der sonst niemals da gestanden hatte, schrak zurück, fuhr mit einer Hand aus und warf die Tinte um. Es muß ein großes Unglück geschehen sein, denn Thomas weinte und schrie und war nicht zu beruhigen. Eigerle gab ihm Geld für ein neues Heft und eine neue Tinte, doch die Sache wollte nicht verheilen und nicht vernarben. Thomas war böse und blieb es drei Tage lang. Dann kriegte ihn der Blinde doch an seine Seite auf die Bank und redete mit ihm:
»Es gibt eine Menge närrischer Leute unter uns. Wir wissen es bloß nicht. Aber von zweien weiß man es. Der eine geht spazieren und denkt an nichts. Da fällt ein Ziegelstein vom Dach, ihm auf den Kopf. Der Mann sinkt hin und glaubt sich tot, wenn man so sagen darf. Er war aber nur betäubt, wacht wieder auf und bittet um den Stein. Der ist nicht da. Der ist in Trümmer gegangen und liegt ringsum verstreut. Der Mann steht auf und sucht die Scherben zusammen, füllt seine Taschen damit an und sagt zu den Leuten: ›Mein Lebensretter! Mein Glücksstein!‹ Man versteht das nicht. Man hält ihn für verrückt. Und einer sagt für alle: ›Kein Wunder, wenn einem so ein Ding auf den Kopf fällt.‹ Die Sache steht aber anders, wie du gleich aus der zweiten Geschichte hören wirst. Sie erzählt von einem Bauern. Er ist auf dem Feld gewesen und hat ein Gewitter übersehen. Da fährt ein Blitz nieder und trifft ihn. Der Bauer bleibt an beiden Füßen gelähmt und kann nur noch sitzen und liegen. Er schreibt aber doch neben das Datum in den Kalender: ›Ein Glückstag. Bin vom Blitz getroffen worden und nur gelähmt.‹ Er hat recht gehabt, der Bauer, denn er hätte doch auch tot sein können.«
Thomas horchte angestrengt. Onkel Robert hatte eine besondere Art Geschichten zu erzählen. Man mußte sie erraten wie ein Rätsel. Und das paßte dem Jungen. Er grübelte gern. Aber diesmal war es ihm doch zu schwierig.
»Mir ist schon lieber, wenn mich gar kein Blitz trifft«, gestand Thomas aufrichtig und dachte auch gleich an den Ziegelstein dabei. Der Blinde hatte eigentlich etwas anders sagen wollen und machte es kurz:
»Ich hätte auch über den Schemel fallen und mir eine Hand brechen können. Und da ist es doch gescheiter, wenn ich nur die Tinte umgeschüttet habe.«
Das begriff Thomas sofort und war ihm wieder gut, besser als zuvor. Brigitte hatte vom Tisch aus zugehört und staunte abermals: »Daß er ein Bürstenbinder ist, das sehe ich; aber daß er früher nur Taschen gemacht hat, das kann ich kaum glauben.«
Frau Grießner huschte jeden Abend herüber und las dem Blinden die Zeitung vor. Er war es so gewohnt, und sie tat es gern. Brigitte hatte abgelehnt. »Es stehen doch lauter abscheuliche Dinge drin, nichts als Unglück und Verbrechen, und das interessiert mich nicht.« Frau Grießner lachte sie überlegen aus. Ihr geschah noch viel zu wenig. Diese Woche zum Beispiel war gar nichts los, kein einziger schöner Prozeß, nur eine kurze Verhandlung, ein ordinärer Totschlag im Rausch, kaum die Druckerschwärze wert, pikante Ehedramen waren ihr am liebsten. Je schmutziger die Wäsche, desto größer das Vergnügen. Sie war eine richtige Zeitungshyäne und hielt auch den Blinden dafür. Eigerle unterschied sich aber wesentlich von ihr, nur konnte das die Frau nicht gut begreifen.
»Ich höre ganz gern, was in der Welt geschieht«, sagte er zu beiden und setzte für Brigitte fort: »Und bin dann herzlich froh, daß ich es nicht auch sehen muß.«
Die Abende versiegten übrigens von selbst. Frau Grießner merkte schließlich doch, daß sie den beiden nur im Wege saß, und wollte nicht weiter stören. Sie brachte ein Opfer. Man sah es ihr an, aber es hielt sie niemand. Brigitte freute sich, daß diese Zeitungsstunden ein Ende nahmen. Sie sind nicht gut für die Kinder gewesen. Rese spitzte verdächtig die Ohren, und Thomas hörte offen zu. Man konnte ihnen nicht befehlen, taub zu werden, und so ergoß sich das Schmutzwasser dieser Welt in ihre jungen Ohren. Eigerle verzichtete recht gern. Frau Grießner war ihm lästig, und ihre Stimme tat weh. Dann war auch noch dieses: Sie waren nun allein, er und Brigitte, atmeten in einem Raum, saßen an einem Tisch, redeten und schwiegen zumeist und dachten voneinander, was man so denkt:
»Ich möchte sie sehen können, einmal noch meine Augen haben und sie sehen dürfen, dann blind sein für immer.«
»Er ist so gut, daß ich schlecht werden muß ...«
Wochen waren hingegangen, und Brigitte hatte noch immer keinen besseren Platz für Eigerle gefunden. Ob sie wirklich gesucht hat? oder sich noch darum bemühte? Eigerle fragte nicht. Er war glücklich und fühlte sich so wohl, daß er nichts sonst für sein Leben wünschte, als dableiben zu dürfen und ... Nein, das hatte er sich selbst in Gedanken verboten. Er hatte nichts zu wünschen. Er konnte bloß warten. Jeden Samstag bezahlte er pünktlich seine Miete und steigerte sich heute aus freien Stücken. »Es gefällt mir besser da als irgendwo. Ich muß also auch mehr dafür bezahlen«, erklärte er beinahe grob, soweit das bei ihm möglich war, und ließ keine Einwände gelten. Brigitte wollte das Geld nicht nehmen, wollte sich wieder nicht zieren, hätte ihn auch umsonst behalten, mußte aber doch froh sein und lebte sich leichter seitdem. Er fühlte es und freute sich. Seine Ohren waren immer nach ihr aus und horchten sie ab, jeden Schritt, den sie machte, jeden Lärm nach einem Handgriff, jedes Wort an die Kinder und jeden Laut, an ihn gerichtet, hob er in sich auf und legte die Ohren wie ein Doktor an: Ist sie traurig? Hat sie Sorgen? Geht es ihr gut? ... Und habe ich Hoffnung?
Brigitte fühlte sich bedrängt. Es wuchs wie eine Hecke um sie auf, wurde mit jedem Tag dichter, mit jeder Woche undurchdringlicher und nahm sie gefangen. Fort! Er mußte fort. Noch ging es. Noch war es nicht zu spät. Morgen konnte es schon anders sein, konnte er schon um sie anfragen und ... »Ich will nicht! Darf nicht! Kann nicht!« wehrte sich Brigitte und fand keinen Schlaf, saß in ihrem Bett und lauschte in die Küche hinaus, hörte ihn unruhig sein und wußte, daß auch er nicht schlief. Und das entschied. Brigitte fragte nächsten Tag beim Greisler, bei der Milchfrau und in der Nachbarschaft herum und kriegte gleich ein Dutzend Plätze für einen. Man riß sich um den Mieter, erstens weil er zahlte, und zweitens weil er ein Mann war. Geld ist nie so knapp gewesen wie damals. Jeder verdiente gern ein bißchen nebenbei. Und die Männer waren rar. Eine Beamtenswitwe kam sogar persönlich in das Haus und wollte Eigerle sprechen. Brigitte hatte ihre liebe Not, sie wieder fortzubringen, denn nun, da die Sache schon im Laufen war, wollte sie plötzlich nimmer. Doch die Witwe wußte sich zu helfen. Sie lauerte dem Blinden mittags beim Spaziergang auf und trug sich mit einem Zimmer an. Eigerle ahnte gleich, was da geschehen war und kam völlig entwurzelt heim. Brigitte leugnete nicht.
»Ich hab mich nur erkundigt.« Das stimmte. »Aber es ist nichts darunter.« Das konnte sie wohl nicht sagen, dazu hätte sie die Zimmer sehen müssen.
»Kann ich also bleiben?« fragte der Blinde, schon mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Wir lassen ihn nicht fort«, riefen die Kinder und sperrten die Türe ab. Was konnte Brigitte machen? Sich fügen und weiter kämpfen, denn es war nun schon ein Kampf daraus geworden. Sie liebte Eigerle, nicht so, wie sie Vorlenz geliebt und geheiratet hat, auch nicht in der dienenden Art, wie sie Herrn Stein verehrte, sondern anders, ganz anders und gar nicht, wie eine Frau den Mann sonst liebt. Er sollte sein Leben mit ihr verbringen, sie stützen, wenn es schwer wurde, und ihr lachen helfen, wenn sie glücklich war. Es gab das wohl nur unter Männern. Aber war sie denn noch Weib, das einer wirklich begehrte? Hatte sie selber noch Begierde? Brigitte blieb die Antwort schuldig. Sie feierten Weihnachten miteinander. Eigerle war traurig und beglückt. Er roch den Harzduft des Baumes und den Wachsrauch der Kerzen und sah kein Licht. Die Kinder sangen, spielten und sangen, aßen und sangen. Sie waren nichts als Lärm und Fröhlichkeit. Brigitte betete zu dem Engel, der an der Spitze des Baumes hing und dem Himmel dadurch näher war: »Wenn er noch lebt, dann gib ein Zeichen, damit der blinde Mann weiß, was ich tun kann und was ich lassen muß!« Es war kein frohes Fest. Rese hatte eine Puppe, Thomas ein Buch bekommen, und sie schliefen beide mit ihren Schätzen an der Brust. Brigitte und Eigerle saßen stumm nebeneinander und wagten beide nicht, das erste Wort zu sprechen. So ist ein Tag der größten Gefahr glücklich vorübergegangen, auch wenn sie sich selber unglücklicher wähnten, als je.
Vorlenz blieb verschollen. Es geschah kein Zeichen. Er war ohne Zweifel tot. Aber die Behörde wollte das nicht anerkennen. Sie brauchte Beweise. Wie soll das ein Toter machen? Und wie hätte es Brigitte können? Sie wartete. »Ein Mensch kann doch nicht einfach verschwinden«, meinte sie und wartete beharrlich. Etwas mußte kommen. Und es kam. Sie saßen eben bei der Suppe. Da klopfte es. Ein Herr stand da und grüßte höflich. Sein Mantel war noch militärisch, die Hose schon zivil.
»Ich heiße Leitermeier, bin Fähnrich und heiße Leitermeier«, stellte er sich hastig vor, trat auf Brigitte zu und fragte überflüssig: »Könnte ich Frau Vorlenz sprechen?« Er kam unbedingt in einer Mission. Man merkte das aus seiner Haltung, auch an seiner Stimme.
»Bitte?«
Brigitte zitterte erwartungsvoll. Eigerle horchte auf. Thomas legte den Löffel weg. Nur Rese aß weiter. Der Herr zog sein Gesicht in künstliche Falten und räusperte einen Dämpfer vor den Kehlkopf, ehe er leichenbitter fortfuhr:
»Dann tut mir leid, aufrichtig leid, Ihnen sagen zu müssen, Frau Vorlenz, daß Ihr Mann am siebenundzwanzigsten April vorigen Jahres an der Piave gefallen ist.«
Brigitte griff hinterrücks nach einem Sessel. Thomas kam ihr zu Hilfe. Eigerle erhob sich aufgeregt. Nur Rese maulte verständnislos:
»Eßt doch! Die Suppe wird kalt.«
Der Herr streichelte gutmütig ihren Scheitel, wartete indes die Wirkung seiner Worte ab, war sehr zufrieden damit und berichtete, was er noch wußte, mit der Würde eines Mannes, der Offizier gewesen ist und sich zu geben weiß:
»Er war bei meinem Zug und hat sich tapfer gehalten. Ehre seinem Andenken! Ein guter Kamerad, ein braver Soldat! Er liegt in Udine begraben. Hier ist seine Kapsel.«
Brigitte hielt eine blecherne Hülse in ihren Händen, wußte nichts damit anzufangen, machte sie mehr zufällig auf, nahm einen Zettel heraus und las und weinte:
»Johann Vorlenz ... gefallen am siebenundzwanzigsten April eintausendneunhundertsiebzehn ...«
Nun war es doch ein harter Schlag. Thomas hielt die Mutter umschlungen. Der Blinde sprach ihr zu. Selbst Rese hörte zu essen auf. Der Herr stand da wie einer, der seine Pflicht getan hat und gehen könnte. Er ging aber nicht. Er wartete eine Weile, hustete dann und sagte, als ob er sich für sein Amt entschuldigen müßte:
»Zwanzig Kronen ist die Taxe. Fünfzehn Kronen Steuer, drei Kronen Vermittlungsgebühr und zwei Kronen ...« Das war nicht mehr verständlich.
Brigitte erbleichte. Wo sollte sie zwanzig Kronen hernehmen? Und warum mußte sie noch zahlen, wenn ihr der Mann gefallen ist? Eigerle zog seine Brieftasche, fingerte darin um und legte das Geld hin. Er tat es gern. Man muß gerecht sein und menschlich denken. Für den lebenden Vorlenz hätte er keine Krone hergegeben; der tote war ihm zwanzig Kronen immerhin wert. Es ist vielleicht nicht edel, aber doch begreiflich gewesen. Der Herr ließ nur den Zettel da. Er nahm sogar die Hülse wieder mit, dankte nachlässig, wie es sich für ihn gebührte und empfahl sich schnell. Er hatte allen Grund dazu. Die Polizei suchte seit Wochen nach ihm, denn er ist kein Fähnrich, sondern ein gemeiner Schwindler gewesen. Sein Trick war einfach. Er holte aus den Verlustlisten die Namen vermißter Krieger heraus, schrieb sie auf einen Zettel, setzte irgend einen Sterbetag daneben, steckte das Dokument in eine jener Hülsen, wie sie jeder Mann vor Abgang in das Feld erhalten hatte, besuchte die Frauen seiner Opfer und kassierte, nach Stand und Vermögen verschieden, seine Taxe ein. Das Geschäft florierte, denn es war auf dem Entsetzen und der Verwirrung seiner Kunden aufgebaut. Die Spekulation gelang beinahe immer. Selbst Brigitte ist es nicht zum Bewußtsein gekommen, daß ihr Mann am siebenundzwanzigsten April vorigen Jahres noch in Wien Beamter war und schon deshalb nicht gut an der Piave fallen konnte.
Die Folgen dieses Betruges waren sonderbar genug. Brigitte wurde fröhlich, als wäre nun erwiesen, daß Vorlenz wohlbehalten und gesund im schönen Italien lebte, daß er nur aus gewohnter Faulheit nicht schrieb und bloß vergessen hat, zurückzukommen, weil es ihm dort besser gefiel, ... als ob das für sie ein Grund zur Fröhlichkeit gewesen wäre. Eigerle wieder glaubte steif und fest an den Tod des Mannes, obwohl das Datum nicht stimmte, glaubte sogar an den lächerlichen Zettel, auch wenn der Überbringer ein Schwindler sein sollte, glaubte trotz Taxe und Geschäft an dessen Sendung, weil es ihm paßte und er zwanzig Kronen dafür bezahlt hatte. So machen sich die Menschen zum Narren ihrer selbst, wenn es das Glück will und wenn sie es selber wollen.
Wieder war eine Woche um. Sie ist der reinste Taubenschlag gewesen. Jeder Tag war geflügelt, saß eine Weile auf der Sprieße, zupfte sich ein Federchen aus und flog davon. Fort war er. So ging es eine ganze, schöne Woche lang. Eigerle bezahlte abermals mehr, als er schuldig war. Wieder wehrte sich Brigitte. Er ließ jedoch nicht locker. »Ich gebe, was mir die Sache wert ist, eine Woche mehr, eine andere weniger.« Es war gewiß nur ein Spaß, denn er lachte. Brigitte konnte nicht so lustig sein. Sie dachte ernste, traurig ernste Dinge dabei. »Vorlenz hat alles gehabt, was ein Mann braucht, und ist immer nur unzufrieden gewesen; der da hat nichts als einen Platz an der Wand und ein Bett in der Küche und ist vergnügt und selig dabei ... Vorlenz hat sich nie um mich gekümmert, obwohl ich seine Frau bin; der da ist fremd und kann sich gar nicht genug tun für uns ... Wo fängt also die Pflicht an? und wo hört das Recht auf?« Brigitte hatte das Gleichgewicht verloren. Da half kein Beten und kein Glauben. Ihr Herz rollte wie ein Ball dorthin, wohin es der Augenblick stieß, und war nirgends vor dem nächsten sicher. Brigitte tat munter, weil Vorlenz nicht tot war, und konnte sich anders über den lebenden kaum freuen. So verrückt kann es unter uns Menschen zugehen, und so in der Irre landet man auf dem geradesten Weg. Eigerle war blind, aber seine Seele hatte hundert Augen und sah Brigitte mit jedem einzelnen immerfort fragend an: »Bin ich dir nichts, kann ich dir gar nichts sein?« Es war schwer, mit ihm zu leben, in einem Zimmer zu atmen, an einem Tisch zu sitzen und nicht auch in einem Bett zu schlafen. Brigitte dachte an Freundschaft, aber das ist nur ein Wort gewesen. Er liebte sie. Er machte nunmehr auch kein Geheimnis daraus, gab sich, wie es ihm paßte, dämpfte nicht einmal seine Stimme ab, wenn die Kinder in der Nähe waren, und hätte es unbedingt tun müssen, denn es klangen Gefühle darin auf, die niemals Rede werden durften.
Sie sprachen noch diesen Abend davon. Eigerle fand die Zeit wieder gekommen, nahm seine Harmonika aus dem Kasten, setzte sich an den Tisch und spielte. Thomas und Rese hatten noch nicht geschlafen, rissen sich in ihren Betten hoch und horchten und staunten. Brigitte empfand mit Ängsten, was es bedeuten sollte, saß wie ein Opfer nebenbei und wartete verschreckt. Es war längst in ihr entschieden, daß sie fallen mußte. Vorlenz konnte sie nicht halten. Er war fern und schrieb keine Zeile, war tot, auch wenn er lebte. Eigerle spielte, hatte das Instrument wie ein Kind an der Brust liegen und herzte es, daß einem die Augen feucht wurden vor Sehnsucht, auch ein solches Kind an seiner Brust zu sein und sich herzen zu lassen. Thomas schien ganz entrückt. Er hielt die Blicke ins Weite gerichtet und regte sich nicht. Rese lachte. Was immer kam, ihr wurde alles zur Freude, ob es nun Essen war oder Musik. Sie lachte sogar im Schlaf, weil es ihr gut gefiel, warm unter einer Decke zu liegen und nichts von dieser Welt zu wissen, von der sie doch kaum etwas wußte. Und nun sang er gar. Eigerle hatte noch nie gesungen. Brigitte lächelte unter Tränen. Es war da ein Ton in seiner Stimme, der sie aufquirlte, daß alles, was jemals in ihr Traum oder schon Wunsch gewesen ist, nach oben stieg und sie bedrängte.
»Das war lustig!« jauchzte Rese und sprang im Hemd aus dem Bett.
»Noch einmal!« bat Thomas und legte sich hin und schloß seine Augen, um besser zu hören.
Und der Blinde spielte, trieb ein paar störrische Akkorde zusammen, jagte sie wieder weg und sang dann so leise, daß man die Worte kaum verstehen konnte, wenn man sie nicht wußte:
»... Mädchen, du hast mir gefallen, ... bist mir die Liebste von allen ...«
Brigitte stand auf, stand eine Weile unschlüssig herum und lief dann in die Küche hinaus, schlug die Türe zu und war weg. Sicher hatte sie etwas vergessen, hatte vielleicht die Milch auf dem Feuer und ... Nein, es war nichts, kein Feuer und keine Milch, nichts war geschehen, nur sie selber war in Brand geraten und mußte sich retten.
Eigerle spielte und Rese tanzte, drehte sich wie eine Spindel im Kreis, bis sie schwindlig wurde und hinfiel und lachte. »Komm! Komm doch!« rief sie gellend nach der Mutter, als wäre dieser Spaß zuviel für sie allein.
Brigitte kam nicht, blieb draußen und lärmte, schob eine Lade auf und wieder zu, klirrte mit Gläsern, klapperte mit den Tellern und wollte nicht kommen. Das merkte nun auch der Blinde. Er gab das Spiel auf und ging schlafen. Brigitte machte gerade sein Bett. Eigerle stand daneben und hörte sie atmen, hörte ihr Herz klopfen, fühlte genau den Raum, den ihr geliebter Körper in der Luft einnahm, griff ohne zu suchen hin und kriegte einen Arm zu fassen.
»Bist du mir böse?« fragte er und küßte ihre Hand.
Das hatte er noch nie gewagt. Brigitte schwankte, ob sie ihn an sich reißen oder fortschicken sollte, hätte beides tun können und hatte zu keinem den richtigen Mut.
»Sie dürfen nicht davon reden, ... wenn Sie bleiben wollen, dann dürfen Sie nie davon reden, Herr Eigerle«, sagte sie mit einer Stimme, die nur der Schatten ihrer Stimme war, entzog ihm ihre Hand und ging in das Zimmer, wäre lieber gelaufen oder noch lieber geflogen und ging doch ganz langsam, als hätte sie keine Angst, nicht die Spur einer Angst und sperrte gewiß nur die Türe ab, weil er sich fürchtete, nicht sie.
Eigerle lag wach. Er hatte ihre Hand geküßt, und das ließ ihn nicht schlafen, machte seine Pulse zu Trommeln und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Das Spiel war gewonnen. Er dachte so, meinte es aber nicht. Es geht mit den Worten wie mit dem kleinen Geld. Man gibt es aus und wägt es nicht. Auf den Lippen wird alles leicht. Aber die Wahrheit sitzt tiefer und hat meist ein anderes Gewicht. Der blinde Mann machte die Augen zu. Doch das bedeutete kaum etwas. Er sah auch mit offenen nichts. Ob er schlief? Daß er schon träumte, war sicher. Seine Gedanken wirbelten in unzähligen Flocken durcheinander. Und wenn er nach einer tappte, um sie festzuhalten, dann hatte er ihrer hundert in der Hand und wußte nichts mit ihnen anzufangen. Er war einmal schon verliebt gewesen. Das Mädchen hieß Marie. Es war nicht schön. Das hätte er noch sehen können, doch seine Augen waren vermutlich schon damals blind, denn er sah es nicht. Er hörte es nur so lange von anderen behaupten, bis er es glaubte. Und das tut keiner Liebe gut. Brigitte war schön. Das mußte selbst Frau Grießner zugestehen. Und er sah es auch, obwohl er blind war. So wenig kann man sich auf seine Augen verlassen. Und nun hatte er ihre Hand geküßt ... Sein Schlaf wurde ein Meer und seine Seele ein Schiff. Es schaukelte wellauf, wellab. Woher? Wohin? Der Glückliche fragt nicht nach Zeit und Ort. Er läßt sich treiben und ist auch auf einem Schiff nur Kind in der Wiege, liegt da und lächelt und will nichts sonst sein, als was er ist.
Brigitte flüchtete zu Gott. Er mußte raten, mußte helfen. Die Bitte zu ihm war Gebet, der Weg dahin wurde das Bild der Mutter an der Wand. Noch brannte das Licht davor, leuchtete der blaue Mantel auf, grüßte ein bleiches, leidvolles Gesicht herab. Dennoch war etwas anders geworden seitdem. Brigitte konnte das Bild dort nimmer anschauen, ohne an den fremden Mann zu denken, der darunter seine Werkstatt hatte und nicht mehr fremd sein wollte und es fast auch nimmer war. Er hatte ihre Hand geküßt. Er hatte nach ihr gegriffen, hatte ihre Nähe gefühlt, hat sie wie eine Liebste angesprochen, hat ihre Hand gefunden und sie geküßt ... Es wurde kein Gebet. Brigitte kniete vor dem Bild, hämmerte mit beiden Fäusten gegen ihre Brust, neigte die Stirn bis an den Boden hinab und konnte doch nicht beten, weil der blinde Mann zwischen ihr und Maria stand und Gott nicht half, der doch hätte helfen können.
Eigerle ließ wieder eine Zeit vergehen. Er war klug, wenn auch nicht aus Berechnung, so doch aus dem Gefühl, daß jede Liebe werden muß wie eine Frucht. Der Regen macht es nicht allein, auch nicht die Sonne. Alles hat seine Weile vorgemessen. Und wer warten kann, der hat schon halb gewonnen. Er hatte nichts zu fürchten. Seine Seele war bereit, und ihre wurde es. Das merkte er an allem, was geschah, auch wenn er es nicht sehen konnte. Brigitte fürchtete sich vor ihm. Er mußte also schon der Stärkere sein. Sie blieb den ganzen Vormittag in der Bedienung, hatte früher nie so viel zu tun gehabt und wurde jetzt kaum fertig, um noch schnell das Essen zu kochen und im Zimmer aufzuräumen. Das war verdächtig. Eigerle sagte aber kein Wort. Und so entschuldigte sich Brigitte eines Tages ungefragt:
»Ich muß die Böden abziehen. Sie haben einen Stich ins Braune, und ein richtiger Boden soll blond sein.«
»Ei, freilich«, schmunzelte Eigerle und schnitt mit seiner Schere die vorwitzigen Härchen einer Nagelbürste weg. Brigitte fand, daß er nicht hätte schmunzeln müssen, fand vor allem seine Art, wie er die Härchen wegschnipste, beleidigend für sie und schämte sich. Er war eben schon der Mann und sie die Frau geworden. Vor kurzem noch ist er bloß Mieter gewesen. Heute wurde er anmaßend. Sie übertrieb. Es kam vermutlich von ihrem aufgeregten Wesen und der beständigen Angst, sich zu verraten. Sie wurde bald rot, bald blaß und zitterte, wenn er sie ansprach, als müßte nun alles offenbar werden, der Betrug an ihm und ihre Lüge vor sich selbst. Er konnte es freilich nicht sehen. Und das war ihr Trost. Die Stimme ist leichter zu zügeln. Man braucht bloß zu schweigen. Und Brigitte schwieg seitdem, soweit es ging. Was der Alltag an Gesprächen bringt, ist keine Rede, das schwirrt von den Lippen wie ein Spatz von der Dachrinne. Richtige Worte sind Tauben. Sie fliegen in den Himmel oder kommen von oben. Und das ist nun schon lange nicht geschehen zwischen ihnen.
Frau Grießner fand also recht ausgehungerte Ohren, als sie dieser Tage hinüberhuschte und den Blinden allein antraf. Die Kinder waren in der Schule, und Brigitte zog unten die Böden ab. Eigerle war nicht erbaut von dem Besuch. Er hatte plötzlich keine Zeit und keine Lust, schien auch kaum neugierig und verzichtete ungehört auf jede Nachricht aus dieser Quelle. Frau Grießner ließ sich jedoch nicht abwimmeln. Sie verstand eine gute Gelegenheit zu schätzen und nahm Platz, obwohl er ihr mit Absicht keinen Sessel angetragen hatte.
»Wie geht's? ... Was treiben Sie immer? ...« Die üblichen Fragen, deren Beantwortung niemand interessiert und die jeder nur als Spione den eigenen Mitteilungen vorausschickt. Eigerle gab sich denn auch gar keine Mühe damit und fing an von Brigitte zu reden. Er lobte sie als brave Frau und gute Mutter, sprach von den Kindern und lobte auch diese, kam aber immer wieder auf Brigitte zu reden, nützte ihr kaum dadurch und machte sich selber verdächtig. Frau Grießner war unbedingt seiner Meinung, doch die anderen sind es nicht gewesen, schon lange nimmer: Die Milchfrau, die Greislerin, Frau Gröger besonders, die Hausmeisterin. Sie hatte gestern erst getuschelt, bei der Greislerin und dann auch bei der Milchfrau, daß es bald eine Hochzeit geben wird, daß er, Eigerle, und Brigitte Vorlenz ... wenn auch nicht gerade Hochzeit, so doch das, was man darunter versteht und was auch alle gleich verstanden haben.
»Was denn?« schrie der Blinde empört auf und wog die Bürste wie einen Stein in der Hand.
»Na, na!« beruhigte ihn Frau Grießner, was sie selber anging. »Ich habe nur zugehört, und das ist nicht verboten.«
»Wer sagt ...?« keuchte er weinerlich nach.
»Das tun die meisten.«
»Was sagen Sie, ... die meisten?« Er hatte schon viel weniger Stimme und gar keinen Mut mehr.
»Daß es hier nicht richtig zugeht, ... Sie verstehen schon, ... und daß die Sache noch ein schlimmes Ende nehmen wird«, wurde Frau Grießner mit eins persönlich und rückte näher hin.
»Was meinen Sie?« stotterte Eigerle, schon völlig hilflos und entgleist.
»Ich kenne ihn,« flüsterte Frau Grießner, »ihren Mann, diesen Herrn Vorlenz, und kann Ihnen sagen, daß er Sie ausbrennt wie ein Wespennest, wenn er heimkommt, und das wird er, das hat er dem Wirt vom ewigen Leben schon geschrieben, ... daß er Sie mit den Fäusten an die Wand nagelt und seine Frau dazu ...« Sie konnte sich gar nicht genugtun an den Grausamkeiten, die Johann Vorlenz vollbringen wird, wenn er zurückkommt, was ihrer Ansicht nach schon heute oder morgen zu erwarten war.
Eigerle schwieg betroffen. Er fürchtete nichts für sich, doch alles für Brigitte. Es durfte nicht sein, daß sie in fremden Mündern zermahlen wurde, daß er die Ursache war, ohne es zu sein, und daß dieser Vorlenz glauben könnte, es wäre. Sein Tod war ungewiß. Brigitte hatte vielleicht recht. Der Fähnrich war ein Schwindler. Die Botschaft ist falsch gewesen. Und was heute nicht war, das konnte morgen werden.
»Ich ziehe aus«, entschloß sich der Blinde und hatte damit sein Urteil gesprochen.
Frau Grießner wurde gern zum Henker. Sie kannte die Witwe Brünner. Ihr Mann ist Beamter gewesen, Briefträger oder so.
»Feine Partie!« schnalzte sie mit der Zunge. »Feine Wohnung: zwei Zimmer und ein Kabinett!« Ihr gerann förmlich der Speichel im Mund. »Fein eingerichtet: altdeutsch mit Klavier!«
»Ja, bitte!« erklärte sich Eigerle einverstanden und konnte es doch unmöglich sein.
Frau Grießner fragte nicht darnach und ging auch schon geschäftig ab. In der Türe traf sie mit Brigitte zusammen. »Er zieht aus«, berichtete sie schadenfroh und seufzte gleichzeitig. Frauen können das. Sie schlagen mit der Rechten und streicheln mit der Linken.
Brigitte ließ die Nachbarin gehen, trat vor den Blinden hin und reichte ihm die Hand. Das hätte auch heißen können: Bleib! Doch es hieß: Geh! Dann weinten sie beide, saßen einander stumm gegenüber und weinten.
Nächsten Morgen lief auch schon die Witwe herbei. Frau Grießner hatte es eilig. Aber es wurde nicht. Eigerle wollte noch über den Sonntag bleiben und dann erst gehen. Brigitte ließ ihn tun, was ihm beliebte. Für sie war er schon gestern gegangen. Die Kinder konnten es nicht fassen. Rese wollte überhaupt mit. Und Thomas fragte immerzu mit Blicken und mit Worten:
»Warum? ... Warum denn?«
Brigitte hörte nicht. Sie wußte ganz genau, daß es hier keine Antwort gab, die man ihm hätte geben können.
Sonntag spielte Eigerle zum letzten Male auf der Harmonika. Er versuchte auch zu singen, doch es ging nicht recht. Die Stimme flatterte wie ein gefangener Vogel in der Kehle. Oft kam der Ton gar nicht auf die Lippen, zerschlug sich an den Zähnen und brach in Scherben von Lauten auseinander, die alles eher denn Gesang waren. Es gefiel auch keinem. Rese kaute an ihren Nägeln. Thomas schielte bald auf Brigitte, bald auf den Blinden. Er ahnte im Trüben, daß da etwas nicht in Ordnung war, und konnte nicht wissen was, selbst wenn er es gewußt hätte. Für ihn gab es gar keine Wahl. Eigerle war blind und mußte schon deshalb hier bei ihnen bleiben. Der Vater hatte gesunde Augen und konnte überall sein.
Frau Grießner war ohne Einladung herübergekommen. Sie tat also besonders freundlich und vergnügt und nahm sich ungemein wichtig. Brigitte mußte ihr doch schließlich dankbar sein. Sie hätte große Unannehmlichkeiten gehabt. Vorlenz verstand keinen Spaß, besonders dort, wo keiner zu verstehen ist. Und dann war es auch besser so. Der Blinde konnte doch nicht sehen, in welches Elend er hineingeraten war. Man mußte ihm helfen, mußte ihm beistehen, schon weil er blind war. Brigitte ließ nicht merken, was sie empfand, gab sich wie immer und wollte es auch weiterhin tun. Eigerle war empört. Er kannte Frauen nicht und überschätzte sie vermutlich stark. Jeder Mann hält die Eitelkeit für eine schmückende Sünde und lächelt darüber; nur die Frauen wissen, daß sie ein gefährliches Laster ist. Eigerle hörte übrigens bald zu spielen auf, und damit war das Konzert zu Ende. Und weil auch keiner etwas reden wollte, ging der Abend aus wie das Licht einer Lampe, in der das Öl versiegt. Frau Grießner bemühte sich freilich um das Gegenteil. Sie erzählte Dinge, die niemand hören mochte: Daß die Trafikantin nun doch einen Mann gefunden hat, einen Sechziger, der wie siebzig aussieht, ... daß der Kohlenhändler vors Gericht kommt, weil sein Gewicht nicht stimmt, ... und daß Herr Stein, der Hausherr Stein, alles Geld verspekuliert hat und fertig ist. Da hätte Brigitte unbedingt widersprechen müssen, weil sie diese Lüge täglich offenbar vor Augen hatte, doch nicht einmal dazu reichte ihre Kraft. Und so verging auch der Nachbarin die Lust zum Reden und zum Bleiben. Ihr Zweck war überdies erreicht: Es wurde kein Abschiedsfest. So gehässig werden Menschen, wenn es sich um gekränkte Liebe handelt. Dennoch geschah zur selben Zeit, daß Frau Grießner heimlich an einer Schürze für Rese schneiderte und sich schon närrisch darauf freute, sie schenken zu dürfen. In ihrem Herzen lag also Gut und Schlecht knapp nebeneinander, ein Zustand, den wiederum kein Mann begreift, weil er mit dem Gehirn nicht auszumessen und nicht abzuwägen ist.
Man ging schlafen, früher als sonst und ohne Bedürfnis. Die Kinder schliefen wohl wie immer ein. Ihre Tage zählen dreifach. Ihre Müdigkeit kommt aus den Umwegen, die sie machen, und aus den Beschwerden, die sie dabei mitschleppen. Wir sagen spielen und meinen etwas Leichtes, Geflügeltes damit. Aber man sehe sich die Kinder einmal nachher an, wie sie erschöpft und ausgegeben sind, wie sie sich rechtschaffen gerackert haben, und wie da so gar kein Unterschied zwischen ihrem Spiel und unserer Arbeit ist, es sei denn der, daß wir unsere Geschäfte immer nur halb, sie aber ihre Spiele ganz verrichten. Brigitte lag auf dem Rücken und starrte unverwandt zur Decke. Dort spiegelte sich das ewige Licht in zitterigen Ringen ab, war bald ein Auge, das ausgeronnen blinzelte, bald ein verdrossener Mond, der unterging, bald nichts als Schein, doch immer etwas, an dem ihre Blicke hängen blieben und ihre Gedanken auf- und niederturnten.
Eigerle saß angekleidet auf dem Bett und wartete. Er hörte durch die Wand Frau Grießners Turmuhr schlagen, kannte sie von drüben her und zählte ihre Schläge mit. Es war noch zu früh. Er mußte also irgendeine Absicht haben. Es wurde neun vorbei. Die Kinder schliefen gewiß schon fest. Aber es war ihm doch nicht sicher genug. Und er wartete immer noch. Die Uhr schlug zehn. Es mußte schon stockdunkel sein und niemand etwas sehen. In der Nacht sind alle Menschen blind, werden die Blinden wiederum gesund. Eigerle hätte es längst wagen können, wartete aber doch. Brigitte durfte nichts merken. Es wäre sein Tod, wenn sie dabei erwachte. Wieder schlug die Stunde. Es war elf. Nun schien ihm seine Zeit gekommen. Er richtete sich auf und horchte. Stille war, soweit er hören konnte, nur die Uhr tickte, und sein Herz schlug. Er stand auf und wartete wieder. Ein Wagen fuhr durch die Gasse. Die Fensterscheiben klirrten leise, als wären sie geweckt worden, schliefen aber gleich darauf nur noch fester ein. Die Uhr und das Herz tickten weiter, schlugen gemeinsamen Takt. Eigerle zählte genau. Doch es wurde nicht anders. Er stand auf den Zehenspitzen und stieg bedacht durch die Küche, brauchte zehn Schritte zu einem und mühte sich ab. Es war ein weiter Weg, mit Angst gepflastert und von einem jähen Schrecken unterbrochen. Ein Brett hatte geknarrt. Der blinde Mann versteinerte. Er meinte alles schon verloren und stand auf dem Sprung, zurück ins Bett zu flüchten. Aber es wurde nichts. Nur sein Kopf sauste und seine Pulse pochten. Er hob die Hand, hob eine Hand und tastete nach der Tür. Ein Finger fand die Klinke. Und ein Jubel durchzuckte sein Herz: Sie stand offen. Die Türe war nur angelehnt, und das hieß offen. Eigerle wippte in sich auf und ab. Dann tauchte er langsam, wie eine Schnecke langsam die Türe zurück, setzte einen Fuß über die Schwelle und zog den anderen nach, blieb stehen und dachte sich zurecht: Jetzt einen Schritt geradeaus. Er zögerte. Da war nämlich eine häßliche, bösartige Stelle, die immer quietschte, wenn man sie trat. Er wagte es dennoch. Und sie schwieg. Sie schlief. Es war schon spät, und das ist gut gewesen. Eigerle freute sich und überlegte seinen Plan. Jetzt mußte er nach links. Das war gefährlich, denn da stand der Tisch und eng dabei das Bett. Er tastete mit tausend Fühlern an den Fingern. Es gelang ihm wirklich, ohne Anstoß durchzukommen, obwohl er schwankte wie ein Schiff, das sich aufs Meer begibt und in die Wellen sticht. Ein Gott half, ihr Gott, denn es gab hier keine anderen Götter. Nun war das Schwerste überwunden. Er wußte genau: Drei Schritte gerade fort, nicht groß, nicht klein, drei mittlere, gewöhnliche Schritte. Er zählte aus Vorsicht mit, denn der vierte Schritt stieß schon an einen Sessel. Und das hätte alles verdorben. Jetzt war er am Ziel, beinahe schon am Ziel. Er mußte wohl noch links hinein, aber das war ihm vertraut wie seine Tasche. Da stand auf der einen Seite sein Tisch und auf der anderen das Bett, ihr Bett, dachte er wörtlich und vibrierte wie eine Saite, die zu sehr gespannt ist und reißen will. Er zitterte hin, hielt davor an und mußte sich selber halten, um nicht hinzufallen, so aufgeregt und so entfesselt war sein Herz. Brigitte lag vor ihm. Er hörte sie atmen, spürte den warmen Hauch und roch den süßen Geruch von frischer Milch, der ihr eigen war und sie von allen Frauen köstlich unterschied. Eigerle hatte das hohe, herrliche Gefühl, vor einem Heiligtum zu stehen, und wäre bald auch in die Knie gesunken. Doch das hätte ihn verraten müssen. Und er ist nicht gekommen, um sie anzubeten. Das tat seine Seele, ohne ihn zu fragen, tat es ohne besonderen Auftrag, wie Farben leuchten, Rosen duften, so betete er sie heimlich an. Brigitte schlief. Der Blinde bohrte sich mit dem Gehör bis auf den Grund der Stille rings um ihn und war gewiß: Sie schläft, sie hat die Augen geschlossen und träumt vielleicht. Was wäre es ihm Glück gewesen, zu wissen von wem! Eigerle zweifelte keinen Augenblick, daß es nur er sein konnte, nicht der andere. Er liebte sie, nur er allein, nur sie allein. Der andere war einen Traum nicht wert, auch wenn er der Mann ist und der Vater ihrer Kinder war. Da schluckte ein Geräusch. Der Blinde rammte sich fest. Die Uhr ... es war ein Stocken in der Uhr. Die Zeit wollte ihm helfen, wollte anhalten, und das durfte nicht geschehen. Jetzt aber ... Ein Kind drehte sich um. »Thomas«, erkannte Eigerle nach der Richtung und mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht selbst um Hilfe zu schreien. Es wäre natürlich ein Wahnsinn gewesen, hätte ihn aber doch von allen Ängsten befreit. An seinen Nerven liefen unzählige Funken auf und ab. Er spürte sie brennen, hörte sie knistern. Dann war wieder Ruhe, in sanfter Weite und in unendlicher Tiefe Ruhe um ihn. Eigerle faßte Mut. Er pumpte sich mit Luft voll, krampfte die Hände an seine Brust und beugte sich hinab. Ihr Atem wehte über sein Gesicht. Er trank ihn wie der Durstige das Wasser, und ihm war, als ob er eine Seele tränke. Er krampfte die Hände noch fester an seine Brust und beugte sich noch näher hin. Ihr Atem stieß an seinen Mund. Die Brücke war gefunden. Und er küßte ihre Lippen, beugte sich ganz tief hinab und preßte einen Kuß auf ihre Lippen. Es war seine höchste Lust und seine größte Angst. Dann ging er, schob sich wie ein Schatten aus dem Zimmer, schloß die Türe hinter sich und fiel in den Schlaf, als ob ihn eine Ohnmacht überfallen hätte.
Brigitte hatte nicht geschlafen, hatte ihn kommen hören, hatte ihn fast auch erwartet, hatte still gehalten und sich nicht gerührt, hatte seinen Kuß erduldet und lag nun wie tot in ihrem Bett, so schwer ist es für sie gewesen und so schmerzlich war es nun.
Nächsten Morgen kam die Witwe Brünner und holte Robert Eigerle ab. Sie bot ihm den Arm und hätte damit warten können, bis sie draußen waren. Der Blinde mußte geführt werden. Das ist richtig. Aber die Art dieser Frau war mehr als Hilfe, ist schon ein Triumph gewesen, und das verletzte Brigitte, auch wenn Eigerle selber nur das Opfer war. Er verabschiedete sich kurz und förmlich. Die Witwe sollte nicht glauben, was doch längst alle wußten. Dafür hatte Frau Grießner schon gesorgt. Sie half das Werkzeug verpacken und machte sich in jeder Weise unentbehrlich. Brigitte ließ sie gewähren. Es ging doch nur um den Schein, und der war ihr gleichgültig geworden. Er mußte es auch für Eigerle sein. Er war ja blind. Und wie es in ihm aussah, das wußte sie besser als irgend jemand, das hatte sie ganz allein erfahren und wird es auch für sich behalten. Das Schönste einer Liebe ist der erste Kuß, und nichts kann schöner sein, als wenn er auch der letzte bleibt. Ein Dienstmann führte Bank und Tisch und Koffer weg. Dann war es aus. Dann erst konnte sich Brigitte hinwerfen und schluchzen, weil ihr wiederum eine Liebe gestorben ist. Die Kinder fanden sich zwiespältig ab. Rese tat zornig, als ob nur die Mutter daran schuld wäre; Thomas wurde traurig und fragte besorgt:
»Wird er es gut haben? Und sind auch Kinder dort?«
Man konnte ihn trösten. Die Witwe wird dem blinden Mann kaum etwas abgehen lassen. Und die Kinder konnten ja noch kommen. Er war jung, und sie auch nicht gerade alt.
Etwas lag in der Luft. Frau Grießner hatte sich im Monogramm geirrt und ein Dutzend Taschentücher falsch bestickt. Rese war schuld daran, doch man erfuhr nicht recht wie. Thomas hatte ein Buch verloren und sollte es ersetzen. Der Preis war unerschwinglich. Das Brot blieb eine Woche völlig aus. Die Miete war zu zahlen. Und Herr Stein hatte seit einem Vierteljahr keinen neuen Anzug bekommen. Er war nicht fertig. Das wäre lächerlich zu sagen. Es ging unten immer noch vornehm und reichlich zu. Aber sie sparten doch im kleinen. Es gab keine Kuchenreste mehr, wurde sogar fettes Fleisch gegessen und selbst das Gemüse aufgewärmt. Brigitte fürchtete schon insgeheim um ihren Posten und klopfte jeden Morgen zaghafter an die Türe, war froh, wenn sie ihr Geld erhielt, und dankte, als ob sie es geschenkt erhalten hätte. Sie hatte überdies noch Pech und stieß eine Schäferin aus Porzellan von der Kommode. Der Teppich war gut einen Daumen dick, und kein Mensch wäre darauf zu Schaden gekommen. Aber das feine, zierliche Persönchen brach sich trotzdem einen Arm, mit ihm die Hand und mit der Hand auch einen Stab, den sie wie einen Blumenstengel in den Fingern hielt. Man nannte das Ereignis ein Malheur, und das mußte weit schrecklicher sein als ein gewöhnliches Unglück, denn Herr Stein zog eine böse Falte über die Stirn, Phine weinte, obwohl sie sich nie um das vertrackte Ding gekümmert hatte, und Fräulein Lola ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, endlich einmal derb und grob mit der Bedienerin zu schimpfen. Es wurde dennoch keine Kündigung daraus, und so ist alles glimpflich abgegangen. Aber da fiel eines Abends ohne Ursache das Muttergottesbild von der Wand. Sie saßen gerade bei Tisch und löffelten ihren Tee, den Brigitte aus gedörrten Apfelschalen gekocht und mit Sacharin gezuckert hatte, ... da geschah es. Man hörte erst ein Rascheln, als ob Mäuse durch die Mauer kämen, dann ein hartes Fallen, als ob wer mit einem Hammer auf den Boden schlüge, dann ein helles Klirren, als ob jemand eine Fensterscheibe eingeschlagen hätte, und dann sah man die Bescherung. Das Bild ist ganz geblieben. Aber das ewige Licht war hin. Die Mutter schrie geängstigt auf. Rese lief ihrem Schrecken nach in die Küche hinaus. Und Thomas lallte gedankenlos:
»Es ist was geschehen.«
Er meinte gewiß nur, was seine Augen sahen, doch Brigitte nahm die Worte als ein zufälliges Orakel hin und wurde auch in ihrer Seele bang. Das Öl schwamm dick und teigig auf dem Boden und war in fetten Tropfen weit in das Zimmer gespritzt. Brigitte wusch und rieb und konnte sich die Sache nicht erklären. Das Bild hing schon seit Jahren dort und hat sich nicht gerührt. Daß alles einmal anders wird, wurde ihr nicht bewußt. Wahrscheinlich hatte Eigerle doch hin und wieder an den Rahmen gestoßen und damit den Nagel in der Wand gelockert. Das war zu denken. Aber die Bedeutung blieb. Thomas hatte es ausgesprochen. Und die Mutter wartete seitdem auf das, was nun geschehen mußte, dachte an Krankheiten und Tod und fand keine Ruhe, obwohl das Bild längst wieder an der Wand hing und ein Licht davor brannte.
Es wurde ein nasser, unfreundlicher Mai. Ein Regen jagte den anderen, und wenn einmal doch auf eine Stunde oder zwei die Sonne schien, dann machte sie ein Gesicht, als wäre ihr diese Erde zu sauer geworden und den Tag nicht wert, den sie bescheinen mußte. Die Menschen waren kaum rosiger zu nennen. Sie gingen wie Igel herum und stellten die Stacheln auf. Nur die Kinder lobten sich ihre Welt und liebten sie. Ihre Herzen sind eben klüger als unser Verstand. Sie finden die Sonne schön, wenn sie scheint, und den Regen herrlich, wenn er schnurdick herunterfällt. Sie geraten über ein Loch im Strumpf in Entzücken und preisen sich glücklich, wenn etwas Schreckliches geschieht und sie dabei sein können. Sie verleben ihre Tage ohne Reue; wir bereuen zumeist, daß wir leben. Und das ist ein Unrecht, denn der ärmste Bettler ist ein reicher Mann vor dem toten König. Man muß nur so viel guten Willen haben, als nötig ist, um bei Regen noch an die Sonne zu glauben und sich bei seinem Schicksal zu bedanken, weil es nicht ärger ausgefallen ist. Es geht. Man soll es nur probieren. Brigitte freilich ... Doch das ist ein anderer Fall.
Es klopfte. Thomas lief hinaus und lugte durch den Ausguck, erschrak und riegelte jetzt erst ab.
»Ein Mann!« kam er zitternd zurück. »Ein wilder Mann!«
Es klopfte wieder. Brigitte ging und öffnete. Ein Mensch stand da, zerrissen und verkommen, ein Mann mit wüstem Bart und gierigen Augen, ihr Mann, Johann Vorlenz kam als Strolch nach Hause und begrüßte sie mit einem Lachen, das in ihren Ohren zu Eis wurde und sie frieren machte.
»So, da wär ich wieder«, gröhlte er und schloß sie in die Arme. Brigitte schauderte. Sie fand unter allen Worten, die sie wußte, nicht eines, das sie ihm hätte sagen können. Sie war stumm vor Entsetzen und leer vor Angst. Ihr Leben zerbrach buchstäblich in den Händen, mit denen sie sich an ihm halten mußte, um nicht hinzusinken und auszulöschen. Ihr Blut war in den letzten Winkel des Körpers geflüchtet. Ihr Herz hielt an. Nur die Lunge wollte noch leben und schnappte nach Luft wie ein Tier, das Hunger hat und nicht begreift, warum man es denn ohne Futter läßt. Die Kinder drückten sich scheu in eine Ecke. Sie glaubten nicht, daß dieser Mann der Vater war. Thomas stieß mit den Füßen, als man ihn zwingen wollte, näherzukommen. Rese reichte wohl eine Hand, ließ sich aber auch nicht küssen. Und so begann das Fest mit einem Streit. Brigitte wies die Kinder zurecht, war innerlich froh, in eine Tätigkeit hineinzukommen, und sagte, weil sie nun wieder ihre Stimme hatte und doch einmal reden mußte:
»Das macht der Bart, ... gewiß nur der Bart.«
»Ist er nicht schön?« prahlte Vorlenz und kraulte sich die wirren Zotten.
»Ja, o, ja«, hauchte Brigitte.
»Soll ich ihn wachsen lassen?« fragte er ihr zu Gefallen.
»Nein«, widersprach sich die Frau, ohne es zu wissen, rückte einen Stuhl hin und erkundigte sich leise: »Hast du Hunger?«
»Das will ich meinen«, platzte der Mann heraus und tat, als ob sein Appetit das Beste wäre, was er hätte bringen können. Brigitte hatte nichts, ein Stück elendes Brot und kalte Kartoffeln.
»Wir haben schon gegessen«, entschuldigte sie sich und wollte schnell zur Nachbarin hinüberlaufen, um sich etwas auszuborgen. Aber das ließ Vorlenz nicht zu.
»Ich muß erst wiederum ein Mensch werden«, zeigte er an sich hinab und nickte wie einer, an dem ein großes Unrecht gutzumachen ist. Brigitte holte Kleider und Wäsche aus dem Kasten, ging ihm voraus in die Küche und richtete alles zum Waschen her. Vorlenz zog sich aus. Er stank nach Schmutz. Sein Hemd war nur ein Lumpen, der den Rücken kaum bedeckte, keine Ärmel hatte und niemals weiß gewesen sein konnte. Es fiel in Fetzen von ihm ab. Auch die Hose war ein jämmerlicher Krüppel. Sie hatte bloß ein Bein, und dieses bestand mehr aus Löchern, denn aus Linnen. Brigitte fragte mit keinem Wort. Sie stand verzweifelt daneben und bediente ihn. Er seifte sich ein, schwemmte sich ab und pustete und prustete dabei, als säße er in einer Wanne, nahm auch keinerlei Rücksicht und setzte den ganzen Fußboden unter Wasser. Brigitte bückte sich und wischte auf. Vorlenz fand Gelegenheit, sie unzüchtig abzuklopfen, und wieherte dabei, daß ihr der Ekel kam bei dem Gedanken, sein Weib zu sein und mit ihm schlafen zu müssen. Er sah in seinen Kleidern wohl bedeutend besser aus, war freilich immer noch der wilde Mann mit dem wirren Bart, aber doch schon ein Mensch. Thomas reichte ihm nun auch die Hand, und Rese küßte ihn sogar. Sie bat allerdings gleich darauf:
»Gib den Bart weg! Ich mag ihn nicht.«
Und das entschied. Vorlenz ging zum Friseur. Er hatte natürlich auch kein Geld. Das war verständlich. Er kam aus dem Krieg, und da ist jeder arm zurückgekommen. Brigitte borgte ihm. Er nahm es nicht anders und hätte fast auch einen Schuldschein ausgestellt. So trieb die alte Lüge ein neues Spiel.
Thomas lehnte am Fenster und schaute in den Regen hinaus. Brigitte hätte gern gewußt, was er dort bei sich dachte. Freundliches konnte es kaum gewesen sein. Es war deshalb gescheiter, ihn gar nicht darnach zu fragen. Rese stand vor dem Spiegel und machte sich schön. Das kam auch sonst vor, war aber heute ein besonderes Zeichen. Sie wollte dem Vater gefallen, und das ist lieb von ihr gewesen. Brigitte verstand es freilich anders in ihrem Herzen: Sie gehört ihm, ist seine Tochter und hat mich bloß zur Mutter. Es war keine Eifersucht dabei, auch keine Trauer. Thomas genügte ihr für eine ganze Welt. Und er war treu. Das wußte sie. Er wird sie nie verlassen. Das war sicher. Es tat ihr darum doppelt weh, ihn belügen zu müssen und fröhlich zu tun, als wäre dieser Tag der schönste ihres Lebens und kein Glück so groß wie diese Freude:
»Der Vater ist zurückgekommen, ... war im Krieg, ... war schon totgesagt ... und ist wiederum zurückgekommen.«
Rese mißtraute ihr von Anbeginn. Sie hatte schon als kleines Kind immer auch den Vater gefragt, ehe sie etwas glaubte. Thomas brauchte das nicht. Er hatte feine Ohren und hörte die geringste Falschheit einer Rede schon als groben Mißton. Er schlich auch jetzt der Mutter in die Küche nach und fragte sie in das Gesicht:
»Warum hast du ihm denn geschrieben?«
»Ich habe nicht,« verteidigte sich Brigitte kleinlaut, »habe doch keine Adresse gehabt und ihm gar nicht schreiben können.«
Thomas war gewohnt, alles an ihr für wahr zu halten. Es ist also nur seine eigene Meinung gewesen, wenn er ohne Umschweife erklärte:
»Wir brauchen ihn nicht.«
Brigitte konnte das nicht dulden. Sie mußte ihn überreden, besser zu denken, und erzählte, was der Vater alles mitgemacht hat, bedauerte ihn, weil er so arm und elend angekommen war, versprach, daß er nun arbeiten und Geld verdienen wird, und weinte plötzlich, setzte sich auf die Kohlenkiste, hob den Jungen zu sich in den Schoß und schluchzte, weil sie sich selber nicht glauben noch helfen konnte.
Vorlenz kam erst spät am Abend glattrasiert und aufgeräumt zurück. Er war nicht betrunken. Er hatte nur von allem genippt, was er so lang entbehren mußte, von den Freundschaften, dem guten Bier und einem Gulasch. Es hatte ihm geschmeckt. Die Freundschaften hielten noch warm, das Bier war süffig und das Gulasch immer schon sein Leibgericht. Vorlenz war also bester Dinge, setzte sich großartig an den Tisch, lud auch die anderen dazu ein und legte los:
»Die Geschichte ist gleich anfangs schief gegangen. In Italien wachsen nämlich nicht bloß die Orangen, sondern auch das Gefrorene. Ich hab damals nur vergessen, erstens weil ich keines mag und zweitens ... Also das ist schief gegangen, schief hinauf. Es gibt dort Berge, sag ich euch, überhaupt Berge, von denen man sich gar keinen Begriff macht, ganze Elefanten von Bergen, einer auf dem Buckel des anderen bis in den Himmel hinaus. Dort möchte ich übrigens auch nicht zu Hause sein, dort müßte einer ja zum lebendigen Eiszapfen werden. Und wenn ich noch einmal wo einen nacketen Engel seh, dann muß ich lachen.« Er tat es ausgiebig und mit Behagen. »Dreitausend Meter war ich oben, und da ist alles gefroren, der Boden, die Steine und die Luft, wenn man geatmet hat. Und dabei bin ich noch lang nicht im Himmel selber gewesen, in der Hölle vielleicht, aber nicht im Himmel. Bedank mich auch für diese Sommerfrische.«
Das war für Brigitte. Sie merkte es und senkte den Kopf. Er ließ sich aber nicht stören und berichtete in seiner unbeschwerten Weise, wie er auf Österreich gepfiffen hat und als Gast zu den Italienern übergegangen ist.
»Der Krieg war futsch, und so hab ich mich selber gerettet.«
Thomas schämte sich für ihn. Er war ein Junge, und die wollen andere Väter haben, große, herrliche Helden mit Ehrenzeichen an der Brust und einem Generalshut auf dem Kopf. Und das ist Vorlenz nicht gewesen. Rese war froh, daß der Vater dem Krieg davongelaufen ist und sich so gut versteckt hat, daß ihn kein Österreicher finden konnte. Ihr Krieg war Spiel mit Räubern und Gendarmen, ein Vergnügen, bei dem sogar geschossen werden durfte. Brigitte äußerte sich nicht. Sie war es gewohnt, daß er niemals eine Pflicht erfüllte, ob es nun da oder dort sein mochte, ... er rettete vor allem sich selber. Ein Vorwurf war ihm nicht zu machen, denn wenn ihm etwas wirklich gehörte, dann war es sein Leben, und das hatte er behalten.
Vorlenz begann zu schwärmen, als hätte er einen Dichter verschluckt. Er war nach Sorrent gekommen und das hatte es ihm angetan. Sein Überschwang verstieg sich in Wort und Stimme, nahm gelegentlich auch die Hände zur Hilfe und ließ deutlich erkennen, daß dort die Grenze einer kleinen Welt gesprengt worden ist und ein simpler Mensch sein erstes großes Erlebnis mit der Natur gehabt hat. Seine Sprache war Lehm, und die Formen, die er redete, waren plump:
»... Das Meer ist waschblau, und die Wellen schwimmen wie Seifenpatzen darin herum. Es watscht die Felsen ab, daß es nur so spritzt, und brüllt in der Nacht, daß man Ohrenstechen kriegt und nicht schlafen kann. Einmal hat es ein Schiff erwischt, hat es wie Papier zerdrückt, hat ein bißchen damit gegurgelt, und fort war's, ... aus, ... addio, wie man dort sagt ...«
Sie reisten mit, Brigitte und die Kinder reisten durch das Gehör dorthin, von wo er gekommen ist, und sahen jeder ein anderes Sorrent, alle aber eine herrliche, wunderbare Landschaft, nach der man sich sehnen und von der man träumen konnte.
Vorlenz war ungenau. Er hat nicht bloß von der prächtigen Aussicht gelebt, sondern auch noch anderes genossen, aber das konnte er vor den Kindern nicht sagen, und Brigitte wird ihn kaum darnach fragen.
Sein Bett wurde vom Boden geholt und die alte Ordnung wieder eingerichtet. Er schlief ausgezeichnet. Brigitte lag verstört daneben. Sie kam sich geschändet vor. Es war ihr Mann, ihr vor Gott und der Welt angetrauter Mann, und dennoch empfand sie es als eine Schande, sein Weib zu sein, es heute wiederum gewesen zu sein.
Frau Grießner konnte es nimmer verhalten. Es war nicht Bosheit, nicht Tücke, war nur der Zwang, etwas, das man weiß, auch dem zu sagen, der es wissen sollte. Und sie lauerte Vorlenz im Stiegenhaus auf und war im Nu von ihrer Last befreit.
»... in allen Ehren, das versteht sich doch bei Ihrer Frau ... Sie wird auch nur vergessen haben, davon zu reden, ... sicher nur vergessen.«
Vorlenz kam wie der Teufel selber heim und spuckte Feuer:
»Her da!« schrie er Brigitte an, zerrte sie aus der Küche in das Zimmer und griff mit beiden Händen nach ihrer Gurgel. »Was ist es mit dem Kerl gewesen? ... dem Blinden?«
»Nichts«, konnte Brigitte sagen, ohne auszuweichen. Sie hatte auf diese Unterredung schon gewartet, wäre ihr gern zuvorgekommen, fand aber keine Gelegenheit dazu und war auch sonst gehemmt. »Nichts«, wiederholte sie hart und bestimmt und sah ihm offen ins Gesicht. Es ging hier nicht um Liebe, ging bloß um den Leib, und das konnte sie beschwören. Vorlenz ließ sich jedoch nicht irre machen. Er wußte alles, und das schien ihm genug, um sie mit seinen Händen zu erwürgen.
»Er hat da gewohnt, ... hat da gegessen, ... da geschlafen ...«
Seine Augen traten wie Galläpfel aus den Höhlen. Seine Zähne scharrten verbissen. Seine Lippen wurden bleich vor Wut.
Brigitte fürchtete sich nicht und gestand so ruhig, daß er beinahe schon ins Wanken kam:
»Der blinde Mann hat hier im Zimmer gearbeitet und in der Küche sein Bett gehabt. Wer mehr sagt, der muß es beweisen können oder lügt.«
Sie sprach laut gegen die Wand, an der Frau Grießner wohnte, war sich also klar, wer diese Sache angestiftet hatte.
»Du hast dich bezahlen lassen«, kläffte Vorlenz in seinem Eifer.
»Für das Wohnen und für das Essen«, erklärte Brigitte unbekümmert und nahm keinen Blick von ihm.
»Nicht auch für dich?« Er raste, packte sie an den Schultern, rüttelte sie durch und schluckte mehrmals, um nicht in seinem eigenen Geifer zu ersticken.
»Bist du so schlecht gewesen, Mann, daß du nichts Gutes von mir glauben kannst?« fragte Brigitte zurück und kriegte die Augen feucht. Es war eine schlimme Wendung für ihn, und er brach das Gespräch wie einen Knüppel entzwei, ließ aber die Trümmer liegen und ging.
»Wir werden noch darüber reden müssen«, drohte er über eine Achsel weg und hütete sich wohlweislich, es wirklich zu tun.
Thomas hatte an der Türe gehorcht. Vorlenz erwischte ihn dabei, gab ihm eine Ohrfeige und nannte das Erziehung. Der Zorn des Jungen flammte wie Strohfeuer auf, loderte über sein Gesicht, blieb eine Weile auf der Stirne brennen und wich dann einer Totenblässe, die beängstigend war. Scham und Empörung kämpften in ihm. Thomas war ein Rührmichnichtan. Er durfte nie geschlagen werden und wurde zur kleinen Bestie, wenn es doch einmal geschah. Er sprang wie eine Katze auf den Gegner los, kratzte und biß, weinte und schrie und fiel dann in sich selbst zusammen, eine Handvoll Unglück, das man bedauern mußte. Er war eigentlich mutig. Offenem Unrecht stellte er sich immer, kam, was kommen mußte. Mißverständnisse machten ihn traurig und verbittert. Diesmal ist es keines von beiden gewesen. Er hatte gehorcht, und das war häßlich, war gemein. Er hatte es bloß der Mutter wegen getan. Das milderte seine Tat, hob sie aber nicht auf. Dennoch war seine Scham größer als die Empörung. Er kratzte nicht und biß nicht, er weinte nur, und das ging Brigitte zu Herzen. Sie zog ihn voll Mitleid an sich, und so tröstete eine Betrübnis die andere.
Vorlenz ist im Zorn gegangen, und das bedeutete einen Rausch.
War das ein Aufsehen in der Gasse!
Herr Grießner ist zurückgekommen, direkt aus China und ohne Zopf. Man war enttäuscht. Man konnte es nicht leugnen. Er hätte unbedingt in seidenen Gewändern, mit langen Nägeln und in einem lackierten Wagen kommen müssen. Man kannte doch Chinesen von den Bildern her, sah sie auf jeder Teeschale spazierengehen und wußte ganz genau, was man da zu erwarten hatte. Dieser aber schaute aus wie sonst ein Mann. Er sah sich eben selber ähnlich, war der Herr Grießner und hätte auch aus Salzburg kommen können. Man war ihm nicht grün. Er hatte alle zum Narren gehalten, und das wollte sich jeder merken. Der Schuster Vostal zweifelte sogar an der ganzen chinesischen Geschichte und wiegelte die Leute auf: »Wer weiß, ob er überhaupt dort war?« Aber das ließen wieder die anderen nicht gelten. Sie wollten schon ihren Chineser haben, doch ein Chineser mußte es sein.
Herr Grießner legte sich vor allem schlafen und schlief zwei Tage lang. Dann stand er auf und fing sein Leben dort an, wo es aufgehört hatte, und tat, als ob es keine Stunde anders gewesen wäre.
Die Frau war froh. Sie hatte ihren Mann und nahm sich Rese als Kind. Sie gab ihr zu essen, nähte Wäsche und Kleider für sie, sorgte sich bei jedem Schnupfen und machte es Brigitte schwer, auch noch etwas zu gelten. Frau Grießner spielte Mutter, weil sie es nicht war und weil da gar keine Aussicht bestand, es zu werden.
Rese nahm sich trotzdem einen Freund. Er hieß Georg Vostal, wurde aber immer nur Schurli gerufen. Sein Vater war Flickschuster und seine Mutter Klosettfrau. Rese störte das nicht. Für sie war Schurli ein netter Junge, der sich mit der Hand schneuzen und über eine Planke spucken konnte. Und das hatte ihm ihr Herz gewonnen. Schurli war auch sonst ein Künstler. Er konnte schielen wie ein Sterngucker und mit den Ohren wackeln, daß es nur so schlappte. Doch dafür hatte Rese weniger Verständnis, das allein hätte ihn nicht vor den anderen ausgezeichnet. Schurli hatte nebenbei auch lange Finger. Wenn er an einem Obstler vorbeischlenderte, dann blieb immer ein Äpfelchen daran hängen, und das schmeckte Rese nachher viel besser, als wenn Mutter welche kaufte. Brigitte mochte den Jungen nicht leiden. Sie wußte kaum etwas von ihm, nichts Schlechtes, aber auch nichts Gutes. Und das verurteilte ihn. Schurli war ein hübscher, aufgeweckter Bursche, breitschultrig und muskelfest. Er ist älter als Thomas gewesen, spielte aber nur mit kleinen Mädchen und hatte stets ihrer zwei oder drei um sich. Mit den Buben raufte er bloß und wurde gefürchtet, weil er keine Angst hatte und boxen konnte. Man wich ihm aus, wenn er verdorbener Laune war, und grinste freundlich, wenn man doch in seine Nähe mußte. Rese wurde die Geliebte unter seinen Mädchen. Sie hatte blaue Augen und die mußten ihm gehören. Er sagte zwar nicht warum. Wir können es uns aber denken.
Eigerle konnte zufrieden sein. Die Witwe Brünner war eine gebildete Dame. Sie ist vor ihrer Ehe bei feinen Leuten Gouvernante gewesen und verstand sogar französisch. Das gibt dem Leben schon einen gewissen Anstrich, denn wer einmal etwas war, der hält darauf, es auch zu bleiben. Eigerle hatte nur nicht das rechte Empfinden dafür. Er fand überhaupt manches anders, und das macht in der Regel nicht beliebt. Die Witwe spielte seiner Meinung nach Klavier, wie eine Frau sonst Strümpfe stopft, und sang dazu, wie alte Weiber beten. Es war ihm unerträglich und verhaßt. Eigerle sehnte sich nach seiner Ziehharmonika. Er durfte sie aber nicht anrühren. Die Witwe bekam die Gänsehaut bei der Vorstellung, daß in ihren Räumen eine so gewöhnliche, sie sagte: ordinäre Musik erklingen sollte.
»Mein geliebter Mozart würde von der Wand fallen«, befürchtete sie und hätte es unbesorgt riskieren können. Der Meister ließ tagtäglich seine Sonaten in grausamster Weise mißhandeln, ohne auch nur zu wackeln. Das konnte der Blinde wohl nicht selber sehen, aber es mußte doch so sein, sonst hätte die Witwe ihren Mozart längst vom Nagel geholt und in den Ofen gesteckt. Eigerle ließ also die Harmonika in seinem Koffer liegen und schweigen. Es war ihm meistens nicht darnach, zu spielen oder gar zu singen. Er arbeitete unermüdlich, aß ohne Lust, ging pflichtschuldig vor dem Haus spazieren und wartete, wartete, daß einmal doch Brigitte kommen und ihn holen wird. Er hörte kaum zu, wenn ihm die Zeitung vorgelesen wurde. Die Witwe bemühte sich zu sehr um einen möglichst feinen Ton und verdarb ihm damit das unschuldige Vergnügen. Sie hing auch überall gleich ihre eigene Meinung an und verwischte dabei die Zusammenhänge so gründlich, daß Eigerle oft gar nicht wußte, ob sie noch las oder schon redete. Es war keine Kleinigkeit, die Ereignisse der Welt durch diese Brille sehen zu müssen. Die Moral hatte sich überhaupt rapid gehoben. Es gab keine Verführungen, keine Ehebrüche und keinen Mord mehr, seitdem die Witwe Vorleserin war. Die Zeitung wurde immer dünner und der Inhalt immer fader. Eigerle war auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen und konnte ihnen nicht vorschreiben, wie sie ihm helfen sollen. Er war ihr Gefangener, und das ist ein trauriges Los. Sein Leben wickelte sich ab wie ein Faden von der Spule. Einzige Sorge war, daß er nicht riß. Und dafür stand die Witwe ein. Sie kochte nicht gut, aber reichlich; sie untersagte ihm sogar den Tee, weil er giftig war und das Herz schädigte; sie hielt alles von einer regelmäßigen Verdauung und gab ihm jede Woche zweimal ein Pulver zu schlucken, das er nicht ausstehen konnte, weil es nach Bärenzucker schmeckte; sie verlangte, daß er Punkt neun Uhr in seinem Bette lag und auch schon schlief, wie er das machte, war nicht ihre Sache, doch sie kam, um ihn zu kontrollieren. Es war das peinlichste von allem. Eigerle widmete diese Zeit des Tages dem Andenken jener Stunden, die er mit Brigitte Vorlenz und den Kindern verbracht hatte, hörte Rese noch ganz deutlich lachen, Thomas noch ganz deutlich reden, hatte nur die Stimme der Frau schon vergessen, erschrak über dem Verlust und suchte nach einem Wort, nach einem Laut von ihr, hatte ihn schon und klammerte sich jubelnd daran fest, ließ ihn Musik werden und wurde meuchlerisch von einer häßlichen Schnarre gestört, die neben ihm quarrte:
»Sie sollten schon schlafen, mein Lieber!«
Es war zum Heulen. Doch der blinde Mann durfte nicht einmal weinen. Es wäre übel aufgenommen worden und hätte Verdacht erweckt. Frau Grießner ist nicht faul gewesen. Sie hat alles berichtet, auch das, was nie geschehen ist.
Sie spielten Vater und Mutter. Schurli war der Häuptling und Rese seine Frau. Agnes, das verhutzelte, immer nasenfeuchte Hausmeistermädchen, ist beider Kind gewesen. Der Vater rüstete zur Jagd. Ein Bär war angesagt, so groß, daß man ihn sonst keinem aufbinden könnte. Er trieb sich in den Wäldern jenseits des Hofes herum und hatte bereits ein Dorf mit Mann und Hund vertilgt. Nun aber ging es ihm an den Kragen. Schurli hatte einen alten Kapselrevolver, der zwar nicht immer funktionierte, wenn aber doch einmal, dann gab es einen Knall, der auch für diesen Bären nicht Musik sein dürfte. Ein Taschenmesser war das zweite Stück der Ausrüstung. Es hatte wohl nur eine Klinge, doch die war groß genug, wenn sie ein Herz durchbohrte, und ein anderer Stich kam gar nicht in Betracht. Eigentlich hatte also bloß der Bär etwas zu fürchten. Dennoch weinte Agnes, das Kind, klammerte sich an den Vater und wollte ihn nicht fortlassen. Rese sah die Sache anders an. »Wir haben nichts mehr zu essen. Wir müssen verhungern, wenn er den Bären nicht erlegt.« Vom Magen aus begriff auch Agnes mancherlei und ließ den Vater ziehen. Er sollte sie zum Abschied küssen, denn es gab da in der ganzen Szene etwas wie geheime Rollen, auch wenn sie noch kein Mensch aufgeschrieben hatte. Schurli streikte aber. Dieses Kind war ihm nicht trocken genug. Es glockte aus beiden Nasenlöchern und hatte krustige Lippen. »Schneuz dich!« befahl der große Häuptling und ließ diesen Teil des Spieles aus. Bei Rese war das anders. Die hatte ein reines, appetitliches Gesichtchen und konnte auch schon richtig küssen. Georg Vostal mußte das von seiner Frau doch wissen und nahm immer wieder schmatzenden Abschied. Rese stand wie eine Erdbeere da und meinte zu zerplatzen vor Röte und anderem.
Gleichmäßiges Leben beharrt, geht seinen Weg wie einen Pflichtgang ab und schaut nicht rechts und schaut nicht links, macht keinen Schritt schneller und bleibt auch nicht stehen. Es hat seine Länge vorgemessen, ist ein Stück von Tagen, Wochen, Monaten und schrumpft, je mehr davon vergeht, je kleiner auf ein Nichts zusammen. Nur was aufreißt, bleibt ein Riß; was hinfließt, ist verflossen. Keiner unter uns ist dem Bewußtsein nach so und so viele Jahre, sondern immer nur diese und jene Ereignisse alt. Man lasse Greise sich erinnern! Sie wissen bloß von Schlachten, Unglücksfällen und Feuersbrünsten, Krankheiten und schlechten Weinernten, aber nie von ihren achtzig Jahren zu je dreihundertfünfundsechzig Tagen zu erzählen.
So wurde es auch hier.
Vorlenz war Kutscher geworden und führte im Frühjahr Sand, im Sommer Steine. Mehr ist nicht zu sagen. Brigitte bediente, wusch und nähte. Mehr konnte sie kaum tun. Die Kinder spielten und lernten. Mehr als genug.
Dann kam der Brief und mit ihm die Verwirrung. Eigerle hatte geschrieben:
»Liebe Frau Brigitte!
Verzeihen Sie diesen Brief. Aber ich habe sonst keinen Menschen als Sie, keine Mutter und keine Schwester, die es angeht, nur Sie. Und soll nun heiraten. Frau Brünner will es. Man kommt ins Gerede, meint sie und hat vielleicht recht. Wenn ich nein sage, dann muß ich ausziehen. Wohin mein Herz gehört, das wissen Sie. Darf ich noch hoffen? Oder muß ich heiraten?
Immer der Ihre
Robert Eigerle.
Ich gehe jeden Mittag vor dem Haus spazieren.«
Ein Brief, von einem Blinden geschrieben, ist immer ein merkwürdiges Ding. Die Schrift war groß und zitterig, tastete nach einer Zeile und sprang im Zickzack daran herum. Man mußte an einen Seiltänzer denken, der hoch oben plötzlich den Schwindel kriegt und schwankt, verzweifelt mit der Stange balanciert, danebentritt und doch nicht fällt. Der Brief war immerhin gelungen. Man konnte ihn lesen. Man konnte ihn auch verbrennen. Brigitte hätte das gefährliche Dokument keinen Augenblick länger als nötig in ihren Händen geduldet. Sie fand es schon gewagt, ihr überhaupt zu schreiben. Wenn Thomas ... Das ging noch an. Thomas wird niemals Böses von ihr glauben. Wenn aber Rese ... Das war schon bedenklich. Da steckte ein giftiger Keim. Wenn aber gar Vorlenz den Brief erwischt hätte ... Es war das Entsetzen selber, war beinahe schon Todesangst. Er lechzte seit Tagen nach einem Streit. Man sah es ihm an. Er ließ sich vorne überhängen, schob die rechte Achsel hoch, atmete stoßweise und suchte mit schiefen Blicken den Boden ab wie einer, der gern fallen möchte und keinen Balken findet, um zu stolpern. Und das bedeutete Unheil. Brigitte blies in die Flamme hinein und zerstörte auch noch die Asche.
Eigerle ging eine Woche lang vor seinem Hause auf und ab. Er hat es schon früher getan und wird es auch später noch tun müssen. Aber in dieser Woche ging er anders hin und her. Sonst freute ihn bloß die Sonne. Er huschelte sich wohlig in ihre Wärme ein und blinzelte mit den Lidern, als ob seine Augen sehen könnten, was ihm da so gütig tat. Jetzt war ihm die Sonne schnuppe geworden. Sie schien. Das ist ihre Pflicht. Sie wärmte. Das ist ihr Beruf. Mehr bedeutete es nicht. Sonst blieb er belustigt stehen, wenn sich die Spatzen um ein Bröselchen im Rinnsal stritten und die Schnäbel wetzten, daß es nur so schmetterte. Jetzt war das bloßer Futterneid und keines Aufenthaltes würdig. Sonst grübelte er bei jedem Schritt, der an ihm vorbeikam, ob der Passant ein Mann war oder eine Frau, ob er es eilig hatte oder ob sie sich Zeit ließ. Jetzt jagte er seine Ohren die Gasse hinauf und hinab um unter all den gewöhnlichen Tritten ganz besondere herauszuhören und ihnen entgegenzurufen:
»Schön, daß Sie gekommen sind, Brigitte«, wollte er sagen und ihr die Hand küssen. Sie kam leider nicht, blieb Montag aus und Dienstag, ließ die lange, sieben Tage lange Woche verstreichen und kam nicht. Eigerle machte sich Sorgen. »Vielleicht ist sie krank, hat Fieber und liegt im Bett ... Man hört jetzt viel von einer Influenza reden ... Vielleicht hat er gar den Brief erwischt, der Mann, der Säufer, und hat sie geschlagen, ... sie erschlagen ...« Der Blinde wurde immer aufgeregter, lief immer schneller hin und her, fiel schließlich über den eigenen Stock und schlug sich die Stirne blutig.
»Man darf Sie nicht mehr allein lassen«, erklärte die Witwe besorgt und stolzierte fortan neben ihrem Mieter her und hätschelte ihn vor allen Leuten. Es war unerträglich, war nur darauf abgesehen, ihn öffentlich bloßzustellen und zu verpflichten. Der Teufel selber mußte in diese Witwe gefahren sein. Die Leute sahen freilich nur einen gütigen Engel in ihr und lobten sie überschwenglich. Eigerle schwitzte Galle an ihrer Seite, hörte von überall Brigitte kommen und wußte nicht, was er sagen und wie er sich benehmen sollte. Seine Ängste waren verfrüht. Es verging noch ein Monat und kam dann erst jener Tag, an dem Frau Brünner ihren Gatten selig auf dem Friedhof besuchte und der Blinde endlich wiederum allein seinen Spaziergang ablief. Es war mild und gut. Die Sonne lächelte. Ein Lüftchen hauchte. Und irgendwo in einem Fenster sang ein Kanarienvogel. Er ließ seine Triller steigen und seufzte ihnen nach, weil er gefangen war und kein Weibchen hatte. Eigerle blieb stehen und lauschte. Es war auch sein Gesang, sein Lied in diesem Leben: gefangen sein und doch singen müssen. Der Vogel schwieg. Eigerle drehte sich plötzlich um und ging, blieb stehen, riß die blinden Augen auf, spürte etwas Schönes, Warmes, Liebes kommen und ging ihm entgegen.
»Guten Tag!« sagte Brigitte außer Atem.
Eigerle tappte nach ihren Händen und ließ sie nimmer los.
»Brigitte! ... Frau Brigitte!« Er sprach wie einer, der seit Jahren nichts gesprochen hat und sich erst mühsam Wort auf Wort besinnen muß.
»Wie geht es Ihnen?«
Er hörte nicht. Er hatte soviel zu sagen, wußte nirgends anzufangen und sprudelte mit dem Ende über:
»Ich habe geerbt. Eine Tante ist gestorben. Weiß kaum, wie sie heißt, hab sie im Leben nie gesehen und im Tod beerbt. Komisch das. Es ist nicht viel, kein Reichtum. Ich kann aber doch ein Geschäft damit aufmachen, einen Laden mieten und kann Meister werden. Und da meine ich, ... habe gemeint ...« Er stockte und drückte ihre Hände fester.
Brigitte lächelte voll jenes Glückes, das er ihr schenken wollte, genoß es eine Weile lang und sagte dann mit einer Stimme, die so zart und besorgt war, als wären seine Ohren Wunden, die sie salben sollte:
»Ich danke Ihnen, ... danke, ... aber ...« Es ging schwerer, als sie vermutet hatte. »... aber ich habe kein Recht auf mich, ... bin verheiratet und habe Kinder ... und muß mit dieser Liebe auskommen, so gut es geht, ... und darf mich nicht einmal beklagen.«
Eigerle ließ ihre Hände los.
»Dann ... dann ...« stotterte er, wartete ins Blaue hinein, bewegte lautlos die Lippen, pendelte unsicher hin und her, als stände er auf einem Erdbeben, ging ein paar Schritte weit, drehte sich um und wiederholte weinerlich: »Ja, ... dann ...«
Brigitte schwieg. Was hätte sie auch reden können? Allein mit ihm, daheim oder sonstwo allein, wäre es vielleicht anders gekommen. Auf der Gasse konnte der Abschied nur kurz und gewöhnlich sein.
»Auf Wiedersehen!« wünschte sie unbedacht und gab ihm ein böses Stichwort.
»Ja, dort, wo auch die Blinden wieder sehen«, lachte Eigerle bitter, klopfte sich mit dem Stock die Hauswand entlang und trat in das Tor wie einer, der zum Galgen schreitet. Es war die höchste Zeit, denn eine Minute später schoß die Witwe schon um die Ecke.
Sie machten einen Ausflug. Vorlenz spielte den Familienvater, nahm Rese an die rechte und Thomas an die linke Seite und marschierte los. Brigitte tummelte sich hinten nach und hatte Mühe, mit den dreien Schritt zu halten. Die Sonne meinte es gut und so konnte nichts besser sein als dieser Tag, der doch auch ein Sonntag war.
Die Stadt verlor sich immer mehr ins Kleine und wurde zum Dorf. Aus den vielen Gassen war eine einzige Straße geworden, die geradeaus zielte und nur für die Kirche Platz machte, weil sie etwas Besonderes war und ihr diese Ehre gebührte. Einen Weg lang stand wohl noch Haus neben Haus, dann tauchten schon Gärten dazwischen auf, waren bald mehr Gärten als Häuser zu sehen, trat auch schon ein Acker an die Straße heran, war es aus mit der Stadt und mit dem Dorf. Landschaft wurde, wie das Meer ist, wenn man aus dem Gewirr der Gassen plötzlich an den Hafen kommt. Man verläßt das Ufer und begibt sich ins Weite. Wiesen liefen hügelauf. Ein Berg hob Wälder in den Himmel. Weiß Gott, warum er Kahlenberg hieß.
Brigitte ist den Weg schon einmal gegangen und ging ihn bebend wieder. Vorlenz erinnerte sich nicht. Er trottete gedankenlos voraus, nahm denselben Steig, machte an derselben Stelle Halt und brachte Brigitte in eine solche Bedrängnis des Herzens, daß sie nicht wußte, was sie sagen, noch was sie treiben sollte. Vorlenz hatte alles vergessen. Und Thomas? Er mußte doch empfinden, was ihm hier geschehen ist, daß sie hier Mutter wurde, seine Mutter, daß er hier, genau an jener Stelle, wo er saß, daß er hier Mensch geworden ist, sein Leben angefangen hat und ihm kein Platz auf Erden heiliger sein sollte als dieser. Und Thomas? Er hockte ängstlich da, weil ihm das Gras leid tat, und weil er nicht glauben konnte, daß man hier sitzen durfte. War das denn möglich? Ist dem Menschen wirklich nichts mehr von jenen Kräften verblieben, die ihn mit der Natur verbinden wie die Nabelschnur Mutter und Kind? Gibt es kein Ahnen mehr? Nur noch törichtes Wissen? »Thomas!« rief ihn Brigitte an und hatte ihm doch nichts zu sagen, konnte es nicht tun und mußte schweigen, wie schwer es ihr auch fiel.
Vorlenz lag auf dem Rücken und rekelte sich. Rese fand es ganz niedlich da, wäre aber doch lieber in ein Wirtshaus gegangen. Sie plauderten, was ihnen gerade in den Sinn kam, zeigten einander Dinge, die keiner übersehen konnte, und freuten sich, weil es allen gefiel und weil es nicht oft geschah, daß sie einen Ausflug machten. Vorlenz rauchte und paffte Ringe in die Luft. Rese fing sie mit einem Finger auf. Brigitte saß mitten unter ihnen und war doch weitab von allen. Der Gedanke ließ sie nimmer los: »Da sitzt er, Thomas, der hier Mensch geworden ist, sitzt an derselben Stelle und weiß es nicht und fühlt es nicht ...« Sie hätte weinen mögen, so einsam war sie und so verraten kam sie sich vor.
Da fand Thomas, wo er saß, vor seinen Augen, unter seinen Händen und ohne zu suchen fand er einen vierblätterigen Klee, rupfte ihn ab und konnte sich kaum fassen vor Freude.
»Das bedeutet Glück«, wußte Brigitte, wußte es von diesem Platz besonders und schaute herum, als müßte von irgendwo auch gleich ein Vorschuß darauf kommen. Der Vater winkte überlegen mit der Hand und das hieß ungefähr: »Ein Gulden wäre mir lieber.« Auch Rese glaubte nicht an dieses Glück. Und so erzählte Brigitte eine Geschichte, in der ganz genau bewiesen wurde, daß es gar nicht anders sein kann. Der Vater gähnte. Er mochte nichts von diesen Dingen hören und faßte seine Meinung kurz und grob zusammen:
»Eine Mißgeburt ist es, ein Kalb mit zwei Köpfen oder ein Mensch mit drei Beinen, und das kann kein Glück sein.«
»Der Glaube macht es,« widersprach Brigitte, »alles kann der Glaube machen, wenn er stark genug ist.«
»Dann glaube gefälligst, daß es heute noch einen warmen Schinken mit grünen Erbsen und zwei Flaschen Gumpoldskirchner gibt!« spaßte Vorlenz und legte sich bis dahin schlafen. Rese hielt es wie immer mit dem Vater und lachte die Mutter aus.
»Ein Viehfutter ist es und heißt gar nichts«, näselte sie und schlenderte fort, suchte Blumen und fragte sich bei jeder, ob sie ihr gut zu Gesicht stand und was der Schurli dazu sagen würde.
Thomas und die Mutter saßen stumm nebeneinander und warteten, bis des Vaters Worte vergessen waren und Rese nichts mehr von ihnen sehen konnte. Dann schenkte Thomas der Mutter den Glücksklee, warf ihn ihr in den Schoß, sprang auf und lief davon, wußte selber nicht warum, lief der Schwester nach und tollte mit ihr und kümmerte sich den Tag lang nimmer um die Mutter.
Vorlenz mußte entlassen werden. Die Pferde kamen zum Schlächter und der Wagen wurde ins alte Eisen geworfen. Er hat es längst verdient. Doch um die Braunen war es schade. Sie standen noch fest auf den Beinen und strotzten vor Kraft. Aber man brauchte sie nicht. Man kaufte ein Automobil. Es gab doch schon keinen Sand mehr, der sich von Pferden hätte führen lassen. Und Vorlenz war nur ein Kutscher und kein Chauffeur. Er konnte mit Peitsche und Leitseil umgehen, saß aber vor dem Volant wie ein Kind vor dem Uhrwerk. Dann war auch noch dieses: Er haßte den Benzingestank und tat, als hätten seine Pferde eitel Duft von sich gegeben. Es nützte nichts, keine Trauer und kein Ärger. Das Ungetüm fuhr an und pustete ihn weg. Vorlenz schlug einfältig mit der Peitsche nach ihm, legte seine ganze Wut in diesen Schlag und brach doch nur den Stiel entzwei. So war auch noch das Letzte hin. Und er ging, weil man ihn auslachte und weil er schon entlassen war.
Vorlenz baute sein Leben um. Er kriegte die Arbeitslosenunterstützung und wurde Kleinrentner, wie er behaglich scherzte. Und wenn man früher von ihm sagen durfte, daß er nicht gern gearbeitet hat, so konnte man jetzt rundweg behaupten, daß er nun erst richtig das Faulenzen lernte. Es gibt da nämlich Unterschiede. Der Arbeitsunlustige steht gewöhnlich fehl an Ort, ist ein Schuhmacher und will ein Drechsler sein oder verdient bloß zu wenig und würde bei einem höheren Lohn auch größere Tüchtigkeit zeigen; der Arbeitsunlustige ist einer, der immer noch etwas will, wenn auch beständig anderes, weil er sein Ziel nicht kennt und in das Ungewisse strebt. Der Faulenzer hat nur den Willen, das zu bleiben, was er ist, und fürchtet jede Veränderung, selbst die zum Besseren, weil sie ihn um seine Ruhe bringen könnte; der Faulenzer hat sich abgefunden. Und das ist die Katastrophe. Seine Untätigkeit wird Weltanschauung und tritt die ganze Lebensordnung auf das empfindlichste Hühnerauge: Ist diese Erde nicht imstand, das Häuflein Menschen ohne Arbeitsplage zu erhalten? Eine gefährliche Frage, die schon manchen klugen Kopf gekostet hat. Denn ist nicht jeder Zwang Diebstahl an unserer Freiheit? Jede Arbeit Diebstahl an unserer Lebenskraft? Vorlenz war von diesen Erkenntnissen natürlich weit entfernt. Er bewegte sich aber physisch nach ihnen hin. Er gewöhnte sich daran, unbegrenzt zu schlafen, vogelfrei zu leben und keiner Stunde Rede zu stehen, wo er war und wo er sein wird. Er gehörte sich selbst und niemanden sonst. Brigitte hatte die Kinder. Sie waren ihr Glück, und das mußte mit Sorgen bezahlt werden. Er liebte Rese, aber es hätte nicht unbedingt sein müssen. Er wohnte bei ihnen und stand für die halbe Miete ein. Das war alles. Mehr verlangte er nicht von ihnen, und mehr bekamen sie auch nicht. Vorlenz mußte sich bescheiden. Die Rente war nicht groß. Er schränkte sich in allem ein, ging nirgends hin, um keine Stiefel zu zerreißen, lag viel im Bett, um seine Hose zu schonen, borgte sich die Zeitung von der Nachbarin aus, um auch noch daran zu sparen, und rauchte eine Pfeife. Das war neu, war Ökonomie. Er mußte sich einrichten. Und da kam eine Pfeife billiger als Zigaretten. Sie schmeckte ihm nicht gleich. Aber das kommt schon, wenn nur der Kopf einmal ordentlich geselcht und das Rohr tüchtig durchgefeuchtet ist. Dann erst kommt jenes entrückte Gottvatergesicht, das mit stillen Sternenaugen in die Welt guckt und blaue Wolkenschäfchen vor sich hinpafft, jenes kühle, schattige Wesen, das man bei Pfeifenrauchern neidig bewundert und meist vergeblich nachahmt. Das mußte leider auch Vorlenz an sich erfahren. Der Rauch biß, die Pfeife stank, und Brigitte schimpfte. Sie war doch schon zu lange von den Bauern daheim fort und fand, daß die Luft schlecht wurde und daß es für die Kinder schädlich sein mußte. Vorlenz war durchaus ihrer Meinung, war froh, eine Ausrede zu haben, und legte die Pfeife weg. Er ist trotz aller Mühe nicht zu jenem Gottvatergesicht gekommen, grauste sich vor dem Gestank und konnte wirklich keinem Menschen zumuten, diese Luft zu atmen, schon weil er selber davon genug hatte, mehr als genug.
In dieser Zeit verunglückte Brigitte. Sie stand die Nacht durch beim Trog und war beinahe schon fertig, hatte nur noch eine Bluse auszuwaschen und schrie plötzlich gellend auf. Ihr Gesicht wurde bleich und das Wasser rot. Brigitte hatte sich eine große Nadel in die Hand gestoßen. Sie stak im rechten Mittelfinger, war unter dem Nagel durch tief in das Fleisch gedrungen, stak immer noch dort und verursachte rasende Schmerzen. Frau Gröger kam gelaufen und konnte nicht helfen, weil ihr schlecht wurde. Da packte Brigitte selber an und riß die Nadel heraus, schrie noch einmal auf und wimmerte dann, klapperte mit den Zähnen und bebte am ganzen Körper, als hätte sie sich alle Nerven mit herausgerissen. Fräulein Lola war schuld. Sie hatte die Nadel in ihrer Bluse vergessen. Der Finger mußte geschnitten werden. Herr Stein bezahlte den zweifachen Lohn, obwohl Brigitte nichts arbeiten konnte. Sie verdiente das Geld durch ihre Schmerzen, und das war ein saures Geschäft.
Es gab dann doch einen Tag, der über allen Tagen stand als ein großer, helleuchtender Stern. Phine hatte ihn angezündet. Sie wollte nicht in das Theater gehen, wahrscheinlich um Fräulein Lola zu ärgern, die gern gegangen wäre. Und so bekamen Thomas und Rese die Karten geschenkt. Es war ein Ereignis, von dem keiner richtig wußte, was man davon halten sollte. Brigitte ist noch nie in einem Theater gewesen. Vorlenz kannte es bloß vom Kino her, also gar nicht. Und die Kinder machten eins das andere verrückt.
»Man sitzt in einem Haus und sieht allen Parteien in die Wohnung«, hatte Rese gehört und konnte es vor Neugierde kaum aushalten.
»Eine Kirche ist es, in der Geschichten erzählt werden«, meinte Thomas und wollte sich alle merken.
Brigitte brachte die Kinder hin. Sie mußten gehen, weil die Straßenbahn zu teuer kam, gingen über eine Stunde und froren sich die Nasen rot, weil es windig war und auf den Bergen schon Winter wurde. Die Mutter wartete im Vorraum. Es war eine lange Zeit, beinahe die längste in ihrem Leben. Sie saß auf einer gepolsterten Bank, die so gebrechlich und kostbar aussah, daß sie dem zarten Ding ihr ganzes Gewicht nicht antun wollte und sich nur beiläufig setzte. Ein Diener sprach sie an, aber sie wußte nichts mit ihm zu reden, und so schwiegen bald wieder beide. Brigitte war mit sich beschäftigt und wurde kaum fertig. »Sie sind im Theater!« Es war ihr größtes Glück. Etwas Hohes, Unerreichbares ist herabgestiegen und hat sich ihnen geschenkt. »Nun sind sie auch im Theater gewesen!« Sie konnte nichts anderes denken, nichts anderes fühlen. Und sie hätte mit Vergnügen einen Tag und länger da gesessen und gewartet.
Thomas war anfangs derart eingeschüchtert, daß er beinahe zu atmen vergaß und, wenn er es nicht hätte tun müssen, ganz bestimmt erstickt wäre. Rese benahm sich wie zu Hause. Sie schaute herum, zeigte mit den Fingern, redete laut und lachte sogar. Thomas drückte ängstlich seinen Sitz und fürchtete immer noch, daß sie nicht hergehörten. Es gab fast nur Kinder in den Reihen, und das beruhigte ihn schließlich doch. Rese wären große Leute lieber gewesen. »Was hat man denn davon, wenn einen keiner sieht?«
Dann trillerte eine Klingel, schwebte der Vorhang hoch. Und damit war Thomas für diese Welt verloren. Seine Blicke wurden von den Bildern geblendet. Seine Ohren stürzten sich auf jedes Wort und verschlangen es, noch ehe ein Satz daraus wurde. Sein Herz stieg herauf, immer höher herauf, lag schon auf der Zunge und wollte sich nicht mehr hinunterschlucken lassen. Er verging vor dem, was war und wurde, und hatte kaum Zeit genug, um zu erleben, was gewesen ist. So muß einer Schneeflocke geschehen, wenn sie vom Himmel auf die Erde taumelt und der Sonne in die Arme fällt. Nur daß Thomas von der Erde in den Himmel fiel. Er sagte kein Wort. Er hätte eine neue Sprache erfinden, eine andere Stimme kriegen und viel mehr Mut besitzen müssen. Er lachte auch nicht. Er lächelte bloß und weinte zugleich. Rese schupfte sich:
»Das ist doch nur so, ... ist gar nicht so.«
Thomas hätte sie schlagen mögen. Aber das durfte er nicht. Sie war dumm. Das wußten alle. Doch für so dumm hätte er sie nicht gehalten.
Brigitte dreht die Daumen ineinander. »Sie sind im Theater!« Es war ihr unmöglich, davon loszukommen. Wie ein Hund an der Kette, so hing sie an diesem Satz, nur daß sie glücklicher war und sich die Freiheit eines anderen Gedankens gar nicht wünschte. Es gibt Schönheiten, vor denen man wirklich nur Ah! sagen kann, Kümmernisse, die vor jedem Laut verstummen, und ein Glück, das immerzu denken muß: »Nun sind sie auch im Theater gewesen!«
Der Heimweg schien länger, denn man wurde müde, wahrscheinlich weil man es schon gewesen war. Rese plapperte ununterbrochen. Thomas ging verschlossen wie einer, der voller Geheimnisse steckt. Er kam aus einem Reich, in dem jeder Wunsch, kaum ausgesprochen, kaum gedacht, auch schon greifbare Wirklichkeit wurde und diese Welt zuschanden machte, in der es immer anders kommt, als man denkt. Oder hatte er sich nicht längst eine Katze gewünscht? eine kleine, weiße Katze mit einem grünen Band um den Hals und einer silbernen Glocke daran? Ein Jahr ist schon vergangen, und er hat noch immer keine Katze, obwohl es eine Unmenge gibt, wenn auch nicht alle weiß sind. Der Prinz brauchte nur einen Finger zu heben, und schon war alles da, was er nur wollte, ein Spiegel, in dem man die ganze Welt sah, auch die Prinzessin aus Indien, die er sonst niemals gesehen hätte.
Sie waren noch nicht zu Hause angekommen und Rese hatte schon alles erzählt.
»... Dann haben sie gegessen und getrunken, der dicke Hunger und der dünne Durst, haben vom Zaubertisch gegessen und getrunken und sind immer dicker und immer länger geworden, so dick und so lang, ... und haben noch immer nicht aufgehört, haben immer noch weiter gegessen und getrunken und sind dann Schweine geworden, ein dickes und ein dünnes Schwein, jedes mit einem wirklichen Rüssel und einem richtigen Schwanz.«
Thomas hielt sich beleidigt die Ohren zu. Es war keine Lüge, was da gesagt wurde, aber die Wahrheit sah doch ganz anders aus, nur Rese hatte sie nicht gesehen. Oder war Thomas blind?
»Und du?« erkundigte sich die Mutter enttäuscht. »Du weißt gar nichts zu reden?«
»Nein«, schüttelte Thomas den Kopf und machte ein Gesicht, als ob es tatsächlich so wäre.
»Hat es dir nicht gefallen?«
»Laß mich!« schrie Thomas gequält auf, setzte sich in einen Winkel und kämpfte gegen die Tränen an, war nicht traurig und hätte sich doch hinwerfen und weinen mögen vor Scham und Empörung. Er hatte den Himmel gesehen, wenn auch sonst niemand dort gewesen ist, er hatte ihn gesehen. Aber das war nicht zu sagen, das lag in der Brust und glänzte, glühte, leuchtete und wärmte, aber es war nicht zu sagen. Und nun fragte ihn die Mutter, ob es ihm gefallen hat. Er hätte schon erzählen können, doch er hatte Angst vor jedem Wort, es könnte ihn bestehlen, könnte ihm ein Wunder nehmen und etwas Gemeines dafür geben. Rese hatte auch sonst nichts gesehen als zwei traurige Hofnarren, die sich zu Schweinen gesoffen und gefressen haben. Er schämte sich für die Schwester und war empört. Brigitte trug ein Kreuz an diesem Jungen. Er schlug aus der Art und machte sie bänglich. »Was soll einmal aus ihm werden? Nun ist er in einem Theater gewesen und weiß nichts zu sagen.« Sie hat nur draußen gesessen und wird ihr Leben lang davon reden können.
Es kam völlig unerwartet. Phine Stein fragte von obenher, wie es sich für eine Dame gebührte und wie es einer Bedienerin zukommt:
»War es schön?«
»Oh!«
»Hat es ihm gefallen?«
Das konnte nur Thomas angehen.
»Ohhhhh!« übertrieb Brigitte, war selber noch ganz verklärt und ist doch nicht einmal drinnen gewesen.
»Er soll es mir erzählen!« wünschte Phine und sagte auch gleich wann: »Heute. Beim Kaffee.«
Das war eine Einladung, konnte nichts anderes sein, war die Einladung für Thomas, da herauf zu kommen und einen Kaffee zu trinken, hier an diesem Tisch zu sitzen und ... Es war nicht auszudenken, war nicht zu fassen, konnte bloß empfunden werden und närrisch machen, wenn man es nicht schon war. Brigitte nickte, verbeugte sich und nickte, bewegte erst lautlos die Lippen und hauchte dann, als wäre ihr die Stimme ausgegangen:
»Bitte! ... Bitte sehr!«
Sie ging wie im Traum herum, liebkoste jedes Ding mit ihren Blicken und drückte jeden Sessel an die Brust, weil es doch sein konnte, daß Thomas auf ihm sitzen wird, die Schale vor sich und Phine gegenüber. Brigitte glänzte den Boden wie einen Spiegel, wischte die Kasten sauber, als ob hier seit Jahren nichts geschehen wäre, und lief jedem Stäubchen nach, als ob er darüber fallen und sich wehtun könnte.
Rese kam völlig aus dem Häuschen.
»Zu Kuchen und Kaffee?« fragte sie aufgeregt. »Mit Schlagobers und Rosinen?« Ihr Wille wurde vor jeder Speise schwach und schrumpfte bei solcher Aussicht auf ein Nichts zusammen. Sie hatte sich offenbar verhört. Ihr Name ist nicht gefallen. Dennoch konnte es kaum anders sein. Sie waren doch Geschwister. Und wenn der Bruder Kuchen und Kaffee bekam, dann mußte sie es auch bekommen.
Brigitte hatte zu tun und schoß herum. Der Anzug war zu klopfen, das Schuhwerk zu glänzen, ein frisches Hemd noch herzurichten. Es fehlte ein Knopf. Brigitte fand nicht gleich den rechten und schaute schon ängstlich auf die Uhr, obwohl es erst zwei war und Thomas in einer halben Stunde fix und fertig dastand: ein netter, junger Mann, wie sich die Mutter wohlgefällig überzeugte. Rese wartete geduldig nebenher, fand es nun doch an der Zeit und rückte näher hin.
»Wann sollen wir denn unten sein?«
Brigitte fiel wie durch ein Loch in sich selber hinab.
»Du? ... Nein, du nicht ... Man hat dich, ... hat dich nicht eingeladen.« Es spießte sich jeder Laut und wollte kein Wort werden.
»Ach, so!« warf Rese schnippisch hin und tat ungeschickt erfreut. »Bin froh, wenn ich nicht muß. Kaffee krieg ich da auch, und Kuchen, ... was das schon für ein Kuchen sein wird!« Ein wenig mußte ihr aber doch leid sein, denn sie schimpfte Phine eine dumme Nocken und das Fräulein eine blöde Gans, beschimpfte in Gedanken auch die Mutter und flitzte fort in den Hof.
Thomas stieg andächtig und furchtsam zugleich die Stufen in das erste Stockwerk hinab. Er hatte große, aufregende Gefühle. Ihm war, als würde sich nun sein Leben für immer entscheiden. Er dachte nichts Bestimmtes dabei, und so konnte ihm auch kein Leid geschehen, was auch daraus wurde. Er stieg hinab, und doch war ihm, als ginge es bergauf, den Sternen zu und weiter. Dann stand er still. Es war das Himmelstor. Gestern ist es noch eine Türe gewesen, aber heute war es das Himmelstor. Thomas klopfte an, erst wie ein Kücken, das nicht recht aus dem Ei will, dann erst wie ein Mensch, der Einlaß begehrt und doch im letzten Augenblick noch fort möchte, drei Tagreisen weit und für immer. Das Mädchen öffnete. Er grüßte, trat hinein und ... Von da an wußte Thomas später nichts mehr, nicht, was er gesagt hat, nicht, was mit ihm geschehen ist, nichts, was irgendwie Erinnerung geworden wäre. Sein Gedächtnis hatte einen Riß bekommen, und da ist alles hineingefallen. Es war ein Verlust, aber nicht wieder gutzumachen. Dann erst, als er schon bei Tisch saß und mit einem Silberlöffelchen den duftenden Kaffee umrührte, dann erst setzte es wieder ein. Phine war eine Prinzessin. Das hatte er gleich weg. Phine war die Prinzessin aus Indien, und er ... Ja, er konnte nur der Prinz sein, denn es waren sonst keine Prinzen da. Fräulein Lola wurde Amme. Eigentlich hieß sie Marinka, doch hier sagte man Lola zu ihr. Das störte nicht weiter. Thomas hatte dort auch nicht Thomas geheißen. Das Zimmer war der Thronsaal. Man merkte es an dem Luster aus gläsernen Diamanten, dem weichen Teppich aus purpurnen Fellen, den Vorhängen aus seidener Sonne und vor allem an Phine, denn wo die war, konnte nur der Thronsaal sein. Thomas empfand hier nichts natürlich und sah in jedem Ding das Geheimnis einer anderen Welt. Er hatte keine Worte, sein Entzücken auszusprechen, und wagte nur scheue, springende Blicke, wie man Verbotenes anschaut, um es heimlich doch zu sehen. Phine ist in Wahrheit edler und kostbarer gewesen als irgend eine, die da zehn Jahre alt und ein Mädchen war. Ihre Haare hatte die Nacht gesponnen, ihr Gesicht der Mond gebadet. Es war deshalb auch nicht so weiß, wie Sonnenkinder sind, war dunkel von Haut und voll fremder, ungewöhnlicher Schönheit. Die Augen waren große, schwarze Perlen, die hinter langen Wimpern wohnten und sich nur höchst selten zeigten, dann aber jeden Blick, der sich zu ihnen hob, demütig niederbeugten. Thomas hätte sich hinknien mögen, so klein und hilflos wurde er davor.
»Nun?«
Phine fragte schon zum drittenmal. Thomas erschrak, stellte die Schale hin, legte das Löffelchen dazu und wischte sich den Mund ab. Es wurde wohl nicht besser dadurch und schon gar nicht leichter. Thomas fand kein Wort, das er hätte sagen können, öffnete aber doch die Lippen und ... saß plötzlich wieder im Theater, sprang von seinem Sitz auf die Bühne und spielte den Prinzen, nahm ihm Laut und Sinn aus dem Mund, hatte sich Satz für Satz gemerkt und sprach mit einer Stimme, in der jeder Ton Musik des anderen war: »... Du bist die Schönste auf Erden und sollst meine Königin werden ...« Er breitete die Arme aus, ging einen fremden Gang und war ein Prinz, man sah es auf den ersten Blick, man hörte es und konnte gar nicht denken, daß er jemals der arme Thomas gewesen ist und Vorlenz geheißen hat. Phine blieb scheu und verschlossen, nickte nur und lächelte kaum. Es war ungewöhnlich, was sie da schaute, und sonderbar, was ihre Ohren da hörten. Sie mußte an einen Narren denken und fürchtete sich. Dann aber geschah, daß sie selber närrisch wurde, daß sie aufstand und mittat. »Mein Prinz! ... Oh! ... Ich bitte!« Phine hatte das Stück nicht gesehen und spielte doch eine Prinzessin, wie sie auf dem Theater keine hatten. Es lag ihr eben im Blut. Sie war es. Und das entscheidet. Nur Fräulein Lola verdarb die Szene. Sie lachte und hätte weinen müssen.
Es ist aber doch ein schöner, wunderschöner Nachmittag gewesen.
Vorlenz bekam auch das Nichtstun schlecht. Er hatte zuviel Zeit, und das stellt allerlei Gedanken auf den Kopf. Er konnte kaum zufrieden sein. Das war nicht zu verlangen. Er hätte sich bescheiden müssen, tat es auch. Aber ist denn das noch ein Licht, wenn man den Docht einer Lampe so tief herunterschraubt, daß die Flamme wohl nicht auslöscht, doch kaum brennt? Und geht es mit einem Leben nicht geradeso, wenn man es an allen Ecken und Enden immer nur drosselt und ein Tag dürftiger als der andere ist? Vorlenz hatte das Knausern satt. Er wollte wiederum einmal ein Mensch sein, und das hieß bei ihm, er wollte Geld haben und es ausgeben können. »Ich kann das Tröpfeln nicht leiden«, sagte er und wurde lieber ordentlich naß, wobei er natürlich an einen Platzregen aus Bier oder Wein dachte und jetzt erst richtig merkte, wie ausgetrocknet er schon war. Vorlenz ging also hin und verzichtete auf die Arbeitslosenunterstützung, ließ sich abfertigen und kriegte eine Summe bar auf die Hand. Sie wog nicht schwer, aber es war doch von Gewicht. Er praßte nicht. Er lud auch keine Freunde ein. So dumm war er nie wieder. Vorlenz lebte bloß besser und trank nicht schlechter. Seine Laune stieg. Er tänzelte beim Gehen, schmunzelte im Reden und kicherte versteckt, als wäre da ein guter Witz, den er mit sich gemacht hat und der ihm gelungen ist. Und weil am Magen irgendwie auch das Herz hängt und mit diesem der ganze Mensch rappelt, geschah überdies, daß sich Vorlenz verliebte. Zum Glück war es die eigene Frau, zu seinem Glück, denn Brigitte hat sich nicht darum gerissen. Er setzte ihr brünstig nach und bedrängte sie mit seiner Sucht, hatte nichts lieber, als wenn sie sich wehrte, nahm sie gegen ihren Willen, oft mit roher Gewalt und brüstete sich stets nachher, was für ein Mann er war und wie froh sie sein konnte, ihn zu haben. Er war völlig ausgewechselt, ließ ihr keine Ruhe und wurde gelegentlich auch unverschämt, was er bisnun niemals gewesen ist. Brigitte fürchtete sich: »Es wird ein Kind, ... wieder ein Kind, ... das dritte ... Und ich kann die anderen nicht erhalten.« Sie war immer nur flüchtig zu Hause und konnte kaum etwas kochen, weil er ihr nicht von der Falte ging, mit am Herd stand, sie um die Hüften nahm und an sich zog. Es war abscheulich. Vorlenz ließ sich auch durch die Kinder kaum stören, besonders durch Rese nicht. Brigitte war doch seine Frau. Er hatte ein Recht auf sie, und das konnte ihm keiner nehmen. Es war nicht leicht, ihm beizukommen. Er blieb vor Späßen ernst und schien oft selber nicht zu wissen, wie er es meinte, lachte zum Gegenteil und freute sich, wenn man darauf hineinfiel. Er war eben gut gelaunt und neu verliebt. Brigitte gab es auf, dieses Mannsbild zur Vernunft zu bringen. Die Tage waren noch erträglich. Aber die Nächte, die stillen, finsteren Nächte, Bett neben Bett mit den Kindern, wurden zur Qual einer Lust, die zwischen Lebensfreude und Todesangst schwankte, meistens die Lust verdarb und nur die Qual vermehrte. Vorlenz hatte seine Finessen und peinigte Brigitte damit. Sie war keine Geliebte, ist es nie gewesen und wußte als Frau erst recht nicht, was er von ihr haben wollte. Sie duldete und betete, lag in den Armen eines Mannes und betete zu Gott, daß er ihren Leib nicht segnen, daß er ihr lieber eine Sünde anrechnen als das Glück eines Kindes schenken möge. Es war die schlimmste Zeit ihres Lebens, ein schwerer Kampf gegen sich selber, denn Feuer zündet wieder Feuer, und sie wollte, sie durfte nicht brennen.
Endlich erlöste sie ihr gemarterter Körper, war die Natur klüger als dieser Mensch. Vorlenz ist übrigens mit seinem Geld bald fertig gewesen und verlor mit der Freude am Leben auch die Lust an der Liebe.
Brigitte verdingte sich für zehn Nächte im Monat an eine Spitalswäscherei. Sie stand von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens beim Kessel, atmete die heißen, chlorgiftigen Dämpfe ein und mußte sehr an sich halten, vor Abscheu und Ekel nicht davonzulaufen. Die Wäsche war blutgetränkt und eiterbefleckt, roch nach Äther und Gestank, betäubte die Sinne und drehte den Magen um. Die anderen waren grobe, muskulöse Weiber, denen nichts nahekam, keine Übelkeit und kein Grausen. Sie verstanden gar nicht, worum es da ging, und lachten Brigitte aus, weil sie sich fürchtete, wahrhaftig vor blutigen Tüchern fürchtete und nicht zugreifen wollte. Das gab es hier natürlich nicht. Da kriegte jede den gleichen Lohn, mußte jede die gleiche Arbeit verrichten. Empfindliche Nasen und zarte Seelen gehören anderswohin, hatten hier keinen Raum. Brigitte vollbrachte es durch ihren Willen, den sie wie ein Kutscher seine Pferde straff am Zügel hielt. Und wenn es einmal doch nicht gehen wollte, dann knallte sie mit der Peitsche. »Du mußt!« Das ist ein harter Hieb. Und wenn er zu wirken aufhörte, dann half auch noch das: »Eine Stunde für Thomas!« Und wenn die vorbei war: »Noch eine für Rese!« Und wenn der Morgen immer noch auf sich warten ließ: »Eine Stunde für deinen Mann, der im Bett liegt und es sich gut sein läßt!« Es war längst nimmer so. Er hatte Sorgen. Es war keine Arbeit zu finden, nirgends Geld zu verdienen. Es gab riesige, niemals gehörte, niemals geschriebene Zahlen, aber kein Geld, gab Werkstätten und Fabriken, aber keine Arbeit. Vorlenz hatte schon alles versucht, mit ehrlichem, aufrichtigem Willen gesucht. Doch jeder Posten war besetzt, jede Maschine vergeben, jedes Werkzeug in Händen, jeder Platz war auch schon vorgemerkt und für die Zukunft verloren. Hinter jedem Vater stand der Sohn und verstellte die Aussicht. Es gab mehr Arbeiter als Arbeit. Es gab überhaupt zuviele Menschen. Und doch hatte der Krieg durch vier Jahre gemordet, waren Millionen in die Erde gesunken. Sind sie wieder auferstanden? Sind sie wieder in ihre Fabriken gekommen, die toten Dreher, Schweißer, Werkmeister und Schreiber? Man hätte doch glauben müssen, daß ihre Posten leer stünden wie Ställe, die eine Seuche ausgeplündert hat, daß ihre Maschinen rosteten, weil keine Hände da waren, sie zu putzen und zu schmieren, daß überall nach Menschen geschrien werden müßte und ein Arbeiter den Wert von dreien hätte ... Es war nicht so. Vorlenz wäre ebenso gern auf ein Dach als in einen Kanal gestiegen, hätte alles gemacht, nur um etwas zu tun, und war, wo immer er anfragte, überflüssig und entbehrlich. Er ging nicht mehr; er lief. Er bat nicht mehr; er bettelte. Man zuckte nur die Achseln, ließ ihn laufen und betteln und konnte ihm nicht helfen. Vorlenz wurde verwirrt. Er glaubte sich in einem Spiegelkabinett gefangen, stieß rechts an, prallte links zurück, sah keinen Ausweg und wußte bald selber nicht, wohin er gehen sollte und ob er nicht eben dort gewesen ist. Der Boden schwankte unter ihm. Die Luft wurde so dünn, daß seine Lungen nicht genug bekamen und zweimal für einmal atmen mußten. Er kriegte Angst, er meinte sich verfolgt und sah Gespenster ... Ein Geldstück rollte vor ihm her, so groß wie ein Laib Brot und größer noch. Er sprang ihm nach und bückte sich darum. Er hatte es und hatte es doch nicht. Es rollte, funkelte und rollte. Dort! Immer dort! Und niemals da ... Er sah Gespenster ... Sie fuhren in eleganten Automobilen, waren dick und fett, saßen auf Sitzen von Banknoten, fraßen Gold und schwitzten Diamanten ... Er sah Gespenster ... Sie verdrehten die Augen und schlürften. Sie rieben sich den Bauch und schmatzten. Sie leckten sich die Lippen ab und rülpsten ... Hunger! Das war der Hunger. Vorlenz hatte nichts gegessen, hatte eigentlich seit Tagen nichts gegessen. Er kam mit Absicht nimmer zu den Mahlzeiten heim. Er litt auch am Ehrgeiz. Es sollte nicht heißen, daß er Brigitte schuften ließ. Dann lieber gleich verhungern und Gespenster sehen. Vorlenz irrlichterte herum. Die Stadt war ein Gefängnis von hohen Mauern und abgesperrten Türen. Dahinter bohrte und feilte, hämmerte und hackte, surrte und kreischte die Arbeit. Es war ein böser Ton und eine schreckliche Musik. Arbeiter sind nur die Sklaven der Maschinen. Wehe einem, der ihre Gesetze übertritt, der sie nicht ordentlich bedient! Die Strafe folgt der Tat wie der Schatten dem Licht. Dann wird eine Hand zerquetscht, ein Arm vom Rumpf gerissen. Sträflinge sind sie, Arbeiter in den Fabriken, täglich zum gleichen Kerker verurteilt und ein Leben lang ohne Schuld. Doch sie haben zu essen. Sie leiden nicht Hunger. Sie sind arm, doch die Not der anderen, der Arbeitslosen ist ärmer. Vorlenz hatte kein Lachen mehr in der Brust, kein Lächeln mehr auf den Lippen. Seine Späße kamen aus der Galle und schmeckten ihm selber bitter. Es gab viele, die ihm glichen. Er traf sie auf seinen Wegen. Es sind nicht immer dieselben, doch immer die gleichen gewesen. Ihre Augen waren matte Fenster. Ihre Stimmen kamen aus Gräbern. Ihre Schritte schleppten an der Furcht. Und keiner konnte sich selber entkommen. Sie waren einer des anderen Trost. »Du auch? Der und der und du auch?« Es ist die Freude eines Todkranken, von einem anderen zu wissen, daß er auch einmal wird sterben müssen, ist nicht bloß Schadenfreude, ist der traurige Sinn einer letzten Kameradschaft: nicht allein zu sein mit einem Schicksal, das kein Erbarmen, keine Ausnahme kennt und jeden niederreitet, heute oder morgen oder wann. Es war eine Notgemeinschaft, ein Elendsbund, eine Aussätzigeninsel mitten in der Stadt des Lebens und der Völlerei. Vorlenz sah miserabel aus. Die Hose schlotterte an seinen Beinen, der Rock hing wie ein Sack auf ihm, der Hut allein war Hut geblieben, bloß das Gesicht darunter wurde täglich schmäler, täglich gelber, täglich älter.
Thomas litt an der ersten Liebe. Es regnete in seinem Herzen und war kalt. Selbst die Sonne konnte ihm nicht helfen. Sie schien an ihm vorbei. Er stand daneben und fror. Phine hatte ihn nicht wieder eingeladen. Thomas suchte nach hundert Gründen und fand alle, nur den einen nicht: Er war ihr doch zu minder. Seine Hose war geflickt, sein Rock zerwetzt, das Schuhzeug ausgetreten, und sein Vater hieß Johann Vorlenz.
Phine nahm es kaum so schwer. Sie hatte ihnen die Karten geschenkt, und damit war alles erledigt. Sie hat Thomas auch noch eingeladen, und das ist mehr gewesen, als er jemals von ihr erwarten durfte. Er hat an einem feinen Tisch gesessen, aus einer echten Porzellanschale getrunken und mit einem Silberlöffel umgerührt, hat den besten Kuchen bekommen, den die Köchin backen konnte, und gewiß noch nie einen so starken, köstlichen Kaffee gerochen. Was wollte er noch mehr?
Thomas litt an der Liebe, und es gibt nichts, das schwerer zu leiden wäre. Phine ging ihm aus dem Weg. Er bildete sich das nur ein, denn Phine Stein nahm sich bestimmt so viel Mühe nicht mit ihm. Er hatte sie früher manches Mal im Haus getroffen. Das ist richtig. Doch er wartete jetzt Tag für Tag darauf, und da vergeht die Zeit ganz anders, dehnt sich eine Woche endlos hin und läßt dann bald etwas vermuten. Thomas konnte sicher sein: Phine hätte seinetwegen keine einzige Minute ihres Vergnügens aufgeopfert und hatte gar keinen Grund, ihm auszuweichen, wohl auch keinen, ihn zu suchen. Und das war es, was er untenhin verlangte. Thomas hatte übrigens einmal das Glück, ihre Stimme zu hören. Sie klang zornig und wehrte sich mit den Worten »Ich will nicht« gegen eine Zumutung, die sicher unrecht und beleidigend gewesen ist. Thomas stand auf dem Gang vor der Türe und wollte schon anklopfen ... Nein, man kann eigentlich nicht sagen, daß er es wollte. Seine Feigheit lief vor dem Gedanken schon davon. Nur sein Herz schlug tapfer für die Geliebte, aber damit war ihr kaum geholfen.
Dann ereignete sich doch, was er so sehnlich wünschte. Thomas lungerte beim Tor, und Phine kam. Sie ging spazieren. Das Fräulein war dabei und eine fremde Frau, das heißt, er wußte schon, daß es die Tante war, doch sie kannten einander nicht, und so ist es für ihn bloß eine fremde Frau gewesen. Thomas griff nach seinem Hut, hatte keinen auf dem Kopf, suchte bestürzt und fuhr sich aufgeregt in die Haare, versäumte den Gruß damit und hatte das Glück dieses Tages ins Unglück verkehrt. Phine warf ihm einen bösen Blick zu. Fräulein Lola war entrüstet. Und die Tante konnte nicht verstehen, was beide hatten. Thomas wollte rufen, aber seine Zunge hing fest, wollte nachlaufen und sich entschuldigen, aber seine Beine waren angewachsen, ließen sich nicht schieben und nicht heben und waren wie angewachsen. Phine verdrehte einmal sogar den Kopf und schaute sich um. Aber das konnte Thomas nimmer sehen. Seine Augen wurden trüb, seine Blicke verrannen im Wasser. Es kam als eine Überschwemmung. Thomas wendete sich ab und ging.
Agnes wusch die Stiegen auf. Sie trieb die Arbeit als ein Spiel und freute sich, wenn ihre Arme müde wurden, ihre Hände wie Gewichte baumelten und jeder Finger für sich selber zuckte. Das Zittern in den Knien fand sie lustig und das Ziehen in den Beinen angenehm. Nur das Stechen in der Brust ließ sich nicht umdeuten. Es tat richtig weh und konnte nicht abgeleugnet werden. Aber es ging dann doch immer wieder und einmal mußte sie in jeder Woche fertig werden. Das Haus war groß, hatte vier lange Gänge von je acht Fenstern und vier Stiegen von je zweiundzwanzig Stufen. Das wußte wahrscheinlich niemand außer ihr. Es interessierte auch keinen. Agnes hatte allen Grund, genauer zu zählen und sich nicht um eine Stufe zu irren. Heute war Samstag, und da mußte das ganze Haus von oben bis unten gefegt und gewaschen werden. Agnes war noch ein kleines Mädchen. »Schau zum Wachsen!« greinte die Mutter. »Wir haben keine Zeit zum Zeitlassen.« Was hätte Agnes tun sollen? Reichlicher essen konnte sie nicht, weil immer weniger auf den Tisch kam, je mehr ihrer wurden, und besser schlafen konnte sie auch nicht, weil nun schon drei mit ihr in einem Bett lagen und dadurch keines richtig Platz hatte. Aber das kümmerte diese Mutter nicht. Man hatte doch keine Puppen geboren, sondern nur Kinder. Frau Gröger war durch die kläglichen Umstände ihres Lebens um alles Menschliche gekommen. Ihr Leib wurde Maschine, aß und verdaute, empfing und gebar, arbeitete bei Tag und ließ die Nächte über sich ergehen. Ihr Geist war stumpf, ein Messer, mit dem man weder schneiden noch stechen konnte. Agnes war ein gutes Ding. Man darf hier freilich nicht verlangen: Du bist ein Kind, also mußt du ein Engel sein. Agnes liebte Thomas. Er war immer sauber gewaschen und gekämmt, war nie zerrissen und hatte sogar die Schuhe geputzt. Agnes kam dazu nicht. Sie mußte Gänge und Stiegen waschen und die Wasserleitungshähne glänzen. Kein Wunder, wenn für sie selber nicht Zeit noch Lust verblieb. Thomas wich ihr gewöhnlich aus. Er mochte sie nicht leiden. Heute aber mußte er vorbei. Agnes drückte sich an die Mauer, strich die nasse Schürze glatt, als ob sie dadurch schöner werden könnte, lächelte verlegen und wisperte wie eine Maus, die mit dem Löwen spricht:
»Das nächstemal darf ich gehen, hat das Fräulein gesagt.«
Thomas fragte nicht wohin. Er wußte, fühlte es vor allem und schnaubte das unschuldige Ding wütend und verzweifelt an:
»Ja, du! ... Weil wir nicht wollen ... weil ich nimmer will.«
Agnes verstand nicht, warum er so zornig wurde. Sie hätte sich ganz gerne auch bei ihm bedankt. Er war der schönste Bub in der Gasse und sie bewunderte ihn.
Vorlenz streifte auf den Märkten der Vorstadt herum. Dort kannte ihn niemand. Dort konnte er ohne Sorge um seinen Namen unter die Hunde gehen und im Kehricht scharren. Es gab da immer noch etwas zu finden: angefaulte Äpfel und verdorbene Zwetschken. Muß ein gutes Jahr gewesen sein. Man schmeckte es noch an den Abfällen. Vorlenz hatte sich einen Hut voll gesammelt, hockte auf einem Handwagen und sortierte mit dem Taschenmesser. Es gab da manches rare Stück. Sogar ein echter Kalville war darunter. Er mostelte zwar ein bißchen, doch das durften Kunden dieser Art nicht kritisch nehmen. Die Zwetschken gärten nachgerade schon. Die Erinnerung an das Öl aller Schnäpse, den populären Sliwowitz, lag so greifbar nahe, daß sie fast berauschte. Brot wäre gut gewesen, ein Stück Brot, herzhaft geschnitten und ... Nein, nichts als Brot. Es duftete von einem Stand herüber, war aber trotzdem eine Welt weit entfernt. Vorlenz dachte ans Stehlen, überlegte alle Winkelzüge voraus, wurde eben damit fertig und wollte schon vom Wagen rutschen ... Da schnitt ein Schutzmann seinen Blick. War es Zufall? oder sollte es mehr sein? Vorlenz wagte entschieden nimmer, an einen Diebstahl zu denken. Es ging auch ohne Brot, schon weil es gehen mußte. Eben pfiff der Mann beim Stand und winkte. Vorlenz schaute sich nach einem anderen um. Der Mann hörte nicht auf zu pfeifen und zu winken. »Ich?« zeigte Vorlenz und tummelte sich hin. Ein Brotlaib kam ihm entgegen. Es war in der Tat so, auch wenn es irgendwie anders sein mußte. Vorlenz sah nur den Laib, sah die Hand nicht, die ihn reichte, sah nur das Brot, riß es an sich und rannte fort damit. Der Mann konnte immerhin verrückt gewesen sein, konnte bereuen, was er getan hatte, und da war man je weiter weg, desto sicherer. Vorlenz hätte unbesorgt bleiben können. Das Brot war naß geworden und schimmelte. Es roch wie ein fauler Schwamm und schmeckte bitter. Kein Pferd würde es gefressen haben. Vorlenz war aber bloß ein Mensch und mußte froh sein, überhaupt etwas zu kriegen. Jede Schindmähre hat ihren Preis und wäre es auch bloß der von Haut und Knochen. Nur der Mensch ist ohne Wert. Oder würde man ein Pferd auf offener Straße verhungern lassen, ohne sich darum zu kümmern? Wären nicht sofort eine Menge Leute da, die sich aufregen und entrüsten? Schritte nicht die Polizei wegen Tierquälerei ein? Gibt es nicht überall einen, der sich dieser Sache annimmt, schon weil sie eine Sache ist? Um Vorlenz kümmerte sich niemand. Er war ja bloß ein Mensch und keine Ware. Sein Hunger blieb eine private Angelegenheit. Oder hat man schon irgendwo von einem Gesetz wie diesem gehört: Jeder Mensch hat ein Recht auf Nahrung, denn er ist verpflichtet zu leben? Vorlenz erfuhr nichts davon. Er aß faules Obst und verdorbenes Brot. Die Rinde war noch das Beste daran. Sie quatschte wohl auch, aber das konnte den Magen bloß freuen. Er hatte eine Arbeit weniger und wird es nicht übel aufnehmen. Vorlenz wurde beinahe satt. Blieb noch der Durst. Dagegen konnte man zur Not auch Wasser trinken. Doch es war noch nicht so weit. Vorlenz hatte sich an das Wunderbare schon gewöhnt. »Vielleicht regnet es Bier. Vielleicht rollt gar ein Faß mit Wein an und ...« Man soll dem Schicksal nicht voreilig ihn die Zügel greifen. Es kommt oft anders, als man meint, und kam auch jetzt.
Vor einem Wirtshaus lagen leere Fässer aufgestapelt. Sie lagen immer schon dort und wurden doch plötzlich andere Fässer. Ein alter Mann pirschte sich an. Er hatte einen langen, weißen Bart, eine Brille auf der Nase sitzen und einen zerbeulten Blechtopf in den Händen. Sein Gang war schleppend, seine Haltung in der Mitte abgebogen. Von den Schuhen waren nur noch Teile da. Die Hose verkroch sich schamhaft hinter die Schöße eines Bratenrockes, der vermutlich einmal schwarz gewesen ist. Man konnte das nimmer mit Sicherheit behaupten. Ein Bild des Jammers war es, doch nur ein Bild, der Mensch dahinter schien aller Seligkeit voll und lächelte vergnügt, als wäre ihm mit diesem Dasein ein famoser Spaß gelungen, Gott und sich selber zum Narren zu halten. Er hatte gewiß auch andere Tage gesehen. Das bestätigte ein Blick auf seine Hände. Sie waren zart und schmal, und es gibt keine bessere Visitkarte als diese. Das Leben treibt Verschwendung. Es kostet ihm ja nichts. Vorlenz wurde aufmerksam. Der Alte stellte seinen Blechtopf auf die Erde und musterte die Fässer durch. Er rückte die Brille zurecht und las die Zettel: Abzug ... Lager ... Pilsner. Ein Gutsbesitzer konnte seinen Keller nicht genauer prüfen. Die Wahl fiel auf ein Faß von Pilsner Bier, was jedermann begreifen wird, der es einmal getrunken hat. Es lag aber zu unterst und war schwer zu kriegen. Der Alte hatte keine Kräfte mehr, ließ trotzdem nicht von seinem Eigensinn und mühte sich vergebens ab. Da sprang ihm Vorlenz bei. Er schaffte es mit einem Ruck. Der Alte hielt den Topf unter das Loch und zitterte aus Angst, es könnte sich ein Tropfen irren und zur Erde pritschen.
»Prost!« lachte er dann und trank dem edlen Helfer zu. Vorlenz schnüffelte. Das Bier roch essigscharf und widerlich, aber es roch nach Bier. Er hatte Durst, hatte kein Geld, sich ein besseres zu kaufen, hätte Wasser trinken müssen, und da ist doch jedes andere Getränk mindestens ebenso gut. Der Alte war ein Menschenkenner und in diesem Falle fast Gedankenleser. Es brauchte darum keine Worte. Er stellte den Topf noch einmal hin, und Vorlenz schwenkte ein nächstes Faß. Der Inhalt hätte Lagerbier sein sollen; dem Geschmack nach war es eine Pfütze.
»Brrr!« schüttelte er sich und spuckte aus. Der Alte wurde ärgerlich, nahm ihm den Topf aus den Händen, schlürfte ihn andächtig leer, schaute dem Genuß noch eine Weile dankbar nach, hängte das Gefäß an seinen Hosenriemen und entfernte sich schleppend, blieb nach ein paar Schritten stehen, drehte um und kam zurück.
»Professor Pintoff«, stellte er sich vor und strich den Bart, daß es nach unten tropfte. Vorlenz sperrte den Mund auf und vergaß, ihn wieder zuzumachen. »Pintoff!« wiederholte der Alte, als ob sich jedermann sofort erinnern müßte: »Das Wunder des Westens, ... der Mann mit den hundert Händen, ... Pintoff, der alles kann, alles weiß ... Haben Sie eine Zigarette, mein Herr?««
Vorlenz hatte noch zwei Memphis in der Brusttasche stecken. Doch die gab er nicht her. Es waren die letzten auf lange Sicht, und er konnte nicht schlafen, nicht leben, ohne zu rauchen.
»Bedaure!« log er und seufzte.
»Gut! ... Auch gut!« grinste der Alte, umarmte Vorlenz zum Abschied, blieb aber noch, legte die linke Hand an seine Stirn, murmelte ein paar sinnlose Worte, zog sich dann mit der Rechten aus jedem Nasenloch eine wirkliche Zigarette und wartete seinem Gegenüber damit auf. Vorlenz prallte vor seinen Blicken zurück und wollte nicht recht. Er hatte noch nie gesehen, daß sich einer Zigaretten aus der Nase zieht, fand es auch nicht ganz appetitlich und zögerte unschlüssig. Da fischte der Alte auch noch eine Zündholzschachtel aus der Luft, griff nur so ins Blaue hinein und hatte sie richtig in der Hand. »Solo«, genau wie Vorlenz eine Schachtel in der Westentasche trug. Es war verblüffend, war unheimlich. Pintoff schmauchte schon. Er sog sich voll und hielt den Atem an, verdaute den Rauch in der Lunge und stieß nur ganz kleine, winzige Wölkchen von sich. Jetzt konnte auch Vorlenz nimmer widerstehen. Es war eine Memphis. Und sie schmeckte ausgezeichnet. Der Alte kicherte verschmitzt und machte sich davon. Vorlenz dachte dem Wunder nach. »Warum spuckt er nicht Silberkronen? oder kackt Gold? Wenn einer Zigaretten aus der Nase und Zündhölzer aus der Luft holen kann, dann muß er alles können.« Vorlenz wollte den Professor schon zurückrufen und ihn auch um diese Gefälligkeit bitten, aber es war nichts mehr von ihm zu sehen. »Er ist verschwunden«, sagte Vorlenz mit allen Schauern, die dazugehören, und ging wahrscheinlich aus diesem Grunde schneller, als er sonst gegangen wäre. Man konnte doch nicht wissen. Es gibt Teufel, vor denen sich selbst Ungläubige fürchten. Und dieser alte Mann schien nicht geheuer. Das Wunder entlarvte sich am Abend als gemeiner Schwindel. Vorlenz vermißte seine Zigaretten. Auch die Zündhölzer waren fort. Der Alte ist ein Dieb gewesen, ein ehrlicher sogar, denn er hat seine Beute mit dem Bestohlenen geteilt.
Ein Jahr ging hin. Man kann nicht sagen, daß es schlechter war, als andere gewesen sind; man kann auch nicht das Gegenteil behaupten. Es wollte nicht Frieden werden, das was einmal so hieß und von Freude kam. Es hat wohl immer arme und reiche Leute, Arbeiter und Nutznießer ihrer Arbeit gegeben, aber noch nie waren beide so feindlich gegeneinander gestellt, noch nie ist der Arme so bitter arm und der Reiche so sündhaft reich gewesen.
Brigitte wurde in der Wäscherei gekündigt. Es ist doch nicht mehr gegangen. Ekel und Grausen warfen sie hin. Es kamen Tücher, die vor Blut und Eiter standen. Tücher von Krebskranken, Tücher nach Operationen, kamen Tücher, die auch aus einer Schlächterei hätten kommen können, und das warf Brigitte hin. Ihr Gesicht wurde bleich wie ein Nußkern. Die Augen vergingen hinter Schleiern. Der Mund erbrach. Der ganze Körper schwitzte kalten Schweiß und bebte. Sie lag verkrampft wie ein gedrehter Strick und krümmte sich, als müßte sie ihre Gedärme Stück um Stück nach außen würgen. Man ließ die Arbeit sein und lief zusammen. Es war kein Erschrecken. Man empfand auch gar kein Mitleid. Das gab es hier nicht. Man stand nur da und schaute, rührte keine Hand und witzelte sogar: »Hätte ein Blumenmädchen werden sollen und keine Wäscherin.« Brigitte rappelte sich alsbald selber auf und bat um Wasser, machte einen hastigen Schluck und entschuldigte sich ängstlich:
»Es ist nur, ... weil ich nicht wohl bin, ... und geht schon, ... geht schon wieder.«
Es ging aber nicht, und sie mußte entlassen werden.
Vorlenz ging mit leeren Säcken fort und trug schwerer an ihnen, als wenn sie voll gewesen wären. Das konnte man ihm nicht verdenken. Er suchte Arbeit, suchte also, was nicht zu finden war. Es wurde fünf Uhr nachmittags. Er konnte den Rücken nimmer gerade halten und die Füße nimmer heben. Er stand an einer Straßenecke, zog den Hut und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, sah traurig und verlassen drein und fühlte sich zerfallen wie ein morsches, unterwaschenes Gemäuer. Vorlenz war mürbe geworden. Er stand allein, stand ohne jede Hilfe da und konnte sich unmöglich retten. Es machte ihn verzagt und irr. Er hätte weinen mögen. Oder waren das schon Tränen? Nein, er schwitzte bloß. Aber sein Herz, ... warum stieß ihn sein Herz? Er schluckte, hustete und schluckte. Doch es wurde nicht besser. Das Herz gab keine Ruhe. Vorlenz schnappte in die Luft und fraß ganze Brocken in sich hinein, als wäre sein Leben am Ersticken. Vielleicht ist es auch so gewesen. Er kriegte Angst und weinte. Was konnte dieses Wasser in den Augen anderes sein? Es quoll in plumpen Tropfen heraus und rann über die Wangen hinab. Er weinte. »Verflucht!« knurrte Vorlenz und schämte sich. Es war auch lächerlich und dumm, auf offener Straße zu stehen und wie ein Kind zu heulen, weil die Zeiten schlecht waren, als ob sie dadurch besser würden.
Da flatterte eine Banknote in seinen Hut. Vorlenz zwinkerte, machte die Augen wie Fenster auf und sprang mit den Blicken hinaus. Es war so, ohne Zweifel so, auch wenn Tatsachen widerreden sollten. Und er sah, was da zu sehen war. Und er griff nach dem, was unbegreiflich schien: Geld! ... Geld! Er wurde nicht reich dadurch. Vor Jahren einmal wäre es ein Vermögen gewesen. Heute war es ein Bettel. Vorlenz riß sich zusammen. Das Wort war als ein Flämmchen in ihm aufgesprungen und wurde zum Brand. Man hatte ihn für einen Bettler gehalten, die Dame dort, es konnte doch nur eine Dame sein, hatte ihn für einen Bettler gehalten und ihm ein Almosen gegeben. »Oho!« Er reckte sich auf. »So weit ist es noch nicht.« Er tat beleidigt, wollte nachlaufen und ... Da flog ein zweiter Schein in seinen Hut. »Geht das so leicht?« fragte sich Vorlenz und verbarg ein Lächeln hinter den Lippen. »Ist das so einfach?« dachte er und hatte die Beleidigung vergessen, blieb stehen, wo er stand, und hielt von ungefähr den Hut in seinen Fingern. Es wurde wie bei einem Taubenschlag. Erst zwei, dann drei, dann vier. Vorlenz zählte und staunte. Er wurde beschenkt, hatte weder Geburtstag, noch sonst etwas und wurde eben wiederum beschenkt. Hätte er sich prüde weigern sollen? Hätte er, den Hunger im Magen und die Leere in den Taschen, einen großen Herren spielen und auf Ehre halten sollen, wo längst keine mehr zu verlieren war? Er hütete sich wohl. Er schaute nur, daß ihn kein Schutzmann sah, und drückte sich, wenn einer in die Nähe kam.
So ist Johann Vorlenz ein Bettler geworden. Das Geschäft ging nicht immer fließend, stockte oft und setzte manchmal völlig aus. Aber dann kam doch wieder eine fruchtbare Stunde, in der sich das Mitleid überschlug und mehr tat, als nützlich war. Vorlenz sagte kein Wort daheim. Er hatte Geld, und das genügte. Brigitte fragte nicht. Es mußte ihr gleichgültig sein. Sie konnte ihm nichts geben, hie und da ein bißchen Essen und die Wohnung, mehr auf keinen Fall. Vorlenz ließ sich aber auch das Bißchen nimmer schenken. Er griff großartig in die Tasche und zählte sein Kostgeld für die Woche hin. Brigitte zögerte.
»Woher hast du es?«
»Wenn ich ein Dieb wäre, dann hätte man mich schon«, wich er geschickt aus und ging an die Arbeit.
Vorlenz erweiterte nach einer Woche sein Geschäft. An der Ecke war er doch zu sehr dem Zufall ausgeliefert und mußte warten, bis die Kunden kamen. Auch der Schutzmann störte ihn. Er wird trotz aller Vorsicht eines Tages doch aufmerksam werden und ihn schnappen. Er war der Hausmeister des Staates und mußte auf Ordnung sehen. Sie war toll genug: Man hatte zwar keine Arbeit, verbot aber das Betteln. Eine Weisheit, an der Salomo verzweifelt wäre. Vorlenz fand einen friedlichen Ausweg. Er besuchte seine Kunden in den Häusern und klopfte sich von Tür zu Tür. Er war unter den tausend anderen der Tausendeinte, drängte sich nicht vor, blieb stets bescheiden und wurde bald beliebt, soweit das einer kann, der um Geld kommt, ohne Besseres dafür zu geben als ein billiges: »Vergelts Gott!« Das Geschäft ging mehr im kleinen, doch es ging. Vorlenz hatte seine Formel unschwer gefunden: »Ein abgebauter Beamter bittet um eine Gabe.« Man hörte bloß auf den Beamten und wurde gerührt. Daß einer, der nichts ist und auch nichts war, in schlechten Zeiten bettelt, ist schon immer vorgekommen, aber ein Beamter, der zum Bettler werden muß, war neu und wirkte tiefer auf das Gemüt, ein wenig auch auf die kleinbürgerliche Eitelkeit. Man ist zwar nur die Frau eines Schaffners, doch man hilft einem Beamten aus der Not. Vorlenz bekam auch hin und wieder etwas zu essen und, wenn seine Sterne ganz besonders günstig standen, auch etwas zu rauchen. Er nahm alles ohne Umstände an. Sein Gewissen, der letzte, bescheidene Rest davon, hatte sich schlafen gelegt und schlief ausgezeichnet.
Es gibt gute und schlechte Betteltage. Auch die Witterung hat Einfluß. Wenn die Sonne scheint, dann ist mehr auf der Straße zu machen; bei Regen wird das Mitleid in den Häusern wach. Um Mittag sind die Almosen größer als am Abend. Eine hohe Stimme greift tiefer an das Herz. Wer mit einem Fingerknöchel anklopft, wird zwar manchmal nicht gehört, schneidet aber in der Regel besser ab. Klingeln sind beredter als Glocken. Frauen, die einkaufen gehen, machen ihre Börsen schneller auf als solche, die vom Markte kommen. Ein Mann ist mehr wert als drei Frauen, wenn er überhaupt gibt. Doch es geben nicht alle. Geburts- und Namenstage sind immer gute Bettelzeiten. Die einen kann man freilich nicht wissen, aber die anderen kann man an den Türschildern lesen und sich darnach richten. Das sind Geheimnisse, die jeder Bettler für sich selbst erfahren muß und keiner an die Konkurrenz verrät. Jedes Handwerk will gelernt sein. Und Vorlenz war auf dem besten Weg, ein Meister zu werden.
Da warf ihm das Schicksal einen anderen Köder zu. Es war an einem Vormittag. Die nächste Kirchenuhr schlug zehn. Vorlenz saß unweit im Park auf einer Bank und zählte mit. Es war noch zu früh. Er betrachtete die Häuser ringsherum und schätzte sie für seine Zwecke ab. Es stand nicht gut damit. Er hatte das schon im Gefühl. Beamte, Lehrer und Pensionisten sind magere Kunden. Und die Gegend sah verdächtig darnach aus. Vorlenz wollte es trotzdem versuchen. Man konnte sich auch irren, und dann war die Freude umso größer.
Da nahm ein Herr neben ihm Platz. Er war gut gekleidet, hatte einen grauen Spitzbart, trug einen Kneifer mit wagrechtem Balken und mußte sehr kurzsichtig sein, denn er fixierte mißtrauisch die Bank, ehe er sich setzte, und die Tasche, eine große, schwarze Aktentasche neben sich und Vorlenz stellte. Eine Zeitung raschelte. Ein Futteral sprang auf. Eine Brille stülpte sich vor den Kneifer. Und nun las der Mann, schaute durch die Doppelfenster und las darauf los, wie einer ißt, der Hunger hat. Vorlenz schielte hinüber. Neue Freie Presse. Aus Rußland wird gemeldet ... Er war nicht neugierig. Was ging ihn Rußland an? Er saß auf einer Bank in der Sonne und wartete auf sein Geschäft. Vor elf Uhr durfte man nicht in die Häuser gehen. Das tun nur Anfänger. Und er war keiner mehr. Irgendwo sang eine Amsel. »So sollte man pfeifen können«, dachte Vorlenz und seufzte, weil er es nicht konnte. Andere Sorgen hatte er offenbar nicht. Zwei Kinder spielten fangen. Sie waren wie aus einem Ei geschält und sahen gar nicht wie richtige Kinder aus, denn dazu gehört auch ein bißchen Schmutz. Das Dienstmädchen daneben stopfte Strümpfe, dünne, durchsichtige Seidenstrümpfe. Vorlenz notierte ohne Anteilnahme. Die Tasche störte ihn. Sie stand zwischen ihm und diesem da, stand genau in der Mitte und hätte jedem von ihnen gehören können. Es war keine gewöhnliche Tasche. Vorlenz empfand es unangenehm. »Was kann ...,« er meinte nur, »was kann in einer solchen Tasche eigentlich sein? ... Akten ... Geschäftspapiere ... Rechnungen und Wechsel ... Liebesbriefe.« Nein, so schaute der Mann nicht aus. »Oder das Gabelfrühstück, ... eine Buttersemmel, Schinken ...« Vorlenz überlegte: »Dann würde er essen, würde nicht in der Zeitung lesen, sondern essen. Es ist zehn vorbei.« Vorlenz wollte es genauer wissen, wollte sich schon hinüberbeugen und höflich darum bitten, doch da blätterte der Mann mit viel Geräusch und großem Schwung das Blatt um, stieß an die Tasche und ... Vorlenz verschlug es den Atem. Sie war umgefallen, war ihm zugefallen und lehnte an seiner Seite, drückte gegen seine Rippen und verlockte ihn, zu denken: »Auch Geld kann drinnen sein.« Der Gedanke schon machte ihm so warm, daß er sich an den Kragen griff und ihn lüpfte. Der Mann graste die Zeilen ab, schwenkte die Nasenspitze hin und her und merkte nicht, wo seine Tasche war. Vorlenz hätte sie unbesorgt nehmen und forttragen können. Aber das wäre gestohlen. Und er war kein Dieb. Die Amsel sang noch immer. Auch die Kinder spielten wie früher. Nur das Dienstmädchen stopfte nicht mehr. Es hatte sich zurückgelehnt und schlief. Der Mund stand offen, und die Brüste wogten. Vorlenz hatte aber keine Blicke dafür. Er war bei der Tasche. Sie schmiegte sich an ihn und wollte unbedingt genommen werden. Vorlenz hätte nie gedacht, daß ein lebloses Ding so aufdringlich, so zudringlich sein kann, weigerte sich nimmer und klemmte den Henkel zwischen Ellbogen und Rippen fest, wie man eine Geliebte drückt, um ihr zu zeigen, was man für ein Kerl ist und daß man sich verlassen kann.
Da kam ein anderer Herr gegangen, steuerte auf die Bank zu und winkte schon von weitem:
»Servus, Doktor!«
Die Zeitung senkte sich. Die Brille wurde abgenommen, in das Futteral und damit an die Brust gesteckt. Vorlenz gab den Henkel frei, saß wie angenagelt neben der Tasche und schaute steif in die Luft. Der Doktor sprang auf.
»Servus, Spatz! Wie gehts? Was gibt es Neues in Berlin? Weißt du schon ...?«
Sie gingen Arm in Arm, redeten aufeinander ein, verließen den Park und standen auf der Straße, nahmen einen Wagen und fuhren mit ihm davon.
Vorlenz saß immer noch und starrte in die Luft. Er wollte abwesend sein. Doch das ließ die Tasche nicht zu. Sie kitzelte ihn. Wahrhaftig! Sie bog den Henkel ab und rieb sich an seiner Seite, daß er lachen mußte, vorerst nur lächelte und dann verstohlen lachte. Die Tasche kicherte mit. Er hörte es genau. Aber das würde ihm keiner glauben, und so zweifelte er selber daran. Die Amsel flog davon und nahm ihr Pfeifen mit. Ein Kind fiel hin und schrie. Das andere flüchtete und freute sich, Vorlenz mit ihm. Das Dienstmädchen wachte erschrocken auf und schimpfte laut. Vorlenz entrüstete sich und ging. Er nahm die Tasche mit. Er konnte gar nicht anders. Hätte er sie liegen lassen sollen? Und hätte sie dann nicht ein anderer genommen? Er war kein Dieb. Das mußte jeder sagen. Er hatte die Tasche nur gefunden, nicht gestohlen. Sie war weder schwer noch leicht. Er überlegte so. Wenn man sie drückte, war es hart; wenn man sie schupfte, klang es dumpf. Der Henkel paßte gut in seine Hand. Vorlenz ging ziellos ein paar Gassen weit und blieb dann stehen, schaute sich prüfend um, sah plötzlich von überall graue Spitzbärte und Kneifer mit wagrechten Balken kommen, tummelte sich fort, ging zickzack eine Gasse rechts, ein Stück geradeaus, dann eine Gasse links, lief eine halbe Stunde lang unstet herum, hielt schnaufend an und sah vor sich ein Häuschen stehen, das zwar anderen Zwecken diente, aber auch in dieser Not zu brauchen war. Vorlenz huschte hinein, geriet in die erste Klasse und ist noch nie so nobel auf die Seite gegangen. Die Tasche war leicht zu öffnen. Ein Druck auf den Knopf, und sie sprang von selber auseinander. Der Schreck war ärger. Geld? Eine Unmenge Geld in zehn Paketen, jedes daumendick und ein Vermögen wert. Vorlenz schlug die Tasche zu. Er war aufgeregt und konnte sich geirrt haben. Er wartete eine Weile und schaute dann wiederum. Er hatte sich nicht getäuscht. Es waren neun Pakete. »Sind es nicht zehn gewesen? Hab ich nicht selber zehn gezählt?« fragte er und schlug sich gleichzeitig auf den Mund, der immer dann reden mußte, wenn er schweigen sollte. »Hintragen und nichts davon wissen!« war der erste Gedanke. Aber das wäre lächerlich und dumm gewesen. »Auf die Polizei gehen und den Finderlohn verlangen!« war der zweite Gedanke, und der behielt recht.
Vorlenz trug die Tasche auf das Kommissariat. Er wurde vor allem mißtraurisch betrachtet und dann erst ausgefragt:
»Name?« »Adresse?« »Fundort?« »Zeit?«
Es war inzwischen elf geworden.
»Wo sind Sie bis jetzt geblieben?«
»Ich habe einen Gang gehabt.«
Vorlenz schwieg.
»Und warum haben Sie die Tasche nicht gleich auf das nächste Kommissariat getragen?«
Vorlenz schwieg abermals. Er war empört über die Behandlung, warf die Tasche hin und wollte gehen. Er verzichtete sogar auf seinen Finderlohn und machte sich dadurch erst recht verdächtig. Man hielt ihn zurück, leerte die Tasche aus und zählte:
»Eins, zwei, drei Pakete zu fünfzig, ... ein Paket zu tausend, ... eins, zwei, drei, vier, fünf ...«
Man schrieb alles auf, berechnete den Wert, zog einen Strich darunter und zählte zusammen.
»Macht in Summe ...«
Vorlenz schnappte nach Luft. Ihm war, wie einem Karpfen sein muß, der aus einem Riesenteich von Wasser übermütig an das Ufer springt und dort verdursten muß. Ihm war elend zumute. Er hätte sich ohrfeigen, hätte sich vierteilen mögen. Aber nun war es zu spät. Er hatte auf den Finderlohn verzichtet und sich schwer damit belastet. Man traute ihm nicht und hatte recht. Das Protokoll war fertig. Vorlenz unterschrieb und konnte gehen. Er ging als der brave Mann, der seine Pflicht getan hat, hielt den Kopf hoch und drängte die Brust heraus, schmiß die Beine und sah vergnügt und pfiffig drein, ist es aber nicht gewesen. Er hatte sich selber ein Schnippchen geschlagen und, indes er in dem Häuschen mit sich stritt, als der unbeteiligte Dritte gewissermaßen ein Paket aus der Tasche genommen und zu sich gesteckt. Seine Überlegung war einfältig genug: »Wer kann wissen, ob nicht schon einer vor mir ...?« Seine Rechte zirkelte in der Luft, derweil die Linke in der Hosentasche die Scheine warm hielt.
Vorlenz kehrte im nächsten Wirtshaus ein und aß und trank sich wieder einmal voll. Er konnte es brauchen. Er hatte seit einem halben Jahr keinen richtigen Braten gerochen und kein Kalbfleisch geschmeckt. Es duftete nach mehr. Und er aß noch einmal und wiederum und trank dazu. Es wurde immer besser. Doch er konnte nicht mehr essen und ließ auch das Trinken sein. Vorlenz wollte nicht betrunken werden. Er hatte anderes im Sinn und freute sich so darauf, daß ihm die Straßenbahn zu langsam fuhr und er ein Auto nahm. Das war unüberlegt. Eine zerrissene Hose und ein Ledersitz passen nicht recht zusammen. Auch sonst sah Vorlenz kaum nach einem Herrn aus, der es so eilig hätte. Und er stieg aus. Der Wagen stoppte gerade bei einem Übergang, und Vorlenz stieg aus, verschwand wie ein Schatten und war auch sonst verschwunden. Der Chauffeur suchte vergeblich seinen Gast, vor allem aber seinen Lohn. Vorlenz ging zu Fuß und kam auch so ans Ziel. Er wollte ein anderer Mensch werden, einer, der auch Brigitte gefallen mußte, ein feiner, vornehmer Mensch, wie der Herr Stein einer war. Es sollte nur ein Beispiel sein, wurde jedoch mit einem Unterton gedacht, der schon etwas wie Eifersucht vermuten ließ. Vorlenz fing mit der Schale an. Hirn und Herz konnten bleiben. Auch die Gestalt war kaum zu ändern. Das hat einer oder hat es nicht. Und er gefiel sich überdies. Er wollte gar nicht anders sein, als er war; er wollte bloß anders ausschauen. Und das ließ sich machen, dazu waren Schuster und Schneider, Huterer und Näherinnen da. Man muß nur Geld haben, und das hatte er. Die Sache selber ist höchst einfach. Man geht in ein Warenhaus und ... Vorlenz ging als Bettler hinein und kam als Gentleman heraus. Er steckte in einem neumodischen Anzug, hatte einen lichten Hut auf, trug über dem linken Arm einen hellgrauen Mantel und schwang in der Rechten einen Bambusstock mit garantiert naturechtem Wurzelgriff. Er legte Wert darauf. Der alte, schmutzige Vorlenz war drinnen geblieben und konnte bleiben, wo er wollte. Der neue Vorlenz promenierte in der Straße auf und ab, blieb bei jeder Auslage stehen und beäugte sich von oben bis unten. Er war sich noch fremd, wird sich aber recht bald kennen lernen. Eines war gewiß: Dieser Mann mußte Brigitte gefallen. Es konnte gar nicht anders sein. Er gefiel auch sonst. Ein Mädchen hatte ihn angelacht. Vorlenz glaubte erst nicht daran, trat wieder vor ein Auslagefenster und beguckte sich von rechts und links. Er kam sich wohl ein bißchen komisch vor. Aber das machte, weil da plötzlich ein eleganter Herr stand, der ganz gut auch Regierungsrat sein konnte, Gutsbesitzer oder so und doch er selber war, ein Bettler von Profession und ein ... »Dieb« wollte er doch nicht denken. Er hatte ja die Tasche abgeliefert und sich bloß den Finderlohn vorausgenommen. Es war die letzte Deutung dieser brenzlichen Geschichte. Sie hatte einiges für sich. Bleibt nur die Frage, ob auch andre solcher Meinung waren. Vorlenz empfand immerhin ein Unbehagen, sich da öffentlich herumzutreiben, ging in ein Café, trank einen Türkischen und rauchte, blätterte in einer Zeitung, las von einem, der dümmer gewesen ist und sich erwischen ließ, legte die Zeitung weg, bezahlte und wollte nach Hause fahren. Aber da stand wieder dieses Mädchen, stand wie hingestellt und lächelte ihn an. Er wurde ärgerlich.
»Was lachen Sie?«
Vorlenz hatte hochdeutsch gesprochen und sich zumindest wie ein Graf benommen.
»Weil du mir gefällst«, sagte das unverschämte Ding und zupfte seine Krawatte höher. »So, jetzt sitzt sie fabelhaft.«
Er prüfte sich im Spiegel. Richtig. Jetzt erst saß die Krawatte dort, wo sie hingehörte.
»Danke!« verbeugte sich Vorlenz und wollte gehen, das heißt, er wollte eigentlich nicht, aber es fiel ihm anderes kaum ein. Das Mädchen ließ jedoch nicht locker.
»Wie spät haben wir, mein Herr?«
Vorlenz erblaßte. Das hatte er vergessen. »Was ist ein Mensch ohne Uhr?« Er schämte sich und schwindelte. Er griff mechanisch an die Weste, hatte seit Jahren keine Uhr mehr dort und suchte sie doch jetzt in allen Taschen. Er zeigte sich bestürzt.
»Verdammt! ... Ich hab doch ..., habe doch ...« Er stotterte, faßte sich aber schnell. »Einen Moment! Ich komme gleich, ... komme sofort.« Es war zu dumm. Ein Kavalier, der keine Uhr hat! Ein Mensch, der wie ein Regierungsrat aussieht und nicht sagen kann, wie spät es ist!
Vorlenz lief zum nächsten Juwelier und kam mit einer dicken Uhr und einer schweren Kette zurück, beide aus echtem Gold und so neu, daß noch der Preiszettel daran hing. Das Mädchen saß an einem Tisch und wartete. Vorlenz gockelte hin, ließ den Deckel springen und sagte gespreizt:
»Zehn über sechs.«
Seine Ehre war gerettet und die Bekanntschaft gemacht. Das Mädchen war ein Fräulein und hieß Melanie. Sie wurde Tänzerin. Das hätte er gleich merken müssen. Sie hatte Beine wie ein Reh und Hände wie Tulpen. Er dichtete, er war also schon benommen. Die Beine staken in hauchdünnen Strümpfen und die Hände in weißem Leder. Vorlenz ließ Bein mit Bein und Hand mit Händen reden. Es ging überhaupt recht schnell. Man war doch von jener großen Welt, in der Mädchen wie Melanie keine Gänse mehr sind und Männer wie er den Draufgänger spielen müssen, wenn nicht ein anderer kommen und ihm den Rahm weglecken soll. Sie nahmen noch ein Eis, tranken Schokolade, rauchten und schwatzten. Melanie erzählte von einem Auto, das sie noch vor Monaten hatte und nur deshalb aufgeben mußte, weil ihr die Garage gekündigt worden ist. Vorlenz wurde zum Gutsbesitzer aus der Tschechoslowakei und war bloß zu seiner Unterhaltung hier, ein bißchen auch um Pferde einzukaufen und nach der Herrenmode zu sehen. Er reiste viel und wollte dieser Tage nach Paris. So flatterten die Lügen zwischen ihnen hin und her und knüpften sie fester aneinander, als es einer Wahrheit je gelungen wäre. Sie gingen dann ins Kino, nahmen eine Loge und sahen nicht viel von dem, was auf der Leinwand abrollte, weil ... nun, weil keiner eine Loge nimmt, der etwas sehen will. Vorlenz benahm sich unverschämt. Er hatte schlimme Finger und gebrauchte sie wie Mäuse. Keine Falte und kein Schlitz war vor ihnen sicher. Fräulein Melanie wehrte sich sanft entrüstet. Sie konnte doch nicht schreien, konnte doch keinen Skandal machen, weil ... nun, weil sie dann eben wirklich ein Fräulein und nicht Melanie gewesen wäre. Sie speisten in einem Restaurant. Vorlenz wollte besonders fein sein und nahm einen Fisch, mit dem er nichts anzufangen wußte und der ihm schon deshalb gar nicht schmeckte. Melanie aß eine Stunde lang und war noch immer nicht fertig. Ihr Hunger wuchs mit dem Essen. Vorlenz hatte bloß Durst. Er trank einen schweren französischen Wein, der sonst wie ein Likör getrunken wird, schielte nach dem zweiten Glas und lallte nach dem dritten, schenkte sich ein viertes ein und küßte Melanie, trank weiter und versank in Nebeln, die alle Ereignisse restlos verschluckten. Er schwamm in rosenroten Wolken, flog wie eine Flaumfeder hin, fiel wie ein Blatt und torkelte ... Er war betrunken, und so ist das gar nicht zum Verwundern gewesen. Er rollte hin, der Kopf allein und dann er selbst. Es war zum Lachen. Sogar die Beine hatten sich verknüpft. Sie trugen weite, quatschige Galoschen. Oder war es Schlamm? Er tauchte unter, tiefer, immer tiefer. Es war wie ein Bad im Dreck. Dann saß er weich und samtig, wurde gefahren, fuhr auf Luft und wußte gar nicht, daß er in einem Auto auf Gummirädern dahinschwuppte. Er bekam das Schlucken. Eine Henne gackerte in seinem Bauch. Er mußte Eier legen. Er scharrte mit den Füßen, riß den Mund auf und schaute hilflos um sich. Es war verrückt, total verrückt, ging aber dann vorüber. Und er landete im Himmel. Ein Engel machte ihm die Türe auf. Er trug eine blaue Kappe und auf der stand: Lift. Es ging bergauf. Die Nebel wurden dünner und die Ereignisse greifbarer. Melanie war nackt. Sie hatte kleine, spitzige Brüste, die mit einer Perlenkette spielten und sich nicht fangen ließen. Sie hatte noch eine Menge niedlicher Sachen. Doch er war zu plump. Er griff daneben und lachte. Sie knipste das Licht ab. Und es wurde Nacht.
»Gute Nacht!« blökte er und schloß die Augen. »Der Wein, ... der verdammte Wein, ... und das Mädchen, ... das liebe, herrliche ... Mädchen ...« Er schloß auch den Mund. Er lag ja so weich und war schwer, eine dicke, dumpfe Tonne schwer.
Es wurde Mittag. Man pochte an die Tür. Und Vorlenz schlug die Augen auf.
»Was denn, Brigitte?«
»Behalten der Herr noch das Zimmer?«
Vorlenz tappte um sich, suchte mit den Blicken und sah im Dämmer, was er noch nie gesehen hatte: einen hohen Raum mit gelben Wänden, gelben Möbeln, gelben Vorhängen und einem roten Teppich.
»Ob Sie das Zimmer behalten?«
Die Stimme klang spitz und bohrte sich wie eine Nadel ins Gehör. Vorlenz schlüpfte in seine Hose und konnte die Türe nicht aufsperren, weil sie schon offen war. Das Stubenmädchen knickste.
»Ob der gnädige Herr ...«
»Was für ein Zimmer?« polterte Vorlenz begriffstutzig.
»Ihr Zimmer da.« Ein Finger tupfte an seiner Nase vorbei in den Raum.
»Mein ...? Das ist mein Zimmer?« Es imponierte ihm sichtlich.
»Muß das ein Rausch gewesen sein!« kicherte das Mädchen und präsentierte gleichzeitig einen Zettel. »Die Rechnung, wenn Sie belieben.«
»Her damit!« großmaulte Vorlenz, nahm den Rock vom Haken und griff um die Brieftasche hinein, fand sie rechts nicht und suchte links, fand auch dort nichts und wurde nervös, stöberte die Hose durch und tastete die Weste ab, wühlte in allen Laden, riß Decken und Polster vom Bett, schaute in jeden Winkel und fing zu schreien an: »Man hat sie gestohlen, hat mich bestohlen ... Die Türe war offen ... Mein Geld her! ... Wo ist mein Geld?«
»Wie meinen Sie das?« fuhr ihn das Stubenmädchen an und sah keinen Gast mehr in ihm, sondern bloß einen Menschen, der sich eingeschlichen hat und jetzt nicht zahlen kann. Vorlenz ernüchterte, wie man in einen Abgrund stürzt und sich verloren weiß. Er kam völlig außer sich, sprang mit beiden Beinen hoch und keuchte, pfauchte, gischte:
»Wo ist sie? ... Wie heißt sie? ... Wo wohnt sie?«
Wer sollte das wissen, wenn er es nicht wußte?
»Madame ist ausgeflogen«, spottete das Stubenmädchen nicht ohne Schadenfreude, weil sie es allen Männern gönnte und blindlings für die Frauen war.
»Was Madame? ... Eine Schlampen! ... Eine Hure!« brüllte Vorlenz und tobte lächerlich.
»Soll man die Polizei verständigen?«
Das Mädchen stand schon auf dem Sprung. Aber das war es gerade, was er nicht wollte, was er nicht tun konnte, und was ihn so ingrimmig machte.
»Nein, danke!« Er würgte schwierig daran und hätte bald über alle Bedenken weg ja gesagt, nur um sie einzutunken und sich zu rächen.
Der Vorfall wurde dem Portier gemeldet. Es blieb natürlich nicht dabei, und fünf Minuten später wußte bereits das ganze Haus, was sich ereignet hat. Vorlenz kroch in die Kleider und hätte gern seine alten, schmutzigen wieder gehabt. Es überkam ihn so. Er fühlte sich heimatlos in den neuen und auch ein wenig lächerlich. Da stand nun der Gutsbesitzer aus der Tschechoslowakei und war schlimmer dran, als der Bettler Vorlenz jemals gewesen ist. Melanie hatte auch Uhr und Kette, ja sogar den Mantel mitgenommen. »Ein Glück, daß sie mir die Hose gelassen hat«, scherzte Vorlenz und versuchte zu lachen. Es war aber die Rechnung zu bezahlen, und das verdarb den Spaß schon in den Windeln. Vor einer vollen Börse wird jeder Preis gering; wer aber nichts hat, dem erscheint alles unziemlich teuer. Es hatte kaum Sinn zu feilschen. Vorlenz hätte auch die kleinste Summe nicht begleichen können. Der Portier verlangte ein Pfand, einen Ring oder sonst etwas von Wert. Vorlenz vermochte nichts zu geben. Er war ausgeplündert bis auf den Namen, und der ist nicht von ihm gewesen. Er hatte sich als Josef Steiner in den Meldezettel eingetragen, war angeblich aus Znaim nach Wien gekommen und hieß in Wirklichkeit Vorlenz.
»Johann Vorlenz?« fragte der Schutzmann und schien hocherfreut über diese Bekanntschaft. Man hatte ihn geholt, um einen Zechpreller zu stellen, und er hatte einen Dieb gefaßt. Vorlenz wurde seit gestern gesucht und war nun gefunden. Er saß eine Viertelstunde später schon in der Polizeidirektion und zappelte im Verhör wie ein Fisch an der Angel.
... »Und die Kleider?« »Gekauft.« »Womit?« »Ich hab eine Tasche gefunden.« »Und bestohlen.« »Nein.« »Was dann?« »Mir meinen Finderlohn genommen.« »Sie haben doch darauf verzichtet?«
»Wie war das eigentlich? Erzählen Sie!« »Die Tasche ist zwischen uns gestanden und auf mich gefallen.« »So?« »Der Herr hat sie gestoßen.« »Und?« »Dann ist er fortgegangen und hat die Tasche vergessen.« »Haben Sie es gleich bemerkt?« »Ja.« »Hätten Sie ihn aufmerksam machen können?« »Ja.« »Und das nennen Sie gefunden?«
Vorlenz mußte einsehen, daß die Sache anders lief, als er wollte, ganz anders, als für ihn gut war, und er versuchte sich von linksherum zu retten:
»Dann hätte sich der Herr wahrscheinlich schön bedankt, wär mit der Tasche fortgegangen und hätte mich mit meinem Finderlohn dort sitzen lassen.« »Gut gedreht.« »Wie, bitte?« »Mit solchen Dingen ist kein ... sagen wir: Geschäft zu machen.« »Wenn einer so arm ist ...« »Dann kann er auch ehrlich sein, dann muß er kein Dieb werden.« »Ich hab die Tasche nicht gestohlen.« »Die Tasche nicht, aber das Geld.«
Vorlenz zuckte mit den Achseln, und das hieß: Wenn mir da nicht geglaubt wird, dann tut mir leid um mich und die Gerechtigkeit, auch um Sie, Herr Richter.
Brigitte wußte seit gestern, daß etwas vorgefallen ist. Sie wollte gerade Wasser holen, machte die Türe auf und prallte zurück. Ein Polizist stand da und erkundigte sich barsch:
»Wohnt hier Herr Vorlenz?« »Mein Mann?« »Johann Vorlenz.«
»Was ...? Was denn ...?« »Wo ist er?« »Ich weiß nicht.«
Der Polizist trat in das Zimmer, suchte alle Ecken aus, schaute unter das Bett und sogar in die Kasten.
»Was ist ...? Was hat er denn getan?«
»Das werden Sie schon noch erfahren«, schnarrte der Mann in Uniform und ging, ohne zu grüßen. Er war im Dienst und nicht dazu verpflichtet, aber es hätte ihm besser gestanden, wenn er mehr Mensch als Beamter gewesen wäre.
Brigitte blieb verstört zurück, lief hin und her, vom Zimmer in die Küche, von der Küche in das Zimmer, gebärdete sich wie ein Tier, das überall den Jäger sieht und doch nicht flüchten kann. Einen Augenblick dachte sie schon daran, die Kinder zu holen und fortzugehen, irgendwohin weit fort und alles da im Stich zu lassen, wie es war, auch diese Sorge, diese neue Sorge zu den alten, von der sie noch gar nicht wußte, wie groß und schwer sie war. »Soll ich auf das Unglück warten? Soll ich hier sitzen und es erwarten?« Thomas und Rese spielten auf der Gasse. Sie ahnten nichts. Brigitte lief ans Fenster, beugte sich hinaus und wollte rufen. Doch der Polizist stand drüben auf der Lauer und hielt das Tor mit seinen Blicken fest, daß ihm kein Mensch entgehen konnte, der kam oder ging. Sie war gefangen, mußte bleiben, was auch geschehen ist und noch geschah. Es gab keinen Ausweg. Doch, es gab einen. »Hinunterspringen,« sagte sie sich vor, »aus dem Fenster springen und ein Ende machen.« Gedanken sind bald gedacht und Worte leicht gesprochen. Es gäbe kaum einen lebendigen Menschen mehr, wenn alles, was zwischen Hirn und Lippen jemals ausgeheckt wurde, auch gleich Tat geworden wäre. Brigitte brach vor Entsetzen in die Knie, beugte den Kopf und erwartete einen Blitz, der sie zur Strafe niederschlug, rutschte vor das Marienbild und betete, klagte sich an und betete.
Vorlenz blieb die Nacht über weg und war doch niemals anwesender als nun. Brigitte machte kein Auge zu, wartete von Minute zu Minute auf ihn, konnte nichts anderes denken, nichts anderes fühlen und fragte sich immer wieder und wieder: »Was ist ...?« Und: »Was wird?«
Es wurde Mittag Punkt zwölf, ehe sie es erfuhr. Ein Mann kam. Er war von der Polizei, doch nicht in Uniform.
»Kann ich Frau Vorlenz sprechen?« »Wo ist er?« »Sind Sie es selber?« »Warum kommt er nicht?« »Beruhigen Sie sich doch!« »Was denn? Was ist denn? Was gibt's denn?« »Er hat eine Tasche gefunden.« »Gefunden?« »Und Geld daraus genommen.«
Brigitte schauerte, als würden ihr die Kleider vom Leib gerissen, als stünde sie nackend vor diesem fremden Menschen da.
»Können Sie den Schaden gutmachen?« Es war kein Spaß, war sicher nicht zum Lachen. »Hat er Ihnen Geld gegeben?« Da hätte Brigitte bald selber gelacht. »Verzeihen Sie! Es kann ihm nützen, kann ihm aus der Patsche helfen, wenn Sie den Schaden gutmachen. Die Summe ist nicht groß ...« Sie war es wirklich nicht. Manch einer hätte ihretwegen kaum die Farbe gewechselt. Man hatte auch schon Melanie und ihren Raub. Es blieb also nur noch die Zeche übrig, der Anzug und was sonst an Spesen für das Abenteuer ausgegeben worden ist, alles in allem kein Vermögen, wenn man es vermag. Hier aber war das Kleinste groß genug, wurde ein Steinchen zur Lawine und riß alles nieder, was noch stand.
Brigitte weinte und klagte nicht. Es hätte bloß die Zeit vergeudet. Ihr Herz war eingefroren, ihr Gehirn stand still. Sie fühlte keinen Haß und keine Liebe, dachte keinen Vorwurf, keinen Schimpf, nur eines durfte nicht werden: die Schande. Es lag ihr im Blut, anständig zu sein, war ein Begriff, der ihr das Leben selber schien, und wäre ihr Tod gewesen, wenn es anders käme. Schon meinte sie sich von den Blicken neugieriger Augen zerstochen, von den Fingerspitzen der Schadenfreude aufgespießt, schon hörte sie die Mühlen verleumderischer Mäuler mahlen.
Da kam Thomas aus der Schule gelaufen und brannte vor Aufregung, daß ihm die Worte wie Flammen aus dem Munde schlugen:
»Ist es wahr?«
Weiß einer, wie es sich schon herumgeredet hatte!
»Nein«, schwur die Mutter ihrem Kind zur Liebe und fürchtete die Sünde nicht. Thomas vertraute ihr wie keinem Menschen sonst auf Erden. Er fragte auch nicht weiter. Aber da riß ihn Brigitte wild an sich, umklammerte seinen schwachen Leib wie der Versinkende den Balken, der ihn retten soll, fühlte sich geborgen und taute ihr Herz an seinem Herzen auf. Es rann in Tränen über ihre Wangen, stürzte sich mit Schluchzen über ihre Lippen.
»Also doch«, erkannte Thomas und wendete sich von der Mutter ab.
Rese hatte auch schon allerlei gehört, fand aber keinen Grund, sich aufzuregen. Sie war sogar ein bißchen stolz auf diesen ihren Vater, weil er von sich reden machte, und hätte gern mehr gewußt, wahrscheinlich um es weiter zu erzählen.
Brigitte stand in sich auf, wie der Gesunde in dem Kranken aufsteht, und dachte sich zurecht: »Das Geld muß her. Borgen kann es mir keiner. Herr Stein wird nicht wollen, und Frau Grießner mag ich nicht anreden. Sie hat zwar eine Erbschaft gemacht, aber das ist ihre Sache. Ich kann es auch gar nicht zurückzahlen. Bleibt nur, daß ich alles verkaufe: die Kasten, ein Bett, den Tisch und die Sessel und ...« Es war das Letzte, das Schwerste und wollte nicht einmal Gedanke werden: »... und die Wohnung.« Brigitte klappte zusammen, bekam es schwarz vor den Augen und wirbelig im Kopf, verlor eine Weile lang alles Wissen um sich selbst, erwachte dann wieder zum Verstand und sagte, als ob sie inzwischen nur mit sich gestritten hätte: »Die Wohnung? ... Nein ... Eher das Leben.« Und sie versuchte, sich anders zu helfen. Es geschah wohl ohne Hoffnung, durfte aber nicht unterlassen werden. Brigitte war Mutter, und ihr Leben gehörte den Kindern.
Herr Stein wollte gerade ausgehen und war nicht erbaut von dem Besuch. Er hatte bereits alles gehört. Gutes bleibt meistens verborgen; Schlechtes geht von selber um. Herr Stein hatte auch schon seine Meinung fertig und ließ es zu einer Rede gar nicht kommen.
»Machen Sie Schluß! ... Werfen Sie den Halunken hinaus!«
Da war nichts zu holen. Da wurde eine Türe abgesperrt, noch ehe sie offen gewesen ist. Brigitte würgte ihre Tränen hinab und sagte mehr aus Trotz, denn zur Entschuldigung:
»Was Gott gebunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.«
»Dann soll dieser Gott auch helfen!« lachte Herr Stein und war sonst keiner, der damit Spott getrieben hätte. Es ist eine böse Meinung, doch ein gutes Wort gewesen und kam wieder einmal anders, als es gedacht war. Brigitte wurde stark daran, richtete sich größer auf und sprach mit fester Stimme:
»Er wird es tun.«
Herr Stein bereute seine grobe Art und trug sich im kleinen an:
»Wenn Sie sonst etwas brauchen, ... ich bin gern bereit.«
Nein, nein. So war es nicht gemeint.
»Ich werde die Wohnung verkaufen,« entschloß sich Brigitte plötzlich, als gälte es ein Armband oder einen Regenschirm. Aber da wurde der Hausherr zornig und schrie:
»Das ist doch, ... ist doch Wahnsinn, ist ein Verbrechen!« Und weil ihm sonst nichts einfiel, was es noch war, hob er seine Hand gegen die Türe hin und schrie förmlich mit jedem Finger: »Gehen Sie!«
Brigitte ging. Sie war nicht froh, das hätte kaum sein können, doch ihre Füße waren leichter, ihr Gang schwebender geworden, ganz als ob ihr Flügel gewachsen wären oder sie ein Engel tragen würde.
Frau Grießner kam ihr entgegen und sprudelte in Mitleid über:
»Ach, Sie Arme! So ein Mann! Es ist unglaublich, wenn man denkt ...«
Brigitte ließ es nicht dazu kommen.
»Ich will die Wohnung verkaufen. Wissen Sie niemand?«
Frau Grießner wußte immer einen.
»Doch. Doch. Ein Kollege meines Mannes. Er heißt Wagner und ist jung verheiratet. Ich sage Ihnen, eine fesche Frau, ein appetitliches Frauchen. Und die suchen eine Wohnung und können auch bezahlen. Sie ist nämlich die Tochter eines Selchermeisters von der Siebensterngasse, und da weiß man schon ...«
Brigitte hatte freilich andere Sorgen, aber das kümmerte Frau Grießner wenig. Sie war in Schwung und schnurrte zu eigenem Vergnügen ab. Dann lief sie fort, um das Geschäft gleich anzubandeln und, wenn möglich, auch gleich abzuschließen. Es drängte, und sie war nie glücklicher, als wenn ihr eine Mission von Schicksals Gnaden übertragen wurde.
Brigitte sperrte sich in ihrer Wohnung ein und nahm Abschied von dem Zimmer, in dem sie ihre Kinder geboren hatte, mit ihnen alle Jahre dieses Leides und der Sorge, jeden Tag der Freude ihres Daseins älter wurde, – von der lieben Küche mit dem warmen Herd, auf dem sie so oft gekocht, gebraten und gebacken hatte, – von den Gassenfenstern, vor denen sich das Leben draußen wie ein Stück abspielte, hinter denen man je öfter, desto lieber saß, – vom Fußboden, unzählige Mal durch ihre Hände reingescheuert, – von der Türe, ihrer Türe, abzusperren wie ein Schrank, der wohl keinen Reichtum vor Dieben, aber doch die Armut vor den Blicken anderer verschloß. Es fiel ihr schwer. Doch was geschehen muß, geschieht von selbst.
Die Zeit war günstig. Zu allen Nöten ist auch noch die Wohnungsnot gekommen. Man hatte seit Jahren nichts gebaut. Es war kein Geld da, fehlte auch der Anreiz auf Gewinn. Die Mieten wurden durch ein Gesetz so niedrig gehalten, daß es kein Geschäft mehr war Hausherr zu sein, auch keine Ehre, denn wo die Macht fällt, ist auch die Glorie gefallen. Und so staken in einem einzigen Raum oft zehn Personen beisammen, Großeltern, Eltern und Kinder, wurde jeder Winkel vermietet, gab es Bettgeher für Tag und für Nacht in einer Liegerstatt, wurde ein Wohnungsschacher getrieben, der ohne Beispiel ist, solang es Städte gibt. Man zahlte Unsummen für ein Kabinett und wurde reich an einem Zimmer. Man stand freilich nachher auf der Straße und bereute meist zu spät, was nicht mehr gutzumachen war.
Brigitte hatte keine Wahl. Und Gott wird helfen. Es war ihre Narrheit. Doch ist es nicht jeder Glaube? eine schöne Narrheit, was auch daraus wird? Es ging schneller, als sie dachte. Frau Grießner hatte flinke Füße und Herr Wagner große Eile. Er wohnte bei einem Onkel seiner Gattin, und das tat ihrer Ehe nicht recht gut. Der Onkel war ein Kuckuck, und Herr Wagner hielt mit Eifersucht auf ein reinliches Nest. Brigitte wußte nicht, was sie verlangen sollte, dachte auch an kein Geschäft dabei. Sie wollte sich und ihre Kinder vor einer Schande bewahren. Vorlenz durfte kein Dieb sein, sollte nicht eingesperrt werden. Das war alles. Das war ihr Preis genug. Herr Wagner übernahm die Ordnung dieser Dinge und konnte zufrieden sein. Er hätte überall das Doppelte bezahlen müssen. Die Wohnung war hell und sonnig, war auch nicht verludert und konnte in einer Woche bezogen werden. Er ließ sich das schriftlich geben und nahm Frau Grießner zum Zeugen. Man lebte in einem liederlichen Zeitalter, traute einer dem anderen nicht und hatte nur, was man sich richtig nahm. Brigitte war beinahe glücklich. Es blieben ihr die Möbel, das Bild, die Kasten und der Tisch, blieb alles, wie es war, nur die Wohnung nicht, doch das ist kein Besitz und kann deswegen auch kein Verlust sein. Sie war nicht blind dafür. Sie machte sich bloß taub, um nicht zu hören, was sie da sagte, die Lüge zu überhören, um mit der Wahrheit nicht rechnen zu müssen, einer fürchterlichen Wahrheit und einer traurigen Rechnung.
Der Untersuchungsrichter war froh, hier nicht mehr untersuchen oder gar richten zu müssen. Er hatte anderes zu tun, als spitzfindig darüber nachzudenken, ob da ein reiner Diebstahl vorlag oder ein komplizierter Fall von Fundverheimlichung, ob diese Sache einem Diebstahl gleich kam, auch wenn die Summe niedriger war, als der Finderlohn hätte sein müssen, und was es dergleichen geistreiche Knacknüsse noch gibt. Der Schaden wurde vor Eröffnung des Verfahrens gelöscht. Die Causa war erledigt. Vorlenz hatte allerdings noch wegen anderer Delikte ein paar Tage abzubrummen. Er hieß nicht Steiner und war auch kein Gutsbesitzer. Das ist Falschmeldung gewesen und durfte nicht geduldet werden. Er hatte das Gericht beleidigt. Es geschah im Lauf der Einvernahme. Die Geschichte war bereits entschieden und stand schlecht. Vorlenz gab es auf, sich zu verteidigen, und schloß das Verhör mit einer Zumutung an den Richter, die man im höchsten Grad unfreundlich nennen mußte. Dazu kam noch, daß er sich einem Schutzmann gegenüber renitent erwiesen hatte, was man als Auflehnung gegen die Staatsgewalt bezeichnete und ebenfalls in Strafe nahm. Vorlenz bekam summarisch eine Woche zugeteilt, hatte schon zwei Tage davon verbüßt und mußte sich noch fünf gedulden. Er schlief sich aus. Der Aufseher konnte wann immer durch das Guckloch schauen, der Mann im Kotter lag auf der Pritsche und schlief und schnarchte zumeist.
Brigitte lebte, als ob nichts geschehen wäre. Sie ließ den Sonntag vergehen, spielte mit den Kindern und sagte kein Wort von dem, was sich ereignet hatte. Sie ging Montag ihrer Arbeit nach und redete noch immer nichts davon. Sie war Dienstag beinahe fröhlich und hatte gewiß nicht den geringsten Grund hiezu. Sie machte am Mittwoch unten gründlich, klopfte die Teppiche, putzte die Fenster und war um keinen Schatten anders als früher.
Da konnte Fräulein Lola ihre Neugierde nimmer unterdrücken.
»Haben Sie die Wohnung schon verkauft?«
»Ja«, nickte Brigitte und putzte weiter.
»Wann müssen Sie denn ausziehen?«
»Am Montag.« Es klang weder traurig noch verzweifelt.
»Wissen Sie schon wohin?«
»Nein«, deutete Brigitte und wand den Fetzen aus.
Fräulein Lola ließ das Gespräch sein. Es war ihr unheimlich. Und sie beriet sich mit Herrn Stein.
»Ich fürchte, da ist etwas nicht in Ordnung«, sagte sie und tippte sich auf die Stirn, meinte Brigitte Vorlenz damit und wurde auch so verstanden.
»Was geht das mich an?« murrte der gnädige Herr und blätterte in seiner Zeitung, blätterte zuviel und verriet dadurch, daß er nicht ordentlich las. Er dachte untenhin doch an die Sache, ärgerte sich, weil er es tat, versuchte immer wiederum zu lesen, kriegte keinen Sinn zusammen, legte das Blatt weg und war fest entschlossen, ihr zu helfen. »Was gehen mich diese Leute an?« sagte er gleichzeitig widersprechend und ließ Phine kommen.
»Weißt du schon, daß sie ausziehen müssen?«
»Ach, die!«
»Magst du ihn nimmer?«
»Wen?« Sie verstand recht gut, wohin das zielte, und fragte nur, um sich ein bißchen interessant zu machen.
»Thomas, deinen Freund. Er hat dir doch ganz gut gefallen.«
»Jaja«, gab Phine zu, blieb aber unbeteiligt.
»Macht es dir nichts, wenn Thomas, dein Freund Thomas eines Tages auf der Gasse steht und nichts hat, wo er zu Hause ist, kein Zimmer, keine Küche, kein Dach über sich, ... wenn es regnet, ... wenn der Winter kommt und es kalt wird?«
»Er hat uns nicht einmal gegrüßt, mich und das Fräulein«, klatschte Phine und war also fertig mit dieser Freundschaft.
»Da ist auf kein Mitleid zu rechnen«, erkannte Herr Stein und gab es auf, so lange zu reden, bis ihm Phine um den Hals fällt und bittet: »Du mußt ihnen helfen oder ich werde krank, ich esse nicht und trinke nicht, lege mich hin und sterbe.« So schlecht kennen Väter ihre Töchter, und so wenig verstehen sich Erwachsene auf Kinder.
Es wurde Freitag. Brigitte schien es kaum zu bemerken. Das ganze Haus war auf und tuschelte und gruselte. Man konnte doch nicht zusehen, wie da ein Unglück wurde und nichts geschah, es aufzuhalten oder auch nur einzudämmen. »Was soll mit den Kindern werden?« Frau Grießner nahm Rese. Das stand fest. Und Thomas? »Er ist doch mit Phine befreundet«, erinnerte sich Frau Gröger und hatte damit auch dieses Rätsel gelöst.
Es wurde Samstag. Brigitte trat unten wie immer an, rollte die Teppiche zusammen, ließ den Boden mit Wachs ein und bürstete ihn blank. Herr Stein ging nebenan unruhig auf und ab. Man hörte seine Schritte knarren. Er war sonst um diese Zeit längst fort und versäumte sich ohne Ursache. Fräulein Lola holte immer wieder etwas aus dem Zimmer, blieb allemal eine Weile stehen und wartete vergebens. Es wurde nichts. Brigitte tanzte auf den Bürsten und nahm jedes Brett besonders vor. Selbst Phine strich überflüssig herum. »Was haben sie denn alle? Und was wollen sie von mir?« Brigitte lächelte wie ein Kind, das man vor lauter Sorge um seine Gesundheit krank macht, obwohl ihm gar nichts fehlt. Die Schritte drüben hörten auf zu knarren. Sie standen still. Brigitte horchte. Sie standen vor der Türe. Brigitte tanzte schneller. Herr Stein trat ein und seine Worte verbrühten, als ob er sie in seinem Herzen oder sonstwo gekocht hätte:
»Sie können doch nicht warten, bis man Sie hinauswirft, bis Sie auf der Gasse stehen.«
»Warum nicht?«
»Sind Sie verrückt?«
»Nein.«
»Was denn?«
»Gott wird helfen.«
»Und wenn er nicht hilft?«
»Dann bin ich es nicht wert gewesen.«
Da war jedes Reden unnütz. Und Herr Stein hatte seit einer Stunde keine Zeit mehr, winkte Fräulein Lola in ein Nebenzimmer und wisperte mit ihr. Es war kein Wort zu hören, auch wenn man sich an das Schlüsselloch beugte und horchte. Brigitte hatte sonst nicht die Gewohnheit, ihre Ohren auf Anstand zu schicken, aber diesmal tat sie es doch, weil ihr gewiß war, daß es um sie ging und daß Gott schon anfing, ihr zu helfen. Herr Stein polterte aus dem Haus. Er machte absichtlichen Lärm, und das sollte wahrscheinlich heißen: Mir ist es gleich, geschieht, was geschieht. In Wirklichkeit fuhr er in die Fabrik und schickte drei Arbeiter, drei große, starke Männer, die wie Bären gingen und mit den Armen schlenkerten. Sie standen verlegen im Vorzimmer herum und sprachen mit Fräulein Lola, als ob sie noch nie mit einer Frau gesprochen hätten. Die schwerste Arbeit fiel ihnen leichter als diese Konversation.
Im Hause war ein Gassenladen. Er lag sechs Stufen unter der Erde und wurde als Magazin verwendet, war angefüllt mit Kisten und Maschinen, Lederabfällen und Gerümpel. Er ist seit Jahren nicht geöffnet worden und roch schlecht. Die Arbeiter griffen mit ihren Bärentatzen zu, räumten das Gerümpel in den Hof hinaus, schleppten die Maschinen auf die Gasse, füllten die Kisten mit Abfällen voll und hatten bis Mittag den Raum frei gemacht. Er war groß und hätte ganz gut als Pferdestall verwendet werden können. Dann kam ein Wagen angefahren, brachte vier Maurer mit und führte die Sachen weg, die Maschinen vor allem und die Kisten. Das Gerümpel blieb im Hof. Die Maurer kratzten die Wände ab und weißten sie an. Es ging hurtig und war ein Vergnügen, ihnen zuzuschauen. Jetzt ist der Raum schon kein Stall mehr gewesen, wurde wiederum ein Gassenladen und konnte auch als Werkstatt dienen. Aber es kam anders.
Brigitte saß untätig in der Zimmermitte und wartete, hatte die Hände im Schoß liegen und starrte ohne Ziel geradeaus. Thomas schrieb, und Rese nähte ein Puppenkleid. Kein Ding war noch von seinem Platz gerückt, nichts deutete darauf hin, daß hier bis morgen alles anders sein mußte, weil der neue Mieter schon den Maler bestellt hatte und sich einrichten wollte. Brigitte rührte keine Hand, dem Schicksal vorzugreifen. Sie betete bloß, doch das ist keine Tat, nur eine Bitte, andere mögen es tun. So besessen zu sein, war fast schon Sünde, war freventliches Gottvertrauen und kam einer Herausforderung gleich. Brigitte saß untätig und erwartete die Hilfe aus der Not wie einen Gast.
Er trat mit Fräulein Lola ein. Sie hatte ganz vergessen anzuklopfen.
»So weit wären wir also. Und jetzt reiben Sie den Boden auf und waschen die Fenster ab! Eine Scheibe ist hin, die wird noch eingeschnitten. Auch die Türe muß gerichtet werden. Da ist der Schlüssel. Und ... Ja, noch: Verkaufen dürfen Sie den Laden nicht. Er ist Ihnen nur untervermietet. Das läßt Herr Stein sagen. Und bedanken sollen Sie sich auch nicht. Er hat nur seine Pflicht getan. Ich bin zwar anderer Meinung, aber das kommt nicht in Frage.« Fräulein Lola war ein Werkzeug wider Willen, und das beweist, wie recht Brigitte hatte, nichts zu tun und nur zu warten.
Sie sprang auf und hatte plötzlich ein Dutzend Hände und Füße und für alle Arbeit in Menge. Der Boden mußte dreimal gerieben werden, ehe er wieder ein Boden war; die Fenster wollten überhaupt nicht werden und blieben blind. Man hätte sich ganz gut die Vorhänge ersparen können. Die Stiege allein zeigte sich dankbar. Sie glänzte wie Marmor und ist es nie gewesen. Brigitte wirtschaftete bis in die Nacht hinein, legte sich dann hin und schlief so schnell und gründlich ein, daß sie weder beten noch danken noch weinen noch träumen konnte, nur lag und schlief und am Morgen gleich in die Arbeit hinein erwachte. War das ein Leben im Hause! Alle wollten helfen, jeder packte an, und in einer Stunde war die Wohnung oben ausgeräumt und der Laden unten möbliert. Es sah sich übrigens ganz heimlich an. Auf der linken Seite war das Zimmer und auf der rechten die Küche. In der Mitte durch führte die Stiege hinab. Kasten und Betten rückten wohl enger zusammen, aber das machte im Winter bloß warm. Tisch und Sessel mußten in die Küche hinüber, weil anders kein Platz war. Sie standen schließlich überall gut und waren so vornehm nicht, daß sie dort etwa aufgefallen wären. Rese ist mit dem Umzug am meisten zufrieden gewesen. Man wohnte geradezu auf der Gasse, und das war ein Vorteil. Thomas fühlte sich menschlich herabgesetzt, wagte an Phine nicht einmal mehr zu denken, war mürrisch und verdrossen und begehrte laut auf: »Wenn er kommt, dann spuck ich ihm ins Gesicht.« Brigitte überhörte es, weil sie Angst hatte, darüber zu reden, und hätte besser getan, sich mit ihm auszusprechen.
Wenn man das Leben mit einem Haus vergleichen darf, an dem jeder Jahr für Jahr baut oder niederreißt, sich einrichtet oder auszieht, dann ist Vorlenz abgebrannt. Die Mauern standen noch, aber das Dach war fort, und der Himmel munkelte trostlos durch die leeren Sparren. Man lebt nicht gut in einem solchen Haus. Ein starker, zielbewußter Mensch wird keinen Augenblick säumen und mit dem Neubau beginnen. Wenn er noch jung ist, dann wird er die Ruinen verlassen und irgendwo anders noch einmal von vorne anfangen. Der schwache, ziellose Mensch wird die verrußten Mauern vom Regen abwaschen und von der Sonne zerbröckeln lassen, wird sich in den Keller zurückziehen und finden, daß auch da noch Platz genug ist für ihn, um einmal zu sterben. Vorlenz blieb in dem Gemäuer sitzen und tat nichts, um seine Lage zu verbessern. Er war verbittert und dachte böse Gedanken. »Kunststück, mit einem vollen Magen und einem weichen Bett ein anständiger Mensch zu sein! ... Kunststück, in der Haut dieses Herrn Stein zu stecken und den Ehrenmann zu spielen!« Es ging also um die Wurzeln der sozialen Ordnung, um die Grundfrage, ob Armut allein nicht schon eine solche Last ist, daß andere Forderungen gar nicht mehr gestellt werden können. Die Reichen werden natürlich widersprechen, aber man wird ihnen keine Stimme dafür geben. Und so bleibt die Frage offen.
Vorlenz saß im Winkel unter der Stiege und stierte gegen die Wand. Er sprach stundenlang kein Wort, schien auch keines zu hören. Brigitte brachte ihm Zigaretten. Er fraß nur das Gift in sich. Sie holte eine Flasche Wein. Er wollte erst nicht und trank dann doch und machte ein Gesicht, als hätte er Galle getrunken. Brigitte gab ihm Geld. »Geh! ... Geh fort! ... Geh ins Wirtshaus! ... Geh hin, wo du willst, nur sitz nicht da und verdirb den Kindern das bißchen Freude, das sie noch haben!«
»Aufhängen!« schrie Vorlenz, als hätte er seit einer Stunde mit ihr darüber gestritten und wäre jetzt doch so weit gekommen. »Aufhängen und ein Ende machen!«
Es erschöpfte sich im Wort und knackste mit einem Schluchzen ab. So hatte Brigitte zu allen anderen Sorgen auch noch diese, mußte ihn trösten, mußte ihn stützen, mußte ihm sein Leben tragen helfen, ihm, der ihr doch immer nur die größte Last gewesen ist.
Eigerle hatte zu seinem Glück noch nicht geheiratet. Die Witwe Brünner war launenhaft und zänkisch, hochmütig vor allem und so von sich eingenommen, daß nichts neben ihr bestehen konnte, was anders war, auch wenn es besser gewesen wäre. Bank und Tisch mußten dort sein, wo es ihr paßte, auch wenn sich Eigerle beide Ellbogen wund stieß, weil er keinen Platz hatte, Bank und Tisch mußten dort bleiben. Jeden zweiten Tag gab es Erbsen oder Bohnen, weil sie nahrhaft und billig waren. Eigerle vertrug sie nicht. Er bekam Schmerzen im Rücken davon, konnte sich kaum aufrichten und mußte doch fleißig arbeiten, denn das war oberstes Gesetz in diesem Hause: Der Mann macht Besen und Bürsten, und die Frau liegt auf dem Diwan und liest Romane. Es war nämlich auch ohne Priester so weit gekommen. Eigerle hatte sich lange tapfer gewehrt. Aber das kommt eines Tages ganz von selber und läßt sich dann nicht mehr ändern. Viel Vergnügen fand Eigerle kaum daran. Frau Brünner hatte eine Art Weib zu sein, die an Mahlzeiten erinnerte und seine Sucht gefrieren machte. Aber das half ihm nichts. Er mußte ins Bett, wann es ihr beliebte, ganz wie er Bohnen und Erbsen essen mußte, die er auch nicht vertragen konnte. Mit der Speisesoda ging es ihm ähnlich. Er hatte sie niemals gemocht, auch nie gebraucht. Jetzt wurde ihm nach jeder Mahlzeit ein Löffel voll in den Mund geschoben, und er mußte schlucken, sonst ... Ja, auch das ist schon geschehen: Sonst schlug sie ihn wie ein unfolgsames Kind auf die Hände oder sperrte ihn ein oder ließ ihn gar hungern. Selbst das Klavier wurde zum Marterinstrument. Es stimmte nicht, was die Frau kaum störte, den Blinden aber rasend machte. Er litt wirkliche Schmerzen dabei und mußte am Sonntag doch stundenlang daneben sitzen und zuhören, wie da Mozart mit spitzigen Fingern zerhackt und verbröselt wurde, ihr Mozart, der oberhalb an der Wand hing und es gut hatte, weil er bloß ein Bild war und sich nicht selber hören brauchte. Das Geschäft mußte nach einem Monat wieder aufgelassen werden. »Ich bin die Witwe nach einem Beamten,« erklärte Frau Brünner, obwohl ihr Mann nur ein Briefträger gewesen ist, »und kann nicht mit jedem Dienstmädchen freundlich tun.« Da können Besen und Bürsten noch so gediegen sein, das bringt die beste Ware um jeden Kredit. Geschäft und Erbteil waren also erledigt. Eigerle tränte ihnen nicht nach. Er haßte nur die penetrante Heuchelei dieser Frau, in einer Art hochmütig zu sein, wie man sonst demütig ist, sich dienend zu geben und doch dabei über alles zu herrschen, über ihn besonders, der sie doch gar nicht mochte. Er brauchte nur ihre Stimme zu hören, und schon sträubte sich sein Trommelfell wie der Pelz einer Katze, wenn man ihn gegen den Strich streicht. Die Witwe sagte auch immer »Mein Lieber«, ehvor sie keifte, und das konnte ihn mehr aufbringen als der ärgste Schimpf.
So sind vier Jahre bitterböse hingegangen und gingen nun zu Ende. Eigerle hatte genug von diesem Glück und machte Schluß. Er schrieb an den Direktor der Blindenanstalt, schrieb in seiner Punktschrift und durfte schreiben, was er wollte. Die Witwe konnte es nicht lesen. Ihr wurde eingeredet, daß es sich um die Erhöhung seiner Rente handelt, eine Sache also, die auch ihre Sache war. Eigerle freute sich insgeheim doppelt und dreifach, daß es anders gewesen ist, ganz und gar anders. Eine Woche darauf klopfte es an die Türe, trat ein Herr ins Zimmer, stellte sich vor, war ein Präfekt der Anstalt und hieß Oberhuhmer. Frau Brünner war auf den ersten Blick entzückt. Das wäre so ein Mann für sie gewesen, klein, untersetzt, solid, repräsentabel. Das Gespräch plätscherte heiter hin. Herr Oberhuhmer wußte sich zu geben und verstand mit einer Dame umzugehen. Auch Eigerle wurde vergnügt und lachte sogar. Der Zweck des Besuches war bald erklärt. »Es handelt sich um eine Untersuchung. Nur pro forma«, unterstrich der liebenswürdige Präfekt und ließ erkennen, daß ein Besuch von seiner Seite immer nur Gutes bedeutet und kein Anlaß einer Sorge ist. Er hatte seinen Auftrag schriftlich, und so waren Bedenken wirklich überflüssig.
Sie gingen, um nicht wieder zu kommen. Die Witwe winkte noch aus dem Fenster nach, was der Blinde zwar nicht sehen konnte, Herr Oberhuhmer jedoch mit freundlichem Lächeln quittierte. Dann verschwanden sie um die Ecke und blieben verschwunden. Eigerle hatte dem Direktor sein ungutes Leben geschildert und gebeten, ihn wieder in die Anstalt aufzunehmen. Er war seinerzeit nur ungern entlassen worden und wurde jetzt umso lieber zurückgenommen. Er war ein verträglicher Mensch, mit dem jeder in Frieden auskommen konnte, bloß diese Frau nicht. Es geschah ihr demnach recht, und wir brauchen sie kaum zu bedauern. Eigerle wollte unbedingt noch von Brigitte Abschied nehmen, wollte noch einmal ihre Stimme hören, ihre Nähe fühlen und dann für immer in die Anstalt gehen. Sie fuhren hin. Im Haus wußte der Blinde selbst Bescheid und führte den sehenden Mann. Er klingelte im zweiten Stockwerk und wartete erregt. Es kamen Schritte, nicht ihre Schritte, hörte er sofort.
»Sie wünschen?« Es war auch nicht ihre Stimme. »Vorlenz? Die wohnen unten im Gassenladen.«
Eigerle war also auch hier schon fremd geworden und wurde wiederum blind. Der andere suchte und fand für ihn. Brigitte schien mehr überrascht als erfreut. Eigerle empfand es mit Trauer.
»Ich geh in die Anstalt zurück. Es war nicht das Rechte.« Er wollte sagen: Es war nicht die Rechte. Doch das getraute er sich nicht.
Da griff eine kleine, gute Hand nach seinen Händen und hielt sie fest, strömte eine Wärme durch seinen Körper, die ihm so wohl tat, als ob er jahrelang gefroren hätte, öffnete sich ein Mund und sprach mit einer Stimme, in der alle Vögel des Himmels für ihn sangen:
»Ich bin auch nicht glücklicher geworden seitdem.«
Er drängte fort. Er wollte kein Wort mehr hören außer diesem, wollte bis ans Ende seiner Tage immer nur von ihr wissen: Sie ist auch nicht glücklicher geworden. So klein ist der Mensch vor dem Schicksal und so unbarmherzig eine Liebe vor dem Auseinandergehen.
Vorlenz gab sich dann doch einen Ruck und kehrte ins Leben zurück. Er zog den Gutsbesitzer aus, hing den neuen Anzug in den Kasten, stellte die gelben Schuhe dazu und setzte ihnen den Hut auf. Da stand nun der eine Mensch und wollte vom anderen nichts wissen. Brigitte flickte ihm eine alte Hose zurecht, bekam von Frau Grießner ihres Mannes Uniformrock geschenkt, schneiderte eine Arbeitsbluse daraus und war froh, ihn doch schon so weit zu haben. Vorlenz wollte nimmer betteln gehen. »Man nimmt und weiß am Ende nicht, was man genommen hat«, sinnierte er zweideutig und hatte Angst davor. Er konnte keinen Schutzmann sehen, ohne an den einen zu denken, der ihn hopp genommen hatte, und das verdirbt die schönste Promenade. Vorlenz wollte arbeiten. Er hat es früher schon gewollt und konnte jetzt nicht mehr dafür tun, als er damals getan hatte. Er suchte. Er fragte sich überall an und wurde nirgends genommen. Er war kein Tischler und kein Schneider, hatte kein Zeugnis, nur seine zwei Hände, und auf die hat keiner gewartet, die gab es in Menge, mehr als Hosensäcke, um sie hineinzustecken. Es war eine Zeit des Müßigganges, und wer bloß von obenhin schaute, der hätte meinen können, in ein Paradies zu sehen. Zu allen Stunden des Tages und an allen Ecken der Straßen standen gesunde, rüstige Männer und feierten, sogen ihre Zigaretten und blinzelten dem Rauch nach, lungerten untätig herum und ließen andere für sich arbeiten. So schien es dem Augenschein, auch wenn es anders, grauenhaft anders war. Vorlenz strich unstet umher und suchte auf gut Glück, fand aber immer andere, denen es ebenso ging wie ihm, und nur selten einen, der ihn trösten konnte, weil er Aussicht hatte, noch lange nicht Arbeit, doch immerhin Aussicht, eine zu bekommen. Es war ein Licht in der Finsternis und flimmerte jedem zu. Man suchte, strich unstet herum und suchte, bis auch eine Aussicht gefunden war, denn mehr ist kaum zu finden gewesen.
Vorlenz kam dabei zu einem riesigen Gemeindebau und schaute zu. Es war nicht der erste, vor dem er stand, aber es wurde, daß er stehenbleiben mußte. Und weil er sonst nichts zu tun hatte, fragte er kaum warum. Es gab allerlei zu sehen, und das ist auch eine Beschäftigung. Viele hundert Arme, mit Krampen und Schaufeln bewaffnet, stürzten sich auf die geduldige Erde, rissen ihr die Haut in ganzen Flötzen vom Leib, hackten und stachen ihr tiefe Wunden, daß der Sand wie Blut rieselte und die Steine wie Knochen knirschten. Der Baumeister war Marschall und hielt den Feldzugsplan in Händen. Die Poliere leiteten den Angriff. Es war eine friedliche Schlacht und ein freudiger Sieg. Vorlenz stand und schaute. Die Arbeit rief: »Komm her! ... Greif zu! ... Halt fest! ... Schlag hin!« Es war der Takt von Spaten und Hämmern. Sie pochten wie Pulse. Nur Vorlenz stand untätig und schaute zu. Es blitzte von Eisen, blitzte hoch über den Köpfen, sauste durch die Luft und schlug in die Erde. Es war ein herrliches Bild und ein großer Gedanke. Hier wurde ein Werk aus Fleiß und Schweiß. Mensch und Maschine halfen einander. Sie waren Brüder. Jeder Antrieb wurde ein Weg in die Zeit und jeder Spatenstich eine Kerbe, in die Zukunft gehauen. Nur Vorlenz stand und schaute zu. Es war nicht seine Schuld. Er hatte dreißig Ausreden für eine, doch sie hielten nicht dicht vor seinen leeren Händen, seinen lässigen Muskeln. »Greif zu! ... Schlag hin! ...« Er wollte doch, Herrgott, er hätte doch schon mit den Zähnen zugegriffen und festgehalten. Es würgte ihn am Herzen. Er schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu. Er war ausgeschlossen, überflüssig, wertlos und verloren, ist es sein Leben lang gewesen. Vorlenz schämte sich und hätte weinen mögen. Aber es gab nichts zu tun für ihn, legte sich keine Schaufel hin, blieb kein Karren liegen, ging alles seinen Gang und war komplett wie eine Uhr. Vorlenz stand und wartete. Er hatte häßliche Gedanken: »Der junge Mann dort scheint mir nicht gesund. Er hat aufgehört zu graben und hustet. Wenn er einen Blutsturz kriegt, dann kann ich für ihn einspringen ... Der Alte wird es auch kaum lange machen. Man weiß nicht, fährt er den Schiebkarren oder führt der Karren ihn. Er muß über sechzig sein, und ich bin jünger ... Die Maschine drüben ist auch nicht ohne. Sie sticht den Boden wie ein Butterbrot und arbeitet für zehn. Aber wenn sie umfällt, wenn die Erde unter ihr nachgibt, dann haben die drei daneben ausgesorgt, dann heißt es: Hereinspaziert, meine Herrschaften!« Vorlenz blieb stehen und wartete darauf. Der Alte kam wiederum mit dem Schiebkarren vorbei, hatte ihn doppelt schwer an seinen kraftlosen Armen hängen, ging vorgebeugt, wie Greise gehen, die schon der Boden ruft, wackelte mit den Knien und hob die Füße kaum aus Angst, über die Last weg hinzufallen und nicht mehr weiterzukönnen. Der Schweiß glänzte wie ein Diadem auf seiner Stirn. Die Augen schwappten in ihren Höhlen, als schwömmen sie in einem Teich von Tränen. Die Zunge hing ihm jappend aus dem Mund. Sein Atem dampfte, als ob der ganze Mensch von innen aus verbrennen würde. Und Vorlenz wartete darauf, stand da und wartete, bis der dort nimmer weiter konnte, bis er hinfiel und es aufgeben mußte, sein Brot zu verdienen. Es war unmenschlich grausam. Doch ist es nicht immer so? Muß nicht überall einer dem anderen weichen? Und bleibt es nicht der verruchte Sinn alles Lebens, daß einer geht und der andere kommt?
Vorlenz stand bis drei Uhr nachmittag. Er war von dem Gedanken besessen, von einer Ahnung befallen und ließ nicht locker. Seine Blicke verfolgten den Greis und hingen sich wie Hunde an seine Fährte. »Kannst du noch? immer noch? Oder bist du schon müde? totmüde? Gib auf! Gib es auf, ehvor du hin bist, alter, gebrechlicher Mann! Gib es auf und laß mich an die Reihe kommen! Ich bin jünger als du und habe mehr Recht auf das Leben.« Es wurde drei vorbei, wurde halb vier. Vorlenz stand wie ein Räuber da und dachte Mord. Und da geschah es und ist vielleicht nur deshalb geschehen: Der Alte wankte heran und stolperte, richtete sich erschrocken auf, warf den Kopf hoch und starrte Vorlenz ins Gesicht, konnte nicht mehr vom Fleck, ließ den Schiebkarren fallen und brach neben ihm zusammen. Vorlenz sprang hin, setzte über zwei Gruben weg, stieß den Alten fort und stand an seiner Stelle. Die Griffe klebten noch von fremdem Schweiß. Doch Vorlenz ekelte sich nicht. Er packte an und führte den Weg des anderen zu Ende, kam aber nicht ans Ziel.
»Was wollen Sie da?« fuhr ihn der Baumeister an und rief nach dem Polier. »Werfen Sie den Kerl hinaus!«
Vorlenz ließ es nicht dazu kommen. Er ging selber, kam völlig zerbrochen heim, saß wieder unter der Stiege und stierte gegen die Wand. Brigitte fragte ihn nicht. »Etwas ist schief gegangen«, merkte sie auf einen Blick und begnügte sich damit.
Die Kinder kamen vom Spiel und brachten eine Fröhlichkeit mit, die sich ausgelassen überstürzte und im Nu den ganzen Raum anfüllte, daß für anderes kaum Luft genug verblieb. Da stand Vorlenz auf, stand unsicher, obwohl er nichts getrunken hatte, tappte wie ein Blinder am Tisch vorbei, warf einen Sessel um und ließ ihn liegen, blieb an der Stiege stehen, wollte noch etwas sagen, wurde durch das Lachen der Kinder gestört, würgte es wiederum hinab und stampfte fort, als müßte er sich selber niedertreten. Es war ein unheimlicher Abgang und ein banges Überbleiben. Brigitte hatte keine Ruhe und ging ihm nach, sah ihn hinter der Kellertür verschwinden und stutzte einen Augenblick, überlegte hastig und wagte nicht gleich zu folgen, wurde dann von einer Angst getrieben, tastete sich Stufe für Stufe hinab, ging rechts statt links, stieß an eine Mauer, drehte sich um und sah im Hintergrund des Ganges einen Mann, sah ihn den Hosenriemen vom Bauch nehmen, eine Schlinge daraus machen, einen Nagel suchen und ... Da schrie sie auf.
»Johann!!« schrie sie, und es gellte zurück, als hätten ihrer zehn Stimmen gerufen.
Vorlenz ließ es sein. Der Riemen war zu kurz und der Nagel zu schwach. Ob es ihm überhaupt Ernst gewesen ist? Man weiß das nicht, keiner kann es wissen, auch er selber kaum. Vorlenz war aufgeregt, und da geschieht manches, was anders unterbleiben würde.
Brigitte gab ihm Geld und gute Worte, alles Geld und ihre besten Worte:
»Geh, sei doch nicht so! Es wird schon wieder werden, ... anders werden. Wir haben noch immer zu essen, und du sollst auch zu trinken haben. Da, ich will dich lustig sehen, will dich lachen hören.«
Vorlenz ließ sich nicht lange bitten. »Aufhängen kann ich mich immer noch«, meinte er und ging, um sich leben zu lassen. Es war doch wie ein Geburtstag. »Jetzt wäre ich schon steif und tot«, dachte er zur Aneiferung bei jedem Schluck. Und es schmeckte ihm ausgezeichnet, das Leben, je öfter er an den Tod dachte, und der Wein, je mehr er davon trank.
Brigitte lag und schlief. Sie hielt die Hände über der Brust gefaltet und lächelte im Traum. Ein Erzengel hatte sie besucht und ihr gesagt, daß man im Himmel schon ein Häuschen für sie baut, daß nur noch das Dach fehlt und daß jeder Kummer, den sie hier erleidet, ein Ziegel mehr ist, um es einzudecken. Auch ein Garten wird herum, nicht groß, doch schön gelegen und der Sonne so nahe, daß schon deshalb ein Paradies daraus werden muß. Sternblumen und Lilien stehen drin, auch ein Nußbaum, den Maria, die Jesusmutter, für sie gepflanzt hat. Gott selber ist der Baumeister gewesen, und so muß es ein gutes Haus werden.
Vorlenz sperrte auf. Er tat es wie ein Dieb, der um einen verborgenen Schatz kommt. Er sperrte auch hinter sich wieder ab, damit er ihm nicht gestohlen werden konnte, hob dann leise, leise einen Fuß und kollerte über die Stiege hinab. Vorlenz war hier noch nicht so recht daheim und hatte die Stufen völlig vergessen. Und damit war auch schon alles verdorben. Brigitte sprang aus dem Bett, sprang vom Himmel auf die Erde und stand so unsicher auf den Füßen, als ob sie fürchten müßte, auch noch unten durchzufallen. Die Kinder wachten erschrocken auf und riefen um Hilfe. Sie dachten an Räuber und Mörder, an alles, nur nicht an den Vater. Vorlenz klaubte sich zusammen und fluchte:
»Das kommt davon, wenn einem Hab und Gut verschachert wird, die Wohnung unter der Hand und das Leintuch unter dem Arsch.«
»Hast du dir weh getan?« stand ihm Brigitte bei, zündete ein Licht an und sah mit Entsetzen, daß er sich eine Beule an der Stirn und einen blauen Fleck am Kinn geschlagen hatte. Es stimmte nicht. Die Zeichen redeten eine andere Sprache. Vorlenz hatte sich im ewigen Leben so unleidlich betragen, daß man ihn ausschiffte und, weil er nicht selber gehen wollte, einfach durch die Türe warf. Die Straße war aber nur gepflastert und nicht gepolstert, und das konnte man nun auf Stirn und Kinn ganz deutlich sehen. Vorlenz hatte freilich keinen Grund, die Sache aufzuklären, und ließ Brigitte glauben, daß er eben jetzt verunglückt ist und sich zerschlagen hat. Mitleid tut wohler als Schadenfreude, besonders wenn man es nicht verdient. Die Kinder schliefen alsbald wieder ein. Es ist kein Räuber und kein Mörder, ist nur der Vater gewesen, und das schläferte sie ein. So war alles in der besten Ordnung. Vorlenz betupfte die Beule mit dem Taschentuch und spielte den Blessierten. Brigitte kniete sich hin, zog ihm die Schuhe aus und hatte ganz vergessen, daß sie im Hemd war und daß er sie von oben hinein nackt sah, die Brüste und was es noch zu sehen gab. Vorlenz schmunzelte zufrieden, streichelte sie mit lüsternen Blicken, ließ auch die Finger davon kosten und schnalzte mit der Zunge, weil sich alles weich und wohl anfühlte und ihm gütlich tat. Brigitte nahm das Hemd erschrocken dichter an den Leib. Es war aber schon zu spät. Er gloste bereits. Und als sie ihm die Hose auszog, da sprang ihr der Teufel selber entgegen, packte sie mit starken Armen, warf sie auf das Bett und machte ihr heiß, als läge sie schon in der Hölle. Brigitte durfte sich nicht wehren. Die Kinder waren eben erst eingeschlafen. Das leiseste Wort mußte sie wecken.
»Nicht! ... Nicht!« bat sie verschluckt und fachte ihn nur ärger damit an. Er war ein Tier. Sie blieb ein Mensch. Doch was geschah, das ist auch ihr geschehen.
Thomas schlief. Rese betrog. Sie hielt den Atem an, lag unter ihrer Decke und regte sich nicht, hielt nur die Ohren wach und hob später auch ein Lid, wie man eine verbotene Türe öffnet, um zu sehen, was es da Geheimes gibt, sah Vater und Mutter, nein, nicht mehr Vater und Mutter, sah einen Mann und konnte es nicht erwarten einmal auch Frau zu werden.
Vorlenz wäre beinahe Straßenkehrer geworden. Herr Gröger hatte sich für ihn verwendet. Er war mit einem anderen bekannt, der nach oben hin Beziehungen hatte, die über eine Aufräumefrau direkt in das Rathaus führten und bis in das Zimmer eines Stadtrates reichten. Vorlenz sah sich schon als Amtsperson fungieren. Er fand die Straßen auf einmal schlecht gekehrt, den Staub zu groß, die Misthaufen schlampig zusammengetragen und gratulierte der Verwaltung schon zu dem Genie an Straßenkehrer, das er sein wollte. Es kam aber noch die Untersuchung. Vorlenz lächelte wohl nur. Er war gesund, ist es immer gewesen und hatte bloß das steife Bein, wenn er sich darum bemühte. Er tat es natürlich nicht und protzte mit dem Gegenteil. Er ging fesch und flott und schmiß die Fersen, daß der Kot von den Absätzen flog und auf dem Teppich liegen blieb. Der Arzt ließ sich durch dieses Kunststück nicht imponieren. Er knackste selber an dem Bein herum, zerrte und riß und wollte durchaus einen Knopf damit machen, was unmöglich gelingen konnte. Er schien es dennoch zufrieden. Nur die Lunge wollte ihm nicht recht gefallen. Er klopfte, horchte, klopfte wieder und hatte genug. Sie machte ein Geräusch. Vorlenz schwankte im Augenblick, ob er den Kerl auslachen oder umbringen sollte. Es war zu toll. Da hat einer schon den Besen in der Hand, hört einer schon den Lohn klingeln, sieht sich schon im blauen Kittel mit der Kappe auf dem Kopf, hat die besten Vorsätze, meint sich schon gerettet und versorgt sein Leben lang und wird plötzlich wieder ausgeladen, weil so ein ganz Gescheiter, ein Herr Doktor, der offenbar auch das Gras wachsen hört, ein Geräusch, ich bitte! ein Geräusch in der Lunge vernimmt. »Wer weiß, was das gewesen ist und ob es überhaupt die Lunge war?« Vorlenz hatte abends Kraut gegessen und es schlecht vertragen. Er wollte nicht spaßen, durchaus nicht. Er stand im Aufruhr. Er fühlte sich verleumdet, wo nicht gar verspottet. Es war ihm gerade so, als hätte der Doktor gesagt: »Ihr rechtes Auge hinkt, ihr linkes Knie scheint heiser und ihr Hinterer muß Brillen tragen.« Es war nicht zum Lachen, ihm nicht. Er krampfte die Nägel ins Fleisch, sog die Lippen ein, schaute an allem vorbei, besonders an diesem Doktor und mußte sich sehr zusammennehmen, um den Mord nicht zu begehen, der sich ihm antrug. Ein Geräusch in der Lunge! Als ob das den Besen gestört hätte, als ob es nicht auch andere Geräusche gäbe, infame, unverschämte Geräusche, die nicht einmal aus den Lungen kamen, aber doch Geräusche waren!
Vorlenz spürte zum erstenmal jene dunklen, geheimnisvollen Kräfte an sich wirksam werden, die unser Leben wie ein Kartenspiel in den Händen haben, bei dem wir bloß der Einsatz sind. Und ihm wurde unbehaglich. Er war angefüllt mit Widerständen und wußte nicht wohin damit. Es gab keinen Feind, der sich ihm stellen wollte. Der Doktor war es nicht allein. Das schien ihm klar. Und wenn auch, die Gelegenheit war schon versäumt. Vorlenz griff also blindlings nach dem Nächsten, das sich bot, und schlug Brigitte. Sie war schuld. Sie hielt es mit jenen Mächten, betete zu Gott, glaubte an den Himmel und stand dadurch auch mit dem Teufel in Beziehung. Es war töricht. Aber welche Hand fragt vor dem Schlag, ob sie den Richtigen trifft? Auch Vorlenz tat es nicht. Er holte aus und schlug hin, um seinen Zorn zu erschlagen, ohne sich selber zu treffen. Brigitte ließ es wie ein Lamm geschehen. Kein Laut verriet die Bitternis ihres Herzens, keine Träne die Pein ihres Leibes. Nur einmal entfuhr ihr ein dumpfer Schrei. Vorlenz hatte sie ins Auge getroffen. Blut überschwemmte die Blicke. Sterne stoben vor ihnen auseinander. Und dann wurde alles finster.
»Blind!« keuchte sie kläglich. »Du hast mich blind geschlagen.« Vorlenz taumelte zurück, deutete nein mit beiden Händen, schwur sich selber, daß er es nicht war, und rief um Hilfe. »Wasser!« schrie er. »Ein Tuch! ... Und Wasser!« Rese lief. Thomas stand wie angeschraubt. Und Vorlenz stürzte an den Kasten, riß den Schlüssel heraus, fand das Loch nicht gleich und wurde wütend, vergaß völlig, daß er doch helfen wollte, und tobte, warf den Kasten beinahe um und wühlte alle Fächer durch, fand nichts, kein Tuch und keinen Fetzen, hätte bloß besser schauen müssen, sah aber nichts in seiner Raserei, packte ein Brett, schwang es hoch und wollte Brigitte erschlagen. Rese ließ vor Schreck das Wasser ausrinnen. Thomas umschlang die Mutter. Und Vorlenz sah sich selbst als Schatten an der Wand, sah die Arme und das Brett, erschrak vor seinem eigenen Bild, ließ die Arme sinken und das Brett fallen, brach ihm nach in die Knie und wimmerte:
»Sei gut! ... Sei wieder gut!«
Er bat mit aufgehobenen Händen, rutschte auf den Knien zu ihr hin, sah sich wieder an der Wand und ließ es sein, schämte sich auch vor den Kindern und lachte gezwungen, bückte sich um das Brett, stand mit ihm auf und knurrte ärgerlich:
»... Ein Geräusch in der Lunge! ... Ich hätt ihn doch erschlagen sollen, diesen Doktor.«
Man verstand ihn nicht, konnte kein Wort verstehen und kriegte abermals Angst vor ihm.
»Ein Geräusch?«
»In der Lunge?«
Die Kinder hätten gern gelacht, sind aber doch zusehr erschrocken.
Und Vorlenz erzählte, was ihm geschehen ist. Die Worte staken wie Gräten in seiner Gurgel. Die Stimme spießte sich daran. Er schrie nicht, aber jeder Laut war ein verhaltener Schrei. Brigitte hatte ihn noch nie so aufgeackert, so voll tiefer Furchen gesehen. Das Unterste seines Wesens war zu oberst gekehrt und ließ Gutes erkennen. Man hätte ihm nur ein Ziel geben, eine Arbeit für ihn finden müssen, dann ... ja dann.
Brigitte versuchte es noch einmal bei Herrn Stein. Er weigerte sich brüsk. Er war nervös, aufbrausend, streitsüchtig, war lange nimmer der feine, vornehme Mann, redete eine harte, gewöhnliche Sprache und ließ sich gehen, auch wenn es nicht zu seinem Vorteil war. Man munkelte von großen Verlusten und prophezeite einen baldigen Zusammenbruch. In Wirklichkeit sind bloß die Gewinste kleiner geworden, und das ist natürlich auch ein Verlust. Herr Stein konnte nicht helfen. Er wollte vor allem nicht.
Brigitte ging sogar Herrn Grießner darum an. Es fiel ihr schwer. Man mochte Vorlenz nicht, keiner im Hause mochte ihn und Herr Grießner schon gar nicht. Er ließ aber doch mit sich reden und schien auch etwas zu wissen.
»Es wird freilich eine Arbeit sein und kein Vergnügen«, meinte er und spielte auf gewisse, sehr bekannte Dinge an.
»Er ist nimmer so«, verstand Brigitte sofort und glaubte auch ein bißchen selbst daran. »Es hat ihn richtig gepackt und wird ihn festhalten, wenn ...«
»... wenn er nichts zu tun und viel bezahlt kriegt«, lachte Herr Grießner und hatte kaum etwas damit versprochen.
Brigitte nahm es aber doch für ein gegebenes Wort und kam aufgequirlt nach Hause. Vorlenz war verschwunden. Er hatte einen Zettel zurückgelassen, und darauf stand: »Wenn ich keine Arbeit finde, dann brauchst mich auch nimmer suchen.« Brigitte duckte sich, als wäre diesem Schlag noch auszuweichen. Es lag schon schwer genug auf ihr und wurde immer schwerer. Sie begriff nur nicht, warum sich das Schicksal so viel Mühe mit ihr machte und warum sie nicht einfach krank wurde und starb. Als ob einer je begreifen wird, was hier geschieht. Gott ist, und darum müssen wir sein. Mehr ist uns nicht verraten worden, und mehr werden wir niemals darüber wissen. Das ist eben unser Schicksal und wird es bleiben.
Am dritten Tag tauchte Vorlenz wieder auf, lotste Herrn Grießner zur Tür herein, bat ihn Platz zu nehmen und tat, als hätte er ein Los gefunden und auch schon den Haupttreffer gemacht.
»Man baut ein Kraftwerk? Das ist gut. Und man braucht Leute? Das ist noch besser. Und ich soll mit? nach Gaming?« Er saß da, als könnte das Werk ohne ihn gar nicht gebaut werden.
Brigitte wollte unbedingt einen Kaffee kochen und Kipfel dazu holen. Doch das ließ der Gast nicht zu. Er zog die Frau neben sich auf einen Sessel und erzählte in seiner kargen Weise:
»Ich hab es erfahren, hab gleich an Sie denken müssen, hab einen Bekannten dort und es gleich ausgemacht.«
Vorlenz paßte diese Auslegung nicht. Er war schließlich kein Kolli, das man auf die Bahn schippt und nach Gaming aufgibt, weil der da einen Bekannten hat und ... »meiner Frau gefallen will«, funkte es unsinnig in seinem Schädel auf und hätte bald alles wieder verdorben.
»Wenn ich aber nicht mag?« fragte Vorlenz dummdreist dazwischen.
»Dann soll man Sie übers Knie legen und so lange durchhauen, bis nichts mehr in der Hose steckt«, prustete Herr Grießner los, stand auf und wollte gehen.
»Na, na!« lenkte Vorlenz eiligst ein. »Ist nur ein Spaß gewesen und keinen Lacher wert.« Er war doch sehr besorgt um diese Stelle. Es kam bloß überall, wo man ihn kratzte, gleich der alte, verluderte Vorlenz heraus. Aber das mußte anders werden und zwar sofort. Er pumpte sich zu einer Rede voll und setzte mit seiner tiefsten Stimme ein: »Bin ein Arbeiter, bin es immer gewesen und werde es bleiben, ... hab selber Roß und Wagen gehabt und will ...«
Herr Grießner hatte keine Lust, sich diesem auszusetzen, überreichte Brigitte einen Zettel, unterstrich die Adresse und schärfte ihr besonders ein:
»Morgen um neun. Wenn nicht, dann nicht. Man reißt sich drum.«
Er ging. Brigitte drückte ihm die Hand. Ihr Dank war stumm. Vorlenz hatte das nicht nötig. Er blieb sitzen, patschte auf den Tisch, feuerwerkte mit den Augen und fragte großartig:
»Was sagst du jetzt?«
Brigitte konnte vor Ergriffenheit nicht sprechen. Und so fragte er in einem Atem weiter:
»Wirst mich nicht vermissen?« Er kniff sie beredt in die Seite, und das ist deutlicher gewesen, als Worte sein können.
Brigitte war solchen Witzen abhold bis zum Ekel, tat nun aber doch gezwungen mit, um seine gute Laune zu erhalten, und schändete ihre Lippen durch das Versprechen:
»Es soll dir nichts verlorengehen.«
Vorlenz ließ ein unflätiges Gelächter an die Decke steigen, rieb sich saftig die Hände, spürte es federleicht in den Gelenken werden und fuhr im Geiste schon dahin. »Fort! ... Mit der Bahn! ... Einsteigen! ... Abfahrt! ... Unuuuh!« Er pfiff und trommelte den Lärm der Lokomotive in die Tischplatte, stampfte und pfauchte und war besessen wie ein Schuljunge, der Eisenbahn spielt.
Nächsten Tag trat Vorlenz pünktlich an. Er bekam eine Nummer und die Fahrkarte und wurde für Mittwoch bestellt. Dreizehn Uhr fünfzehn ging der Zug. Er sollte vor dem Frachtenbahnhof stehen, stand aber nicht dort. Der Transport mußte verschoben werden, und so wurde Freitag daraus. Vorlenz beklagte sich in der Kanzlei darüber:
»Zeit ist Arbeit, Arbeit Geld. Wer kommt für meinen Schaden auf?«
Der Beamte hatte zum Glück sehr gut gegessen und noch besser getrunken, war in der angenehmsten Verdauung begriffen und ließ sich durch nichts in dem Genuß seiner Zigarre stören. Bei einem schlechten Essen und einem sauren Wein wäre Vorlenz schwerlich zum Abschied nach Gaming gekommen.
Nun aber stand er da und war gerührt. Er küßte Rese, umarmte die Mutter und war fertig. Rese heulte, als würde sie nun Waise werden. Vorlenz hörte geschmeichelt zu und sagte dann, weil es der Augenblick verlangte:
»Sei brav und denk an mich!«
Er redete sich schlecht. Es kam ihm nicht von der Zunge, klebte wie Schnecken dran und machte ihn unzufrieden. Thomas war mit der Schule ausgeflogen, wußte, daß ... und ist doch nicht zu Hause geblieben.
»Der Lausbub!« entfuhr es Vorlenz und gab ihm Gelegenheit, gleich weiter auszuholen: »Bin der Vater, bin ihm gut gewesen, hab ihn gehalten wie ein rohes Ei, hab mich aufs Maul geschlagen, wenn ich hätte schimpfen sollen, und nun findet es der Lausbub nicht einmal der Mühe wert, mir zum Abschied noch die Hand zu küssen.« Sein Blut begann zu wallen, und Brigitte hatte es nicht leicht, diese Erregung einzudämmen:
»Ich hab es nicht erlaubt, mit keinem Wort. Und er wird es bekommen. Du kannst dich verlassen, daß er es bekommen wird.«
Nun ein solcher Wind blies, drehte sich Vorlenz wie ein Wetterhahn herum und krähte von der anderen Seite:
»Er ist jung und dumm. Ich bin es auch einmal gewesen und muß heut gescheiter sein als er. Du weißt schon, was ich meine. Laß ihn grüßen! Er soll brav sein und mich nicht vergessen!« So war ihm doch Anlaß gegeben worden, ein guter Vater zu sein und es zeigen zu können.
Die Fahrt war sein Entzücken. Es ging langsam und gemächlich. Jeder Baum war etwas, das man sehen mußte, jeder Acker wurde Weg, und jede Station war ein erreichtes Ziel. Kornfelder wogten. Wiesen lagen breit und saftig da. In der Ferne wurden Wälder, und den Himmel trugen starke, steinerne Gebirge. Vorlenz saß am Fenster und fühlte zum erstenmal, was Heimat ist. Und es ergriff ihn tief. Er bettete die Hände in den Schoß. Sie brauchten nimmer zu betteln, fuhren einer Arbeit entgegen und freuten sich schon darauf, eine Krampe zu schwingen, mit einer Schaufel zu stechen oder gar einen Schiebkarren zu führen. Es wäre ihm das Liebste gewesen, wahrscheinlich weil es dem Spiel am nächsten kam. Der Zug rollte auf Schienen hin. Er mußte sein vorgeschriebenes Ziel erreichen. Er konnte gar nicht rechts- oder linkshin abbiegen und sich verirren. Vorlenz empfand das äußerst beruhigend, denn es war auch sein Ziel. Die Berge rückten langsam näher. Die Wälder traten dichter an das Geleise heran. Die Luft wurde dick. Vorlenz aß ein Stück Brot dazu und wurde angenehm satt. Er schaute, sprach mit keinem seiner Genossen ein Wort, saß schweigend beim Fenster und lief mit den Blicken durch die Landschaft, blieb da und dort eine Weile zurück, versäumte sich bei einem Dorf, sprang dann mit großen Sprüngen voraus und hatte zwischenhin so seine Gedanken. Man baute ein Kraftwerk. Der Name allein berauschte ihn schon. Es klang nach Macht und Gewalt. Und er schaffte mit, er, der arme, elende Vorlenz mußte seine Hände, seinen Schweiß dazu hergeben. Es machte ihn stolz, und er fühlte sich.
Frau Grießner fuhr über Sommer zu ihren Eltern nach Böhmen. Es war ein Ereignis, an dem die ganze Gasse teilnahm. Nicht daß alle mitgefahren wären. Das konnte wirklich keiner verlangen. Aber es war doch schon viel, daß jemand von ihnen aufs Land fuhr und gar bis nach Böhmen. Frau Grießner nahm Rese mit. Sie hatte das Mädchen gern, hätte am liebsten selber eines gehabt, ist aber kinderlos geblieben. Man war begeistert und entzückt. Es hätte nicht gerade Rese Vorlenz sein müssen, doch das war der Frau Grießner ihre Sache und ging sonst niemand etwas an. Die Tat allein war sehenswert. Brigitte dankte unter Tränen. Und Rese fuhr ab, als wäre sie hier die Jahre her bloß auf Besuch gewesen und dort jetzt schon daheim.
Thomas sollte von der Schule aus fortkommen. Er wollte aber nicht. Er konnte die Mutter unmöglich allein lassen. Brigitte nahm das Opfer geschmeichelt an. Er sollte es gut haben, besser als je und gewiß nicht schlechter als Rese in Böhmen. Was verspricht man nicht alles in seiner Freude, und wie wenig vermag man dann zu halten? Thomas konnte kaum vergleichen, und so brauchte sich Brigitte auch nicht zu schämen. Sie staunte nur, als er tags darauf mit einer Bibliothek von vier dicken Bänden anrückte und etwas aufgeregt erklärte:
»Der Nächste in der Reihe ... Es war nämlich eine Liste, und da ist der Schneider Toni der Nächste gewesen ... und der hat sie mir geschenkt ... die Bücher.«
»So?« nickte Brigitte und schien zu zweifeln.
Thomas ahnte, was sie meinte, und verwahrte sich mit Nachdruck:
»Sein Vater weiß davon. Du kannst ja fragen. Er hat eine Menge Bücher und liest sie nicht. Er war Student und ist Kassier.«
»Soso?« nickte Brigitte wieder und machte Thomas noch mehr zappeln:
»Er wäre sonst nimmer drangekommen, ... der Toni, wenn ich nicht ... Und er hat mir die Bücher geschenkt, ... der Vater, weil ich ...«
Eine krause Geschichte. Brigitte erkundigte sich auch sogleich. Es stimmte Wort für Wort. Thomas hatte nicht gelogen. Er war der Letzte in der Reihe, und der Toni stand hinter ihm. Und wenn Thomas nicht verzichtet hätte, dann wäre Toni kaum aufs Land gekommen. Auch das mit den Büchern war in bester Ordnung. Dennoch fühlte sich die Mutter betrogen. Sie hatte an eine Liebe geglaubt, und er hat ein Geschäft gemacht.
Thomas freute sich auf die Ferien wie noch nie. Er nagelte ein Brett an die Wand, stellte die Bände hinauf und konnte sich kaum fassen vor Glück, die ganze Welt in einer Geschichte zu besitzen und darin zu lesen. Was hat es nicht schon alles gegeben? Und wie wenige Menschen wußten eigentlich davon! Brigitte zum Beispiel ... Es war eine Schande. Sie hatte überhaupt noch nichts von den Griechen gehört. Thomas erbarmte sich ihrer und las gelegentlich vor. Die Mutter hörte zu, konnte sich nur wenig daraus machen, tat ihm aber doch die Freude und hielt still. Thomas wurde ganz heiser vor Begeisterung, schwelgte im Wohllaut der Namen und im Blutrausch der Kriege und bemerkte gar nicht, daß Brigitte eingeschlafen war und friedlich nickte. Als aber von den Göttern geredet wurde, da wachte sie betroffen auf.
»Ist das auch christlich, Bub?« fragte sie beklommen und schielte selber in das Buch. Es wimmelte von Göttern, Männern und Frauen, guten und bösen. Sie waren alle nackt. Man sah es an den Bildern. »Das kann nicht christlich sein, Bub!« fuhr sie erschrocken auf und riß die Hände weg, als hätten sie in ein Schlangennest gegriffen, wollte das Buch verbrennen und mit ihm auch die anderen Bücher. Doch da stellte sich Thomas entgegen, nein, nicht mehr Thomas, ein junger Mann stand da, um einen Kopf größer als sie, auch stärker, wenn es sein mußte, stand vor der Weltgeschichte und breitete die Arme aus und würde eher sterben, als sie verbrennen lassen.
»Es gibt keine Götter, gibt nur einen Gott«, predigte Brigitte und nahm alles zur Hilfe, um es ihn glauben zu machen. Sie streichelte seine Wangen, küßte seinen Mund, bettelte mit aufgehobenen Händen und machte sich so arm und klein dabei, daß er schon deshalb gar nicht anders konnte und nachgab. Es war ein jammervoller Sieg, den Christus da erlitt. Thomas schwur feierlich, daß er kein griechischer Held werden und keine griechischen Götter anbeten wird, daß er ein Christ bleiben und am nächsten Sonntag sogar in die Kirche gehen will. Er las aber weiter in der Weltgeschichte und hat die Bibel niemals mit solchem Eifer gelesen. Brigitte hatte es eigentlich anders gemeint und dachte schon daran, die Bücher heimlich zu verbrennen. Aber das wagte sie doch nicht, und so blieb der Welt ihre Geschichte erhalten.
Das Leben ließ sich härter an als je. Die Währung sank, und die Preise stiegen. Es war dem einfachen Verstand nicht klar zu machen. Man wurde ärmer an jedem Tag und rechnete mit Zahlen, die kein Sinn mehr fassen konnte. Hundert ist ehedem ein stattlicher Besitz und eine solide Sicherheit gewesen. Heute flogen die Tausender wie Spreu herum. Man blätterte sie achtlos hin, hörte schon mehr und mehr von Millionen reden und kam sich wie ein Größenwahnsinniger vor, der mit den Händen im Sand wühlt und ihn für echtes Gold hält. Es war niemals leicht, Hunderte und Tausende zu verdienen; Millionen aufzubringen schien schlechterdings unmöglich. Die Zahl bedrückte, auch wenn die Last kaum größer wurde. Man schauderte. Man hatte Angst. Es gab da eine Grenze, die man nicht überschreiten durfte, und sie war schon überschritten. Vermögen kamen wie die Flut und gingen mit der Ebbe.
Herr Stein war das Gerücht der Gasse. Er wackelte. Man wußte schon, wie es gemeint war, und begnügte sich damit. Man brauchte gar nicht zu wissen, daß er an einem Petroleumgeschäft in Galizien den halben Reichtum verloren hatte, daß er mit vielen Millionen einem Schwindler aufgesessen ist, ein Fuchs dem andern also, und daß er bei dem Versuch, sich durch ein Börsenmanöver zu retten, beinahe um den Rest seines Vermögens gekommen wäre. Man legte keinen Wert auf dieses Wissen. Er wackelte. Das klang lustiger und wurde besser verstanden.
Brigitte konnte nicht schlafen und nicht essen und wagte kaum zu atmen aus Furcht, es könnte ihr heute oder morgen selbst die Luft zu wenig werden. Jedes Stück Brot, das sie abschnitt, kam ihr wie ein Diebstahl vor. Jeder Tag, an dem sie nicht müder wurde als gestern, schien ihr vergeudet. Jede Nacht, die sie im Bett zubringen mußte, dünkte ihr ein Verlust an Zeit und damit an Verdienst. Jedes Lachen wurde zum Vorwurf, jedes Gebet zur Bitte um Arbeit. Das Gerücht lag wie ein Alp auf ihr. »Er soll schon Schulden machen, ... soll keine reinen Hände haben, ... soll angeklagt werden ... und überhaupt schon sitzen.« Das war Lüge. Herr Stein fuhr immer noch im Auto, rauchte immer noch seine Havanna und ließ sich nichts merken, gar nichts. Aber es täuschte keinen mehr. Gerüchte sind wie Vögel, die vor dem Unwetter flüchten. Sie fliegen den Ereignissen voraus und irren selten.
Thomas stak in den Perserkriegen und erlebte große, herrliche Dinge. Er konnte diese Welt des Kleinlichen schon deshalb nicht begreifen. Er verstand auch die Mutter kaum. Wie hätte sie ihn verstehen sollen?
Mitte September kam Rese zurück, wenn auch nur so weit, daß sie wieder in ihrem Bett lag, mit am Tische saß und die Türen zuschlug. Ihre Seele war in Böhmen geblieben. Dort hatte Rese eine eigene Stube gehabt. Sie war viermal zehn Schritte groß und so niedrig, daß Rese mit den Fingerspitzen gerade noch die Decke erreichen konnte, was ihr merkwürdigen Spaß bereitete. Die Möbel sind aus natürlichem Holz gewesen. Rese meinte wahrscheinlich: ohne Furnier. Die Stube hatte drei Fenster und einen Balkon. Auf dem Balkon standen Blumen. Und zwischen den Blumen durch konnte man auf die Gasse sehen. Dort wuchs auch noch Gras, nicht viel, aber die Gänse wurden doch satt davon. Die Stube lag unter dem Dach, und das war das Schönste an ihr. Rese hatte in Böhmen auch einen Hund, der mit ihr spazieren ging, und einen jungen Mann, der es gern getan hätte, sich aber nicht traute. Er war ein Student und mußte noch vieles lernen, vor allem daß man ein Fräulein aus Wien nicht nur anglotzt, sondern auch grüßt und ... Aber das konnte ihm Rese unmöglich selber sagen. Und er wußte es nicht.
Schurli war ein fertiger Mann dagegen. Er kriegte sogar schon jenen Schatten auf der Oberlippe, aus dem später ein Schnurrbart wird. Er trug auch immer einen Spiegel in der Tasche und beschaute sich jede Weile, um diesen denkwürdigen Augenblick ja nicht zu versäumen. Die Schule hatte er glücklich hinter sich. Sie ist ihm nie mehr als eine Strafanstalt gewesen, in der man seine freie Zeit versitzen muß. Die Erfolge waren auch darnach. Doch das bedrückte keinen. Schurli war nicht darauf angewiesen. Er wurde Lehrjunge bei seinem Vater, flickte Stiefel, benagelte Absätze und wunderte sich, wie schwierig es war, einen ordentlichen Doppler in die Welt zu stellen. Das genügte dem Vater, und so mußte auch der Meister damit zufrieden sein. Es ging hier nämlich um andere Dinge. Über dem Schusterladen stand ein besonderer Stern, werden bald zwei Sterne stehen, und das gibt beinahe schon einen richtigen Himmel. Wenzel Vostal, der ältere Bruder, hatte auch auf diesem Stockerl angefangen, ist auch ein miserabler Schuster gewesen und war heute eine Fußballgröße von internationaler Bedeutung. Er wurde die Bombe genannt und stand in den Zeitungen fett gedruckt neben Staatsmännern und Raubmördern. Und was der Wenzel gekonnt hat, das mußte Schurli auch können. Man begreift also, daß es hier um ein anderes Leder ging, und daß Vater Vostal keinen Wert darauf legte, aus diesem Sohn einen tüchtigen Schuster zu machen. »Man muß mit der Zeit gehen«, sagte der Alte, und Schurli lief ihr bereits voraus. Er war Viennamann geworden und hat vorigen Sonntag sein erstes Goal geschossen. Das mußte auch Rese imponieren.
»Wenn du eine Karte willst, wir spielen morgen gegen Rapid«, großmaulte er und legte die Achseln aus und schob die Oberlippe vor.
»Mich interessiert die Kinderriege nicht«, ärgerte ihn Rese, nahm aber doch die Karte an.
Thomas ging mit. Er mußte draußen bleiben und durch ein Astloch in der Planke schielen. Es freute ihn schon deshalb nicht. Er sah immer nur dann etwas vom Spiel, wenn sich der Mann drinnen nach rechts neigte und die Frau vor ihm ein bißchen links hinüberrückte, was höchst selten geschah und meistens dann, wenn überhaupt nicht viel zu sehen war. Thomas zog also wieder ab. Rese hatte einen Sitz in der zehnten Reihe und saß auf den Zehen, müßte man sagen, denn sie wollte nicht kleiner sein als der Herr daneben, und das ging nur, wenn sie sich bloß beiläufig setzte. Rese hatte in Böhmen ein neues Kleid bekommen und war eine Dame darin geworden, eine junge, das versteht sich, und eine hübsche, das wußte auch Schurli. Er legte sich schon deswegen ins Zeug und machte Unmögliches wirklich: Er war überall gleichzeitig. Er hatte Flügel, hatte keine Beine und keine Arme, sondern vier Flügel und flatterte damit. Sein Gesicht glühte wie ein Koksofen. Seine Augen schmissen Blitze. Die Welt hätte mit ihm versinken können, er würde es nicht bemerkt haben, denn seine Welt war der Ball und der Sinn seines Lebens ein Goal. Er hatte unverdientes Pech. Er schoß an diesem Tag so stümperisch daneben, daß ihn seine eigene Mannschaft bald geprügelt hätte. Rese gönnte es ihm. Er war anmaßend und für einen Schusterbuben viel zu eingebildet.
In der Pause trompetete eine Musikkapelle. Es war wunderschön. Doch Rese hörte nichts davon. Der Herr neben ihr hatte sie angeredet, hatte sie mit »liebes Fräulein« angeredet und dazu gelächelt, wartete ihr auch noch mit Zuckerln auf und war überhaupt so, daß sie sich fürchtete, angenehm fürchtete. Er hielt sie offenbar für älter, und sie war erst dreizehn. Die Musik verstummte. Rese griff schnell noch einmal in die Düte und bedankte sich.
Dann traten die Großen an, die Männer, fühlte Rese und kriegte Herzklopfen. Es war kein Spiel. Es wurde Kampf. Und sie kämpfte mit. Sie ließ keinen Blick von der Bombe und hatte sich im Nu versehen. Das war es, nicht der Schurli und nicht der Student, das hier war ein junger Mann, ein großer, starker junger Mann, nicht Schurli, der in der Kinderriege spielte, und nicht der Student, der bleich wie ein Käse gewesen ist und sich nicht getraute. Wenzel war das Ideal. Er schoß auch gleich ein Goal und wußte sicher nicht, daß er mit diesem Schuß in der zehnten Reihe oben ein Herz getroffen hatte, ein dummes, zitterndes Mädchenherz, in dem er fortan wohnte wie Gott in seiner Kirche, und in dem er längst zu Hause war, noch ehe er es kannte.
Rese schnitt sein Bild aus der Zeitung und trug es beständig mit sich herum. Sie schlief auch damit. Es tat ihren Träumen nicht gut. Aber das konnte Brigitte kaum wissen. Sie litt andere Sorgen. Vorlenz hatte geschrieben:
»Liebe Frau.
Es geht mir. Wir essen in der Kantine. Sie kochen nicht schlecht. Nur die Suppen sind zu fett. Ich mag ohnehin keine. Der Lohn ist angemessen. Man wird kein reicher Mann davon. Keiner ist es noch geworden. Ich hab dir meinen Wochenrest geschickt. Es ist nicht groß. Ich kann ihn nur nicht größer machen. Wir schlafen in einer Baracke. Es zieht einem die Haut über die Ohren. Manche haben die Gicht davon. Ich laß mich gern ein bißchen blasen. Es wird einem heiß genug am Tag. Oft hängt mir die Zunge wie ein Fliegenfänger zum Hals heraus. Du brauchst deswegen keine Krämpfe kriegen. Das Bier ist dünn und der Wein so schlecht als teuer. Das Wasser soll recht gut sein. Wir zapfen alle Berge ringsum an. Und da hat man genug davon. Ich denke oft an dich. Es hat nur leider keinen Zweck. Wir bleiben auch im Winter da. Grüß mir die Kinder!
Es umarmt dich
dein Johann.«
Brigitte ließ das Briefblatt sinken und siebte seinen Inhalt durch:
»Es geht ihm gut ... Er hat zu essen und zu trinken ... Von der Arbeit schreibt er nichts, nur so ... Sie wird vermutlich darnach sein ... Er denkt an mich ... Nein, es hat wirklich keinen Zweck ... Wenn er nur bleibt ... Wenn er sich hält ... Ich fürchte jeden Tag, daß er zurückkommt und beleidigt ist, wenn man ihn fragt warum.« Der Wochenrest war lächerlich gering. Er rechtfertigte das Porto kaum. Brigitte hat sich niemals mehr von ihm erwartet, war nun aber doch enttäuscht.
Thomas lag im Bett und wälzte sich herum. Er konnte nicht schlafen. Er hörte Stunde um Stunde schlagen und konnte nicht schlafen. Er preßte die Lider zusammen und sah doch, was er gesehen hatte. Es ist beim Tor geschehen. Er stand und schaute, wie man steht und gafft, ohne Bestimmtes zu denken, ohne etwas zu erwarten. Da kam Phine Stein, kam aus dem Haus gelaufen und lief dem Wagen zu. Thomas hatte eigentlich nur ihre Beine gesehen. Sie staken in seidenen Strümpfen. Man hätte glauben können, sie seien nackt. Sie waren es aber nicht. Man merkt das schon. Thomas schaute genau. Seine Blicke gingen ihm durch. Sie kletterten an den Waden hinauf und ... Er schloß die Augen. Er wollte nicht sehen, was er sah. Er schämte sich vor dem Chauffeur, der auch nicht blind gewesen ist. Phine stieg in den Wagen. Sie war kurz, vielleicht gar zu kurz angezogen. Möglich, daß ein Band gerissen, daß ein Strumpf gerutscht ist. Wie immer, ... Thomas hatte links unter dem Spitzenrand der Hose einen blassen Mond gesehen, von dem er bestimmt wußte, daß er nackt war, nacktes Fleisch, das ihn nun nicht schlafen ließ und wach hielt, wie er es noch nie gewesen ist. Er atmete wie ein Läufer. Seine Wangen waren gerötet. Seine Haare schwitzten. Aber die Lippen lächelten. Sie standen halb offen. Ein Speichelfaden zog sich querüber und zitterte wie eine Saite, auf der ein Liebeskranker spielt. Die Decke hob und senkte sich stoßweise. Die Luft war schwül herum. Brigitte lag wie eine Tote. Ihr Schlaf war Stillstand, war eine Brücke zwischen gestern und morgen, die nur selten ein Traum beging. Rese wurde zur Blume, wenn sie schlief. Niemals ist sie am Tag so schön gewesen, als sie es beim Schlafen war. Die Uhr tickte, um sich munter zu erhalten. Die Zeiger schlichen träge ihren Weg und wußten nicht für wen. Da schreckte Thomas auf, tastete an sich hinab und zog die Hand mit Grausen wiederum zurück, dachte an Blut, wollte schon schreien, blieb aber doch still und lag wie gefällt. Er wartete besorgt, ob einer kommt, ein Geist, der es gesehen hat, ein Finger, der ihm droht, ein Angesicht, das über ihn errötet, wartete lange, schlich sich dann in den Schlaf wie der Dieb in ein Haus und erwachte am Morgen zu neuem Schrecken. Es ist aber nichts gewesen, nur eine sanfte Müdigkeit in den Gliedern und die schleichende Sucht, es noch einmal zu tun und dabei wieder an Phines Beine zu denken.
In dieser Zeit fragte Thomas die Mutter:
»Wieso bin ich eigentlich da?«
»Gott hat den ersten Menschen erschaffen und schafft mit jedem Menschen wieder einen Menschen«, stammelte Brigitte und bekam es heiß und kalt über den Rücken.
»Aber wie?« wollte Thomas wissen. »Und wo?«
»In den Müttern. In mir. Da. Unter dem Herzen. Da bist du gewesen. Aus mir bist du geworden. Und deshalb bin ich deine Mutter, ... bist du mein Kind.«
»Und warum ist der Vater mein Vater?«
»Weil er mein Mann ist.«
»Was heißt das?«
»Wir haben einander lieb, und da wird ein Kind daraus, ... sind zwei Kinder geworden.«
Thomas hatte genug. Er zog die Lippen ein, setzte sich an ein Buch und blätterte darin. Er wußte doch, was von dieser Liebe zu halten war. Die Mutter log. Es konnte gar nicht anders sein. Der Vater war ein Mann, der in das Wirtshaus ging und sich betrank, war ein Dieb, auch wenn er nicht eingesperrt worden ist, war ein Lump und wird es bleiben. Und nun diese Lüge von der Liebe und dem, was daraus wurde, er, Thomas, der Sohn dieses Vaters! Er hatte genug, von sich und allem genug. Ein Ekel faßte ihn, ein Lebensekel, der ganz anderswo herkam, als er meinte. Thomas war auf der Flucht vor sich selbst. Ein Teufel machte ihn besessen. Er peinigte seinen Körper und zwang seinen Willen, zu tun, was er in dieser Nacht getan hatte. Es war ein Spiel der Lust, begann mit Scham und endete mit Reue. Thomas legte Hand an sich. Er hatte aufgehört ein Kind zu sein und war doch noch kein Mann.
Vorlenz lebte sich ein. Er wurde wieder Junggeselle und ließ sich nichts abgehen, aber schon gar nichts. Er fing mit der Tochter eines Korbflechters ein Verhältnis an, war nicht der Einzige bei ihr und rächte sich, indem er auch die Mutter nahm, wenn die Tochter gerade bei einem anderen schlief. Die Frau hatte überdies den Vorzug, daß sie die besten Schnäpse ansetzte und auch sonst für ein anständiges Picknick in ihrer Kammer sorgte, wenn der Korbflechter in die Weiden ging, wie man sagte. Vorlenz fand überhaupt, daß die Sitten auf dem Lande ebenso locker waren als in der Stadt. Er wunderte sich nur, daß bei Brigitte alles anders wurde, daß sie das Leben wie einen Buckel trug und daran litt. Er hätte sich noch hundertfünfzig Jahre dazugewünscht, jenes bißchen Kleingeld vorausgesetzt, das notwendig ist, um sich obenauf zu halten. Es war eine verflixte Sache, eine köstliche, famose Sache mit dem Geld.
Brigitte hatte geschrieben:
»Lieber Mann.
Es hat Gott gefallen, dem Herrn Stein sein Geld zu nehmen und ihn arm zu machen. Das ist traurig, und man soll sich nicht darüber freuen. Phine hat zu einer Tante nach Deutschland fahren müssen. Fräulein Lola ist entlassen worden. Das Haus kann ihm nicht fortgetragen werden. Man weiß nur nicht, wieviel noch ihm gehört. Herr Stein ist nach Paris gereist. Es soll dort leichter sein, Geld zu verdienen und wieder reich zu werden. Ich wünsch es ihm und mir. Ich bin um die Bedienung gekommen und weiß nun nicht, wovon wir leben werden.
Es grüßen dich die Kinder
und Brigitte.«
Das war eine Nachricht! Vorlenz schnalzte immerfort mit der Zunge, schnippte mit den Fingern und wiegte sich wie ein Tänzer, der auch im Gehen tanzen muß. Er war vergnügt, pfiff bei der Arbeit, schmunzelte bei den Mahlzeiten und lächelte sogar im Schlummer. Sein Glück war ohne Beigeschmack. Er hatte Arbeit und verdiente, schickte Geld nach Hause, wieder einen Wochenrest, nicht groß, nicht viel, doch ehrliches, verdientes Geld. Man war mit ihm zufrieden. Er wäre sonst nicht avanciert. Er wurde einem Bohrer zugeteilt. Es war gefährlicher dort, wurde aber besser bezahlt. Man konnte nur gute Leute dazu brauchen, verläßliche vor allem. Und man konnte sich auf ihn verlassen. Er stellte seinen Mann. Er trug eine schwarze Brille, trug sie wie eine Auszeichnung und verachtete jeden, der mit nackten Augen sehen mußte. Er war nicht der Erste, doch es kamen noch viele hinter ihm. Dieser Stein aber mußte nach Paris fahren und dort betteln gehen.
Die Wahrheit sah ein bißchen anders aus und hätte Vorlenz kaum so gut gefallen. Salomon Stein fuhr erster Klasse Luxuswagen nach Paris, stieg im Hotel Ritz ab und mietete zwei Zimmer, was Bettler in der Regel unterlassen. Er spielte an der Börse, spielte wohl auf Leben oder Tod, aber das konnte keiner wissen und dieser Johann Vorlenz am allerwenigsten. Auch Phine aß kein Gnadenbrot. Die Tante in Deutschland hatte ein großes Gut mit einem schönen Schloß und einem ganzen Dorf von Häusern ringsherum, hatte einen erwachsenen Sohn, der sich dort langweilte und die Kusine von der Bahn abholte. Er hieß Georg und ist im Krieg Leutnant geworden. Phine ging in das sechzehnte Jahr. Und so dürfte diesem Georg geholfen sein. Fräulein Lola mußte wohl entlassen werden, doch es war ihr Schaden nicht. Sie kriegte so viel Geld, daß sich die Männer darum rissen, ihr Mann zu werden.
Brigitte wurde härter getroffen. Winter war, und sie stand ohne Arbeit da. Vorlenz hatte freilich wieder einen Wochenrest geschickt, doch der war kaum der Rede wert. Es wird auch niemals mehr geschehen. Sie kannte ihren Mann. Er tat sich vor allem einmal selber leid. Dann erst kamen die anderen. Und da war meistens nichts mehr übrig. Thomas ahnte Schlimmes kommen und zog sich auf seine Bücher zurück. Rese nahm alles gleichmütig hin. Sie ging zu Frau Grießner, wenn sie Hunger hatte, und wollte überhaupt nicht länger bei der Mutter bleiben, als bis sie groß war und selbst verdiente. Groß wurde man hier mit vierzehn und verdienen konnte man mit fünfzehn Jahren. Ihre Zeit war also bald um. Brigitte verkaufte einen Kasten. Er war gut erhalten und brachte immerhin soviel, daß alle davon leben konnten, eine Woche, wenn sie Fleisch aßen, und zwei Wochen, wenn es beim Gemüse blieb. Sie lebten drei Wochen davon. Es gab wohl nur Sterz und Bohnen. Der Sterz war trocken und staubte, und die Bohnen muffelten. Sie sind dem Greißler verdorben, waren aber hier noch gut genug. Thomas nährte sich vom Hungern. Man kann es nicht anders sagen. Er hatte allgemein nur wenig Appetit, und der stand kaum nach Sterz und Bohnen. Brigitte würzte sich die Mahlzeit durch ein Vaterunser vor und eines nach dem Essen. Sie brauchte bloß die Hände zu falten und die Lippen zu bewegen und war auch schon in jene Welt entrückt, in der es gleichgültig ist, was einer hat und was ihm fehlt. Rese zeichnete einstweilen mit der Gabel die Rillen in der Tischplatte nach. Thomas starrte auf den leeren Fleck an der Wand und dachte an das Bild. Es war auch nicht mehr da. Nach dem Kasten wanderte ein Bündel Wäsche ins Versatzamt. Man hatte keinen Platz dafür. Es war gewiß nur eine Ausrede, half aber doch über die Verlegenheit hinweg. Brigitte schlich damit fort, als hätte sie die Sachen bei sich selbst gestohlen. Sie waren alt und schleißig. Der Mann am Schalter wollte sie nicht nehmen. Brigitte schluckte und würgte. Aber die Dinge wurden durch ihre Tränen nicht besser.
»Es ist das Letzte«, keuchte sie. »Wir haben sonst nichts mehr.«
»Nächste Nummer!« rief der Beamte und schob das Bündel beiseite. Er hatte sein Herz mit Blech beschlagen und hätte anders diesen Dienst schon längst verweigern müssen. Hier gab es kein Erbarmen. Hier war jeder arm. Brigitte taumelte zur Seite, krampfte die Hände über dem Bündel zusammen und murmelte abwesend von einer Angst befallen, die sie alles um sich her vergessen ließ:
»... nichts mehr, ... das Letzte ...«
Da tippte ein Nagel auf ihre Achsel, winkte ein Finger, lockte sie aus der Halle in eine Tornische, wurde ihr das Bündel weggenommen und durchgemustert.
»Schlechtes Zeug, ... niemals gut gewesen ... und noch schlechter geworden.«
Das war Judas. Brigitte erkannte ihn sofort. Er hatte rote Haare und einen triefenden Mund. Er hatte Christus verkauft und wollte nun auch sie verschachern. Aber das sollte nicht werden, das durfte ihm nicht wieder gelingen. Brigitte ließ das Bündel sein und suchte nur sich selber zu retten. Der Jude mußte ihr nachlaufen, nahm von dem bißchen Geld, das er geboten hatte, noch schnell einen Schein zurück und gelobte bei seinem Leben, daß er noch nie so teuer gekauft und daß er es nur aus purem Mitleid getan hatte. »Mit fünfundsiebzig Prozent Gewinn«, lachte seine Seele und freute sich, weil sie wieder einen Christenmenschen betrogen hatte.
Es wurde eine schlimme Woche. Die schlechten Bohnen waren aufgegessen und die guten kamen zu teuer. Blieben noch Kartoffeln. Die aßen alle gern, doch nur Kartoffeln, täglich nichts sonst als Kartoffeln hat noch keiner gern gegessen. Der Ofen hatte es gut. Er wärmte bloß, wenn er seine Kohlen kriegte, und war tot, wenn man ihm nichts zu fressen gab. Ein Waschtag fiel vom Himmel. Er bedeutete Suppe, Wurst und Kohl. Es war ein Fest, das erste seit vielen Wochen und das letzte auf lange Sicht. Der Winter ließ nicht locker. Und so wurde auch der zweite Kasten weggeführt. Sein Inhalt kam in eine Kiste. Auf ihr war eine Flasche gemalt, stand das Wort »Vorsicht« zu lesen. Thomas mußte immer an den Vater dabei denken, und das waren schlechte Gedanken. Rese empörte sich offen: »Wie komm ich denn dazu, daß ich hier wohnen muß, daß ich verhungern soll? Ich hab doch nichts getan.« Sie hatte recht. Brigitte schwieg. Es gibt kein Wort, das Mütter ihren Kindern sagen könnten, wenn sie mit ihrem Los nicht einverstanden sind, weil es zu hart, zu ärmlich ist; es gibt keinen Grund, der die Eltern vor den Kindern entschuldigt, wenn es einmal so weit kommt, als es hier geschehen ist. Brigitte schwieg, biß sich die Lippen blutig und weinte ihr Herz hinab, das sich kaum noch zu schlagen getraute, um nur ja keinen Lärm zu machen. Thomas wich ihr aus. Er wollte sie nicht an seine Anwesenheit erinnern. Als ob das eine Mutter je vergessen könnte! Er wäre am liebsten fortgegangen und nicht wiedergekommen. Aber dazu fehlte ihm der Mut. Es war kalt, und er verkühlte sich so leicht. Er tat, was er tun konnte, doch damit war für den Augenblick fast nichts getan. Seine Lehrer waren mit ihm zufrieden. Nur in der Mathematik stand es schlecht. »Er hat keinen Sinn für die Wahrheit, denn die liegt in der Zahl, und er ist für das Ungenaue, ... Ungewisse, ... Nebelhafte, ... Phantastische«, erregte sich ein Pedant, der seine Welt schon ausgerechnet in der Tasche hatte und zornig wurde, wenn sich einer an die wirkliche hielt. »Er schreibt die besten Aufsätze und wird noch ein Dichter werden, ... der Arme«, bedauerte und lobte der Deutschlehrer in einem. Der Rechenkünstler irrte. Thomas hatte den größten Respekt vor Zahlen und jener fürchterlichen Wahrheit, die hinter ihnen steckte. Zwei Kasten waren schon fort, und jetzt folgte die Kredenz. »Küche haben wir ohnehin keine«, scherzte Brigitte und versuchte zu lächeln. Doch sie hatte es verlernt. Sie zog nur die Lippen auseinander und zeigte die Zähne, meinte damit fröhlich auszusehen und sah nicht, was sie Grauenhaftes machte. Ihr Gesicht war klein und mager geworden, hatte alle Farbe verloren und blieb unbewegt, was auch geschah. Es war kein Spiegel mehr, ist eine Maske aus Stein geworden, an der noch gearbeitet wurde, in die jede Nacht eine neue Kerbe grub und jede Sorge einen neuen Schatten legte.
Vorlenz hatte eine Ansichtskarte aus Sankt Pölten geschickt. Die Nachricht war dürftig:
»Von einem Ausflug ins schöne Traisental
Dein Johann.
Näheres mündlich.«
Brigitte war in der Geographie nicht fest genug, um sich zu verwundern. Thomas aber fragte:
»Was macht er denn in Sankt Pölten?«
»Einen Ausflug««, wiederholte die Mutter und dachte vor allem an das viele Geld, das er kostete, und wie es ihnen not täte, bitter not. Dann erst stieß ihr auf: »Näheres mündlich? ... Das heißt doch, daß er kommt, daß er schon auf der Fahrt ist, daß ... daß er Urlaub hat««, belog sie sich selbst und hatte Mühe, nicht zu zeigen, wie wenig sie daran glaubte.
Es verging Woche auf Woche, und die Karte wurde vergessen. Brigitte ließ sich treiben, wartete untätig, was noch geschah und wovon sie leben werden.
»Jetzt haben wir nichts mehr.« sagte sie so sonderbar, als könnte das auch eine Freude sein. »Der Tisch ist noch da und die Sessel, die Betten und das Bild. Dann haben wir nichts mehr.«
Thomas erschrak. Ihre Stimme klang zerbrochen von den kahlen Wänden zurück und machte frieren. Ihr ganzes Wesen war ihm unheimlich und fremd geworden. Ihre Hände schrieben dunkle Zeichen in die Luft. Ihre Füße gingen einen leisen, schlürfenden Gang. Ihre Augen funkelten. Und jetzt, ... jetzt stand sie auf, wartete eine Weile und schaute verschüchtert um sich, als ob da einer horchen könnte, und kam dann gehuscht, wie Kinder sich verstecken, holte Thomas an sich und flüsterte verzückt:
»... nichts, nur den Himmel, ... ein Haus, ein liebes, kleines Haus mit einem Garten herum, ... eine Stube für mich, eine Stube für dich und eine Wiege ... Ja, höre nur! ... eine Wiege ... Er hat es verraten, ... Gott hat es ... Heute nacht, im Traum ist er mir erschienen und hat gesagt: Du bist Maria und wirst einen Sohn bekommen.«
Thomas rückte ab, als ob sie giftig wäre und er an ihr sterben könnte, lief an die Stiege, sprang ein paar Stufen hinauf und griff nach der Klinke. Da rief ihn die Mutter an, rief ihn zurück, schüttelte ihren Kopf und schaute verwundert drein.
»Was denn?« fragte sie wach und wie immer, hatte alles vergessen, wußte kein Wort ihrer Rede und hatte doch nicht geschlafen und konnte also auch nicht geträumt haben. Es geschah dann öfter, daß sie stundenlang auf dem Schemel saß, den Fußboden anstarrte und glückselig lächelte, als würde sie auf einer Wiese sitzen und mit ihren Blicken unsichtbare Blumen pflücken.
Eines Tages nun stand Vorlenz unerwartet in der Türe. Brigitte meinte sein Gespenst zu sehen und fürchtete sich.
»Morgen, Mutter!« lachte er breit und saftig und schwankte herab. Es war drei Uhr nachmittags und der Gruß verdächtig. Sie umarmten einander. Vorlenz gab es nicht anders, patschte Brigitte den Rücken ab und kam immer tiefer dabei. Thomas reichte stumm die Hand.
»Und Rese?« fragte der Vater streng, als würde sie ihm vorenthalten.
»Weiß nicht«, zuckt der Bruder mit den Achseln und machte keine Miene, sie zu holen. Vorlenz griff in die Westentasche, wuschelte ein paar Scheine heraus und blätterte sie achtlos hin.
»Da! Einen Liter ewiges Leben, daß ich mir die Gurgel wasche!«
Thomas ging darum und war froh, hier fort zu kommen.
»Schaut wurmig aus, der Junge«, redete ihm Vorlenz nach und wiegte bedenklich den Kopf.
»Er ißt nicht, ... hat auch nicht viel.«
»Und Rese?« lenkte Vorlenz ab.
»Die wird dir gefallen«, sagte Brigitte beinahe heiter.
»So? ... Ist es so weit?« lachte der Vater und strich sich das Kinn. Er war glatt rasiert, auch sonst nicht übel.
»Hast du Urlaub?« rückte sich Brigitte näher hin.
»Das gerade nicht.«
»Was denn?«
»Laß mich erst richtig sitzen! Laß dich anschauen vor allem! Bist noch ganz passabel, bist nicht jünger geworden, aber das ist immer so: Wenn man eine Rose nicht begießt, dann geht sie ein.« Er fand den Witz ausgezeichnet, ließ sich aber nicht stören und tat seinen Sinnen wohl, Brigitte anzugreifen und abzuklopfen.
Da kam Thomas mit dem Wein. Brigitte brachte Gläser. Vorlenz schenkte ein.
»Und Rese?« fragte er zum drittenmal, jetzt schon beinahe drohend.
Thomas ging nun doch, um sie zu holen, ging aber bloß über die Stiege hinauf und ließ sich dann Zeit, lange Zeit.
Vorlenz stieß mit Brigitte an.
»Prost, Mutter! Einmal gehts noch.«
Brigitte trank mit Widerwillen.
»Bist mir treu geblieben?« kniff er sie derb in die Seite und rieb sich lüstern an ihr. Brigitte wußte nicht ein, noch aus. Sie hatte Hunger und mußte trinken. Sie war voller Tränen und sollte lachen. Vorlenz füllte gleich wiederum sein Glas, trank es auf einen Zug leer, schielte über den Rand weg und fragte höhnisch:
»Die sind also fertig da oben?« Er stellte das Glas handfest auf den Tisch und leckte sich saugend die Lippen. Dann lachte er, schüttelte sich, als tanzte jeder Nerv eine Polka in ihm, und lachte, daß es gellend von Wand zu Wand sprang und wie ein Platzregen von der Decke prasselte. »Fix und fertig? Kein Stein auf dem anderen? Das Auto futsch? Die Tochter fort? Und keine Lola mehr, um sich das Bett zu wärmen?« Er konnte nicht aufhören zu lachen, obwohl ihm schon die Augen überliefen und ein Husten in die Quere kam.
»Wir haben von ihnen gelebt«, seufzte Brigitte, um ihn zur Vernunft zu bringen. Aber da kam sie schön an. Vorlenz reckte und blähte sich. Er ist doch nicht mit leeren Händen gekommen. Er hatte große, ausgreifende Pläne und die besten Aussichten, sie zu verwirklichen.
»Da war einer unter uns,« begann er aufdringlich, »der sich in Afrika auskennt wie eine Betschwester im Rosenkranz. Und der hat erzählt, daß der weiße Mann dort noch ein Herr ist, nicht weil er Geld hat oder sonst etwas gilt, sondern bloß, weil er weiß ist. Und das bin ich doch, wenn ich mich sauber halte und nicht mit der Seife sparen muß.«
Er war schon vom Trinken rot wie ein Eidamer gekommen, hatte noch immer Durst und trank wiederum ein Glas leer. Brigitte nippte bloß, um ihm eine Freude zu machen, lächelte steif und blickte immerzu ängstlich um sich. »Sieht er denn nicht? Geht ihm rein gar nichts ab? Zwei Kasten sind weg und die Kredenz.« Sie zeigte schon mit den Fingern, hatte schon die Frage auf den Lippen. Und Vorlenz bemerkte nichts. Er schmunzelte und döste seinen kindlichen Einfällen nach:
»Was meinst du dazu?« Brigitte blickte auf. »Wenn wir nach Afrika verduften«. Er konnte wirklich daran denken.
»Gehst du denn nimmer nach Gaming zurück?« stotterte Brigitte und ahnte bereits allerlei voraus.
»Gib doch endlich Ruh damit!« Er war beleidigt und trank wieder, schenkte sich den Rest ein und goß auch diesen noch hinab, saß dann stumpf, den Kopf in eine Hand gestützt und die Blicke auf der Tischplatte kreisend, rülpste und kam so von selber ins Reden: »Bin doch kein Bohrwurm. Will auch mein Bißchen Sonne haben und mich ins Trockene setzen ... Kann es auch nimmer leisten, gibt schon Jüngere als mich ... Mag auch nicht immer ohne dich sein«, schwenkte er galant ab und tätschelte ihre Wangen.
»Da ist schon etwas geschehen«, wußte Brigitte und wartete darauf. Es dauerte nicht lang. Vorlenz stülpte die Flasche über dem Daumen um, schlürfte den letzten Tropfen fort, schob dann die Mundwinkel abwärts, biß die Zähne zusammen, zuckte mit den Kinnbacken, schnippste mit beiden Daumen und legte seine Worte wie Angeln aus:
»Weißt du, was Hunger ist?« Das hätte er nicht fragen müssen.
»Wir haben oft genug nicht einmal Brot gehabt«, nickte Brigitte und zeigte wieder mit den Fingern auf die leeren Wände.
»Falsch«, winkte Vorlenz ab und klärte sie übertrieben heftig auf: »Wenn man Tag und Nacht schuftet und doch nicht mehr als das Fressen zusammenbringt, ... wenn nebenan Geld ist, viel Geld, ... wenn man es mit eigenen Ohren hört, mit eigenen Augen sieht, ... dann kommt der Hunger, ... dann kann man nicht essen und nicht trinken, ohne an das erbärmliche Geld zu denken, ... kann man nicht schlafen, ohne es zu stehlen, ... im Traum, versteht sich.« Er beugte sich weit über den Tisch und fragte gierig: »Hast du noch nie so einen Hunger gehabt? oben beim Stein, als er noch der Herr Stein war und da kein Brot im Hause gewesen ist?«
»Nein«, schwur Brigitte. »Und wenn er einmal kommen sollte, dieser Hunger, dann will ich lieber sterben als ein Dieb werden.«
»Bravo!« klatschte Vorlenz in die Hände und streute die Flasche über den Tisch, daß sie auf dem Boden zersplitterte. »Das hab ich mir immer gesagt. Das war auch mein Einmaleins. Aber der Hunger, siehst du, der Hunger, von dem ich da rede, der steigt nicht aus dem Magen, der greift sich nicht an den Kopf, der kommt aus den Händen, springt aus jedem Finger und greift zu, man braucht gar nicht dabei zu sein.«
Brigitte stand auf, trat einen Schritt zurück, lehnte sich an die Wand und fragte tonlos, jedes Wort ein Stoß aus ihren Lungen:
»Was ist denn wieder? Hast du ..., hast du vielleicht schon wieder ...?«
»Ich?« gröhlte er. »Behüte! Ich hab genug von der Gerechtigkeit. Mich kriegen sie nimmer. Ich bin nur ...,« er winkte sie näher, »... bin nur dabei gewesen, hab keine Hand gerührt, bin nur dabei gestanden und hab zugeschaut. So. Wie man schaut, daß niemand kommt. Nicht mehr. Behüte! Ich habe genug.«
»Du bist doch fort, ... willst nimmer hin.«
»Weil man sie erwischt hat, die andern. Weil in der Bauhütte ein Signal war. Und weil ich nicht so dumm bin, als die gewesen sind.«
Thomas kam mit Rese. Sie sprang dem Vater an den Hals und küßte ihn. Er fingerte sie ab und mußte der Mutter recht geben.
»Bist ein feines Ferkelchen, Mädel! Mein Glücksferkelchen!« lallte er und hatte wahrscheinlich selber keine Ahnung, was er damit sagen wollte. Brigitte brachte ihn zu Bett. Er mußte schlafen, sich ausschlafen.
»Vater ist müde, von der Reise müde«, log sie den Kindern vor und machte sich nur lächerlich damit.
»Betrunken ist er«, fuhr Thomas auf und wendete sich angeekelt ab.
»Lustig ist er«, fand Rese und war stolz, seine Tochter zu sein.
Vorlenz schlief bis zum Nachtmahl, verzichtete großmütig auf die Bohnen, machte sorgsam Toilette, kämmte besonders den Scheitel sauber und erzählte so nebenbei:
»Du brauchst keine Angst zu haben. Die Sache ist schon gedeichselt. Zwei sind eingesperrt, und ich bin frei gegangen. Haben kein Glück bei mir, diese Justizhunde.«
Vorlenz war schlecht auf das Gericht zu sprechen, obwohl gerade er keinen Anlaß dazu hatte, denn der Plan, die Bauhütte aufzubrechen und die Kasse anzubohren, ist von ihm ausgeknobelt worden. Aber die Komplizen haben dicht gehalten, und ihm selber konnte nichts bewiesen werden. Er war in der Nähe. Das wurde nicht geleugnet. Ein Bauer hatte ihn gesehen, und dieser Bauer war nicht blind. Doch es konnte auch Zufall gewesen sein. Und Vorlenz stützte sich darauf. Er ging spazieren, wie man so geht, und ist in die Nähe der Bauhütte geraten, wie man so gerät. Der Weg war nicht verboten. Schließlich ist ihn auch der Bauer gegangen. Selbst das Stehenbleiben war nicht untersagt. Blieb nur der Schuß. Es wurde nämlich auch geschossen. Der Nachtwächter blutete am rechten Knie, und das ist ein Beweis, der für sich selber spricht. Nur der Bauer hatte nichts gehört. Sag einer, wie das zugegangen ist! Waffe wurde keine gefunden. Vorlenz schwur, daß er es nicht war, schwur bei Gott und dem Teufel und hielt von beiden gleich viel. Er hatte zweimal geschossen und dann den Revolver weggeworfen. Der Bauer mußte über ihn gestolpert sein, ist es wahrscheinlich auch. Man hat aber seine Tasche gar nicht untersucht. Und so konnte Vorlenz nichts bewiesen werden. Die zwei anderen Halunken kriegten jeder ein Jahr aufgetippelt. Es mag ihnen übel bekommen. Doch das ist nun einmal Risiko. Vorlenz ging frei und hätte auch zurück nach Gaming gehen können. Er hatte aber keine Lust mehr und ist lieber nach Hause gefahren.
Brigitte atmete erleichtert auf. »Er ist entkommen.« Das war alles, was sie denken konnte, alles, was sie dabei fühlte.
Vorlenz ging, um seine Rückkehr einzuweihen. »Man hat nicht täglich einen großen Herrn zu feiern, der klein geworden ist, so klein«, zeigte er und überragte Salomon Stein von den Knien aufwärts.
Brigitte räumte die Teller fort. Rese verzichtete auf die Bohnen. Sie hatte sich ein Stück Wurst gekauft. Frau Grießner gab ihr Geld. Die brauchte nicht zu sparen. Ihr Mann verdiente, und sie stickte noch zum Überfluß. Brigitte hatte keine Arbeit, und Vorlenz trank. Thomas kaute sein Brot und wurde ewig nicht fertig damit. Dann las er, und dann legte er sich nieder, lag über eine Stunde wach und fragte dann erst, ohne den Kopf zu drehen und fast auch ohne die Lippen zu bewegen:
»Weißt du, warum er zurückgekommen ist?«
»Weil sie zu Ende sind, und weil er wieder einmal daheim sein möchte.«
Brigitte hatte aufgehört, die Lüge für eine Sünde zu halten. Was gilt auf der Wiese ein Halm? ein Tropfen dem Brunnen? Und was kann in einer Welt, die ohne Wahrheit ist, eine Lüge bedeuten? Sie konnte doch unmöglich sagen: Dein Vater ist entlassen worden, weil er eingebrochen hat. Sie durfte auch nicht sagen: Er ist wohl freigegangen, aber ich glaube nicht daran. Wer leben will, muß lügen. Viele haben es anders gemeint und sind daran gestorben. Ob der Tod die Wahrheit ist? Brigitte grübelte nicht. Sie war ein einfacher Mensch und dachte einfache Gedanken.
Es war die letzte Stunde.
Der Deutschlehrer schenkte ihm Schillers Werke in zwei prächtigen Bänden, drückte seine Hand und war gerührt. Der Direktor hielt eine Rede und schloß mit den bedeutsamen Worten:
»... Es ist traurig für uns, solche Schüler entlassen zu müssen. Was würde ein Tischler sagen, wenn man ihn einen Kasten nicht fertig machen läßt? Ein Forstmeister, wenn man einen Baum in der Mitte abhaut, damit er nicht weiterwachsen kann? Ganz so ist einem Lehrer zumute, der einen begabten Schüler bloß deshalb entlassen muß, weil er vierzehn Jahre alt geworden ist und keine Mittel da sind, ihn weiterstudieren zu lassen ...«
Es war eine schöne Rede, doch ihre Worte verwehten und ihr Sinn verging und nichts verblieb, das ihrer Wahrheit Wirklichkeit gegeben hätte. Die Klasse brüllte ein »Servus!«, weil es ein Vergnügen ist mit dreißig anderen zu brüllen, winkte noch einmal und war ihm auch schon fremd geworden, denn sie blieben, und er ging. Ein Freund hatte sich auf den Gang geschlichen und schaute ihm nach. Es tat ihm leid und wohl zugleich. Jeder Abschied greift ans Herz, dieser aber stieg auch in das Hirn. »Jetzt bin ich der Erste«, dachte der Junge, und so denkt kein Freund. Die Glocke klingelte zum letztenmal. Ihr Tönen blieb sich gleich. Dann war es aus. Dann schloß Thomas das Tor hinter sich und ging in die Welt. Sein Gang war unsicher und die Welt ein weiter Weg. Sie konnte sich seit gestern unmöglich geändert haben und ist doch anders geworden. Er kannte jeden Stein in der Gasse und stolperte über einen, dem er jahrelang ausgewichen ist. Er kannte jedes Haus und wußte, wem es gehörte, wieviel Parteien es hatte, und dachte doch zum erstenmal: »Da wohnen Menschen drin.« Es kam ihm komisch vor. Er mußte gleichzeitig an den Vogelkäfig vom Schuster Vostal und einen Hasenstall beim Kohlenhändler denken, und da fiel ihm auf, daß es genau dasselbe war, Hauser wie diese Häuser, nur daß dort Vögel und Hasen und hier Menschen darin wohnten. Ob sie auch gefangen waren? Und wo sie in der Freiheit leben würden? Thomas staunte über sich und diese Menschen. Sie sind immer schon gewesen, und er sah sie doch erst heute. »War ich blind? Oder hat sich doch etwas geändert?« Eines wurde ihm gewiß: Die Welt ist noch lange nicht entdeckt. Thomas kannte den Papierladen nebenan mit allem, was er führte, jedes Stück im Auslagefenster war ihm bekannt, und doch ist ihm noch nie so richtig aufgefallen: »Das ist ein Geschäft. Da bringen die Kunden das Geld, leben die Verkäufer davon.« Alles war plötzlich neu und anders, wurde es vor seinen Augen und brauchte nur ausgesprochen werden. Er wußte vom Herrn Wagner gegenüber, was da einer wissen kann: den Namen, die Adresse, seinen Schnurrbart, seinen Bauch und hat doch nie gewußt, nicht so wie jetzt gewußt: »Er ist ein Fleischer, tötet Tiere und verkauft das Fleisch.« Es war greulich, und Thomas gruselte sich. Aber das hätte er schon immer tun müssen und hat es nicht getan. Der Mann in Uniform, täglich gesehen, täglich wiederum bewundert, ist, so lange Thomas denken konnte, immer ein Briefträger gewesen; aber noch nie ist ihm so unzweideutig klar geworden, daß er wirklich Briefe austrägt, daß er einen Beruf, ein Amt hat. Es war in der Tat, als wäre Thomas bisher blind gewesen, als hätte er wohl Augen gehabt, aber nicht damit sehen können. Die Kutscher auf den Wagen, der Straßenkehrer mit dem Besen, die Milchfrau vor dem Laden und ein Bäcker auf dem Rad, alles Leute, die er immer schon gekannt hat, waren plötzlich keine Leute mehr, sondern wichtige Persönlichkeiten: Kutscher, ohne die kein Wagen fahren, Straßenkehrer, ohne die man im Staub ersticken, und Bäcker, ohne die man wahrscheinlich verhungern würde. Alles, was gestern auch schon da gewesen ist, mehr nebenbei und ohne tiefere Bedeutung, drängte sich heute vor und wurde unentbehrlich, war das Leben selber und mit ihm die Welt. Es gab da einen Sinn, der ihm bis jetzt verschlossen war und der, nun er sich auftat, ängstlich machte. »Ich muß auch etwas werden«, sagte sich Thomas und hatte vordem wirklich nie daran gedacht. Er wollte schon, aber das war ein Witz, war eine Kinderei. Er wollte ein Gelehrter werden und alles wissen. Doch damit war es zu Ende. Das lag bei den Märchen, bei den Ferien und all den guten Dingen, die es nicht mehr gab. Es ist ein Fluch der Schule, dieser eigensinnigen, abgesonderten Welt, daß sie zum Leben steht wie das Licht zur Wärme, das schöne Spiel zum grausamen Zweck. Was nützen da zwei Bände Schiller, noch so prächtig gebunden? eine Rede, noch so schwungvoll gehalten? So lange beim Schultor zwei fremde Welten aneinanderprallen, ebenso lange wird da etwas falsch sein, die Welt oder die Schule oder gar beide. Alles Anderstun ist sträflicher Betrug und ein vergebliches Bemühen. Thomas hatte ein Zeugnis in der Tasche, ein sehr gutes Zeugnis, und das sollte ihm weiterhelfen. Es half aber nicht. Man lobte ihn, tätschelte seine Wangen, klopfte seine Achseln und fühlte sich weiter nicht verpflichtet. Er hatte sich geplagt, hatte seine Aufgaben wie keiner gelöst, hatte gelernt, was es zu lernen gab, ist immer der Erste, der Beste gewesen und stand nun da, als hätte er alles das bloß zu seinem Vergnügen gemacht, vielleicht auch um seine Lehrer zu erfreuen oder gar um dieses schöne Zeugnis zu erhalten, mit dem nichts anzufangen war, gar nichts.
Der Vater wollte einen Kellner aus ihm machen. Aber das ließ die Mutter nicht zu. Herr Grießner war Buchdrucker und hätte sich recht gern für den Jungen verwendet. Doch das konnte Thomas nicht werden. Seine Lungen waren zu schwach. Der Friseur vom Nebenhaus trug sich sogar selber an: »Das Geschäft ist zwar am Hund, aber wo einer nichts zu tun hat, strengt sich auch der Zweite kaum an.« Thomas wollte nicht. Ihn ekelte vor fetten Haaren, schauderte vor scharfen Messern. »Lieber noch ein Schneider«, sagte er und wäre nirgendwo unglücklicher gewesen. Brigitte drängte nicht. Sie hatte einen Plan. Er machte sie unruhig und verlegen. Sie ging viel in die Kirche und ist heute auch in den Pfarrhof gegangen.
»Wenn du willst,« begann sie stockend und leise, »aber nur wenn du willst, mein Kind: Es gibt einen Orden und dort kannst du weiterlernen, kannst Geistlicher werden, sogar Doktor, hat der Herr Pfarrer gesagt.«
Thomas dankte erschrocken.
»Ich kann nicht, Mutter, kann dir diese Freude nicht machen«, schluchzte er ohne Ursache plötzlich auf und warf sich über das Bett, als hätte er Böses getan und müßte sich schämen. Er war erregt und überreizt. Er war es gewohnt täglich in die Schule zu gehen, seine Aufgaben zu bekommen, seine Pflichten zu erfüllen und dann frei zu sein, zu lesen oder sonst etwas zu treiben. Jetzt sind seine Tage leer geworden, standen am Morgen wie Riesen da und rekelten sich, hatten nichts zu tun, keine Hand zu heben, keinen Schritt zu machen, nur zu warten, bis es Abend wurde und nach einer neuen Nacht ein neuer Riese aufstand. »Was soll, ... was kann ich denn anfangen mit mir?« fragte Thomas ohne Unterlaß, trieb sich an wie ein Rad und drehte sich doch immer nur um sich selbst. »Kann ich dir helfen? Soll ich Wasser holen? Brauchst du sonst nichts?« bedrängte er die Mutter und machte sie nervös damit.
»Geh in die Stadt! Lauf dich müde! Schau dir die Auslagen an! Tu dich überhaupt um! Vielleicht ... Man kann nicht wissen ... vielleicht ist doch irgendwo ein Platz und hat auf dich gewartet, Bub. Man kann nicht wissen, kann gar nichts wissen«, hetzte sie sich in eine Rede hinein und hätte ihm gern mehr gegeben.
Thomas lief in die Stadt. Seine Beine konnten nimmer gehen, seine Augen nimmer schauen, seine Lunge nimmer atmen. Die Beine liefen, die Blicke huschten, und die Lunge dampfte. Das Herz, das Hirn, alles trieb ihn zu sinnloser Eile an. Thomas lief durch die Gassen, als wüßte er wohin, schaute nicht rechts noch links, als hätte er ein anderes Ziel vor sich, und lief doch wie ein herrenloser Hund herum, der überall verweilen könnte, weil er nirgends erwartet wurde. Straßenbahnen und Automobile setzten ihm nach oder flüchteten vor ihm. Er empfand alles feindlich, jeden Menschen, der vorüberging, weil er nicht teil an seiner Sorge nahm, jede Litfaßsäule, weil sie stand und weil er laufen mußte, jedes Auslagefenster, weil es voller Dinge lag, weil jedes Ding das Werk unzähliger Handgriffe war und doch kein einziger für ihn verblieb. Man brauchte seine Hände nicht. Sie waren überzählig, überflüssig. Er hätte sterben können, ohne den geringsten Verlust zu hinterlassen. Jugend nimmt alles ernst und kennt kein Mittelmaß. Da gibt es zwischen Nichts und alles kaum noch ein Etwas. Erst das Alter lernt sich bescheiden und lächelt dann über die Jugend, was auch nicht gut ist und keinem hilft.
Thomas hielt unvermittelt an. »Drüben! Dort drüben!« zeigte er sich selbst, wurde gestoßen und bedrängt, weil er nicht weiterging, lief quer über die Straße einem Schutzmann in die Arme und wurde laut und herrisch angefahren:
»Rechts gehen!«
Thomas errötete. Er schämte sich. Jugend kann ohne Scheu nackt sein, aber sie glaubt sich durch einen Verweis tödlich geschändet. Drüben lockte ein Laden, ein ganz kleiner, unscheinbarer Laden mit nur einem Fenster und ein paar alten Büchern darin. »Antiquariat Berg« war über der Türe zu lesen. Der Rollbalken hing unschön eine Handbreit herab. Die Klinke stand schief. Die Scheibe war schmutzig, eine Ecke oben sogar mit Papier verklebt. Thomas trat vor die Auslage, blieb stehen und schaute, sah erst nur den Staub, der dick und wollig aus allen Fugen quoll und nicht von gestern sein konnte, sah auch eine Spinne, die sich gemütlich von der Decke herabließ und in der Mitte baumelte, als wäre der ganze Raum bloß eine gläserne Villa für sie und, was es sonst noch darin gab, nur eine Gelegenheit, ihre Fäden zu spinnen und auf eine Fliege zu warten, die, weiß Gott warum, sich da hinein verirren sollte. Thomas konnte nicht begreifen, daß einer mitten in der Stadt mit einem solchen Saustall Geschäfte machen wollte. Er würde große Augen gerissen haben, wenn man ihm gesagt hätte, daß dieser Saustall ein Delikatessenladen für Kenner und Feinschmecker war und daß die alten Schwarten, auf denen die Spinne turnte, mehr wert gewesen sind als Möbelwagen voll neuer, prächtiger Bücher, auch wenn man sie noch so mit Gold bedruckte und den besten Dichter schreiben ließ. Ein schwerer, dickbäuchiger Band lehnte aufgeschlagen vor den anderen und zeigte ein Bild, an dem man deutlich sehen konnte, daß das Buch alt und seine Geschichte längst vergangen war. Die Herren darauf trugen weiße Hosen und rote Fräcke, die Damen steckten in einem Berg von Röcken und balancierten hohe Haartürme auf dem Kopf. Die Wagen wurden alle von Pferden gezogen, die wie Soldaten marschierten. Die Häuser sahen aus wie Spielschachtelburgen. Es war ein närrisches Bild und ist doch einmal echtes Leben gewesen, von allen ernst genommen und von keinem sonderbar empfunden. Nun aber stand ein junger Mensch davor und lächelte, weil er es komisch fand und weil er nicht ahnte, daß alles, was er um sich selbstverständlich meinte, in ebenso viel Jahren nachher ebenso lächerlich sein wird. Ein Hündchen kam geschwänzelt und blieb neben Thomas vor der Auslage stehen. Es schaute aber nicht hinein, sondern schnüffelte unten herum, dort, wo nichts zu sehen war, und schien doch sehr befriedigt. Ein Blitz begoß das Holz, und Zeitloses ist geschehen. Nur der Mensch vergeht und mit ihm seine Art; das Tier bleibt, was es immer war: sich selber treu. Mögen die Herren noch so sehr die Welt verkünsteln, sie werden ihren Hunden das Paradiesische nicht abgewöhnen. Thomas wurde vertrieben. Es floß da ein Strom von Menschen hin, dem er nicht widerstehen konnte. Er schwamm eine Weile mit und bog dann linkshin ab, schlenderte herum und stand nach einer halben Stunde wieder vor der Auslage mit dem Bücherkram. Es gab nämlich auch Schillers Werke darin. Sie schauten aber ganz anders aus als die seinen, und er hätte gern gewußt, ob es derselbe Schiller war. Man konnte doch nicht wissen. Friedrich hieß auch dieser Mann. Doch es waren zwölf Bände, und sein Schiller hatte nur zwei geschrieben. Die Bände starrten vor Schmutz, drei waren schon zerrissen, und der achte in der Reihe hatte überhaupt keinen Rücken mehr. »Das kann nicht viel kosten«, dachte Thomas und stand im Laden, wie man vor einem Abgrund steht und nachher nicht begreift wieso.
»Ist das derselbe Schiller?« fragte er mit einer Stimme, die so dünn und dürr klang, als wäre sie über dem Weg durch die Gurgel ausgehungert und verdurstet.
»Immer derselbe, lieber Freund«, versicherte ein alter Herr hinter dem Pult und hob den weißen Bart wie eine Fahne gegen ihn.
»Und was kostet er?« wollte Thomas wissen, obgleich er ihn um keinen Preis hätte kaufen können.
Der Herr senkte den Bart, blinzelte unter den buschigen Brauen, stand auf, blätterte in einem dicken Buch, suchte mit einem Finger von oben herab und schaute doch gar nicht hin. Dann sagte er eine Zahl, die so lächerlich war, daß Thomas kaum eine Vorstellung damit verband. Es wurde klar: Der alte Herr machte sich lustig über ihn. Und das durfte er sich nicht gefallen lassen.
»Ich habe zwei Bände von Schiller, die sind noch ganz neu und viel schöner und haben nicht so viel gekostet«, stammelte Thomas und war blaß vor Aufregung, überhaupt dazustehen und zu reden.
»Das ist gut, junger Mann«, lachte Herr Berg und wippte mit dem Bart. »Sehr gut.« Er lachte eigentlich wie eine Frau, war auch so klein und hatte zarte, milchweiße Hände.
Thomas lief fort, wußte wieder nicht, wie es geschehen ist, daß er die Türe aufmachte und schon gar nicht, ob er sie wiederum geschlossen hatte, lief nach Hause und holte seinen Schiller vom Brett, schaute ihn an und durfte wirklich sagen: »Er ist viel schöner und vor allem nicht zerrissen.«
Der Vater war empört und konnte nimmer schweigen.
»Wie lang wird der Bursche noch da herumsitzen und sich füttern lassen?«
Brigitte hatte schon darauf gewartet und ihre Antwort warm gehalten:
»Wenn du einen Posten für ihn weißt ... Er ist dir dankbar, lieber Mann.«
»Soll ein Kellner werden«, beharrte Vorlenz. »Wirtshäuser wird es immer geben.«
»Leider!« seufzte Brigitte und kam schlecht damit an.
»Laß mich in Frieden, du, sonst platzt mir noch einmal die Galle!« schrie er und ballte die Hände zu Fäusten, als könnte das der Galle nützen.
Es stand nicht gut zwischen ihnen. Vorlenz lebte ein dunkles, eigentümliches Leben. Er arbeitete nichts. Das war ohne Beweise klar. Er hatte Geld, nicht viel, doch immer etwas Geld. Und er sagte nicht woher. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, wippte patzig auf und ab und vermehrte das Dunkel um sich durch die geheimnisvolle Anspielung: »Man hat auch sonst seinen Wert.« Damit war kaum etwas anzufangen. »Gestohlen ist es nicht«, fühlte Brigitte mit einer Sicherheit, die alles Wissen übertraf. Und sie nahm, was er ihr gab, und hätte es auch anders nehmen müssen.
Da ging die Sonne wieder einmal dort auf, wo man sie nicht erwartet hatte. Rese bekam über den Sommer einen Posten als Kindermädchen und war froh, außer Kost und in Lohn zu kommen. Sie wäre natürlich noch lieber nach Böhmen gefahren und hätte wiederum ihre Stube gehabt, den Hund und den Studenten, aber Frau Grießner blieb heuer daheim, weil sie sich ein Siedlungshaus bauten und der Sommer die beste Zeit war. Sie stiegen dadurch jetzt schon im Ansehen der Gasse und wurden von den meisten gemieden. Das machte der Neid. Er steckt als die tiefste Wurzel im Menschen und zieht die besten Säfte ab. Rese hatte einen schlimmen Bengel zu hüten. Er war vier Jahre alt und lebte bei einer Großmutter, die so blind war, daß sie nur das Gute an ihm sah, und taub wurde, wenn er schrie, was der kleine Erich für eine Bosheit von der Alten nahm und durchaus überschreien wollte. Rese mußte mit ihm spielen, mußte ihm erzählen, mußte vor allem ein Engel sein und ihre Freude an diesem Teufel haben. Es war viel verlangt. Erich hatte schon fünf Kindermädchen gehabt und eine Menge Erfahrung hinter sich, wie man so ein unglückliches Ding am besten ärgert. Er war ein kluges Kind. Das mußte man ihm lassen. Er nahm immer zwei Bälle zum Spielen, weil er mit dem Werfen nicht warten wollte, bis Rese um den einen gelaufen war, und verlangte nun gar einen dritten. Es war kein Vergnügen, bei Erich Rosenstein Kindermädchen zu bleiben. Die Großmutter konnte das wohl nicht begreifen. »Er hat doch so schöne blaue Augen«, sagte sie und fand kein Veilchen ähnlich entzückend. Rese hatte einen anderen Geschmack. Ihr wäre ein stiller, bescheidener Junge, auch wenn er grüne Augen gehabt hätte, lieber gewesen. Sie versuchte aber doch, sich auf dem Posten zu halten. Die Kost war gut. Es gab täglich Suppe, Braten und Mehlspeise, in der Suppe gewöhnlich kleine Butterknödelchen und zum Braten neben dem Salat auch noch ein Täßchen Preiselbeeren, von der Mehlspeise gar nicht zu reden. Auch der Lohn war annehmbar. Rese mußte sich dafür bloß bei den Haaren ziehen, in die Finger beißen und auf die Nase spucken lassen, mußte zwischenhin um die Bälle laufen und durfte niemals schimpfen und bei Todesstrafe ja nicht schlagen. Man hatte ihr das wirklich so verboten. Rese dachte in der Früh schon an das Mittagessen und ab ein Uhr wieder an das Nachtmahl, schluckte allen Ärger, alle Wut hinab und kriegte nur einen größeren Hunger davon.
Vorlenz hatte einen Trumpf mehr in der Hand.
»Man braucht nur zu wollen. Das sieht man doch an dem Mädel. Aber du möchtest den Jungen am liebsten in einen Glassturz stellen und von der Polizei bewachen lassen. Weiß der Kuckuck warum. Mir kann er gestohlen werden.«
Das wußte Brigitte und hielt umso mehr zu ihm.
Thomas lief in die Stadt. Er konnte sich nicht entscheiden. Er wollte kein Pfarrer werden. Er hatte sich schon in einem Warenhaus erkundigt, ob man ihn brauchen könnte. Aber da hätte er sich den Kopf abschlagen müssen. Man suchte einen Liftjungen, und der durfte nur einen Meter fünfzig hoch sein, und er war um einen Kopf größer. Einem Schreibwarenhändler ist er wohl groß genug, aber zu schwach gewesen. »Wenn du bis morgen um zehn Kilo zunimmst, dann kannst du kommen«, scherzte er und schenkte ihm eine Semmel von seinem Gabelfrühstück, als ob damit der Anfang schon gemacht wäre. Die Semmel war dick mit Butter bestrichen, nur leider so gesalzen, daß Thomas seinen Durst unmöglich nach Hause tragen konnte. Er stand wieder vor dem Antiquariat. Es war kein Zufall. Thomas ging in die Stadt, um da her zu gehen, hatte keinen Grund dafür, und suchte sich deshalb einen. »Bin neugierig, ob die Spinne noch da ist«, log er sich vor und konnte nur immer wieder feststellen: »Ja, sie ist da.« Heute war es noch etwas außerdem. Er trat in den Laden und bat höflich:
»Könnten Sie mir, bitte, ... ein Glas Wasser ... Ich bin durstig.« Es fällt schwer, einfache Dinge zu sagen, wenn man so aufgeregt ist, als Thomas war.
Der Buchhändler schwenkte wieder seinen Bart, erhob sich dann und knickste spaßig wie ein Kellner, der sich ein Vergnügen daraus macht, seine Gäste zu bedienen, ging in einen Nebenraum, kam beflissen und servierte frisches Wasser. Thomas wagte nicht zu trinken. Er hielt das Glas mit beiden Händen fest und zitterte damit.
»Na, wo ist der Schiller?« fragte Herr Berg und kniff die Augen ein.
Thomas wußte nicht, was er meinte, und stellte erschrocken das Glas hin.
»Was für ein Schiller?«
»Deiner. Du willst ihn doch verkaufen«, schmunzelte der Buchhändler und liebkoste seinen Bart. Er kannte Kunden dieser Art, hatte sich aber diesmal doch geirrt.
»Ich? ... Meinen Schiller? ... Verkaufen?« Thomas stürzte fort, als könnte es durch bloße Hexerei geschehen, vergaß völlig seinen Durst, lief nach Hause, vergaß auch jetzt noch zu trinken, riß die zwei Bände vom Brett, setzte sich an den Tisch und las und dachte bei jeder Zeile: »Nie! ... Niemals!«
Er ging auch nimmer in die Stadt, drei Tage lang. Dann machte er sich wieder auf den Weg, lief jedoch der Mutter in die Arme und plantschte mitten in eine Aufregung hinein:
»Du sollst den General führen, sollst ihn an die Sonne führen und kriegst einen Gehalt dafür, einen richtigen Gehalt.« Sie war ganz außer sich und krähte fast vor Freude. Thomas zog ein saures Gesicht. Brigitte ahnte gleich, was er sagen wollte, und schnitt es ihm vom Mund weg ab: »Nur für den Sommer. Dann wird es besser. Dann werden wir suchen. Und dann wirst du, was du werden willst, ... werden kannst«, schränkte sie ein und schämte sich, weil sie wirklich nur an das Geld und nicht an ihren Jungen gedacht hatte.
Der General hat einen Schlaganfall erlitten und konnte nicht gehen und nicht stehen, konnte nur in einem Wägelchen sitzen und sich fahren lassen. Er war ein spindeldürrer Mensch und soll einmal stattlich und beinahe dick gewesen sein. Ob das überhaupt möglich ist? Thomas erkundigte sich nicht. Er mußte froh sein, daß es nicht umgekehrt war. Der Wagen lief auf Gummirädern, und der General saß weich darin. Er war es aber doch nicht zufrieden. Er keifte und zankte den ganzen Tag und sann mit Fleiß darauf, den jungen Menschen irgendwie zu quälen, bloß weil er gesund und rüstig war und jung vor allem. Thomas durfte nicht rasten, durfte sich nicht setzen, auch wenn eine Bank in seiner Nähe stand, durfte nicht lachen, wenn sich auch Lustiges ereignete, durfte mit niemand sprechen, mußte immer dicht am Wagen bleiben und dem Alten aus den Augen lesen, was er gerade haben wollte. Nur die Sonne konnte man ihm nicht verbieten. Sie schien auch auf seinen Buckel und machte ihm warm ums Herz.
Vorlenz war nur halb damit zufrieden. »Ist das ein Beruf für einen intelligenten Burschen, der seine Schulen mit Auszeichnung hingelegt hat?« nörgelte er, als hätte das irgend einer behauptet. Brigitte ließ ihn reden und hielt die Ohren wie ein Durchhaus offen. Vorlenz spielte daheim den Löwen im Käfig. Er ging brummend auf und ab, warf zornige Blicke, scharrte mit den Zähnen, biß aber nicht. Er tat nur wie ein Löwe. Sein Herz war ein Lamm, wenn auch ein männliches. Vorlenz hatte das Ungeklärte, Trübe seines Daseins noch durch eine Handlung vermehrt, die außerordentlich zu denken gab: Er nahm den »Gutsbesitzer« aus dem Kasten und zog ihn an und sah darin erst recht verdächtig aus. Brigitte ließ ihn ungefragt gewähren. Ihr war es gleich. Er hatte sich längst von ihnen geschieden. Das wußte sie, das weiß eine Frau durch das Gefühl des Abscheus voreinander. Doch es kränkte sie nicht. Er war ihr gleichgültig geworden, ein Mann, der neben ihr lebte und nur zufällig ihr Mann war.
Mit Rese ging es rasch zu Ende. Erich Rosenstein trieb es zu bunt. Er hatte nun wirklich drei Bälle und schoß damit. Er zielte immer nur in das Gebüsch, weil es dort schwieriger war den Ball zu finden, und weil es streng verboten gewesen ist den Rasen zu betreten. Rese lief zehnmal ohne zu murren. Rese lief zwanzigmal und wurde müde. Rese lief dreißigmal und wollte nicht mehr. Da begann der junge Herr zu brüllen und zu toben, warf mit Staub nach ihr und spuckte in einem, schimpfte und drohte mit der Großmama. Rese lief schon fünfzigmal. Sie hatte Seitenstechen. Ihr Kopf war rot wie eine Tomate. Der Junge konnte aber noch nicht zählen und kriegte nie genug. Dreiundsiebzigmal lief Rese um den Ball. Dann war es um sie geschehen. Dann fiel sie über den vermaledeiten Bengel her und prügelte ihn durch, daß er ganz klein vor Schreck und blau vor Schlägen wurde. Es gab eine fürchterliche Szene und ein trauriges Ende: Rese wurde fortgejagt von der Suppe mit den Butterknödelchen, dem Braten mit den Preiselbeeren und den Mehlspeisen, die täglich besser wurden und schon so fein geworden waren, daß man sie deutsch gar nicht mehr aussprechen konnte.
Brigitte nahm es ohne Aufregung hin. Sie hatte an sich selbst erfahren, wie schwer es ist, Kinder zu erziehen, dachte an die Zeit zurück, als sie noch Dienstmädchen war, und begriff alles. Rese war ja selber noch ein Kind. Vorlenz lachte. Rese hatte es einem Bürgerlichen auf den Hintern gegeben, und das war ganz in jener Ordnung, die er von der Welt verlangte.
Thomas hielt durch. Er schob seinen General in die Sonne, ließ sich schikanieren und hatte noch mit keiner Geste aufgemuckt. Der alte Herr verfiel von Woche zu Woche. Er konnte nun auch nicht mehr reden, sondern lallte wie ein Säugling, wollte aber doch verstanden sein, mußte gefüttert werden und hatte seit gestern eine Unart angenommen, die den Dienst an seiner Seite beinahe unerträglich machte: Er hielt nicht rein. Thomas mußte oft und oft nach Hause fahren und ihn waschen lassen. Es war wohl nicht sein Geschäft. Doch der General duftete auch nachher noch, daß einer die Nase voll und den Magen übel kriegte. Thomas verzichtete ganz auf das Essen und sah schlechter aus denn irgendwann. Er litt auch sonst an diesem Dienst. Er konnte nicht mehr in die Stadt laufen, nicht mehr vor dem Buchladen stehen, wußte nichts mehr von der Spinne, und die konnte doch einstweilen überhaupt gestorben sein. Thomas hatte schon auch seine Sorgen. Der General ging völlig ein. Er war nur noch Hose, Rock und Kappe. Das Gesicht beschränkte sich auf Mund und Augen. Ihre Blicke wurden langsam blind. Der General sah Dinge, die nicht da waren, die Preußen vor Königgrätz, die Bosniaken in Sarajewo und ein Manöver in Güns, von dem Thomas nie etwas gehört hatte und vergeblich darum fragte. Die Geschichte endete zumeist mit einer vollen Hose. Es war also besser, den alten Feldherrn schlafen zu lassen, und das tat er seit ein paar Tagen beinahe immer. Es wurde Oktober, und die Sonne empfahl sich. Thomas fröstelte, und der General verschwand immer mehr unter der Kappe. Es war aber doch die schönste Zeit dieses Dienstes. Thomas schob das Wägelchen an eine Bank, setzte sich hin und las. Er hatte sich in die Volksbibliothek einschreiben lassen und lernte jetzt erst richtig, was Lesen heißt.
Da kam das Ende. Es war der letzte erträgliche Mittwoch. Ein Wind verwehte die Sonne. Es wurde kühl. Der General schrumpfte noch winziger zusammen. Die Kappe saß beinahe schon am Kragen auf. Er aß nichts mehr, trank auch nur selten, hockte verkümmert auf seinem Sitz und schnappte nach Luft und wird auch das bald nimmer können. Thomas stockte aus anderen Gründen der Atem. Er jagte eben mit Jules Verne um die Erde, raste von Blatt zu Blatt und dachte keinen Augenblick daran, daß diese Sache heute kein Kunststück mehr war, fraß sich durch das Buch wie der Eisenbahnzug durch die Landschaft und hatte alles um sich her vergessen, auch den General. Es wurde Mittag. Eine Glocke bimbambaumelte. Sirenen pfiffen. Leute liefen. Und Thomas klappte das Buch zu. Er war gerade noch fertig geworden und beberte wie ein Motor, der sich heiß gelaufen hat und nun ohne Antrieb weitersurrt. Es war die höchste Zeit. Der General mußte nach Hause. Thomas packte das Wägelchen und schob es vor sich her. Der General schien noch zu schlafen. Thomas eilte, achtete nicht viel auf die gebrechliche Last und beeilte sich. Das Wägelchen holperte unsanft über einen Stein. Der General rührte sich nicht. Das war neu, war ungewöhnlich. Auch die Luft blieb stehen. Thomas fühlte es beängstigend. Er beugte sich hinab und flüsterte: »Herr General!« Er wurde nicht gehört. Alles war taub um ihn. Thomas tippte dem Mann im Wagen auf eine Schulter und rief laut: »Herr General!« Da rutschte die Kappe ganz über die Nase, sank der Hals in den Kragen hinein, saß nur noch ein Rock da und hatte eine Hose an. »Herr General!« schrie Thomas, ließ den Wagen stehen, ging drei Schritte fort, schaute sich verstohlen um, war ganz allein im Park, sah keinen Menschen, den er hätte fragen können, wußte es auch so und lief davon, lief nach Hause, riß die Tür auf und fiel der Mutter in die Arme.
»Der General ... Ich glaub, ... der General ist tot.«
Brigitte bekreuzigte sich.
»Gott geb ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm!« sagte sie und war fertig damit.
»Ja, ... aber ...« keuchte Thomas und kam nicht weiter.
»Was denn, mein Kind?«
»Er steht im Park.«
»Wer?«
»Der General steht im Park und ist tot.«
Brigitte lief, was sie laufen konnte. Thomas sperrte die Türe hinter ihr ab und hätte den toten Mann um keinen Preis der Welt mehr angeschaut oder gar nach Hause gefahren.
So war auch das zu Ende.
Vorlenz tat, als wäre der General ihnen allen zum Glück gestorben.
»Das ist kein Beruf. Ich hab dir's gleich gesagt«, stänkerte er die Mutter an und konnte wieder einmal sagen: »Bei einem Kellner ist das anders. Im Wirtshaus werden die Leute lebendiger, je mehr sie essen und trinken. Da ist noch keiner an Auszehrung gestorben.«
Thomas sprach seit einem Jahr kein Wort mehr mit dem Vater. Es fiel nicht weiter auf. Er redete auch mit der Mutter wenig, saß immer irgendwo mit einem Buch vergraben und kümmerte sich nicht, was sonst um ihn geschah. Jetzt aber ging ihm von selber der Mund auf.
»Ich will nicht. Hörst du? Ich will kein Kellner werden. Und wenn du dich auf den Kopf stellst, und wenn du zehnmal mein Vater bist, ich werde doch kein Kellner.«
Es war unbegreiflich, warum er so schrie, warum er die Augen dabei rollte und mit den Fäusten in der Luft herumfuchtelte. Vorlenz rieb auf. Thomas duckte sich. Vorlenz griff nach einem Sessel, warf ihn gegen den Jungen, traf die Wand und wurde nun erst recht erbost, weil er einen Sessel zerschlagen und den Jungen nicht getroffen hatte. Da stellte sich Brigitte zwischen beide und breitete die Arme aus, stand wider den Mann und für den Sohn, konnte selber kaum stehen vor Angst und Entsetzen und stellte sich beiden. Vorlenz stieß wütend zu. Brigitte taumelte. Thomas fing sie auf. Und Vorlenz gab ihm nun doch die Ohrfeige, die er noch voll und saftig in der Hand hatte. Da geschah es, da ist es geschehen: Thomas schlug zurück, schlug den Vater ins Gesicht. Furchtbares mußte werden. Brigitte schrie, zog den Jungen an sich, deckte ihn mit ihrem Leib und rief um Hilfe. Vorlenz erbleichte, fuhr in die Tasche um das Messer, fand es nicht, bückte sich um die Kohlenschaufel und wollte Thomas damit erschlagen.
Eben da riß Rese die Tür auf, stand wie eine Furie und erstickte alles mit den Worten:
»Der Stein ist da, ... der Herr Stein ... Er soll reicher sein, als er war ... Er soll heiraten, ... eine Russin mit ... ich weiß nicht wieviel Millionen ... Rubel, heißt es.«
Hier tötete ein Haß den anderen, löschte ein Feuer das andere aus. Vorlenz tappte nach der Tischplatte und hielt sich fest daran. Es war zu viel, zu schwer für ihn. »Der Stein? Der Schwindler? Der Gauner? Und nun wieder reich? Man weiß nicht wieviel Millionen?« Er starrte geradeaus in die Luft, reckte das Kinn vor und schien Böses zu denken, weil er so häßlich wurde.
»Rubel, sagst du?« fragte er, als ob das besonders aufreizend wäre.
Rese hatte noch viel zu erzählen und konnte sich durch solche Kleinigkeiten nicht aufhalten lassen.
»Er ist im eigenen Auto gekommen. Ein ganzer Salon mit Vorhängen und Blumen. Soll ein ausländischer Wagen sein. Der Chauffeur ist auch ein Franzose. Er trägt einen Schnurrbart wie ein Maikäfer, so klein und so kurz. Ein hübscher Mann. Er kann aber nicht reden, nur lachen ...«
Rese wurde nicht fertig, sich zu verwundern und die anderen damit anzufüllen.
Brigitte freute sich insgeheim. »Vielleicht krieg ich wiederum die Bedienung«, hoffte sie und sah schon alles besser werden. »Vielleicht hat ihm Gott nur geholfen, damit er uns hilft«, frohlockte sie und bedankte sich im stillen.
Thomas hockte in einem Winkel. Er bereute, was er getan hatte, wollte sich die Hand abhauen, wollte überhaupt nimmer leben und dachte daran, sich umzubringen.
Vorlenz brütete noch immer, stemmte sich auf den Tisch, daß er krachte, gab sich dann einen Ruck, warf den Kopf in den Nacken, ging durch das Zimmer, hielt vor der Stiege an und überlegte noch eine Weile, stieß sich dann über die Stufen hinauf und stürzte fort. »Wenn er ihm jetzt begegnet, geschieht ein Unglück«, wußte Brigitte und konnte doch nichts unternehmen, um es zu verhindern, konnte nicht rufen, konnte keinen Schritt machen, nur dastehen und sich entsetzen.
Es geschah nichts. Vorlenz umkreiste den Wagen wie der Habicht die Henne, maß den Chauffeur mit feindlichen Blicken und strich dann in die Gegend des ewigen Lebens hin ab. »Diese Gerechtigkeit kann mich!« murrte er und drehte ihr den Rücken zu. Vorlenz hatte ein boshaftes Gehirn. Es führte genau Buch über alles, was sich ringsherum ereignete, zog seine Schlüsse daraus und kümmerte sich nicht, ob dafür auch die Voraussetzungen gegeben waren. Herr Stein hatte in Paris an der Börse gespielt und ein Vermögen gewonnen. Vorlenz hatte zwar nie gespielt, nahm ihm aber den Gewinst übel. Daß Herr Stein vordem sein ganzes Vermögen durch eine falsche Spekulation verloren hatte, fand Vorlenz in der Ordnung. Gut war nur, was ihm selber wohl tat, und schlecht wurde, was ihn ärgerte. Nie aber hatte ihn etwas so tief ins Mark getroffen als der neuerliche Aufschwung dieses Menschen, den er als eine persönliche Herausforderung empfand und der für ihn zum Maßstab einer Weltanschauung wurde: »Ein Lump, wenn ich noch einen Handgriff arbeite!« schloß Vorlenz und fing diesen Abschnitt seines Lebens mit einem Rausch an, der drei Tage dauerte und eigentlich kein Ende mehr nahm.
Brigitte hatte sich getäuscht. Es wurde kein Geschäft. Herr Stein baute sich eine Villa in Döbling. Man sprach sogar von einem Schloß. Frau Gröger mußte das doch wissen. Der Platz lag an den Hängen des Kahlenberges und sah auf die Stadt hinab, als wäre sie bloß deshalb hingebreitet worden. Der Baumeister hatte die Pläne schon entworfen und die Arbeit gestern aufgenommen. Vierzig Mann hoben die Grube aus. Man wollte bis zum Frühjahr unter Dach sein, wenn sich der Winter darnach benahm. Herr Stein wohnte also nur vorübergehend da. Er hatte sich außerdem einen Diener mitgebracht, speiste im Restaurant, ging viel auf Reisen und ließ sich auch sonst kaum sehen. Er war in die Reihe jener sagenhaften Reichen entrückt, die man ebenso selten zu Gesicht bekommt wie Kaiser oder Könige. Phine wollte das alte Haus überhaupt nimmer betreten. Sie blieb auf dem Gut der Tante, bis die Villa fertig wurde, und war mit Georg, dem Kriegsleutnant, schon heimlich verlobt.
Brigitte hatte also nichts zu hoffen. Sie lebten knapp am Verhungern vorbei. Es gab nur hin und wieder etwas, immer weniger und meistens nichts. Vorlenz kam nur gelegentlich nach Hause, um sich auszuschlafen oder um Radau zu machen. Das Dunkel um ihn hatte sich gelichtet. Das Geheimnis wurde offenbar. Vorlenz ist Zuhälter geworden und hat damit den Beruf gefunden, der ihn erhielt, ohne daß er jemand erhalten mußte. Das Mädchen hieß Hermine, war fünfunddreißig Jahre alt und eigentlich kein Mädchen mehr, aber das brauchte Vorlenz nicht zu beschämen. Er ist vom Jüngling kaum weniger weit entfernt gewesen. Hermine war beinahe so groß als er, nur viermal so dick. Sie erfreute sich wahrscheinlich deshalb einer guten Kundschaft, auch dem Range nach gut, denn ihre Klientel bestand zumeist aus Advokaten, Professoren und geistlichen Herren, die, wenn sie schon das Risiko einer solchen Verirrung auf sich nahmen, auch etwas davon haben wollten. Das Geschäft ging übrigens tagtäglich schlechter und zog auch den Kundenkreis immer tiefer herab. Hermine litt an Asthma, und das hätte selbst eine Venus in der Ausübung ihres göttlichen Berufes gestört. Vorlenz hatte wieder einmal Glück gehabt. Hermine konnte sich nicht an den Mann bringen, und das ist für eine Dirne schon aus Gründen des Aberglaubens unerträglich. Sie nahm also diesen langen, betrunkenen Menschen, von dem sie voraus wußte, daß er kein Geld hatte, nur um auch in dieser Nacht einen Mann zu haben, und blieb bei ihm. Er gefiel ihr. Man kann darüber denken, wie man will. Die Sache ging doch einzig nur sie selber an. Vorlenz hatte damit das große Los gezogen und begann ein neues Dasein. Er stand mit seinen fünfzig Jahren plötzlich im schönsten Morgenrot und spürte es mitten im Winter Frühling werden. Er wurde vom Grund aus tadellos gekleidet, lachte über die kurzen Unterhosen und errötete, weil er Strümpfe tragen sollte, er, ein Mann, der Vater zweier Kinder. Doch Hermine gab nicht nach, und so mußte er aus den langen Röhren, die viel wärmer und solider waren. Der »Gutsbesitzer« wurde aufgebügelt, das Schuhwerk vorgeschoben und der Hut schief in die Stirne gerückt. Hermine hatte auch im kleinsten ihren eigenen Geschmack. Die größte Freude aber war: Vorlenz bekam einen Lederrock, einen fabelhaften prima Lederrock, der unbedingt einen Baron aus ihm machte. Er konnte gar nicht geringer denken. Und zum Zeichen, daß er es nicht nötig hatte, von seiner Hände Arbeit zu leben, trug er zitronengelbe Handschuhe, von denen er sich niemals trennte. Er schien sogar damit zu schlafen. Vorlenz war über Nacht ein Kavalier geworden. Hermine mußte freilich immer wiederum in ihre Tasche greifen, tat es aber gern. Der Zuhälter ist für eine Dirne, was die Leibgarde dem König bedeutet: Schutz und Repräsentanz. Hier stimmte das nicht völlig. Hermine hatte sich durch Jahre allein fortgebracht und hätte es auch weiterhin vermocht. Sie konnte sich selber schützen und verließ sich besser nicht auf diesen Vorlenz. Er war feig. Das hatte sie im Blick. Er würde sie bei der geringsten Gefahr verraten und verkaufen. Das wußte sie im voraus. Dennoch nahm sie ihn, weil er ihr sonst gefiel und weil sie wieder einmal ihre sentimentale Periode hatte. Sie liebte ihn. Ihr Herz war klein, also konnte auch ihre Liebe nicht groß sein. Hermine stand in dem Ruf, daß sie noch nie geweint hat und es wahrscheinlich auch ihr Leben lang nicht tun wird. Sie hielt ihre Hunde immer fest an der Leine und ihre Männer immer knapp mit der Börse. Vorlenz mußte jede Kleinigkeit verrechnen und durfte sich nicht den mindesten Übergriff erlauben. Er bekam sogar die Zigaretten vorgezählt und konnte nichts, tatsächlich nichts privat auf seine Seite bringen. Er wurde wie ein Vogel gehalten, ein Rabe ungefähr, dem man die Flügel gestutzt hat, kriegte sein Fressen, hatte auf einen Wink zu kommen und zu verschwinden, durfte sich aber nicht unterstehen, auch nur einen flüchtigen Blick anderswohin zu werfen. Die Ehe wurde ihm gerade noch erlaubt. Sie war ungefährlich. Vorlenz machte aber kaum Gebrauch davon. Er kam bloß hie und da nach Hause und schaute sich die Wirtschaft wieder einmal an.
Brigitte hatte ihn aus ihrem Leben gestrichen. Sie fragte nicht, was er trieb, woher der Rock war, wo er schlief und was er wollte. Vorlenz setzte sich gewöhnlich breitspurig an den Tisch, rauchte eine Zigarette und zeigte, wie nobel er geworden ist und was er wiederum bekommen hat. Heute war es ein Ring. Vorlenz legte die Handschuhe ab und putzte sich so lang die Nägel, bis Brigitte sagte:
»Hab ihn schon gesehen.«
»Wenn auch«, biß er zurück. »Du weißt doch nicht, was er gekostet hat, und das ist es, das müßtest du wissen, damit du siehst, was ich wert bin.«
»Ich hab dich billiger bekommen«, lachte Brigitte traurig und dachte bei sich zu Ende: »Es hat mich freilich mein Leben gekostet.« Sie klagte nicht. Sie ersparte sich bloß keinen Schmerz, der zu denken und zu erleiden war. Vorlenz erregte ihre Art, alles zu ertragen und nicht aufzumucken. Sie hatte zu weinen und zu schreien, hatte um ihn zu kämpfen und zu unterliegen.
Brigitte machte ihm diese Freude nicht. Sie verzichtete, noch ehe es zum Kampf kam, und trug ihre Last, die schon so schwer war, daß sie nimmer schwerer werden konnte.
»Bist du nicht eifersüchtig?« fragte er zynisch.
»Nein«, deutete Brigitte und war es wirklich nicht.
»Sie ist groß und stark und so schön, daß ihr die Männer Geld dafür geben«, prahlte er unverschämt und wiegte sich eitel.
»Ich brauch es nicht zu wissen«, sagte Brigitte ohne Anteilnahme und forderte ihn wider Willen als Mann heraus.
»Magst du mich nimmer? Du?« Er griff sie hart an sich, preßte seine Arme wie einen Schraubstock um ihren Leib und ließ sie jetzt erst erkennen, in welcher Gefahr sie schwebte und was daraus werden konnte. Sie waren allein. Thomas ist in die Stadt gegangen. Rese war bei einer Freundin. Brigitte wehrte sich. Er küßte sie. Brigitte ekelte davor. Er drückte sie nur fester, drängte sich in ihren Schoß und flüsterte gemeine, unzüchtige Worte. Brigitte wollte schreien und mußte doch froh sein, wenn sie niemand hörte, niemand überraschte.
»Nicht! Ich bitte dich!« Sie weinte, flehte.
»Warte nur! Ich werde dir ...!« Er hob sie hoch. Er warf sie auf das Bett, stürzte sich über sie und machte ihr ein Kind, sie mochte kratzen und beißen, mochte nun auch schreien. Er war der Stärkere, er war der Mann und sie das Weib. Er gab, und sie empfing.
»So!« lachte er und ging wie einer, der sich gerächt hat, zog die Handschuhe an, schmiß die Türe hinter sich zu und war fertig mit dieser Ehe.
»Morgen laß ich mich scheiden«, fiel ihm ein und machte sein Herz hüpfen vor Freude, als ob das nun der beste Spaß gewesen wäre, den er sich je geleistet hatte. Vorlenz war ein Narr. Er spielte mit dem Leben wie mit Würfeln. Was fiel, das war gefallen. Der Einsatz blieb Nebensache, schon weil er ihn selber nie bezahlte.
Brigitte saß auf dem Bettrand und spreizte die Hände von sich ab. Sie wollte ihren Leib nicht mehr berühren, diesen geschändeten Leib, der unter Abscheu und Ekel doch Wollust empfunden und ein Kind empfangen hatte. Sie saß eine Stunde und länger und dachte nichts, saß und wartete, bis ihr Blut gerann, weil es vergiftet war, bis ihr Herz zu schlagen aufhörte, weil es sich schämte, ihr Herz zu sein, erwartete den Tod und wußte doch, daß sich alles in ihr schon dem neuen Leben zuwandte, jeder Blutstropfen jauchzte und jeder Herzschlag frohlockte.
Thomas kam aus der Stadt zurück und hatte sich entschieden.
»Ich will Buchhändler werden«, sagte er und leuchtete, als wäre mit dem Wunsch auch schon ein neuer Stern in seinem Dasein aufgegangen.
»Ja«, nickte die Mutter und wagte die Augen nicht zu heben. Er könnte sehen, was für ein böses Feuer in ihnen brannte. »Ja«, nickte sie und wagte kein Wort zu reden. Er könnte hören, daß ihre Stimme einen Schrei der Lust getan hat, wenn auch so leise und verschluckt, daß ihn selbst Vorlenz nicht vernommen hatte.
Rese trällerte herein. Sie hatte eine Freundin gefunden und wußte seitdem, was aus ihr werden konnte. Die Freundin hieß Fritzi, war zwei Jahre älter als sie, ging in eine Schokoladefabrik und hatte auch Rese einen Posten dort versprochen. »Man muß dem Beamten nur ein bißchen schön tun«, schwätzte sie aus Erfahrung und versicherte treuherzig: »Es ist kein Kunststück. Du bist sein Typ. Das weiß ich. Und das ist die Hauptsache.« Rese konnte es kaum erwarten, vierzehn Jahre alt zu werden und dem Beamten schön zu tun. Fritzi war fein beisammen und hatte auch schon einen Freund. Er hieß Franki und spielte mit Wenzel Vostal bei der Vienna. Rese hatte also ihre Fäden schon gesponnen. Sie waren noch ganz zart und seidendünn, aber das sind alle Stricke einmal gewesen. Wenzel hatte sie übrigens mit Fritzi schon gesehen und gegrüßt.
»Das kann nur mich angegangen sein«, meinte die Freundin, obwohl sie doch ihren Franki hatte und den Wenzel gar nicht brauchte.
»So? Und warum denn?« zweifelte Rese unfreundlich.
»Weil er dich doch gar nicht kennt, und weil ...« Es gab da eine Menge Gründe, die alle zusammen kein Grund waren.
»Vielleicht will er mich kennen lernen«, lachte Rese schnippisch und schleuderte ihre Haare nach hinten. Es war nicht ausgeschlossen. Rese ist nur mit dem Schulpack noch ein Kind gewesen, ohne ihn mußte man schon Fräulein zu ihr sagen. Sie war groß und schlank, hatte schöne Beine und ein hübsches Gesicht, wußte das und war nicht neidig damit. Vorlenz mußte sehr an sich halten, um Vater zu bleiben, wenn sie ihn küßte. Er gefiel ihr jetzt besser denn je. Er sah großartig aus und benahm sich auch der Tochter gegenüber wie ein Herr. Die Mutter war ihr gleichgültig. »Sie hat ein Verhältnis mit dem lieben Gott«, vertraute sich Rese der Freundin an, »und da können wir nicht konkurrieren«, scherzte sie, als ob ihr jemals daran gelegen hätte. Thomas haßte die Schwester. Es kam über eine Nacht. Er lag und schlief und träumte von ihr. Es war ein Spiel. Ein Bach floß hin. Ein Kahn wiegte sich drauf. Sie fuhren fort. Er wähnte nicht wohin. Sie waren ganz allein. Und da ... Er wollte gar nicht daran denken. Sie war schlecht, auch wenn es keiner sonst gesehen hat. Er konnte ihr auch nimmer in die Augen schauen, obgleich sie ihm noch gefiel, besser vielleicht als je. Er hätte sie nur nicht zur Schwester haben müssen. Ob das allerdings ehrlicher Haß ist? Thomas gab sich keine Rechenschaft darüber. Sein Urteil war gesprochen. Rese ist damit gefallen. Er hatte überdies bemerkt, daß sie dem Wenzel nachlief, und er haßte nun auch diesen. Das gibt zu denken, wenn auch nur für Thomas.
Brigitte saß und rührte sich nicht, krampfte die Finger ineinander, biß die Zähne zusammen, starrte an sich hinab und riß die Augen auf, als würden Münder an ihrem Leib, hunderte, tausende Münder und riefen: »Seht ihr nicht? Seht ihr denn nichts?«
Rese ging fröstelnd herum.
»Schon wieder nicht eingeheizt!« murrte sie verdrossen.
»Wir haben keine Kohlen«, seufzte die Mutter.
»Immer dasselbe. Immer haben wir etwas nicht, zum Frühstück keinen Kaffee, zu Mittag nur eine Suppe und jetzt nicht einmal Kohlen«, begehrte Rese auf und hatte es satt, hier zu hungern und zu frieren. Sie ging zu Frau Grießner hinauf und schlief auch gleich droben. Der Mann hatte Nachtdienst, und so konnte Rese weich und warm in seinem Bett liegen, konnte noch dazu denken, daß es das Bett eines Mannes war und dachte wirklich gern daran.
Thomas nahm ein Buch zur Hand, setzte sich an den Tisch und las, lief mit den Blicken die Zeilen ab, blätterte um und hatte nach einer Stunde doch nichts gelesen. Es war auch schon finster geworden.
»Warum zündest du kein Licht an?« fragte er leise.
»Weil wir kein Petroleum haben«, sagte die Mutter und fing zu weinen an, wie es oft plötzlich aus dem blauen Himmel regnet, daß keiner weiß woher und keiner wohin damit.
Thomas ging zu Bett. Er konnte sie nicht trösten. Er fühlte sich beleidigt und gekränkt. Seine Seele war auf Flügeln gekommen und hatte die Sonne selber mitgebracht. Die Mutter sah es nicht. Er hatte sich entschieden, für dieses Leben und für alle Ewigkeit entschieden: Er wollte Buchhändler werden. Die Mutter hörte nicht. Es war kalt im Zimmer, gab kein Nachtmahl, gab kein Licht. Wie hätte es Liebe geben können? Rese war geflüchtet, und Thomas legte sich schlafen. Er kroch unter die Decke, schloß die Augen und preßte seine Hände an die Brust, damit ihm niemand über Nacht die Freude seines Herzens stehle. Sie war ein Buch aus vielen Büchern, jedes einzelne ein Schatz, ihm anvertraut wie Schafe ihrem Hirten. Die Weide war ein Laden in der Stadt. Der Herr hieß Berg. Er ließ den Bart wie eine Fahne flattern. Sein Zeichen war die Spinne. Sie wohnte in einem gläsernen Palast und wartete auf einen, der da lag und an sie dachte. Es gab keine Fliegen dort und gibt doch wirklich viele Fliegen auf der Welt. Thomas fing sie Hände voll. Die Spinne fraß und wurde dick und schwer. Der Faden riß ... Und Thomas schnellte hoch.
Brigitte saß noch immer vorgebückt und stierte in die Nacht um sie. Es war unheimlich und erschreckte.
»Mutter!« rief sie Thomas an. Brigitte hörte nicht. »Mutter!« schrie er und hatte Angst. Es war ein Fremdes in ihr, das er nicht kannte und nicht mochte, schaute Feindliches aus ihren Augen, öffneten sich ihre Lippen und sprachen mit einer Stimme, die nicht ihre Stimme war:
»Gott hätte ihn erschlagen können. Er schickt den Hagel und tötet das Korn. Er schickt den Blitz und spaltet einen Baum. Er schickt die Lawine und verschüttet ein Dorf. Er hätte auch ihn erschlagen können.«
Thomas verschluckte den Atem und wagte sich nicht zu rühren. Brigitte fuhr auf, hob die Arme wie Kreuzesbalken gegen die Decke und schrie den Himmel an, der nichts gesehen hatte und nun auch nichts hören konnte:
»Ich hab es nicht gewollt. Es wird ein Kind, und seine Mutter hat es nicht gewollt.«
Thomas stieg aus dem Bett und ging ihr zu. Brigitte ließ die Arme sinken, sank in sich selbst zusammen, schüttelte zu irgend einer Abwehr den Kopf und flüsterte:
»Er hätte ihn erschlagen können und hat es nicht getan. Er hätte auch mich erschlagen können, und es ist nicht geschehen ... Gott weiß es. Gott hat es gewollt. Er ist der Vater. Und ich bin Maria, ... seine Mutter, seines Sohnes Mutter, ... Gottes Magd und Gottes Mutter.«
Thomas berührte sie. Brigitte griff nach ihm, als ob er ihr entwischen könnte oder wollte, hielt sich fest und lächelte, drückte ihn an die Brust und lächelte schon einem anderen zu, der in ihr war, noch lange kein Mensch war und Gottes Sohn sein sollte.
Thomas blieb eine Woche lang fern. Er hatte Angst, der Buchhändler könnte ihn bemerken, wollte es bei sich, hoffte darauf, hatte aber doch Angst und wollte eigentlich nicht. Nach wieder einer Woche hielt er es nimmer aus, lief hin, trat vor das Schaufenster, drückte seine Nase daran breit und erschrak so heftig, daß er ohne Überlegung die Türe aufriß und fragte, nein, nicht fragte, sondern laut und überheblich Rechenschaft verlangte:
»Wo ist denn die Spinne hin?«
Herr Berg schmunzelte in seinen Bart hinein:
»Fort. Ausgezogen. Abgestochen. Und verspeist.«
Thomas war zu Scherzen nicht aufgelegt, wurde aber doch höflicher:
»Wo ist sie, bitte?«
Der Buchhändler führte ihn durch das Magazin, das wie ein Grab roch und so angepfropft mit Büchern war, daß man kaum Platz hatte, sich durchzuwinden, an schwankenden Stößen und ragenden Bergen vorbei an ein Fenster und zeigte wispernd:
»Da, mein Junge, da hast du sie, deine Spinne.«
Sie heftete gerade einen Faden oben an die Leiste und ließ sich fallen, schaukelte vergnügt und schien es hier tatsächlich besser zu haben, denn eben stieß eine unvorsichtige Fliege in das Netz, zappelte und schlug um sich und war doch schon gefangen. Die Spinne ließ sich Zeit. Ihr Tisch war gedeckt. Sie wollte bloß nicht vor den Menschen speisen, wahrscheinlich damit sie nicht erfahren, wie gut so eine Fliege schmeckt. Thomas war entzückt und wäre dem Buchhändler am liebsten um den Hals gefallen.
»Ich hab's ja gewußt«, jubelte er und funkelte mit seinen Kinderaugen.
»Was hast du ...?« fragte Herr Berg und ließ den Bart flirren.
»Daß Sie keine Spinne töten können.«
Das war zuviel.
»Können?« lachte der Buchhändler. »Das ist bald geschehen. Ich habe nicht wollen.«
»Und warum?« wurde Thomas zudringlich.
»Weil ... Aber was geht denn das dich an?« schnauzte Herr Berg, stieß den Jungen vor sich her aus dem Magazin und ärgerte sich plötzlich ohne jeden Grund. Thomas blieb im Laden stehen. Der Buchhändler hatte zu tun, schrieb kleine Zettel und ordnete sie in eine Schachtel, hatte schon an die hundert Zettel darin stecken und fand doch für jeden einzelnen noch einen genauen Platz.
»Was willst du eigentlich?« erkundigte er sich nach einer Weile ohne aufzublicken.
»Buchhändler werden«, gestand Thomas.
Herr Berg legte die Feder weg, wippte mit dem Bart wie eine Bachstelze mit dem Schwanz, lehnte sich zurück und riß die Augen auf.
»So?«
»Ja.«
»Wo denn, mein Junge?«
»Da bei Ihnen«, erklärte Thomas ohne Umstände und wollte anscheinend gleich damit beginnen. Er rückte einen Sessel von der Mitte weg an die Wand, hob ein Buch vom Boden auf, wischte es an seiner Hose ab und suchte einen Platz dafür.
»Ich brauche niemand«, keifte Herr Berg mit seiner Frauenstimme und schrieb wiederum an seinen Zetteln. Thomas stand mit dem Buch in der Hand und wartete, hätte eigentlich gehen sollen und wartete trotzdem. Seine Sohlen klebten am Boden, und sein Herz war so unsinnig schwer geworden, daß er es kaum halten und schon gar nicht forttragen konnte. Es ist auch wegen der Tränen gewesen. Sie kugelten über seine Wangen und tropften auf das Buch. Herr Berg hatte es längst gesehen, obwohl er das, wie man so sagt, nicht sehen konnte.
»Was willst du denn?« fragte er überflüssig noch einmal, schien ein bißchen ärgerlich und aufgehalten, kratzte sich den Schädel und stöhnte wie einer, der nicht weiß, wie ihm geschieht.
»Buchhändler werden«, schluchzte Thomas und schämte sich wie jeder junge Mensch, der etwas auskämpfen will und dem dabei die Tränen kommen. Herr Berg wollte erst grob sein, hatte aber nicht den Mut dazu, ließ es dann bleiben, wollte ihn anderswohin empfehlen, nur um die Sache los zu werden, und sagte dann gegen alles, was er gewollt hatte:
»Frag dich in einem Monat an! Wir schreiben Jänner, also Februar.«
Thomas bekam wieder sein leichtes Herz und seine flinken Beine, dankte erfreut und ging und nahm in der Eile auch das Buch mit.
»Bis dahin ist er schon Schuster oder Schneider geworden«, dachte Herr Berg und mußte sich sagen, daß ihm eigentlich leid wäre. Der Junge hatte ihm gefallen. Er kam aus der Gegend des Mondes, und dort war auch dieser Buchhändler zu Hause.
Thomas trug sich spazieren. Man kann das nicht anders nennen. Er fühlte sich als König. Die Beine waren seine Lakaien, und die trugen ihn spazieren. Das Volk herum verneigte sich. Der Schutzmann hob die Hand. Alle Wagen blieben stehen. Und der König übersetzte eine Straße. Er hatte ein Buch unter dem Arm. Er mußte also ein weiser und gerechter König sein. Thomas trieb seinen Spaß mit sich. Er war über alles Maß glücklich und konnte seine Freude nicht umgrenzen. Rese war der erste Mensch, dem er es verraten durfte:
»Ich bin Buchhändler geworden.«
Er nahm es mit der Zeit nicht so genau und tummelte ihr wunderbar voraus. Rese schlug die Hände zusammen und bedauerte ihn aufrichtig:
»Armer Teufel!« Ihr war nichts so zuwider als Bücher. Und nun gar ein Buchhändler!
Auch Brigitte schien kaum begeistert.
»Also doch kein Pfarrer?«
Thomas hatte nie daran gedacht, hatte es nie versprochen, hatte sich einmal schon geweigert und wollte sich eben auch erklären ... Da entdeckte er das Buch unter dem Arm. Ein Schrecken lähmte ihn. Er kam sich wie ein Dieb vor und meinte alles wiederum verloren. Er lief zurück, als wüßte man schon in der ganzen Stadt, was er für einer war, schoß wie ein Pfeil hin und stieß alles nieder, was sich ihm entgegenstellte, hielt sich an keine Ordnung, lief blindlings und besessen und kam doch schon zu spät. Der Laden war geschlossen. Thomas knickte in sich zusammen. Er sah die Welt einstürzen und seine Hoffnungen begraben. Ein Leidtragender hinter seinem Sarg, so kam er nach Hause.
Vorlenz ist eben gegangen. Er hat sich also doch nicht scheiden lassen. Es war auch kaum nötig. Er kam immer nur auf einen flüchtigen Besuch, blieb sein eigener Gast und konnte gehen, wann es ihm beliebte. Der Augenblick war schlecht gewählt. Vorlenz trat in einen Haß, wie man in eine Pfütze tritt. Herr Stein ist ihm begegnet. Er duftete nach Weibern und Zigarren. Vorlenz hatte eine Nase dafür. Aber das war es nicht allein. Vorlenz hatte schon auch seinen Geruch. Er ist nur ein verdammter Esel gewesen und hat gegrüßt, und das wurmte ihn. Herr Stein schien nicht gehört zu haben. Vorlenz war eigentlich anderer Meinung, doch das durfte er nicht gelten lassen, sonst hätte er nachlaufen und ihn niederschlagen müssen ... »Hätte es längst tun sollen«, knurrte er vor sich hin und hatte keine Ursache sonst als seinen Haß.
Thomas wollte nicht essen. Es gab Milch und Kartoffeln.
»Du kannst dir auch ein Schmalzbrot nehmen, aber ... aber das Fett ist wieder teurer geworden«, sagte Brigitte und grämte sich, weil sie es nicht verschweigen konnte. Thomas dankte. Er hatte keinen Hunger, wirklich keinen.
»Du hast seit drei Tagen fast nichts gegessen«, klagte sich die Mutter an.
»So?« fragte er verwundert und dachte nach. »Nein, die Suppe, die gute Suppe, weißt du? und der Reis ... Das war doch gestern erst.« Er log, um die Mutter zu trösten.
Es ging ihnen unbarmherzig schlecht. Die Waschtage wurden selten. Bedienungen gab es überhaupt keine mehr. Verblieb als einziges Geschäft, daß Brigitte morgens Milch ausführte, einen schweren Karren schleppte und sich totlief, noch ehe der Tag richtig begonnen hatte. Der Lohn war niederträchtig: ein Liter Milch, ein Wecken Brot und etwas Schuhgeld. Das ist alles gewesen und hätte wahrhaftig nicht weniger sein können. Zum Glück aß Rese bei Frau Grießner, hatte Thomas einen Magen, dem bald etwas genügte, war Brigitte ohne jedes Bedürfnis und lebte vom Hungerleiden. Es war kaum anders möglich.
Thomas schlief nicht. Er wartete mit Todesängsten, bis es morgen wurde, hatte das Buch unter den Polster gesteckt, lag hart darauf, und büßte seine Sünden ab bis auf die eine, schon weil es keine war. Es schaute nur so aus. Doch wird ihm das der Herr auch glauben? Thomas litt die Folter endloser Stunden. Nur wer eine Nacht durchwartet, weiß, wie lang sie ist. Da schleichen müde Sekunden, schleppen sich lahme Minuten; da will es nicht viertel werden, ist der Weg so weit auf halb, daß man sich schier unsterblich dünkt mit all den Jahren, die man schon alt ist und die man noch älter wird. Thomas stand mit der Mutter auf. Es war zeitlich früh und immer noch Nacht. Er half ihr den Karren schleppen und die Flaschen tragen, lief in die Stockwerke hinauf und war froh, es tun zu dürfen. Verging doch die Zeit ganz anders, lief mit ihm davon und überholte ihn beinahe.
Thomas mußte sich beeilen, wenn er noch vor sieben dort sein wollte. Er war es mit dem Stundenschlag und stand sich müde, stand um neun noch dort und bangte schon ... Da kam Herr Berg getrippelt. Er ging wie ein kleines Kind, das noch kein richtiges Vertrauen zu dieser Erde hat, und war doch schon ein alter, ein uralter Mann. Thomas bemerkte das erst jetzt. Im Laden, unter den Büchern, die noch viel älter waren als er, wurde jeder Mensch jung.
»Guten Morgen!« grüßte Thomas und hätte bald auch gefragt: »Wie gehts? Wie stehts?« nur weil er höflich sein wollte und ihm sonst nichts einfiel.
»Du da?« Es klang mehr überrascht als erfreut.
»Ich hab das Buch, ... hab es in Gedanken mitgenommen und ... und bin gestern noch ..., es war aber schon zu spät, war schon gesperrt.« Thomas errötete, und das ist dumm von ihm gewesen.
»Was für ein Buch?«
»Das da.«
Herr Berg tupfte an die Torklingel und examinierte weiter:
»Titel? Verlag? Auflage? Preis?«
Thomas erbleichte. Er hatte das Buch eine Nacht lang bei sich gehabt und nicht angeschaut, nicht einmal aufgeschlagen, nicht darin gelesen, hatte sich nicht getraut und hätte es doch tun sollen, tun müssen.
»Das werden die besten Buchhändler, sagt man«, beruhigte ihn Herr Berg und widersprach sich gleich darauf selber: »Ich bin freilich anderer Meinung und sage: Ein Greißler, der nicht weiß, wie sein Käse schmeckt, soll auch keinen verkaufen, und ein Buchhändler, der seine Bücher nicht anschaut, betrügt sich und die Kunden, erleidet also einen doppelten Schaden.«
Der Hausmeister kam und machte sich geschäftig. Er schob die Rollbalken hoch, sperrte die Türe auf und maß Thomas mit feindlichen Blicken. Das war kein Käufer. Das konnte nur ein Lehrjunge sein, und der schien ihm überflüssig. Herr Berg zog den Winterrock aus, und der Hausmeister hing ihn auf einen Nagel, den man wissen mußte, weil man ihn nicht sehen konnte. Thomas merkte sich alles gut. Herr Berg trat an das Pult und flog die Zeitung durch. Der Hausmeister kam mit einem Trichter, von dem Thomas leider nicht erspäht hatte, wo er sich versteckte, und spritzte auf, achtete genau, daß nirgends eine Pfütze wurde, schrieb herrliche Schlingen auf dem Fußboden und holte den Besen. Er lehnte in einem Winkel zwischen Laden und Magazin. Auch die Schaufel war dort, denn sie fiel um. Thomas hielt Augen und Ohren offen und wußte schon allerlei. Das Staubtuch lag im zweiten Fach rechts neben der Türe. Flasche und Gläser standen auf dem Pult. Und die Wasserleitung war hinten bei der Spinne. Das hatte Thomas schon gestern gesehen. Die Aschenschale wurde über der Schaufel entleert und der Mist hinausgetragen. Wahrscheinlich in den Hof. Das mußte sich finden lassen.
Herr Berg blätterte immer noch in der Zeitung, las da ein Stück, dort eine Überschrift und ließ deutlich an seinen Mienen erkennen, was er davon hielt. Es war kein guter Tag. Die Welt hatte sich schlecht benommen. Thomas stand und wartete, schaute die Bücherreihen ringsum an und begriff nicht, wer das alles kaufen und lesen sollte, und schon gar nicht, wer da Buch für Buch, Seite um Seite und Zeile für Zeile geschrieben haben konnte. »Es sind bestimmt über tausend Bände«, unterschätzte er lächerlich und berechnete falsch: »Jeder fünf-, sechshundert Seiten stark, ... macht eine halbe Million.« Thomas schauderte und spekulierte weiter: »Jede ungefähr dreißig Zeilen zu je neun, zehn Wörtern, ... das sind ...« Er kam nicht zu Ende.
Herr Berg blätterte wieder einmal um und fragte über das Blatt weg:
»Wie heißt du eigentlich?«
»Vorlenz.«
»Und was willst du da?«
»Buchhändler werden«, lachte Thomas über das ganze Gesicht, als ob er es schon wäre.
»Ich hab dir doch gesagt ...«, wetterleuchtete der alte Herr, ließ den Bart wippen und sträubte die Brauen, sah aber nicht hin und verlor auch sonst die Lust, weiterzureden. Der Junge hatte es ihm angetan. Er war in altes Leder gebunden, eine frische, grüne Geschichte, doch in altem, gediegenem Leder. Ein Buchhändler merkt das. Und Herr Berg war außerdem noch Menschenkenner.
»Ich hab mir gedacht ...« Auch Thomas kam nicht recht vom Fleck.
»Was hast du dir gedacht?«
»Es ist doch gleich.«
»Was denn, zum Henker?« Der Buchhändler wurde ungeduldig wie einer, der ahnt, daß er kaum siegen wird, und deshalb seine Niederlage nicht erwarten kann.
»Jetzt oder Februar, das ist doch gleich für Sie.«
»Und für dich nicht?«
»Nein«, schluckte Thomas, hielt immer noch das Buch in den Händen, krampfte die Finger um den Band, als wollte er sich festkrallen, und sagte stockend, jedes Wort ein Stein, der ihm vom Herzen fiel und hart zu hören war: »Ich kann nicht warten, ... muß verdienen ... Die Mutter hat kein Geschäft, ... nur die Milch in der Früh, ... und der Vater, ... der Vater ...« Da knackste die Stimme ab, war es aus mit der Rede, stieg Angst und Scham in sein Gesicht, umflorten sich seine Augen und senkten die Blicke wie Trauerfahnen.
Herr Berg wußte genug und fragte nicht weiter, faltete die Zeitung zusammen, legte sie in ein Fach und konnte nicht begreifen, daß Thomas immer noch dastand und wartete.
»Du willst auch noch dafür bezahlt werden?« lächelte der Buchhändler, nicht eben angenehm berührt und trommelte mit den Fingern auf das Pult.
»Nicht? ... Wird man nicht?« zitterte Thomas, fühlte sein Leben an einem Haar hängen und sah schon eine Schere kommen, um es abzuschneiden.
»Wir haben doch kein Geld, ... gar keines«, schluchzte er hilflos und verzweifelt, ließ in der Aufregung das Buch fallen, bückte sich drum, blieb knien, hob Hände und Buch auf und blickte so verlassen drein, daß der Buchhändler tüchtig an sich halten mußte, um nichts als Buchhändler zu sein.
»Man wird ja sehen«, sagte er und hatte eigentlich nichts damit gesagt.
Für Thomas war es eine Anstellung, Siegel und Brief. Er ist Buchhändler geworden und blieb es. Gelegenheit war eine Menge da. Thomas fing mit der Auslage an. Sie starrte vor Schmutz. Er fegte und wischte, daß er ganz schwarz wurde vor Ruß und sich dreimal waschen mußte, um einmal sauber zu werden. Herr Berg ließ ihn gewähren. Es war wohl nicht ganz nach seinem Sinn, aber es konnte den Büchern nicht schaden und den Brettern nur nützen. Thomas wollte auch das Fenster putzen, doch das Fenster wollte nicht. Er malte nur schmierige Landkarten hinein, graue Meere und fladrige Berge, die, je mehr er sich mühte, desto grauer und fladriger wurden. Thomas schleppte Kübel um Kübel voll Wasser hinaus und wußte doch nichts Rechtes damit anzufangen.
Es wurde zwölf, und der Buchhändler ging essen. Auch Thomas lief nach Hause. Er wollte die Mutter fragen, wie das mit den Fenstern ist, traf Agnes im Tor und hatte die Richtige gefunden. Sie nahm die Sache ohne Umstände gleich selber in die Hand.
»Ihr sperrt um sechs. Du bleibst dort. Ich warte, bis er weggeht. Und dann baden wir die ganze Bude.«
Thomas wollte erst nicht recht, zierte sich und hatte so viele Bedenken, daß er sie gar nicht aufzählen konnte. Es blieb aber doch dabei. Die Fenster konnten unmöglich so bleiben. Herr Berg erlaubte es nur ungern, doch Thomas bat in einer Weise darum, die keine Absage vertrug.
Agnes war pünktlich. Sie brachte auch eine Rehhaut mit und zeigte gleich beim Auslagefenster, was sie konnte. Thomas war begeistert. Er hatte so etwas von einer Scheibe noch nie gesehen. Da gab es kein Heraußen und kein Herinnen, da war überhaupt nichts dazwischen. Thomas spielte den großen Herrn daneben, ging wie der Buchhändler selber um, stand beim Pult und trommelte mit den Fingern, schenkte sich aus der Flasche Wasser in ein Glas und trank, obwohl er keinen Durst hatte, blätterte in dem großen Buch und sah jetzt erst, daß es nur Namen enthielt und gar nicht interessant war. Agnes bewunderte ihn. Er war groß und schön und wurde ein Buchhändler, wird einmal auch so einen Laden haben und reich sein, sich eine Villa bauen und ... Nein, an seine Frau wollte Agnes nicht denken. Sie liebte ihn, und er wird schon noch einsehen, daß es keine bessere Frau für ihn gab als ...
»Kllllling!« machte es, und eine Scheibe war hin.
Thomas bückte sich, als wäre sie ihm auf den Kopf gefallen. Agnes konnte nichts dafür. Das mußte jeder sehen. Der Kitt war längst schon abgebröselt. Kein einziger Stift saß fest. Das Glas hing in der Luft und hat sich mutwillig selber aus dem Rahmen gestürzt, wahrscheinlich um Agnes zu bestrafen, weil sie denken konnte, was sie dachte. Wie immer man es drehte: Die Scheibe war zerbrochen, und das ist ein großes Unglück gewesen. Thomas stand vor einem Grab. Er hätte am liebsten geweint und konnte nicht einmal schimpfen. Agnes rang stumm die Hände. Es war wohl nur ein kleines Auslagefenster neben der Türe, aber doch ein Fenster.
»Hast du Geld«, fragte sie und wußte voraus, wie es damit stand. »Ich hab auch keines«, seufzte sie und wollte sterben, ins Wasser gehen oder sonst ein Ende machen. Doch das konnte Thomas unmöglich annehmen. Es hätte auch der Scheibe kaum genützt.
»Vielleicht sieht er es nicht«, meinte Agnes und versuchte zu lächeln.
»Glaubst du, ich will ihn betrügen?« verwahrte er sich unwirsch und männlich entrüstet. Er war in allem der bessere Mensch, und Agnes konnte niemals hoffen, seine Frau zu werden.
Sie kehrten die Scherben weg und klaubten jeden Splitter auf. Das Unglück blieb. Daran war einmal nichts zu ändern. Und so fanden sie sich langsam damit ab. Agnes fiel über den Fußboden her, als ob der und niemand sonst an dieser Sache schuldig wäre. Hier konnte sie zeigen, was ihre Arme vermochten. Er war nicht aus Glas, der Boden, und hätte es auch gar nicht sein dürfen. Agnes hatte Seife und Bürste mitgebracht und rieb, daß in den Fugen der Schaum und auf ihrer Stirne der Schweiß stand. Thomas griff nun selber mit an. Er wollte offenbar dadurch ein zweites Unglück verhindern. Er huschte mit dem Staubtuch herum, wischte erst die unteren Regale sauber, stieg dann auf die Leiter und machte sie von oben herab wieder schmutzig. Er stellte sich überhaupt so ungeschickt an, daß Agnes lachen mußte, ihn auslachen. Thomas legte sogleich das Staubtuch wieder weg, kletterte von der Leiter, wusch sich und wurde wiederum ein Herr, Buchhändler Thomas Vorlenz, Bergs Nachfolger oder so. Im Magazin war an ein Aufräumen unmöglich zu denken. Da lag eine solche Menge Bücher auf dem Boden herum, ein Haufen da, ein Haufen dort, daß man kaum stehen und sich keinesfalls bücken konnte. »Schade!« bedauerte Agnes, denn hier lag der schönste Schmutz, fingerdick und ofenschwarz. Sie war ganz rot vor Eifer und müßte auch Thomas gefallen, wenn er nicht Phine Stein schon in sein Herz geschlossen und Rese nicht zur Schwester hätte. Die waren beide hübscher. Agnes würde sich auch kaum verglichen haben. Phine war die Tochter des Hausherrn und von ihr so weit entfernt wie irgend ein anderer Stern, und auf Rese konnte selbst Agnes nicht eifersüchtig sein. Man liebt keine Schwester. Das war auch der Brauch bei ihnen zu Hause und wird wahrscheinlich überall so sein.
»Muß man denn die Bücher da herumliegen lassen?« fragte sie gestört und hatte Thomas auch schon beredet. Das war endlich ein Geschäft, an dem er teilnehmen konnte, war sein Geschäft. Und sie bauten einen hohen Stapel an die Wand, der immer höher und immer schwankender wurde. Es war, milde gesagt, ein Verbrechen. Aber das konnten sie beide nicht wissen. Hinter dieser äußeren Unordnung steckte nämlich ein tiefer innerer Sinn, der die Bände enger zusammenschloß, als es durch Hände geschehen konnte. Das verstand freilich nur ein Buchhändler, und Thomas ist eben erst einer geworden. Agnes stand auf der Leiter und baute den Turm. Thomas reichte die Bände hinauf, hatte es schon hundertmal getan und nichts gesehen, verirrte sich erst jetzt mit seinen Blicken unter ihre Röcke, schaute, was er noch nie geschaut hatte, und stand plötzlich in einem Feuer, von dem er nicht wußte, ob es brennen durfte, und schon gar nicht, wie er es löschen sollte. Agnes errötete mit ihm und klemmte die Füße zusammen. Thomas reichte das Buch nicht mehr hinauf, legte es hin, ging in den Laden hinaus und zündete das Licht an. Es war finster geworden, und er fürchtete sich. Der Stapel war fertig, und Agnes putzte noch schnell das Fenster in den Hof hinaus. Sie hatte ebenfalls Angst, ihm unter die Augen zu kommen. Thomas las in dem dicken Band auf dem Pult, stopfte die Namen in sich hinein, ahnte von den Zahlen nicht, was sie bedeuten sollten, und hatte es gerade auf sie abgesehen. Mit den Worten kommen allerlei Gedanken; bei Zahlen kann man unmöglich an ein Mädchen denken, auch wenn es noch so schlanke Beine hat und was dazu gehört.
Agnes wurde endlich fertig und war froh, von da fort und nach Hause zu kommen. »Ob er mit mir geht?« fragte sie sich stumm und hatte keine Hoffnung, weil ihre Hose geflickt und ein Strumpf zerrissen war. Thomas ging noch einmal ihre Arbeit ab, kam in das Magazin und ...
»Wo ist die Spinne?« schrie er unbegreiflich laut und erregt.
»Wie hätt ich denn sonst Fenster putzen sollen?« beruhigte ihn Agnes und war gewiß, daß er sie bloß ärgern wollte.
»Du hast sie getötet?« schrie er noch lauter, noch erregter.
»Warum nicht?« Agnes konnte unmöglich verstehen, was er an dieser Spinne hatte und warum er so schrie. »Wie hätt ich denn anders Fenster putzen sollen?« entschuldigte sie sich noch einmal und war sicher, daß ihr auch Gott verzeihen müßte, wenn er sich um solche Dinge kümmern würde.
Thomas wäre gern trauriger gewesen, als er war. Immerhin schnitt er ein böses Gesicht und sprach kein Wort mehr mit Agnes. Er dankte ihr auch nicht für die Arbeit und schickte sie allein nach Hause. »Es ist besser so«, fühlte sein Herz und gab ihm recht. Er sperrte den Laden ab, trug die Schlüssel zum Hausmeister, tummelte sich heim, kam noch vor Agnes an, die es weniger eilig hatte, und lauerte ihr im Eingang auf.
»Es braucht nicht jeder zu wissen, daß du mir geholfen hast.«
»Wie werde ich denn, Thomas!« wehrte sich Agnes und war selig, mit ihm ein Geheimnis zu haben.
Brigitte lag im Bett. Sie war nicht gerade krank. Sie hatte wohl erbrochen, aber das kommt vor, das war noch lange nicht krank. Auch der Schwindel im Kopf und das Sausen in den Ohren hatte kaum etwas zu sagen, besonders wenn man darüber schweigen mußte. Thomas ist also wieder um eine Freude gekommen. Er hätte ganz gut ein Fest verlangen können, einen weißgedeckten Tisch mit Blumen, Eierspeise und Obst oder doch ein freundliches Gesicht oder zum mindesten ein paar neugierige Ohren, um ihnen zu berichten, was sich ereignet hat und wie glücklich er war. Thomas ist Buchhändler geworden. Es war sein erster Tag. Und nun hatte er keinen Menschen, mit ihm diese Freude zu teilen. Die Mutter lag im Bett, Rese trieb sich wie immer herum und an den Vater war überhaupt nicht zu denken. Es grämte ihn tief. Er wollte aber doch nicht weinen. Agnes hatte ihm geholfen. Und das wird er ihr nie vergessen. Brigitte lebte abseits und einsam, seit sie sich Mutter fühlte, Gottes Mutter, wie sie meinte. »Er wird Josef heißen und Jesus sein«, flüsterte sie mit sich und achtete auf keinen, der es hören könnte. Ihre Augen hatten einen unirdischen Glanz. Ihre Hände blieben fast immer gefaltet. Und ihre Gedanken waren nur von dem einen besessen: »Er wird Josef heißen und Jesus sein.«
Thomas schlief, wie das Leben in einem Steine schläft. Er löschte aus und war am Morgen kaum zu wecken. Ein Glück, daß der Buchhändler niemals vor neun Uhr kam. Die Scheibe hatte kein Zauber eingeschnitten. Ganz unten in seiner Seele, dort, wo die Märchen der Kindheit lagen und immer noch lebten, hatte Thomas gehofft und es heimlich erwartet. Herr Berg sah die Bescherung auf den ersten Blick.
»Nur die eine? oder noch?« fragte er lachend und schien wirklich überrascht, daß es nicht mehr gewesen sind. Er klingelte die Versicherungsanstalt für Fensterglas an und freute sich beinahe über das Geschäft, er hätte sonst nicht so leichtfertig sagen können: »Zehn Jahre lang zahl ich bis jetzt und habe noch keine Scherben gehabt.« Thomas verstand kein Wort davon, glaubte nun aber doch an Zauberei. Bis Mittag war die Scheibe eingeschnitten und das Unheil ausgetilgt. Dann aber kam das andere und hörte sich schon schlimmer an.
»Wer hat denn die Bücher da weggeräumt?«
»Ich«, zeigte Thomas und war nicht wenig stolz darauf.
»Esel!« schnauzte ihn der Buchhändler an, war wütend und verriet eine Stunde lang nicht einmal warum. Dann erst erfuhr Thomas zu seinem Schrecken: »Die Sachen waren schon sortiert. Jetzt kann ich wieder von vorne anfangen und mich bei dir bedanken, du Esel.«
Thomas schob alle Schuld bei sich auf Agnes und trug die Folgen wie ein Mann. Er entschuldigte sich und half, so weit er helfen konnte. Die Arbeit war übrigens geringer, als es den Anschein hatte. Die Bücher sind der Reihe nach aufeinander geschichtet worden und, wenn auch in einer anderen Ordnung, so doch beisammen geblieben. »Hast noch Glück gehabt«, schwächte Herr Berg seine harten Worte ab und kriegte es nicht leicht mit diesem Lehrjungen. Er liebte ihn. Es ließ sich nicht leugnen. Der Buchhändler stand allein, und Thomas war ihm zugelaufen. »Wie ein junger Hund«, dachte der alte Mann. Und das vergißt sich nicht, das greift ans Herz, auch wenn man keines mehr zu haben glaubt. Herr Berg verschanzte sich freilich noch hinter allerlei Vorbehalten, aber es nützte ihm nichts. Er hatte den Jungen gern, und das sickerte bald überall durch.
Thomas mußte mit Briefen und Paketen auf die Post. Das Beförderungsmittel war ein Rucksack. Und das störte den angehenden Buchhändler. Man hätte ihn damit auch für einen Holzhändler halten können. Die Sorge dieser Eitelkeit war übertrieben. Thomas schaute so oder so ganz wie jener arme Teufel aus, der er gewesen ist, dem die Absätze schief standen, die Hose ausfranste und der Rock nicht mehr paßte. Herr Berg überreichte ihm abends ein Extrageld für die Reinigung. Thomas beschloß mit Agnes zu teilen, brachte es aber nicht übers Herz. Er kaufte ihr bloß eine Rippe Schokolade und sparte mit dem übrigen, um immer Geld zu haben, jenes bißchen, das notwendig ist, sich einen Bleistift anzuschaffen, gelegentlich auch einmal eine Zigarette zu probieren, mit der Straßenbahn zu fahren, wenn es regnet, und nicht in Verlegenheit zu kommen, wenn man Geld braucht. Er hatte wohl keine fixe Vorstellung von dieser Möglichkeit, rechnete aber doch mit ihr. Agnes nahm das Geschenk wie eine Königskrone entgegen und verwahrte es in ihrem Koffer. Vorerst aber schrieb sie mit einer Haarnadel in das Stanniolpapier: »Von Thomas« und zeichnete ein Herz dazu. Es war nämlich bei den Grögers eingeführt, daß jedes Kind ein Köfferchen hatte und darin seine Sachen aufbewahren mußte. Die Einrichtung hatte sich bewährt. Bei den vielen Kindern wäre für Kasten überhaupt kein Platz gewesen, und dann war auch noch das: Wenn eines groß wurde und sich selbstständig machte, nahm es bloß seinen Koffer, ging fort und war ausgezogen.
Vorlenz hatte sich in Brennesseln gesetzt. Hermine hielt ihn kurz wie ein störrisches Handpferd und knauserte sogar mit Kleinigkeiten. Er rauchte ihr zuviel. Es war lächerlich. Was hätte er sonst machen sollen? Arbeiten konnte er nicht. Das ist ihre Sache gewesen. Studieren war nie sein Fach. Blieb nur der Müßiggang, und der geht gewöhnlich in Rauch auf. Hermine ließ ihn fast auch verdursten. Beim Essen war sie nicht neidig. Das hatte intime Gründe. Aber beim Trinken wurde sie geizig. Zweimal ein Viertel im Tag ist keine Ration für einen, der anfängt welk zu werden. Und Vorlenz kam in die Jahre. Er brauchte Anfeuchtung, sonst wurde er dürr. In Wahrheit ist Hermine weder neidig, noch geizig gewesen. Sie verdiente bloß immer weniger. Das Geschäft ging schlecht. Die Männer wurden auch in der Liebe rar. Hermine fiel im Preis. Man bevorzugte schlanke, ausgeronnene Typen. Sie entsprachen der Zeit besser, die auch nicht gerade üppig war. Das bekam Vorlenz zu spüren. Er wurde ebenfalls auf mager gesetzt. Ein Versuch, sich nebenher zu engagieren und seine Kasse aus anderen Börsen aufzufrischen, hatte fehlgeschlagen, wirklich geschlagen. Und Hermine verfügte über eine tüchtige Hand. Wo die hingriff, dort war ein blauer Fleck sicher. Es ist also wieder nur ein Hundeleben gewesen, wenn auch ein anderes. Dazu kam noch eine delikate Angelegenheit: Vorlenz hatte Hermine satt. Ihr wuchtiger, überschwellender Körper ging ihm doch mächtig wider den Geschmack und machte ihn schwächlich bei Erfüllung seiner anstrengenden Pflichten. Brigitte lag ihm mehr, doch die wollte nichts von ihm wissen, die kriegte ein Kind und wollte durchaus heilig damit werden. Vorlenz hatte Pech. Die Wechsel seines Daseins waren falsch, wo immer er sie präsentierte. So ist niemals etwas ganz in seinem Leben gewesen. Das schafft Verdruß, und der sucht sich ein Ventil. Für Johann Vorlenz war es der Haß auf den Juden Stein, dem immer alles glückte und der, wenn auch die Nase schon im Dreck steckt, doch wieder in den Himmel zurückfällt. Es gab eine Unzahl reicher Leute ringsherum. Vorlenz sah nur diesen einen und konzentrierte seine ganze Wut auf ihn. Er konnte nicht essen, ohne zu denken, was der aß, und konnte nicht schlafen, ohne zu vergleichen, wo der lag. »Die Russin soll eine bildschöne Frau sein und sich täglich in Milch baden«, hatte er gehört und mußte lachen, wenn er an den Riesenbottich dachte, den Hermine dazu nötig hätte. Es ist aber ein böses Lachen gewesen und alles miteinander kein Spaß für ihn. Er war ungerecht, der gute Vorlenz, und wäre bei einiger Bescheidenheit glücklicher geworden.
Rese ging mit Fritzi zu einem Match der Vienna. Erst spielten die Jungen. Schurli konnte sich wirklich sehen lassen. Er war eine Hoffnung, sagten alle. Aber Rese konnte nicht so lange warten. Sie hielt es mit Wenzel, der Bombe. Die Bekanntschaft war gemacht. Das hatte Franki besorgt. Er tat dem großen Vereinsbruder gern einen Liebesdienst. Es war nicht leicht. Wenzel wurde bloß vor dem Leder zur Bombe; unter Mädchen war er ein sanfter Täuberich, gurrte gern ein bißchen, hatte aber bald genug. Sein Ruhm gab ihm Gelegenheit, zu nehmen, was er nur wollte, mehr Gelegenheit, als er brauchen konnte. Rese tat es ihm besonders an. Sie war frisch und knallgesund. Er hätte sie am liebsten gleich in die Wangen gebissen. Sie war quick wie ein Wiesel, und das paßte zu ihm. »Mein Mann«, fühlte Rese sogleich und zielte ihr Leben daraufhin ab. Sie war schon auch verliebt, doch nicht so unbedingt, daß sie ihn haben müßte. Dem Herzen nach hätte es auch ein anderer sein können. Der Franki zum Beispiel gefiel ihr schon besser, aber der war keine Bombe, war nicht berühmt und verdiente kaum den zehnten Teil. Rese ist zwar immer eine schlechte Schülerin gewesen und im Rechnen zweimal durchgefallen, doch jetzt konnte sie sogar mit unbekannten Zahlen spekulieren und irrte sich nicht einmal dabei. Wenzel spielte heute ihr zur Ehre. Er war göttlich. Ohne ihn wäre das Spiel verloren gegangen. So aber siegten sie drei zu null. Rese konnte nicht begreifen, daß die Erde noch Erde, die Sonne noch Sonne blieb, daß es nicht plötzlich finster wurde und dann Sterne hagelte, so groß wie eine Faust und jeder ein echter Diamant. Sie wollte nämlich einen Ring haben, und das wäre dann höchst einfach gewesen.
Brigitte kniete unterdessen in der Kirche und beichtete:
»... Ich hab es nicht wollen. Aber es ist doch ein Kind geworden. Gott hat es befohlen. Ich bin seine Magd Maria, und mein Kind ist Gottes Kind.«
»Wir sind es alle, liebe Frau«, versicherte der Pfarrer und wurde unruhig auf seinem Sitz.
»Nein, nein,« wehrte Brigitte ab, »nicht so.« Sie schlug ein Kreuz zum Zeichen. »Es ist wie eine Kirche in mir, ist ein Altar, und darauf liegt das Kind. Es wartet nur, bis seine Zeit gekommen ist. Dann wird das Wunder. Dann kommt Jesus noch einmal und sperrt den Himmel auf. Ich höre schon die Engel singen, höre die Posaunen blasen ... Still! Still! ... Eben wieder. Hören Sie es nicht?«
Der Pfarrer sprach sie frei. Frauen, die ein Kind im Leibe tragen, müssen ohne Sünden sein, denn sie sind Werkzeuge des Herrn, um die Schöpfung zu vollenden.
Der Winter ist mild gewesen. Es hatte überhaupt kaum ordentlich geschneit. So konnte der Frühling nicht härter werden. Er stand doch in besserem Ruf und hielt etwas darauf. Die Erde war noch grün. Er frischte sie nur heller auf. Die Bäume knospeten schon. Er machte sie blühen. Die Vögel hatten das Singen wohl nicht verlernt, aber es klang doch jetzt anders. Und die Menschen, die wußten vor Freude gar nicht, wie sie dankbar sein sollten. Der März wurde zum Mai und der April zum Sommer. Immer lachte der Himmel, und immer freute sich irgendwer darüber.
Nur Thomas bemerkte nichts davon. Er wurde ein Buchhändler und machte sich. Er war klug und wußte bald überall Bescheid. Der Laden ist eine Stadt, und die Regale sind ihre Straßen. Das hatte er in einer Woche weg und kannte sich schon in der zweiten aus wie die Katze im Keller. Die Bücher wurden zu Häusern, nur daß sie Namen statt Nummern trugen. Thomas war Briefträger zwischen ihnen und den Kunden. Sie kamen recht selten. Das fiel auf. Aber dann gab es gewöhnlich eine Post von zwanzig und mehr Bänden und so viel Geld, daß man wieder ihrer hundert davon kaufen konnte. Thomas steckte noch im Überblick und wußte kaum mehr als einer, der von einem Wald weiß, daß er aus Bäumen besteht. Die Aufgabe der Äste und Zweige, der Wurzeln und Würzelchen, des Rundherum und Nebenher war ihm noch fremd. Herr Berg berichtete nicht gern. Er war das Alleinsein gewöhnt und blieb es auch weiterhin. Thomas störte ihn nur wenig, fragte kaum einmal des Tages und suchte seine Weisheit selber zu finden. Es war das wohl nicht der kürzeste, aber der sicherste Weg, ein guter Buchhändler zu werden. Thomas wurde es vom Leser her, also von innen aus. Sein Studio war die Leiter im Magazin. Sie stand vor dem Fenster und hatte Licht genug, um sich hinaufzusetzen und zu lesen, das heißt, um alles rings zu vergessen und mit den Buchseiten als Flügeln in eine andere Welt zu fliegen. Sie war durch keine alltäglichen Umstände behindert und gehemmt und darum ein Kristall jenes Lebens, von dem wir alle nur gelegentliche Bruchstücke mitmachen dürfen. Im Laden draußen lagerten die ehrwürdigen Folianten in Schweinsleder gebunden, mit goldenen Ecken und Beschlägen und roten Buchstaben verziert, meist in lateinischer Sprache geschrieben und schon deshalb fremd für einen, der gerade noch deutsch kann. Herr Berg war ein gebildeter Mann. Er hätte eigentlich Doktor werden sollen, ist aber ein Buchhändler geworden, weil sein Vater schon einer war und der Laden hier nicht ohne Herrn bleiben konnte. Thomas hatte das vom Sohn des Hausmeisters erfahren, der noch viel mehr wußte, es jedoch nicht sagen durfte. Thomas stand bedingungslos zu seinem Herrn. Er nahm das Gute für wahr und wies alles andere zurück. Ein Mann wie Berg konnte nur groß und edel sein. Er hatte keine Frau. Das war bekannt. Wie aber wollte einer wissen, daß er schlecht von ihnen dachte? Er konnte unglücklich verliebt gewesen sein. Thomas war es doch auch. Er dachte an Phine und Rese zugleich. Es wurde immer merkwürdiger damit. Sein Ideal war Phine, und seine Lust wäre Rese gewesen. Er hätte das natürlich niemals zugegeben. Aber das ist gewöhnlich der beste Beweis für die Richtigkeit einer Sache. Thomas lebte zumeist im Magazin. Dort standen die Klassiker in allen möglichen Gewändern, gab es unzählige Romane, jeder einzelne ein Schicksal auf Papier, eine Hoffnung seines Dichters und eine Frage an den Leser: Wie findest du mich? Thomas las, hockte wie ein Frosch oben auf der Leiter, je höher, desto schöner war das Wetter in ihm.
Rese erlitt ein großes Leid: Die Grießner zogen aus. Ihr Häuschen war fertig und ihre Freude grenzenlos. »Wir haben einen kleinen Garten dabei. Er liegt in der Sonne und plustert sich. Auch ein Nußbaum ist da, von früher noch, wir haben ihn nur stehen lassen. Und die Aussicht! Nein, ich sage Ihnen: Diese Aussicht!« Frau Grießner konnte stundenlang so überlaufen. »Das Häuschen, ... der Garten herum ... und ein Nußbaum ... Das ist doch, ... ist doch mein Himmel«, erinnerte sich Brigitte und schaute Frau Grießner nimmer an, als hätte sie ihr die eigene Seligkeit damit gestohlen.
Zum Glück wurde Rese bald vierzehn Jahre und konnte in die Schokoladefabrik eintreten. Fritzi hatte schon mit dem Beamten gesprochen. Er hieß Hauser, war ein kleiner Mann mit großer Glatze, war auch verheiratet, ließ sich aber dadurch nicht beirren. Sein Posten war günstig. Er führte die Aufnahme durch und stellte seine Bedingungen: männliche Anwärter mußten bezahlen, weibliche konnten sich seine Gunst anders verdienen. Rese gefiel ihm sofort. Er hieß sie dicht neben sich Platz nehmen, fragte und schrieb zugleich: »Name? ... Adresse? ... Alter? ... Beruf des Vaters?« Das war schwer gesagt. »Vorbildung?« Da haperte es. Rese war in der Schule nicht hoch gekommen und legte ein Zeugnis vor, das ihrem ganzen Wesen, ihren schönen Augen und besonders ihrer klugen Rede merkwürdig widersprach. Der Beamte war verwundert und runzelte mißbilligend die Glatze. Rese log, was sie nur konnte: »Ich habe zweimal den Scharlach und einmal die Blattern gehabt, bin in der dritten Klasse von einem Baum gefallen und hab mir den Fuß gebrochen, den da.« Sie zeigte auf den linken Oberschenkel. Der Mann glaubte ihr aber nicht und wollte das genauer sehen. Rese dachte an Fritzi und schob das Kleid hinauf. »Nimm's nur nicht tragisch!« hatte die Freundin gesagt. »Einmal kommt jede von uns dran.« Der kleine Mann hätte ein Doktor werden sollen. Er untersuchte mit einer Gründlichkeit, die gewiß niemand von ihm verlangte, Rese am allerwenigsten. Sie hielt aber doch stand. Sie mußte aufgenommen werden und Geld verdienen, mußte sich neue Schuhe kaufen, einen feschen Hut, ein zweites Kleid und eine Perlenkette, nicht echt, aber lang, mußte alles das haben, wenn sie der Bombe gefallen sollte, wie sie ihr schon gefiel.
Da ging die Türe auf, und der Beamte griff zur Feder wie ein Soldat zum Gewehr, um es zu präsentieren. Der Direktor war ein strenger Mann. Rese erhob sich und knickste.
»Was gibt's?«
»Eine Aufnahme, Herr Direktor«, sagte der Beamte und stand unsicher vor seinem Tisch.
»Fertig?«
»Ja, bitte«, lächelte Rese, warf die Haare zurück und strich das Kleid glatt.
»Sind Sie gesund?« nahm jetzt der Direktor diesen Fall persönlich in die Hand.
»O!« Rese war nun überhaupt nie krank gewesen.
»Zeigen Sie die Zähne!« Das Gebiß war tadellos. »Die Hände!« Eine Dame hätte sich nicht schämen brauchen. »Wie heißen Sie?«
Da wurde der Beamte lebendig. Er überreichte das Aufnahmeblatt und dienerte ekelhaft:
»Alles in Ordnung, Herr Direktor, wie immer alles in der besten Ordnung.«
So ist Rese der kleine Mann mit der großen Glatze erspart geblieben. Er versuchte zwar in der Folge ein paarmal das Versäumte nachzuholen, kam aber nicht gut damit an.
»Ich bin persönlich aufgenommen worden, nicht durch Sie«, sagte Rese schnippisch und schien auch das andere dem Herrn Direktor vorzubehalten. Fritzi war ihrerzeit nicht so glimpflich weggekommen, und das hätte ihre Freundschaft bald getrübt, denn Rese ließ unverfroren durchblicken, daß sie sich deshalb für besser hielt. Es kam aber doch zum friedlichen Vergleich. Nur der Franki durfte nichts erfahren, und das hatte Rese feierlich versprochen. Sie hielt es auch, doch immer so, daß sich die andere davor fürchten mußte. Fritzi war in der Kakaoabteilung; Rese kam zu den Bonbons. Auch das war schon ein Unterschied vom Guten zum Besseren. Sie warteten täglich aufeinander, gingen spazieren, trafen Franki und waren bald auch mit Wenzel so weit. Er hatte einen Antrag nach Amerika, ließ ihn aber bleiben. Rese wußte schon warum. Er liebte sie. Es war ein Out, doch nicht zu ändern. Sie gefiel ihm. Er hatte sein Herz verschossen, mit einem Bombenschuß ins Netz dieses Mädchens verschossen. Rese war sein Goal. Er konnte nicht anders. Er wollte auch kaum. Ihre Augen lachten wie der schönste Himmel über dem besten Spiel. Ihre Lippen waren der herrlichste Siegespokal und ihre Küsse der edelste Champagner. Es ist nämlich schon so weit gekommen. Vostal war eben ein Stürmer und konnte auch in der Liebe nicht langsamer sein. Rese zierte sich nicht. Das wäre unklug gewesen. Sie war freigebig bis zum Letzten, doch nur bis dahin und niemals darüber hinaus. Etwas behielt sie hartnäckig zurück, und gerade das war es, was Wenzel begehrte. Er mußte sich freilich gedulden. Und das fällt einer Bombe schwerer als irgend einem. Rese liebte ihn eigentlich nicht. Er hatte ein schmales, verkniffenes Vogelgesicht, eine lange Nase schief um die Ecke und so pechschwarze Augen, daß sie wie Löcher in den Höhlen lagen und fürchten machten. Schurli war hübscher und wurde es täglich mehr. Er kam aber nicht in Frage. Er spielte in der Jungmannschaft und Wenzel im Team; er wurde ein Schuster, und Wenzel war ein berühmter Mann. Einmal vielleicht ... Aber das lag in der Ferne. Schurli dachte anders. Ihm war das Verhältnis natürlich nicht verborgen geblieben. Er bestürmte Rese. Doch das trug ihm nur ein Lachen ein. Er bat den Bruder, sich ein anderes Mädchen zu suchen. Das kostete schon eine Ohrfeige. Er ging mit dem Kneip auf Wenzel los. Das ergab ein Goal und hätte bald mehr gegeben. Die Bombe hatte einen seiner berühmten Elfer geschossen. Schurli war das Leder. Er flog durch die Werkstätte gegen den Arbeitstisch und brach sich eine Rippe. Vater Dostal schwang den Riemen und drosch das Opfer auch noch durch.
»Werd dir geben, Remasuri machen!« Wenzel war sein Stolz und seine Bibel. Was der sagte, das war gesagt; und was der tat, das war getan, auch wenn es um eine zerschlagene Rippe ging. Schurli konnte sich noch etwas einbilden darauf, konnte nach fünfzig Jahren noch erzählen: »Einmal hat mir der große Wenzel Vostal, mein berühmter Bruder, sogar eine Rippe gebrochen.«
Herr Berg mußte zugeben, daß er doch lieber zu zweit war. Er fühlte sich geborgener. Er hatte wohl nie gedacht, daß ihm etwas geschehen könnte, kam sich aber doch behüteter vor, seit Thomas um ihn herum war. Der Buchhändler ist zeitlebens ein Schweiger gewesen und sprach auch jetzt oft tagelang kein Wort, doch er könnte es tun, und das war der Gewinn. Die Botengänge hatte sonst der Hausmeister übernommen. Thomas war schneller und verständiger. Der Staub hatte den Buchhändler kaum je gestört, aber die Reinlichkeit war ihm nun doch lieber. Und wenn er den Jungen mit einem Buch auf der Leiter sitzen sah, dann freute sich der alte Berg, weil er auch einmal jung gewesen ist und das keiner vergessen kann, wie alt er auch wird. Thomas bekam Kleider und Schuhe geschenkt. Die Kleider wurden ihm angemessen und die Schuhe fertig gekauft. Es war eine Pracht. Agnes konnte sich kaum sattsehen daran, schon weil in ihnen Thomas Vorlenz stak und ihr Herz immer höher schlug, wenn sie ihn erblickte. So wäre das Leben wieder einmal recht schön gewesen.
Da trat das unbegreifliche Ereignis ein.
Thomas hatte ohne Erlaubnis vier kostbare Bücher mit nach Hause genommen. Der Grund war zweifelhaft. Er hatte im Laden Zeit genug, sie anzuschauen, hatte sie auch schon gesehen. Das konnte es kaum sein. Blieb nur, daß er sich patzig machen, daß er damit protzen wollte. Es waren große, dicke, schwere Bände in derbes Leder gebunden, mit silbernen Ecken und Schließen, vielen handgemalten Bildern und einem Text, den man nicht lesen konnte, weil er spanisch oder persisch war. Thomas wußte es selber nicht genau. Es konnte also auch chinesisch sein. Die Bilder hatten es ihm angetan. Sie waren mit anderen Augen gesehen und mit einem anderen Verstand gezeichnet worden. Alles an ihnen ist fremd und sonderbar gewesen. Die Pflanzen sahen wie Tiere aus und die Menschen wie Götter. Sie ritten auf geflügelten Rossen, die wiederum keine Rosse waren, weil sie Schwänze wie Salamander hatten und sich ringeln konnten. Auf den Bäumen blühten Blumen, aus den Blumen wurden Schmetterlinge, die als Wolken schräg zum Himmel flogen und dort in der Sonne farbenfroh verbrannten. Die Gewässer kochten, und die Berge spuckten Feuer. Es war eine Welt des Teufels. Und so konnten diese Bücher nur Zauberbücher sein. Thomas hockte schon eine Woche lang dabei und wurde nicht fertig mit ihnen, fing immer wiederum von vorne an und kam niemals zu Ende. Er hatte sie unter dem Pult gefunden und mit nach Hause genommen, wollte die Nacht durch darin blättern und ... Eigentlich wollte er ihnen bloß imponieren, der Mutter und Rese und Agnes. An den Vater wagte er kaum zu denken, obwohl er ihn vor allen und ganz besonders meinte.
Vorlenz ist seit vierzehn Tagen nicht daheim gewesen. Er mußte warten, bis ein blaues Auge verblaßt war. Es hat einen Streit gegeben, und Hermine ist ihm dabei in die Blicke gefahren. Vorlenz hat die Treue nicht gehalten, und das kann man sich nur bei seiner Frau erlauben, ein Mädchen wie Hermine denkt anders darüber. Das Auge wurde zum Regenbogen, aus dem es immerzu tropfte. Vorlenz mußte Umschläge machen und war nun doch so weit. Sein Besuch kam völlig überraschend.
Thomas hatte die Bücher auf dem Tisch liegen und zeigte und großmaulte gerade:
»... Die Ecken sind echtes Silber und die Bilder mit echtem Gold gemalt. Das Leder ist allein schon ein Vermögen wert ...«
Brigitte strich mit zitterigen Fingern über die Blätter, wie man Seide anfühlt oder feines Pelzwerk streichelt. Rese wog die schweren Bände in den Händen, als ob hier Gewicht und Wert dasselbe wären. Agnes war nicht zu Hause, denn sonst wäre sie auch mit dabei gewesen. Vorlenz brachte das vom echten Silber, echtem Gold und dem Vermögen nicht mehr aus den Ohren, schaute über die anderen weg wohl auch auf die Bilder, war aber nicht ganz bei der Sache. Er fraß eine Zigarette wild in sich hinein, fraß auch den Rauch und blies nur hie und da ein blasses Wölkchen über die Lippen, schaute ihm geizig nach und holte es wiederum zurück, ... alles ein Zeichen, daß er mit sich beschäftigt war und einen Gedanken drehte. Man beachtete ihn nicht. Man blätterte und schaute, zeigte herum und konnte das Wunder nicht begreifen, obgleich man es doch in Händen hatte, immer wieder aufhob, umlegte und auf seinen Geldwert schätzte. Thomas konnte keine Zahlen nennen, und so blieb jedem überlassen, sich den Reichtum vorzustellen, der da auf ihrem Tische lag und nicht recht in die Gegend paßte.
»Kann das überhaupt einer lesen?« fragte Rese und schauderte bei der Zumutung, es lernen zu müssen.
»Jedes Kind in Persien«, lachte Thomas und hatte sich also für dieses Land entschieden. Es stimmte sogar bis auf die Annahme, daß dort jedes Kind auch lesen kann.
»Und wer kauft sich denn das?« fragte die Mutter.
»Nur ein Sammler«, wußte Thomas schon aus seiner Erfahrung als Buchhändler, »eine Bibliothek oder wieder nur ein Antiquariat.«
Vorlenz spitzte die Ohren und legte sich nieder. Brigitte traute ihren Augen nicht.
»Du bleibst da?«
Er fand es nicht nötig, darauf zu antworten, schmiß die Schuhe hin, stieg aus der Hose und drehte sich zur Wand. Rese freute sich, weil er ihnen Scherereien machte. Thomas packte die Bücher zusammen, jedes in ein Papier und alle in ein Tuch, legte das Bündel neben sein Bett und kleidete sich aus. Er fiel in einen Schlaf, der wie die Bilder kraus und bunt war, nach Persien flog und dort lesen lernte. Es ging nicht leicht, und er schwitzte unter der Decke.
Brigitte hatte leibliche Angst, doch Vorlenz kümmerte sich nicht um sie. Er sagte »Gute Nacht!« und war auch schon weg.
Der Schlaf ist der beste Gesellschafter. Sein Umgang ist Schweigen, und das allein schon verbürgt Frieden und Freundschaft. Was die Träume tun, ist ihre Sache. Sie gehen eigene Wege und lassen die Schlafenden zurück wie Badende ihre Kleider. Sie liegen und warten, bis die Nacht vergeht, bis der Morgen kommt und mit der Sonne das Leben erwacht.
Brigitte schlief länger als gewöhnlich und hätte beinahe ganz verschlafen. Thomas und Rese hatten noch Zeit. Der Vater war fort. Es fiel nicht weiter auf. Man hatte wahrscheinlich überhaupt vergessen, daß er da gewesen ist. Es geschah so selten und war als Ereignis zu gering. Die Türe stand noch offen. Man sperrte sie meist gar nicht zu. Was hätte einer hier auch stehlen können? Brigitte kam vor sieben noch einmal vorbei und klopfte an das Fenster. Dann stand Rese auf und wusch sich. Sie hätte mit keinen Gedanken gedacht, daß ihr Thomas heimlich zuschaute, schon weil sie Bruder und Schwester gar nicht für Mann und Frau hielt, sondern nur für Geschwister. Es war die Stunde der Sünde für Thomas, sein höchstes Entzücken vor der tiefsten Reue. Er hätte Rese am liebsten an sich gerissen, ins Bett gezerrt und ... wußte doch gar nicht, was er noch wollte. Er kannte nur die Sünde an sich selbst. Er ahnte wohl, daß es auch eine Sünde zu zweien gab, hatte aber kuriose Vorstellungen davon und war glücklicher allein. Rese ging in die Fabrik. Thomas schlich nach ihr aus dem Bett, geißelte sich mit eiskaltem Wasser, struwwelte den Kopf, duschte die Brust und fühlte sich auch innen reiner werden. Junge Menschen bereuen schmerzlicher, doch sie vergessen leichter.
Vor acht Uhr kam die Mutter mit der Milch. Thomas kriegte eine Schale voll, aß ein Stück Brot dazu und redete von sich, weil er die Mutter unterhalten wollte und sonst nichts zu reden hatte:
»Ich muß heute in das Sortiment. Louis Philippe ist ausgegangen. Und wir haben eine Lieferung. Herr Berg mag die Lebenden nicht, auch wenn sie schon gestorben sind. Ich hab sie lieber. Ihre Bücher ... Ja, die Bücher!« unterbrach er sich, drehte den Kopf der Bettstelle zu und sah sie nicht, suchte mit der Mutter und fand sie nicht, kroch in jede Ecke, griff unter jedes Ding und hatte bald überall gesucht und nichts gefunden. Er stand erstarrt. Rese konnte es nicht gewesen sein. Der Vater war fort, ist vor den anderen gegangen. Doch daran war kaum zu denken. »Darf nicht gedacht werden«, sagte sich die Mutter, ob sie gleich beide nur den einen, furchtbaren Gedanken hatten. Thomas tappte wie ein Blinder, stotterte wie ein Stummer, benahm sich wie ein Irrer und fing noch einmal zu suchen an, als wären die großen, dickbäuchigen Bände kleinwinzige Buchstaben, die sich in jeder Ritze verstecken konnten, suchte, was nicht zu finden war, und brach in sich zusammen wie ein abgesägter Baum. Brigitte blickte stumpf geradeaus, zuckte nur um die sprachlosen Lippen und streckte die Hand ins Leere, als ging es nicht um Bücher sondern um Tauben, als wären sie nur ausgeflogen und könnten jeden Augenblick wiederkommen.
»Der Vater ist fort ... Er hat die Türe offen lassen ... Und da kann leicht ein Dieb ...«, belog sie sich, glaubte kaum selber dran und konnte schon deshalb niemand überzeugen.
Thomas kehrte sich ab. Er wollte nicht wissen, was er wußte, und konnte nicht sagen, was er dachte, weil er es allein zu denken meinte. Er ging in das Geschäft und lebte wie der Schatten eines, der am Lichte leidet, wich allen Blicken aus, um in keine Falle zu geraten, bangte vor jedem Wort und zitterte vor jedem Ruf. Er wurde nicht gefragt. Er hätte nur bald selbst davon gesprochen. Der Tag war länger, als ein Tag gewöhnlich ist. Thomas wurde von Stunde zu Stunde wie auf eine Folter hingespannt. Er arbeitete unermüdlich, fegte und wischte, ordnete die schmutzigsten Regale um, gönnte sich keinen Augenblick Rast, wurde belobt und wäre zweifellos lieber gescholten worden. Er kam abgeschlagen und verbraucht nach Hause.
Brigitte hat sich schon davor gefürchtet. Sie erriet aus seinen Mienen, daß noch nichts geschehen ist, und tröstete ihn sonderbar:
»Vielleicht hat sie der Vater, ... will sie einem zeigen, ... bringt sie heute noch, ... ist morgen alles wieder gut.«
Thomas lachte kurz und stechend auf, so kurz, daß es mehr wie ein Schrei klang, und so stechend, als ob seine Zunge die Spitze eines Messers wäre.
Vorlenz kam nicht, heute und morgen nicht.
Thomas trug sein Unglück wie ein Geschwür mit sich herum, duldete Schmerzen und Schande und dachte an den Tod. Er wollte durch seinen Willen sterben. Er wollte so lange daran denken, bis er tot war. Man stellt sich das in seinen Jahren durchaus möglich vor.
Herr Berg war ahnungslos, wie gute Menschen immer sind. Er bemerkte wohl, daß mit dem Jungen etwas nicht in Ordnung schien, glaubte an ein mißlungenes Gedicht, an erste Liebe und wollte nicht zudringlich sein. Thomas litt an dem Vertrauen, das ihm schon zwei Tage unverdient gespendet wurde, wie an einem doppelten Betrug, stürzte zu Mittag in den Laden vor das Pult und wollte alles sagen, wollte seine Schuld gestehen und um seine Strafe bitten, wurde plötzlich wieder feig, schnappte nach Luft und stotterte verlegen:
»Mir ist ... nicht wohl ... Ich möchte ...«
»Geh nur!« unterbrach ihn der Buchhändler. »Es wird mir nicht schaden und kann dir nur nützen.«
Thomas hatte sich in eine Lüge hinein gerettet und ging als einer, der sein Ziel vom Anfang an verloren hat. Er lief durch die Gassen, kam in der Irre wiederum vor das Geschäft, hielt an, wollte hinein und ... Nein, er konnte es nicht sagen. Er konnte von einem Diebstahl reden, doch unmöglich sagen, daß der Vater ... Es war klar. Er täuschte sich nicht mehr. Aber das durfte keiner wissen. Das war so verrucht, daß es kein Mensch erfahren durfte, nicht einmal Herr Berg, der immer gut war, immer besser zu ihm wurde. Eben deshalb schon. »Und wenn ich sterben müßte«, dachte Thomas laut und trieb sich fort, achtete nicht wohin, kam in den Stadtpark, setzte sich auf eine Bank und gab es auf. Alles. Er ließ sich von Kleinigkeiten nimmer halten. Es ging um das Ganze. Alles war verdorben, auch wenn einiges gelungen ist. Die Welt war eingemauert, und die Mauern rückten immer enger an ihn heran. Nirgends war ein Tor, ihr zu entkommen, keine Leiter, sie zu übersteigen. Eine Türe stand noch offen, eine kleine, schmale, unscheinbare Türe. Sie führte in den Tod. Er dachte ohne Furcht an ihn, wie man an eine Sache denkt, die noch zu machen ist, eine Formalität. Er lächelte geradezu und überlegte alle Möglichkeiten ringsherum. Es gab ihrer viele. »Man läßt sich von einer Brücke in das Wasser fallen. Es gluckst ein wenig, saust und gischt und ist vorbei.« Es war aber kein Wasser da. »Man nimmt sein Taschenmesser und hackt sich in das Gelenk. Blut spritzt, und das Leben rinnt.« Doch dazu gehörte Mut, und Thomas war kein Held. »Man bleibt nach der Sperre im Geschäft und dreht den Gashahn auf und stirbt, man weiß nicht wie.« Aber das hätte Herrn Berg zu den verlorenen Büchern auch noch Geld gekostet. Draußen fuhr die Straßenbahn. Sie hatte manchen schon aus diesem Leben in ein anderes befördert. Gestern erst stand in der Zeitung, daß eine Frau lebendig vom Gehsteig stieg und einen Augenblick nachher tot unter dem Wagen lag. Thomas hatte es gelesen und sich nicht gedacht, daß er es so schnell brauchen könnte. Er wollte es ähnlich machen und sich durch ein Unglück töten. Er war fest entschlossen, trat jeden Einwand nieder, würgte ein klägliches Gefühl ab, das ihn beklemmte, stand auf und schritt dem Ausgang zu.
Eben donnerte ein Zug vorbei.
Thomas bemerkte aber, daß sein linkes Schuhband nicht gebunden war, bückte sich und hatte die Gelegenheit auch schon versäumt.
Der nächste Wagen fuhr ganz langsam, als ob er wüßte, was geschehen sollte, und sich weigerte, da mit zu tun.
Thomas wartete in Ungeduld, wie alle Jugend wartet, auch wenn es ums Sterben geht.
Dann kam der rechte Zug, rasend und tosend, ein eisernes Ungeheuer, das kein Mitleid kennt und über alles Lebende mit der grausamen Lust einer Maschine rollt.
Thomas war ohne jedes Denken. Er hatte nur den Willen wie ein Steuerrad gestellt, lief blind und taub auf das Geleise ... und kam drüben auf dem anderen Straßenufer an, er wußte nicht wieso.
Der Wagen bäumte sich unter dem jähen Zwang der Bremse, knirschte mit den Rädern wie ein riesiges Gebiß, spuckte Staub und stand. Leute rannten zu, schrien und gestikulierten, waren rot erregt und bleich erschrocken, konnten es kaum fassen und nahmen einer den anderen zum Zeugen:
»So ein Glück! ... ein Schweineglück!«
Thomas stand verwirrt und ließ sich die Hände drücken, stand enttäuscht und war es eigentlich doch nicht, zog aus den fremden Fingern ein Gefühl eigenen Wertes, eigenen Glückes, das ihm jetzt erst, dicht nach der Gefahr, so unersetzlich groß erschien, daß er es um keine Güter dieser Welt, um keine Seligkeit des Himmels hergegeben hätte. Er wußte plötzlich, was der junge Mensch nur selten weiß und oft nicht wissen will: »Alles ist das Leben, alle Freude, alle Liebe, alle Lust. Ich lebe. Welche Freude! Ich atme. Welche Lust! Ich gehe. Was für ein Vergnügen! Ich höre. Was für ein Genuß! Ich sehe Licht. Die Welt ist schön. Ich spüre Wärme. Die Welt ist gut. Mag auch geschehen, was geschieht! In allem ist das Leben, auch im Leid, in jeder Träne, jedem Schmerz, in jedem Seufzer, jedem Schrei. Mein Herz klopft. Meine Pulse schlagen. Meine Nerven zucken. Mein Hirn denkt. Es weiß. Es will.« Er fühlte in Gedanken. Er dachte in Gefühlen. Es regnete Sonne, sang die Luft, tanzte die Erde und riß ihn mit. Er wurde sich geschenkt und jubelte wie einer, der so arm war, daß er sich wegwerfen wollte, und nun plötzlich reich geworden ist, so unermeßlich reich, daß alles um ihn her zum Bettel wurde. Klein und winzig lag der Schatten seiner Schuld vor ihm, vier Bücher, ein Verlust, mit Geld zu zahlen, eine Sache, die nicht lebte, die nicht atmen und nicht sehen, die nicht fühlen und nicht reden konnte, eine dumme, lächerliche Sache, die es gar nicht wert ist, sich so aufzuregen und in Angst zu kommen.
Thomas lief in das Geschäft zurück, trat vor das Pult und sagte ruhig, fast ein bißchen leichtfertig, wenn einer bloß die Stimme hörte:
»Ich hab die vier Bände mit nach Haus genommen und verloren.« Er wartete und fügte leise an, weil es ihm schwer fiel, auch noch das zu sagen: »Sie sind mir gestohlen worden.«
Der Buchhändler schwankte in seinem Sitz, erhob sich ganz von selbst und lächelte wie eine Maske, die sich hüten muß, so etwas ernst zu nehmen. Er tappte mit der Rechten in die Luft, bekam den Lehrjungen zu fassen, hielt sich die nächste Weile an ihm fest und fragte dann:
»So?« und antwortete auch gleich: »Schon gut.«
Thomas verbeugte sich und ging. Er fand seinen Herrn komisch, doch die Angelegenheit blieb ernst. Sie hatte sich noch nicht entwickelt. Thomas stieg ohne Buch auf die Leiter und überdachte sein Geschick. »Er kann mich beschimpfen. Es wäre das Geringste. Er kann mich entlassen. Es wäre das Schlimmste. Er kann mich bei Gericht verklagen. Es wäre das Letzte.« Der Jubel seines Lebens klang ab, und die Freude seines Daseins versiegte. Wieder wogen die Bücher mehr als er selber.
Der Buchhändler hatte sich gesetzt, blätterte in einem Katalog und schien kaum irgendwie gestört. Nur einmal bückte er sich, schaute verwundert unter das Pult und tastete mit einer Hand, richtete sich auf, strich seinen Bart und zitterte dabei. Thomas wäre fast von der Leiter gefallen, machte aber doch einen Sprung daraus und lief fort, lief heim und machte Brigitte erschrecken. Es war noch lange Zeit für ihn.
Vorlenz ist auch an diesem Tag nicht heimgekommen. Die Mutter wurde zum Gespenst, ging immer auf den Zehen, mied die Lampe, drückte sich in einen Winkel und flüsterte bedrückt:
»Gott weiß es. Nur Gott kann es wissen.«
Thomas blickte sie zornfunkelnd an.
»Du nicht?«« schrie er. »Du weißt es nicht?«
Da warf Rese den Löffel hin und maulte frech:
»Wartet nur, bis der Vater kommt! Ich sag ihm schon, daß ihr glaubt, er hat die Bücher ...« Eine häßliche Gebärde deutete den Sinn zu Ende.
Brigitte schnellte hoch.
»Wer glaubt es?« Ihre Worte flackerten wie eine Kerzenflamme gegen den Wind.
»Ich««, sagte Thomas für beide.
Brigitte schlug die Hände vors Gesicht. So konnte niemand sehen, was keiner verstanden hätte. Sie lächelte und hatte Mühe, nicht zu lachen; sie biß die Zähne zusammen, um ihre Freude nicht hinauszuschreien. Es hatte sich geregt. Das Kind in ihrem Leib hatte sich angemeldet, hatte sie gestoßen, nein, nein ... Wie ist das Wort doch nur ein Wort! Es hatte sie in den Bauch gekniffen, wie man ein Liebes in die Wange kneift, und das hieß, so wahr sich Mütter darauf verstehen: »Ich bin da. Ich komme. Ein bißchen noch, dann bin ich da, dann komme ich.« Wie hätte zur selben Zeit, im selben Raum ein Streit sein können?
Herr Berg kam nächsten Morgen etwas früher ins Geschäft. Thomas erwartete ihn pünktlich, grüßte höflich, sperrte auf und fing den Tag wie alle Tage an. Der Buchhändler war ihm aber sichtbar auf den Fersen, ließ ihn wohl die gewohnte Ordnung schaffen, wartete jedoch mit jeder Miene, jedem Blick und wurde ungeduldig, je länger es dauerte. Thomas ahnte voraus, was kommen wird, und hatte keine Ursache, sich zu beeilen. Er kehrte den Boden auf, wedelte die Wände ab und wischte gewissenhaft über das Pult hin. Es hätte nur noch eine einzige Minute währen können. Der Buchhändler hielt es aber nimmer aus, trat auf ihn zu und polterte mit der Stimme eines Menschen, der nur selten böse ist und es schon deshalb schwerer hat, den rechten Ton zu treffen:
»Ich hab dir nicht erlaubt, die Bücher mit nach Hause zu nehmen. Du hast also eigenmächtig gehandelt und bist dafür verantwortlich. Der Schaden ist größer, als du wissen kannst. Er ist unersetzlich.«
Man merkte es an den gewichtigen Schritten, die Herr Berg durch seinen Laden machte. Thomas entschuldigte sich nicht. Es hätte keinen Sinn gehabt und wäre lächerlich gewesen.
»Hast du einen Verdacht?«
Thomas erbleichte.
»Ja oder nein?«
Thomas wollte nicht lügen, konnte unmöglich sagen, was er glaubte, schwieg eine Weile, als müßte er sich einen Anlauf nehmen, und redete dann unbestimmt daran vorbei:
»Vater ist zeitlich aufgestanden ... Vater ist fortgegangen ... Und ist noch nicht heimgekommen.«
Thomas wendete sich ab, stand wie ein Stock, schien ohne jede Regung, schluchzte dann plötzlich auf und stürzte in das Magazin, versteckte sich und war bis Mittag nicht mehr zu sehen.
Herr Berg wußte genug. Er fragte mit keinem Wort mehr nach dem Stand der Dinge und war gütiger denn je.
Johann Vorlenz kam diesen Abend aufgeheitert und vergnügt nach Hause, pfiff zur Tür herein und benahm sich wie ein köstliches Geschenk, das er den anderen unverdient mit seiner Gegenwart bereitete. Thomas wich ihm aus. Er hatte auf diesen Augenblick seit damals gewartet und schon alles in sich vorbedacht: Er wollte ihm an die Gurgel springen, wollte ihn solange würgen, bis ihm das Geständnis aus dem Mund fiel ...
Müßige Gedanken. Der Augenblick war da, und Thomas wich ihm aus.
Rese brannten schon die Lippen, damit anzukommen:
»Er hat vier Bücher gebracht, und die sind ihm gestohlen worden.«
»Wer ist der Dieb?« fragte Vorlenz und blitzte mit den Augen wie ein Raubtier, das in den Hinterhalt geraten ist.
»Man weiß es nicht«, kniff die Mutter feige aus und rang die Hände, um doch ein Zeichen ihres Kummers zu geben und vor sich selbst gerecht zu scheinen. Auch Rese wagte sich nicht weiter und schluckte den Verrat hinab.
»Er hält dich also für einen Dieb?« wendete sich Vorlenz als Vater an den Sohn und war jetzt schon bereit, für ihn einzustehen. Thomas mußte alles aufbieten, jetzt nicht hinzuspringen und ihm seine Schande ins Gesicht zu schreien, unterließ es nur der Mutter wegen und fragte scharf zurück:
»Und du?«
Der Vater streckte eine Hand hin.
»Du bist mein Sohn. Das genügt mir.«
Thomas lachte wie einer, der zu Tode gekitzelt wird, biß sich in die Finger vor Lachen und lief davon, irgendwo einsam zu weinen.
Vorlenz fand es unerfreulich hier. Die Luft war schlecht, die Stimmung flau. Er haßte das. Es roch nach leeren Magen und Verdruß. Man hatte nichts gesagt, hätte es auch nicht wagen dürfen. Der Junge forderte ihn lange schon heraus. Es wurde nichts. Man hielt sich diskret zurück. Er dachte wörtlich so. Aber das gab keinen Grund, zu bleiben. Und Vorlenz zog ab. Rese begleitete ihn. Möglich, daß sie nun doch geklatscht hat; möglich auch, daß sie anderes mit ihm auszumachen hatte. Rese wollte weg, wollte bei der Freundin wohnen, war dort schon so gut wie aufgenommen und erreichte durch den Vater eher, was die Mutter niemals zugegeben hätte. Vorlenz zögerte wohl auch. Er wollte aber nur gebeten sein und wurde es. Rese hatte feine, extra feine Zigaretten gekauft, auch sonst ein bißchen Geld für ihn gespart. Und solche Aufmerksamkeiten wußte der Vater zu schätzen.
Brigitte nahm ihr Betbuch vor und las darin. Ihr Herz blieb auch nicht da. Es flog den Worten nach, die ihren Sinn jenseits der Erde hatten und allen Kram des Täglichen vergessen machten. Sie saß einsam und war doch nicht mehr allein, trug an einem Engel und zeigte ihm ihren Himmel, zeigte ihm das Haus, in dem sie beide wohnen werden, und freute sich, weil es ihr Schmerzen bereitete, seine Mutter zu sein und ihn gebären zu müssen.
Eine Woche darauf kam Vorlenz unverhofft in das Geschäft. Er trat vor das Pult und legte mit einer Rede los, die offenbar schon draußen angefangen hatte:
»... Mein Name ist mir heilig, Herr. Sie halten ihn für einen Dieb. Das ist Verleumdung, Herr ...«
Thomas war auf der Post und der Buchhändler allein im Laden. Er wußte sofort, mit wem er das Vergnügen hatte, zückte seinen Bart und fragte geschäftlich, wie er es bei den Kunden gewohnt war:
Das brachte Vorlenz gänzlich aus dem Konzept, und er stolperte mit dem plumpen Ende heraus:
»Was zahlen Sie dafür?«
Herr Berg hatte große Mühe, sich zu meistern und ein Herr zu bleiben. Vor ihm lag ein Briefbeschwerer, drängte sich den Blicken nachgerade auf und rückte förmlich näher; neben ihm hing eine Schere, blitzte gegen seine Augen, blendete ihn fast und ist noch nie so deutlich ein Ding aus zwei Messern gewesen. Herr Berg lehnte Schere und Briefbeschwerer ab. Er hob nur einen Arm gegen die Türe, ballte seine Stimme zusammen und schleuderte sie dem unverschämten Menschen ins Gesicht:
»Hinaus! ... Hinaus mit Ihnen!«
Vorlenz machte gar keinen Versuch, zu bleiben. Er ging, als klaubte er die Schritte wieder auf, die er da herein verloren hatte, blieb an der Türe stehen, drehte sich bedächtig um, wollte noch etwas sagen, winkte es verdrossen von den Lippen fort und dienerte hinaus, als müßte er sich einer Liebenswürdigkeit entziehen. Er war ein Narr, wenn auch mit Hintergründen. Sie waren kaum weniger närrisch als er, doch immerhin Gründe. »Thomas hat vier Bücher nach Hause gebracht, und die sind verkommen. Er hält ihn also für den Dieb. Und das ist eine Verleumdung, so wahr ich der Vater bin und es wissen muß, das ist eine niederträchtige Verleumdung.« Vorlenz war ein schlechter Philosoph, doch ein praktischer Mensch. Er nahm das Ereignis unbarmherzig bei den Ohren, auch wenn es ihn selber schüppelte. Er ist übrigens, was Thomas anlangte, ganz ehrlich aufgebracht und entrüstet gewesen. Er war es jeder Unschuld gegenüber und stand immer zur Partei des Schwächeren, vielleicht in der geheimen Hoffnung, daß sich das Schicksal einmal bei ihm selber revanchieren wird.
Thomas wurde noch am selben Abend entlassen. Herr Berg stritt lange mit sich selbst, ehvor er sich entschloß. Es war nicht leicht. Sein Verstand wurde zum Staatsanwalt, sein Herz Verteidiger. Das Plädoyer sprach für den Jungen. Das Urteil fiel gegen ihn aus. Der Buchhändler fürchtete den Vater. Es war keine körperliche Angst, war ein innerer Abscheu, wie man ihn vor schamlosen Personen und räudigen Hunden hat. Und das entschied. Thomas gab sich von Anfang an verloren und beklagte sich nicht. Er ging, wie man von einem Grabe geht, in dem das Köstlichste zurückbleibt. Er drückte noch einmal die bunten Bücherreihen mit verliebten Blicken wehmütig an sich, atmete noch einmal die gute schlechte Luft ein, strich mit der rechten Hand zum Abschied über das blanke Pult, stand eine zärtlich kurze Weile unschlüssig da, wankte dann, als würde ihm der Fußboden fortgenommen, riß die Türe auf und warf sich hinaus. Es ist nicht anders zu sagen. Er gab seinem Herzen einen Stoß und stieß sich damit über die Schwelle.
Der Weg nach Hause war eine weite Reise voller Hindernisse und Gefahren. Wieder stieg ihm der Gedanke auf, diesem Leben ein Ende zu machen und auszukneifen; überall standen die Gelegenheiten dazu herum und trugen sich beflissen an. Es wurde beinahe ein Feilschen um ihn. Doch Thomas war zu schwach. Freiwillig sterben ist stärkstes Erleben. Und ihm war alles gleichgültig geworden, auch der Tod.
Brigitte hatte sich abgeschieden. Ihr Dasein war guter Hoffnung, ihr Glück das kommende Wesen. Rese wurde fremder mit jedem Tag, und Thomas fing an, es zu werden. Er sagte wohl, was da zu sagen war, wurde aber kaum verstanden. Die Mutter lächelte sogar, weiß Gott wozu.
Da flatterte Agnes wie eine Fahne herein.
»Ich bin schon aufgenommen und trete morgen an.«
Merkwürdig, daß diese Welt nicht stillstand, die Sonne trotzdem unterging und diese Menschen da nicht Purzelbäume schlugen, wo Agnes Gröger Federnschmückerin wurde und morgen antreten durfte.
Thomas blieb einen Tag lang daheim, lag in seinem Bett, saß auf einem Sessel, stand sich überall im Weg und wußte nicht, was er beginnen sollte, denn es war kein Ende, sondern mußte wiederum ein Anfang werden. Der zweite Tag trieb es nicht anders. Er war bloß länger als der erste, noch länger und wollte überhaupt kein Ende nehmen. Am dritten Tag raffte sich Thomas auf, ging fort, hatte kein Ziel und achtete auf keinen Weg, setzte nur Fuß vor Fuß und wollte nicht sehen, wohin er kam, nicht wissen, wohin er da kommen mußte. Der Buchhändler stand beim Pult und blätterte. Ein Kunde lümmelte vor ihm. Sie sprachen miteinander, suchten im Katalog und fanden nichts. Nein, doch. Sie gingen in das Magazin. Herr Berg stieg auf die Leiter. »Abteilung L bis M«, erkannte Thomas und drückte sich die Nase am Auslagefenster platt. Dann lief er fort. Der Hausmeister war auf die Gasse getreten, und der brauchte ihn nicht zu sehen.
Herr Berg war übler Laune. Er hatte schlecht geschlafen. Er schlief überhaupt nicht gut, aber in dieser Nacht ist es besonders arg gewesen. Er hatte Blutwurst mit Kren gegessen, und das bekam ihm nicht. Er aß zwar seit dreizehn Jahren jeden Donnerstag Blutwurst mit Kren und hatte noch niemals Beschwerden gehabt, doch es war gestern eben anders. Und das hatte ihm die Nacht gekostet. Er lag bald zu weich und bald zu hart, hatte es einmal heiß, dann wieder kühl, stand auf, nahm Brom und konnte sich bisnun darauf verlassen. Diesmal half es nicht. Er schlummerte wohl ein, aber es wurde doch kein Schlaf daraus. Im Laden störte ihn der Staub. Es war zum Lachen. Ihn, den Buchhändler Berg, einen ausgepichten Antiquar, dem es nie genug nach Leder, saurem Kleister, filzigem Papier, nach Alter und Verwesung riechen konnte, ihn störte nun ein bißchen Staub, weil seit drei Tagen nimmer ausgekehrt wurde und das Pult nicht mehr wie früher glänzte! Er fand selbst die Ruhe unerträglich. Es war vordem auch kein Lärm gewesen, aber manches Mal ist doch ein Buch gefallen, ist der Junge auf die Leiter gestiegen und hat sich hingesetzt. Er saß nicht dort. Herr Berg wendete unwillkürlich seinen Kopf. Es war zu dumm. »Warum steht er denn draußen? Warum kommt er nicht herein und tut, als wäre nichts geschehen? Was war es denn schon? Ein paar Bücher. Hol sie der ...!« Nein, so weit kam es wieder nicht. Ein richtiger Buchhändler macht sich nichts aus der Hölle, wird aber seine Bücher nie zum Teufel wünschen.
Am vierten Tag traf Thomas seinen Vater vor dem Laden. Es war kein Zweifel: Vorlenz hatte in diesem einzigen Fall doch etwas wie Gewissensbisse. Er witzelte zwar nur darüber, gab ihnen aber doch nach, wie man sich dem Eigensinn eines Kindes fügt, um endlich Ruhe zu haben.
»Sind es nicht vier große Bände mit silbernen Ecken und Schließen gewesen?« fragte er sonderbar genug und setzte, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Sie stehen da um den Platz herum in der Auslage. Ich kann dich hinführen, wenn du willst.«
Ob Thomas wollte! Er lief, und so mußte auch der Vater laufen. Es ist zwar nicht nur um den Platz herum, aber doch ganz nahe gewesen. Das Geschäft war ein schmieriger Keller und der Mann ein schmutziger Mensch. Er handelte mit Altpapier und Lumpen und sah auch darnach aus. Die Bände standen wohl nicht in der Auslage, doch ...
»Er hat sie«, blinzelte Vorlenz und verschwand.
Thomas platzte wie eine Bombe in das Lokal.
»Sie haben ...,« schrie er, vollendete gar nicht, sah die Bücher unter einem Tisch liegen, stürzte hin, riß sie an sich und wollte fort damit. Der Händler verstellte dem Räuber die Türe, nahm ihm die Beute ab, suchte nach einem Stock, kam aber zu spät und schrie jetzt erst um Hilfe. Thomas rannte wie besessen und machte Herrn Berg nicht wenig erschrecken.
»Die Bücher ...,« keuchte er und fuchtelte mit beiden Händen herum, nahm den Hut ab und setzte ihn wieder auf, lachte und weinte zugleich, »... die Bücher!« jauchzte er und kam nicht vom Fleck.
Es wurde dann doch, daß sich Herr Berg aufmachte und hinging. Thomas wartete im Laden, das heißt, er hing den Hut auf seinen Nagel, nahm den Besen und kehrte aus, wischte das Pult sauber, stieg auf die Leiter und setzte sich zur Probe ein wenig hin, blieb in seiner Freude länger sitzen, als er wollte, sah plötzlich den Buchhändler vor sich stehen, sprang herab und wäre ihm fast an den Hals gesprungen. Die Angelegenheit war erledigt. Der Mann leugnete zwar, hatte die Bücher auch schon versteckt, gab dann aber kleinmütig bei und mußte noch froh sein, so glimpflich wegzukommen. Der Ankauf ist ziemlich bedenklich gewesen, und so konnte auch der Verkauf kein Geschäft werden. Der Schaden, den die Firma Berg zu tragen hatte, war gering. Der Buchhändler hätte für den Jungen gern das Doppelte bezahlt. Die gute Laune allein war mehr wert, von der Freude nicht zu reden, fortan wieder jeden Donnerstag Blutwurst mit Kren essen zu dürfen und trotzdem schlafen zu können.
»Aber das merkst du dir fürderhin,« sagte er freundschaftlich, nahm Thomas fest bei den Haaren und schüppelte ihn, »wir sind keine Leihbibliothek, sondern ein Antiquariat.«
Thomas hatte in seinem Leben noch keine Liebkosung erfahren, die es an Freude seines Herzens mit dieser Züchtigung hätte aufnehmen können. Er torkelte nach Hause wie eine honigtrunkene Biene, nickte allen Leuten zu und kriegte manchen Mädchenblick dafür geschenkt. Er fand überhaupt, daß diese Welt noch nie so schön gewesen ist. Der Abend war von einer Farbenpracht, als ob er blühte. Die Luft war lau. Man hätte in ihr baden wollen. Thomas schlug den Rock zurück, drängte die Brust heraus und warf die Beine nach dem Takt seines Blutes, der ein Negertanz war und ihn beschwingte. Der Weg ist viel zu kurz gewesen. Dennoch konnte Thomas das Ziel kaum erwarten.
»Ich bin wieder Buchhändler geworden!« rief er schon in der Türe und stieg die Stufen wie ein König hinab, der sein Reich zurückerobert hat.
Brigitte wurde immer unverständlicher in ihrem Wesen.
»Du bist noch zu jung«, orakelte sie. »Du mußt noch warten. Christus ist dreißig Jahre alt gewesen. Und du wirst erst fünfzehn.«
Vorlenz war in Streit geraten. Hermine hatte einem jungen Burschen ihre Gunst geschenkt und kein Geld dafür genommen. Vorlenz protestierte. Die Sache war ein Geschäft und hatte ihren Preis. Er war der Kompagnon, mußte auf Ordnung sehen und konnte nicht zugeben, daß sein Kapital verschleudert wurde. »Für die Liebe bin ich da«, prahlte er selbstbewußt und ließ sich auf Vergleiche gar nicht ein. Hermine lachte ihn vor allem einmal tüchtig aus, schlug ihm dann ihre Handtasche um die Ohren und warf ihn hinaus. Türe auf! Ein Tritt in den Hintern! Türe zu! Und die Rechnung war saldiert. Allerdings mit Vorbehalt, denn Vorlenz verweigerte die Annahme. Er hockte in einem Winkel auf der Stiege und wartete seine Zeit ab. Hermine ging an ihm vorbei auf die Straße, kam wieder, ging noch einmal, kam wiederum und blieb, ein Mann bei ihr. Er hatte den Kragen aufgestellt und seinen Hut hereingestülpt. Er hinkte. Das nimmt keine gern. Hermine nahm ihn. Er blieb schon weit über eine Stunde. War ein guter Tag, diese Nacht, und wurde immer besser. Vorlenz wartete bis in den Morgen hinein. Dann kriegte er Angst. Es konnte auch etwas geschehen sein. Man hörte allerlei. Selbst Morde kamen vor. Der Mann war nicht geheuer. Er hinkte doch. Vorlenz klopfte an die Tür. Man hörte nicht. Er horchte. Man vernahm nicht den geringsten Lärm. Und Vorlenz wußte doch, was drin geschehen sollte, wußte vom Bett, daß es knarrte, und sah auch kein Licht durch das Schlüsselloch. Er läutete Sturm. Es rührte sich nichts, blieb alles still. Nein, ... doch. Es kamen Schritte, wurde der Schlüssel herumgeschmissen, die Türe aufgemacht, langte eine Hand nach ihm, wurde Geschrei laut, fielen Fäuste über ihn her, traten Fußtritte auf ihm herum, krachte ein Stock entzwei, war das ganze Haus auf und der Hausmeister hinter ihm her. Vorlenz flüchtete auf die Gasse, rannte mit fliegenden Sohlen und ist in seiner Feigheit viel zu schnell und viel zu weit gelaufen. Was sich da eigentlich ereignet hatte, ist ihm niemals richtig klar geworden. Eines war gewiß: Er hat sich dumm benommen. Es gibt nichts Ärgeres für einen Zuhälter, als anwesend zu sein. Er muß im Hintergrund bleiben, ein Gewitter, das in der Ferne wetterleuchtet, ein Revolver, der unter dem Kissen liegt, ein Messer, das im Unsichtbaren blitzt, eine Gefahr, die von überall kommen kann und doch nicht da ist. Wenn er sich einmal zeigt, dann hat es auch schon Bedeutung. Und es bedeutete nichts. Auch das war sicher: Vorlenz hatte ausgespielt, hatte Hermine verloren und wird keine andere mehr finden. Wenn überhaupt, dann geschieht jedes Wunder nur einmal. Er war also geliefert, war fertig, war es von diesem Augenblicke an wirklich.
Eine Woche lang lebte Vorlenz von dem Kredit, den er noch hatte, dann war es auch damit aus. Für ihn selber gab man keinen Pfifferling, und Hermine hatte schon einen anderen. Er war Boxer. Mit dem konnte sich Vorlenz auf eine Aussprache nicht einlassen. Blieben wieder nur die Seinen. »Rese wird die Zigaretten beisteuern, und Brigitte muß für das andere sorgen«, kalkulierte er und hatte mit beiden noch allerhand vor, sagte es aber nicht einmal den eigenen Ohren.
Er kam ungünstig an. Rese war ausgezogen. Thomas hatte Abendschule. Und Brigitte saß jämmerlich herum.
»Wein her!« schrie Vorlenz und ließ sich in einen Sessel fallen.
»Fleisch oder Wurst!« brüllte er, klappte sein Taschenmesser auf und stieß es mit der Spitze in den Tisch.
Brigitte regte sich nicht, hob kaum die Lider und stöhnte nur, doch aus anderen Gründen.
»Hörst du nicht? Du!« knirschte Vorlenz und war längst nimmer der wilde Mann, den er da spielen wollte.
»Nein«, deutete Brigitte, stand mühsam auf, schleppte sich an den Tisch heran und fragte mit einer Stimme, der alles Wirkliche genommen schien und nur der schwache Widerklang verblieben ist: »Wer bist du, Mann?«
Vorlenz wich ihren Blicken aus. Er wußte, daß Brigitte alles Böse in ihm sah und Gutes nie von ihm gesehen hatte. Er steckte auch das Messer wieder ein. Es war hier nicht der Ort damit zu flunkern.
»Wie geht es dir?« erkundigte er sich ohne Teilnahme und bemerkte doch, daß es nimmer lange dauern konnte.
»Josef wird Jesus sein, und du wirst es nicht wissen«, flüsterte Brigitte und hob warnend einen Finger. »Josef wird Christus werden, einer, der für uns lebt, wie der andere für uns gestorben ist.«
Es stand nicht gut mit ihr. Gesichte hatten sie verwirrt und Träume zerrüttet. Oft kauerte sie in einer Ecke am Boden und weinte, weil sie lebte und weil das Leben Sünde war; dann wieder lachte sie, weil einer gestorben ist. Und eines Morgens kam sie mit den Milchkörben nach Hause und versteckte die Flaschen unter dem Bett. »Ich werde sie brauchen. Meine Brüste sind leer, und das Kind hat Hunger«, murmelte sie und sperrte die Türe zu und ließ niemand hinein. Damit war auch dieses Geschäft zu Ende. Thomas machte den Schaden gut und gab fortan sein Wochengeld her, um ihr das bißchen Leben zu erhalten. Auch Agnes half. Sie verdiente ja schon. Rese konnte nichts geben. Sie brauchte immer noch Kleider und Schuhe und hatte nie genug.
Vorlenz verduftete. Das war keine Luft für ihn. Es roch nach Räucherkerzen, klang nach Kirchenglocken, schmeckte nach Himmelblau, und er wollte Zigaretten riechen, Wein trinken und einen Foxtrott tanzen.
Herr Stein kam eben angefahren. Das Auto hielt mit einem sanften Ruck. Der Chauffeur sprang diensteifrig vom Sitz, riß den Schlag auf, zog die Kappe vom Kopf und stand wie eine Bildsäule zur Ehre dieses Gottes da. Herr Stein stieg aus und war auch schon im Flur verschwunden.
»Nicht einmal die Tür macht er sich selber auf, der Haderlump!« zischte es in Vorlenz wie eine Stichflamme hoch und vernichtete alles in seinem Hirn, was noch Besinnung war und ihn zurückhalten könnte. »Warte nur!« drohte er und hatte seinen Plan fertig. Wie dem Maler eine Stimmung, dem Musiker eine Melodie, dem Dichter ein Vers, so fiel diesem Menschen eine Tat ein, und sie wurde, wie ein Werk wird, weil sie werden mußte.
Bis dahin sollte ihm Rese aus der Patsche helfen. »Sie ist hübsch, ein delikater Jungfernbraten, saftig, resch und gut serviert. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nicht einer finden ließe, der auch ein Herz für den Vater hat und ihm wieder auf die Beine hilft.« Vorlenz spekulierte nicht schlecht. Er kam nur schon zu spät.
Es war an einem Siegestag der Vienna. Dreißigtausend Menschen hatten Wenzel, dem großen, unsterblichen Wenzel Vostal, zugejubelt, schöne Frauen und Mädchen darunter, die es am ärgsten trieben, Blumen warfen und sich ihm am liebsten selber an die Brust geworfen hätten. Auch Rese konnte nicht mehr widerstehen. Es wäre vor allem unklug gewesen, und sie war es nicht. Sie wußte genau, worum es ging, und weigerte sich nicht oder nur zärtlich, denn das erhöht den Einsatz und mehrt den Gewinn. Es geschah in einem Himmelbett. Wenzel war entzückt. Er hatte wirklich nicht gehofft, hier noch das erste Goal zu schießen. Rese schämte sich denn auch. Daran war Schurli schuld. Er hätte ... Aber darüber konnte Rese jetzt unmöglich nachdenken. Fritzi hatte sie belehrt, wie man Geliebte ist, ohne Mutter zu werden, und das machte ihr genug zu schaffen. Wenzel war ein Stürmer, ist es auch im Himmelbett gewesen und rechtfertigte seinen Ruhm.
Der Winter kam, und das Kind sollte kommen. Samstag war. Brigitte lag herum. Agnes hatte sich frei gemacht und stand ihr bei, ging auf den Zehen und griff alles mit den Fingerspitzen an. Thomas war noch nicht da. Es wurde erst sechs und war beinahe schon Nacht. Ein Nebel schwelte, daß die ganze Stadt erblindete, daß Türme und Dächer, Häuser um Häuser vom Erdboden verschwanden und nur die Lichter der Laternen rot und aufgedunsen aus dem schwefelgelben Schwaden glotzten. Die Straßenbahn hinkte unter ständigem Glockengehämmer hin. Die Automobile tasteten sich immer nur um die Zungenlänge ihrer Scheinwerfer vorwärts. Die Fußgänger streiften aneinander und sahen doch einer den anderen nicht.
Salomon Stein kam gefahren, stieg aus und schickte den Wagen fort, ging auf sein Haus zu und trat in den Flur. Da traf ihn ein Schlag auf den Schädel, wurde zum rasenden Schmerz, bohrte sich wie ein glühender Keil in sein Hirn, griff in alle Nervenstränge und läutete wütenden Alarm, zuckte in jedem Glied, verbrannte vor seinen Augen in giftgrünen Flammengarben und schrie einen Schrei, der mit ihm selbst verstummte.
Stille wurde wie ein Loch in Zeit und Raum gerissen. Dann lief es. Dann rief es. Leute kamen gelaufen, standen herum und rangen die Hände. Licht wurde gebracht, eine Lampe, die rauchte und stank.
»Der Stein.« »Der Herr Stein.« »Ist er tot?« »Nein.« »Er lebt noch.« »Er stirbt.« »Einen Arzt!« »Man muß einen Arzt holen.« »Und die Polizei.« »Man hat ihn erschlagen.« »Mord!« »Mord!« raunte es von Mund zu Mund, trug sich die Stiegen hinauf von Tür zu Tür, kroch auf die Gasse hinaus, huschte von Tor zu Tor, verbreitete Angst und wurde laut, machte erschrecken und rief, wurde Empörung und schrie: »Mord! Mord!« »Ein Mord ist geschehen.«
Auf die Minute genau wurde Josef geboren. Er kam ohne Schmerzen und ohne Tränen, war plötzlich da und sah nicht aus, als ob er bleiben wollte. Er war so klein, wie noch kein Mensch gewesen ist, so klein, daß ihn die Mutter, schwach und elend, wie sie war, doch an die Lippen heben und ihn küssen konnte. »Da bist du nun, mein Jesulein,« sang sie und weinte vor Freude, weil jetzt alles anders wurde, weil er die Welt erlösen wird, der kleine, arme Wurm, die große, sündenreiche Welt.
Der Mord ist nicht gelungen. Das Opfer war stärker als der Tod, stärker als der Täter.
Es bestand kein Zweifel darüber. Alle wußten es. Jeder kannte ihn, auch wenn keiner den Namen sagte. Nur Thomas weigerte sich, es zu glauben. »Er kann es nicht getan haben. Es ist ja Mord. Und mein Vater kann doch kein Mörder sein.«
Vorlenz wurde gegen Mitternacht verhaftet. Er stand seit Stunden vor dem Untersuchungsrichter und leugnete alles, die Blutspritzer an seinem Rock, das Geld in seiner Tasche, den Namen Johann Vorlenz und beinahe auch sein Leben, leugnete mit einer Zähigkeit, die an Stumpfsinn grenzte und zur Verzweiflung brachte.
Der Richter saß bequem in einem breiten, ausgepolsterten Fauteuil, lehnte sich zurück, stützte die Arme auf, streckte die Füße vor und rekelte sich mit Behagen. Vorlenz mußte stehen, stand seit vier Stunden, stand sich die Beine in den Bauch und wurde müde, wechselte die Stellung, verlegte das Gewicht einmal nach rechts und dann nach links, war bald auf beiden Seiten fertig, schlotterte in den Knien und schnappte ein, konnte nimmer anders und bat inständig um einen Sessel. Damit fing es eigentlich an. Auch das Licht war schuld, das gleißend nackte, beißende Licht. Es spuckte wie ein Flammenwerfer in sein Gesicht und brannte ihm die Augen aus. Er wollte in den Schatten treten, doch das war verboten. Und so begann er mählich beizugeben, leugnete nicht, daß er lebte, gab sogar zu, daß er Johann Vorlenz hieß, wollte aber sonst nichts wissen. Mit den ersten Maschen ist aber doch das ganze Gewebe zerrissen.
»Wo waren Sie gestern nachmittag?«
»Zu Hause.«
»Stimmt nicht.«
»Lassen Sie diese Späße!«
»Ich hab nicht damit angefangen, Herr Richter.«
»Wo sind Sie also gewesen?«
»Nicht zu Hause.«
Es war schwierig, diesen Aal zu fassen, obwohl man ihn schon hatte.
»Wo haben Sie das Geld her?«
»Gefunden.«
»Lügen Sie nicht!«
»Beweisen Sie mir das, Herr Richter!« Vorlenz hatte Mutterwitz. Er war verloren. Das schien auch ihm gewiß. Aber so leicht sollten sie ihn nicht zu schlucken kriegen. Das Licht war freilich unerträglich. Es klatschte in seine Augen und machte sie tränen. Er weinte nicht. Das fehlte noch. Er tränte nur, doch das konnte der Richter nicht wissen. Er nahm es anders. Und Vorlenz ärgerte sich. Er wurde auch immer müder, hüpfte von Bein auf Bein und hatte es nirgends besser.
»Einen Sessel!« schrie er und schnappte zusammen.
»Aufstehen!« befahl der Richter und lehnte sich breiter zurück, verschränkte die Arme über der Brust und hatte das Spiel schon gewonnen.
Vorlenz zog sich wie einen Sack hoch.
»Ich kann nimmer«, stöhnte er und schaute sich nach einem Sessel um.
»Sie können also nicht beweisen, wo Sie gestern waren? wo Sie das Geld gefunden haben? und woher die Hose blutig ist?«
Vorlenz war alles gleichgültig geworden über dem Einen:
»Kann ich nicht sitzen?«
»Nachher«, scherzte der Richter mit feinem Doppelsinn und zündete sich eine Zigarette an. Sie roch unausstehlich. Vorlenz hustete, als ob ihm der Rauch zuwider wäre, blähte dann aber seine Nasenlöcher auf und atmete, was um ihn dampfte, wie ein Staubsauger in sich hinein.
»Nun?« fragte der Richter und blies ihm eine dichte Wolke zu.
»Also ...,« begann Vorlenz verwirrt, schnappte sich das Wort noch rechtzeitig vom Munde weg, wollte von einer anderen Sache reden und hatte sich auch schon verschwatzt: »... wenn nicht gefunden, dann gestohlen, ... aber nicht dem Stein, das kann ich beschwören.«
»Wem sonst?«
»Einem anderen, ... hab ihn leider nicht gefragt, wie er heißt und wo er wohnt«, höhnte Vorlenz und freute sich, so weit das seine Umstände erlaubten.
»Er wird sich schon melden«, beruhigte ihn der Richter.
»Der?« lachte Vorlenz unwillkürlich. »Der wird sich nicht mehr melden.«
»Warum nicht?«
»Weil ...« Also das konnte er wirklich nicht sagen, wenn er nicht überhaupt schon zuviel gesagt hatte. Der Richter rieb sich wohlwollend die Hände. Seine Blicke wedelten. Wie Hunde mit den Schwänzen, so wedelten diese Augen mit den Blicken. Vorlenz merkte, daß er längst der Fuchs in der Falle war, und gab es auf, sich zu verteidigen. Es ging über seine Kräfte. Er konnte die Augen nimmer offen halten, blinzelte unaufhörlich und wischte die Tränen fort, sank in die Knie, stand wieder auf und konnte doch nicht stehen, krümmte sich vor Schmerzen im Rückgrat und leugnete nimmer. »Weil er tot ist«, schrie seine Stimme, daß er selbst vor ihr erschrak und sich verspätet auf den Mund schlug.
Der Richter hatte seine Arbeit gut gemacht.
Vorlenz durfte sich endlich setzen, bekam sogar eine Zigarette und gestand aus Dankbarkeit alles, was man von ihm haben wollte, gab Zeit und Ort, Umstände und Motive rückhaltlos zu Protokoll und war innerlich froh, es los zu kriegen. Er war kein Schrank, den man verschließen konnte, und schon gar kein Grab. Eine Schreibmaschine hatte Wort für Wort, Frage und Antwort mitgeschrieben. Der Schreiber gehörte zur Maschine. Er tat keinen Blick von den Tasten und war mit seinem Geschäft verwachsen wie der Nagel mit dem Fleisch. Wenn er überhaupt ein Mensch war, dann konnte das nur vorher gewesen sein und nachher wieder werden.
Der Richter verlas das Protokoll. Vorlenz hörte kaum zu. Er war müde und wollte schlafen. Er hatte Hunger und wollte essen.
»Haben Sie gehört?«
»Ja.«
»Verstanden?«
»Unterschreiben Sie?«
Vorlenz tat es mit einem Schwung, der die Feder verdarb und das Papier zerriß.
»Pardon!« entschuldigte er sich manierlich und ging unter Bedeckung ab.
Vorlenz hielt sich für einen Raubmörder und schloß mit dem Leben keinen Kontrakt mehr, machte einen Punkt darunter und war fertig. Als er dann aber hörte, daß nur der Raub und nicht der Mord gelungen ist, da sprang das Leben wie ein Stehaufmännchen in ihm hoch und drängte der Verhandlung zu, um endlich ganz genau zu wissen, wann es wieder in die Freiheit ging, auf die Gasse, in das Wirtshaus, in ein Bett zu zweien. Er nahm alles gleich in allem und ließ sich schon jetzt nichts mehr entgehen.
Seine Zelle war ein gemauerter Käfig von fünf Schritten in der Länge und drei in der Breite, ziemlich hoch, mit einem Gitterfenster knapp unter der Decke und einer eisernen Türe mit offenem Guckloch, vor dem Tag und Nacht von Weile zu Weile ein Mann in Uniform vorüber exerzierte und Wache hielt. Vorlenz freute sich die ersten Tage über ihn. Dann wurde er ihm lästig. Und jetzt haßte er ihn schon. Die Einrichtung war primitiv: ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Krug und er. Es war hier so, daß auch die Menschen mit zum Mobiliar gehörten. Eine Zelle ohne Insassen war keine Zelle. Man kehrte sie nicht aus, man sperrte sie nicht ab, man bewachte sie nicht einmal. Vorlenz vertrieb sich die Zeit, so gut es ging. Er hatte in der hohlen Röhre seines Bettes eine Kreide gefunden. Sie war ein Schatz für ihn. Wenn er daran leckte, dann schmeckte ihm nachher die schlechteste Suppe gut. Wenn er sie hoch und immer höher warf und einmal mit der rechten und dann wieder mit der linken Hand erhaschte, und wenn dieses Kunststück ohne Fehler hundertmal da und hundertmal dort gelingen sollte, dann war eine Ewigkeit damit vergangen. Die reinste Freude aber wurde es, wenn er sich auf den Boden setzte und Spekulationen zeichnete.
»Hier fließt ein Bach. Er heißt die Pisse. Daneben steht mein Haus. Es hat eine große Stube, daß der Rauch nicht darin stinkt, und eine Küche mit dem Mädchenbett. Man wird alt und spießig und muß seine Seitensprünge in der Nähe machen. Oben schläft Brigitte. Der Gekreuzigte hängt zwischen uns. Er kann beruhigt sein. Ich bin nicht oft mein Gast. Der Garten, ja, der Garten, das ist eine Pracht! Hier steht der Zwetschkenbaum. Er gibt die Marmelade. Prost Mahlzeit! Ich bin nicht zu Hause. Da blühen die Tulpen. Sie machen sich fein und sind bald vorüber. Dort wird ein Nußbaum für den Magenbitter, wenn die Sau zu fett war. Es muß natürlich auch ein Stall in die Villa. Was wäre das Leben ohne Schweine? Futter wächst von selber. Hier dabei ein Feld voll Rüben. Und die Gänse? Gänsebraten ist nicht übel. Keine Sorgen! Die Gänse fischen in der Pisse. Dieser Hügel wird ein Weinberg. Die Sonne geht gefälligst dort um vier Uhr auf und bleibt so lange, bis der Saft in den Trauben kocht und jede Beere voll Champagner ist. Herrgott von Retz, wird das ein Rausch werden!«
Vorlenz lachte, daß das Echo von Wand zu Wand und von den Wänden durch das Guckloch sprang, lachte, daß der Wächter draußen aus seinem Schlaf gerissen und damit in seiner Würde beleidigt, sich erhob und energisch an die Türe klopfte:
»Ruhe, Nummer achtundvierzig!«
Brigitte war diesem Leben entglitten. Ihre Füße wandelten wohl noch auf Erden, ihr Herz war aber schon im Himmel. Weiß einer da, wo ihr der Kopf stand, was ihre Augen sahen, was ihre Ohren hörten! Sie redete irre Dinge, war seligkeitstrunken und taumelte mit Worten: »Wenn ich es haben wollte, dann hätt ich es auch, aber ich will nicht, ... will nicht ...« Gleich darauf weinte sie wieder, lag auf den Knien und betete das Kindchen an: »Du, mein Herr Jesus, du, mein Gottessöhnlein, du, mein Marienkind, warte nur! warte! Heute noch kommen sie, die Könige aus dem Morgenland. Ich sehe schon die Stern'. Siehst du sie nicht? Bist du denn blind? Die Herren reisen über Linz. Sie kommen mit dem Schiff um acht. Es wird doch keinen Sturm geben?! Wird sie doch kein Wind vertragen?! Den Schwarzen mag ich nicht, laß ihn auch nicht herein. Es ist ... Du weißt nicht, wer das ist? Herodes, der Kindesmörder. Und der will dich fressen, wird dich fressen«, kreischte sie verzweifelt auf, riß den kleinen Wurm an sich und drückte ihn, daß jedes Kind geschrien hätte, wenn es schreien konnte. Josef war stumm. Er war auch taub. Und seine Augen sahen nicht. Er lebte ohne eigentliches Leben, lag immer still, hatte noch keine Hand und keinen Fuß bewegt, atmete hastig wie ein gefangener Vogel und schluckte Milch, drei Tropfen oder vier, nicht mehr. Brigitte war gesegnet und litt am Überfluß. Nie noch ist ihre Brust so fruchtbar gewesen, und nie noch hat ein Kind so wenig getrunken.
»Es hungert! Es verhungert! Und ich ersticke!« jammerte sie und wußte sich nicht zu helfen.
Thomas lief um den Doktor. Er wohnte in der Nähe, war eben erst nach Hause gekommen und ging doch wieder mit.
»Sehen Sie, junger Mensch, das geht nun schon den ganzen Tag so fort. Schnell, Doktor, schnell! Als ob ich der Krankheit nachlaufen könnte oder die Gesundheit in der Tasche hätte; als ob ich nicht selber einmal sterben müßte.«
Thomas liebte den Bruder, nun er ihn hatte, liebte sein unwahrscheinliches Wesen, das nicht von dieser Erde war, den schwächlichen Körper, in dem kein Mensch, auch wenn er es erst werden sollte, hausen konnte, das tickende Herz, eine winzige Uhr, die ehebald ablaufen und stillstehen mußte. Er liebte auch die Mutter, weil sie anders war als alle Mütter, die er kannte, weil eine Seele in ihr wohnte, und weil es sonst nur Leiber um ihn gab, saufende, fressende, gierige Leiber, lebendige Käfige, in denen wilde Tiere herrschten, die übereinander herfielen und sich gegenseitig zerfleischten. Brigitte hatte eine Seele wie er selber, wie der Herr Berg und die Bücher eine Seele haben, ein Leben über sich hinaus in eine andere Welt hinein. Agnes war gut. Das durfte er nicht vergessen. Und Phine war schön. Auch das mußte etwas bedeuten. Bei Rese war es schon ungewiß. Ihre Schönheit verführte zur Sünde. Phine konnte man anbeten; Rese mußte man begehren. Thomas fing eben erst an, darüber nachzudenken, und konnte noch nicht weit damit gekommen sein. Brüderchen war weder schön noch gut, war überhaupt nicht, wie andere Menschen sind und ist gewiß nur auf diese Erde gekommen, um ein Engel im Himmel werden zu können. Er hätte aber doch länger verweilen sollen, ein Jahr oder zwei, zehn Jahre oder zwanzig, beides bloß ein Augenblick der Ewigkeit und an sich unbedeutend.
Der Doktor kam.
»Wo ist der Sappermenter?«
Brigitte wollte ihn nicht hergeben und sträubte sich wie eine Henne, die nur ein Küchlein hat und in jeder Taube einen Geier sieht. Thomas sprach ihr zu, und so gelang es doch, das Bündel auf den Tisch zu legen und aufzuwickeln. Der Doktor glaubte bestimmt nicht an Wunder, aber das da ist beinahe schon eines gewesen.
»Wie alt?« fragte er, nur um etwas zu sagen.
»Drei Wochen«, antwortete Thomas.
Da fing Brigitte zu lachen an, stand steif wie ein Stock und gurgelte mit der Stimme, brach das Gelächter mitten entzwei, stieß die beiden fort, nahm das Kind an sich und tuschelte mit ihm:
»Drei Wochen, hörst du? Drei Wochen bist du alt. So jung ist die Welt, und so dumm ist ein Doktor und so gescheit dein Bruder. Aber dann werden sie wiederum ihre Hände waschen und sagen: Ich bin unschuldig an dir. Vergiß es nicht, mein Sohn! Die Könige sind schon in Melk. Sie kommen mit vielen Soldaten. Sie werden die ganze Stadt vernichten und dir eine neue bauen, ein Haus im Himmel und einen Garten herum ...«
Der Doktor winkte Thomas mit sich hinaus.
»Ist das immer so gewesen?«
»Er hat keine Stimme, hat keine Blicke, hat wohl Ohren, aber ich weiß nicht, ob er hört«, stammelte Thomas und stolperte mit der Zunge.
»Die Mutter meine ich«, bezog sich der Doktor genauer.
»Ist sie krank?« erschrak Thomas und verstand im selben Augenblick, worum es ging.
»Sie braucht Ruhe, fröhliche Gesichter und eine starke Hand, wenn es kommt, wenn das Brüderchen ...«
»Muß es denn sterben?«
Der Doktor nahm Thomas unter den Arm und sprach leichter so:
»Sehen Sie, junger Mann, das kommt von der geringen Ökonomie des Lebens. Die Natur schafft aus dem Vollen und knausert nicht. Von Millionen Fischeiern gehen mehr als drei Viertel zugrunde. Von tausend Bäumchen kommen nur etwa hundert hoch. Und aus zehn Kindern werden kaum fünf aufrechte, gesunde Menschen. Die anderen bleiben zurück oder gehen ein, nicht so sehr deshalb weil sie krank sind, sondern weil sie nie gesund waren. Es ist doch verwunderlich genug, wenn so ein unglückliches Ding wie dieses Brüderchen drei Wochen von je sieben Tagen zu je vierundzwanzig Stunden alt wird. Darf man da noch weinen? soll man da noch klagen?«
»Josef muß sterben?« würgte Thomas beklommen heraus.
»Gäb ein schönes Gedränge,« scherzte der Doktor in seiner Art, »wenn seit dem ersten Affen alle Menschen am Leben geblieben wären!«
Thomas kam verstört nach Hause. Brigitte saß und wiegte das Kind, summte ihm ein Lied und war voll jenes Glückes, das nur den Müttern gegeben wird, wahrscheinlich um sie für die Leiden des Gebärens zu entschädigen. Thomas beobachtete sie mit steigendem Entsetzen. Es war da schon lange vieles anders und gar manches bedenklich.
»Weißt du, daß der Vater eingesperrt ist?« fragte er seit Wochen täglich.
»Er ist nicht der Vater«, schrie Brigitte und rettete das Kind vor diesem Gedanken an ihre Brust.
Thomas wußte nichts zu sagen, nichts zu tun. Agnes half, so viel sie helfen konnte, räumte auf und kochte, wusch die Wäsche und war oft bis Mitternacht beschäftigt. Rese kam nur selten auf Besuch. Sie schämte sich. Sie trug Lackschuhe aus Paris und seidene Strümpfe, die so dünn waren, daß die Haut darunter rosa schimmerte, hatte einen Pelzmantel, der mehr Geld kostete, als in diesem Haus jemals beisammen war, und immer einen neuen Hut, wie man sie nur bei Damen sieht, war ohne Handschuhe gar nimmer zu denken und trug seit gestern eine Perlenkette, die, wenn schon nicht echt, so doch sehr teuer war, fuhr im Auto auf den Sportplatz und saß in der ersten Reihe, wurde von allen gekannt und von vielen beneidet ... Und nun hatte ihr der Vater dieses angetan. Sie schämte sich und wollte fort von hier, fort aus der Stadt, fort in ein anderes Land unter fremde Menschen, die sie nicht kannten und nichts davon wußten. Wenzel konnte ihr auch diesen Wunsch erfüllen. Er ging als Trainer nach Barcelona und nahm sie mit. Er durfte sich so etwas leisten. Das Engagement war gut. Die Zeitungen schrieben in langen Spalten darüber und nannten Summen, die sich hören ließen, auch wenn sie der Wahrheit nicht so ganz entsprachen. Rese hatte jedenfalls ausgesorgt bis auf das Eine: Sie mußte spanisch lernen, und das wird ihr vermutlich immer spanisch vorkommen.
Sie reisten zu Weihnachten und klopften einen Abend vorher noch einmal zu Hause an. Agnes öffnete ihnen. Thomas schaute von einem Buch auf. Brigitte säugte das Kind. Josef wollte nicht trinken, zog die Lippen ein und gab auch das bißchen Milch, das er schon getrunken hatte, wiederum von sich.
Rese grauste sich, fand auch, daß es hier übel roch, und rauchte, um doch ihre eigene Lust zu haben und nicht ersticken zu müssen.
»Wir dampfen morgen ab«, sagte sie, setzte sich, schlug die Beine übereinander und machte Thomas erröten.
»Wohin denn? ... Wenn man fragen darf«, drängte sich Agnes dazwischen.
»Nach Barcelona.«
»Barc...elo...na?« rätselte eine Federnschmückerin und suchte vergebens auf der Landkarte in ihrem Kopf.
»Da hinter Hütteldorf«, uzte sie Rese, als wären ihr diese Dinge immer schon so bei der Hand gewesen.
»O, ich weiß schon, daß es in Italien ist«, schoß Agnes daneben.
»Spanien«, verbesserte Thomas und rückte von beiden ab.
Wenzel wollte seinem jüngsten Schwager durchaus die Aufwartung machen, kasperlte vor der Mutter, tribbelte um sie herum, als suchte er ein Spielfeld nach dem Leder ab, und gluckste komisch mit der Stimme: »Kruziwuzi, wo ist er denn, der Kruzi, mein Wuzi?« Er fand ihn dann doch, reckte den Hals, stielte die Augen, knickte sich in der Mitte ein, bohrte seine lange Nase in das Kissen und schnellte zurück, als hätte ihn eine Kröte gebissen. »Also, das ist doch ein Witz!« lachte er, daß ihm die Tränen kamen, und steckte auch Rese damit an. Sie lachten im Duett, fielen einander in die Arme und klopften sich gegenseitig den Rücken. Auch Brigitte kamen die Tränen, doch sie weinte wirklich. Agnes war empört und schrie dem großen Wenzel ins Gesicht:
»Fußballer wird er keiner ... Wir wollen auch gar nicht.«
»Wer ... wir? Wer ist denn der ... Wir?« kicherte Rese und stupfte Thomas in die Seite. »Du vielleicht? ... Ich gratuliere!«
Agnes stürzte fort. Sie durfte diese Antwort nicht abwarten. Es ging um ihr Leben, ging um die Liebe, und das war ihr Leben. Thomas konnte nur nein sagen. Und das wollte sie nicht hören. Agnes hätte bleiben können. Thomas schwieg. Und die Mutter weinte. Es war eine triste Unterhaltung. Wenzel versuchte ungeschickt, Brigitte zu versöhnen, redete lärmend auf sie ein und erzählte umständlich, daß sie bei der Vienna einen Stürmer haben, der auch so klein gewesen ist und doch heute seinen Mann stellt, daß alle großen Leute einmal kleine Kinder waren, und was ihm sonst noch Trostreiches dazu einfiel.
Thomas nahm sich unterdessen abseits die Schwester vor.
»Wird er dich heiraten?« »Wenn ich will.« »Was heißt das?« »Daß ich vorderhand nicht will.« »Warum nicht?« »Weil man sich das gut überlegen muß.« »Du gehst doch fort mit ihm.« »Ja, wir reisen zusammen.« »Und er zahlt für dich?« »Soll ich für ihn ...?« »Du bist ein ...« »Sag's nur! Genier dich nicht!« lachte Rese und drehte sich kokett in den Hüften. »Du kannst ja gar nicht fort«, fiel Thomas plötzlich ein. »Warum denn?« »Weil du keinen Paß kriegst.« »Hab ihn doch schon.« »Wieso?« »Der Vater hat's erlaubt.« »Du warst bei ihm?« »Warum denn nicht?« »Er hat doch ... ist doch ...« »Erstens ist das noch nicht bewiesen, und zweitens kann man ihm gar keinen Vorwurf machen.« »So? Es ist also ganz in der Ordnung, wenn einer den anderen umbringt?« wurde Thomas laut. »Wenn die armen Leut die reichen immer umgebracht hätten, dann gäb's heute keinen Unterschied mehr.« »Sehr schön!« »Schön oder nicht: wahr ist es.«
Sie schämte sich aber doch und reiste ab.
Wenzel nahm vergnügten Abschied, schmiß die Beine, schwenkte den Hut, reichte Rese den Arm und wisperte Thomas ins Ohr:
»Wenn du einmal ohne Zwirn bist, dann schreib nach Barcelona. Kommt postwendend.«
Thomas bedankte sich für jetzt und immer. Seine Sorge schritt andere Wege. Er lebte in einer Unruhe, die mit Geld nicht auszugleichen war. Er hatte dem Buchhändler sofort bekanntgegeben, was ihm durch den Vater geschehen ist, hat auch nicht verschwiegen, daß er ihn für schuldig hält, und das Geständnis mit der Frage nach seinem Schicksal abgeschlossen:
»Muß ich jetzt gehen? ... Oder kann ich bleiben?«
»Dummkopf!« schalt ihn Herr Berg und suchte nach einem Vergleich, um sich deutlicher zu machen. »Werfe ich ein Buch hinaus, weil der Autor ein Lump ist? Auch das kommt vor, hat aber nichts damit zu tun.«
Mehr wurde kaum darüber gesprochen, und das war Thomas zu wenig. Er litt unter den einfältigsten Vorstellungen, wagte sich jetzt schon nicht mehr auf die Gasse, weil er meinte, daß aller Leute Finger auf ihn zeigten, jeder Schutzmann vor ihm die Brauen runzelte und jedes Zeitungsblatt schon voll mit seinem Namen war. Er wurde von schrecklichen Träumen gepeinigt, stand sich dreifach gegenüber und wußte nicht, welcher der richtige Thomas war ..., hing an einem Faden in der Luft, schwebte wie eine Spinne vom Himmel herab, sah den Faden schleißig werden, hörte ihn reißen und hatte nur noch so lange zu leben, als der Fall tief war, sah die Erde näher, immer näher kommen, sah schon die Donau und den Kahlenberg, fiel und fiel, sah auch schon den Stephansturm und sogar die Straße, in die er fallen mußte, sah ganz genau den Pflasterstein, der ihn töten wird, sah plötzlich seinen Vater unten stehen und die Arme nach ihm recken, wollte nicht durch ihn gerettet werden, wollte ihm nicht noch einmal sein Leben verdanken ... und erwachte über den Schreien der Mutter.
»Jesus! ... Mein Jesus!«
Thomas sprang aus dem Bett und zündete die Kerze an, sah Brigitte vor dem Kinde stehen und mit Gespenstern raufen.
»Sie wollen ihn kreuzigen! ... wollen ihn wieder töten! ... wollen nicht erlöst werden! ... wollen lieber Mörder sein!«
Thomas fürchtete sich vor ihr, wagte sie nicht anzurufen, wagte sie nicht wachzurütteln, drückte sich an die Wand und wartete, bis ihre Augen das Licht sahen und mit der Wirklichkeit die Vernunft kam. Sie war verworren genug. Brigitte hob die Hände flehend zu ihm auf.
»Sag ihnen doch, wer er ist! Sag ihnen, daß er es ist! und daß sie an ihn glauben sollen! Nur der Glaube, hörst du?, nur der Glaube fehlt, dann ist er Christus, dann bin ich Maria.«
Sie warf sich auf den Boden und schluchzte, wurde von Krämpfen gepackt und würgte ihre Stimme aus, wie man erbricht. Thomas wußte sich nicht zu helfen, lief an die Türe, sperrte auf und wollte um den Doktor laufen. Da fegte ein Sturm herein, schneite es plötzlich im Zimmer.
»Der Himmel kommt! Der Himmel selber kommt!« jubelte Brigitte, rutschte auf den Knien herum und betete die weißen Flocken an.
»Geh schlafen, Mutter!« bat Thomas und brachte sie zu Bett. Josef schlief. Er war immer noch ein totes Kind mit einem klopfenden Herzen. Es lebte. Man wußte kaum wovon. Es wollte nicht sterben. Man begriff kaum warum. Es schlug und mußte sich selbst erschlagen, um tot zu sein, mußte sich töten, um sterben zu können.
Es waren böse Nächte für Thomas, den Jungen, der seinen Tagen nicht gewachsen war, so schwer an Pflichten und so gewichtig an Inhalten kamen sie einer nach dem anderen aus dem Kalender marschiert und stellten sich wie Soldaten hin. Der Augenschein ließ freilich wenig davon merken. Thomas saß wie immer auf der Leiter, hatte ein Buch in den Händen und las, blätterte aber nicht um und konnte also auch nicht lesen.
»Was treibst du da?«
Herr Berg stand schon die längste Weile und schaute zu.
Thomas erschrak und ließ das Buch fallen.
»Ich ... denke ...,« stotterte er und konnte nicht weiter.
»Dann laß dich nicht stören!« lachte der Buchhändler und wollte gehen.
»Ich denke nach,« begann Thomas noch einmal, »ob es nicht doch besser wäre, wenn ich ...« Er stockte.
»Ja. Geh nur! Laß mich allein! Brauch keinen, der mir den Ofen heizt, die Bude auskehrt, das Wasser holt und auf der Leiter sitzt; kann auch ein anderer sein, ist ja ganz gleichgültig, jeder ein Mensch und jeder Buchhändler wie der alte Berg.« Es klang merkwürdig, war Spott und war es doch wieder nicht, war traurig und verbarg es hinter einer Lustigkeit, über die man nicht lachen konnte, nicht einmal lächeln.
Thomas wehrte sich verzweifelt gegen dieses Mißverständnis:
»In vierzehn Tagen ist die Verhandlung, ... und dann wird es in der Zeitung stehen, wird jeder wissen, daß er ..., daß ich ...«
»Er ist doch mein Vater.«
»Hast du ihn dir ausgesucht?« warf der Buchhändler hin und ließ den Jungen damit allein.
Thomas blieb sitzen, wo er saß, und dachte nun wirklich. »Wenn es so ist ...,« begann er und suchte nach Gründen, um sich zu beweisen, daß es gar nicht anders sein konnte. »Wenn das so ist,« atmete er auf, »dann darf ich weiter leben, ... kann Buchhändler werden, ... Buchhändler bleiben, ... und glücklich sein, ... glücklich ...« Er war es schon. Er mußte sich bloß hüten, unglücklich zu werden. Es ging nicht leicht. Aber es ging dann doch. Bücher sind gute Freunde, und das geistige Brot ist ein nahrhaftes Essen. Man muß es nur verdauen lernen.
Von zwölf bis eins war Zirkus. Da wurden sie zu fünfzig in den Hof getrieben und mußten ihre Runden laufen. Wenn es gemütlich ging, dann waren es fünfunddreißig, und wenn der Direktor zusah, dann wurden es vierzig. Vorlenz wäre am liebsten hundertmal herumgerast, konnte sich gar nicht bändigen vor Bewegungslust, schnaubte wie ein Berberhengst, plusterte sich auf, reckte die Arme wie Flügel und tummelte die Beine, daß ihm kein Vordermann schnell genug war und der von heute wieder einen Fersentritt ausfaßte, daß es nur so knallte.
»Langsam, Nummer achtundvierzig!« ermahnte der Aufseher und hob den Stock.
Vorlenz bremste beflissen, hielt genauen Abstand und wurde das Muster eines Spaziergängers im Gefängnishof. Es schneite leicht. Die Flocken tanzten. Und die Sonne klimperte dazu. Man hörte nichts. Es war zu weit nach oben, doch es konnte gar nicht anders sein. Man wird bescheiden hier in diesem Haus und dankt dem Schicksal für jede Fliege, die es einem schenkt. »Der dort,« wußte Vorlenz, »der Rote mit dem Stachelbart, hat sich eine Wanze von zu Hause bringen lassen, nährt sie mit seinem Blut und freut sich, wenn sie frißt, schläft immer nur auf einer Seite und rührt sich nicht, damit dem lieben Ding kein Leid geschieht und ihm sein Glück erhalten bleibt.« Vorlenz hat Wanzen niemals leiden mögen, aber diese eine Wanze ließ er gelten. Wieder gab es einen Tritt auf die Ferse und einen bösen Blick des Vordermannes.
»Abstand!«« drohte der Stock.
Vorlenz schnappte ein wie das Sekundenrad in den Gang einer Uhr, blieb aber doch die Unruhe in dem Werk. Er riß den Kopf hoch und schaute, hielt an und zeigte sich mit einem Finger: »Dort oben, das fünfte Fenster!« schaute schärfer hin und kegelte sich schier die Augen aus: »Dort ist doch, ... unter meinem Fenster pickt ein Nest.«
»Anschließen!« Der Stock pfiff durch die Luft.
Vorlenz beeilte sich, stolperte aber immer wieder über seine Blicke und über das Ding dort unter seinem Fenster. »Ein Nest! ein wirkliches Nest! Ob es Schwalben sind? aus Afrika gekommen, wo die Neger wohnen, über das Meer geflogen, wo die großen Schiffe schwimmen, über die Alpen her, vielleicht sogar über die Marmolata, über meinen Schützengraben weg. Hol ihn der Teufel! Aber es wäre doch ein Gruß von dort ... Wahrscheinlich sind es nur Spatzen«, schloß er und war auch damit zufrieden.
»Austreten, Achtundvierziger!« Der Stock stand steil gegen seine Brust gezückt.
Vorlenz mußte abseits stehenbleiben, bis die Laufzeit vorüber war. Dann schlug eine Uhr, und dann wurden sie in ihre Käfige zurückgetrieben.
»Ein Nest! Ein richtiges Vogelnest!« Vorlenz konnte das Glück nicht fassen, seine Freude gar nicht zügeln. »Da ist es,« zeigte er durch die Mauer hindurch, »da pickt es unter dem Sims.« Sein Herz hüpfte. »Schwalben können es nicht sein. Die reisen ab, wenn der Winter kommt und die roten Nasen blühen. Aber die Spatzen bleiben. Die lassen sich einen Winterrock wachsen und sind überhaupt nicht so zimperlich.« Vorlenz ist immer schon ein großer Tierfreund gewesen. Wanzen hätte er sich kaum gehalten, aber Spatzen ... »Das sind doch wir unter den Vögeln, sind die Vagabunden, die Strolche, das bin ich, Vorlenz, der Lump, das sind wir alle hier in der Villa hinter Schloß und Riegel.« Er lachte vergnügt und legte ein Ohr an die Mauer: nichts zu hören; kein Piepsen und kein Rucksen. Es erregte ihn trotzdem, so nahe ein anderes Leben zu wissen, mit ihm Wand an Wand zu hausen, Nachbar zu sein und einander nicht zu kennen. Einen Blick, einen einzigen Blick hätte er gern gewagt. Aber das Fenster war zu hoch. »Zwei Meter fünfundzwanzig oder dreißig«, schätzte er. »Wenn ich auf mich selber steigen könnte ...« Doch das konnte er nicht. Tisch und Sessel standen fest. Das Bett war angeschraubt. Blieb nur ein kühner Sprung. Und den verschob er auf morgen. Die Zelle wurde um acht gekehrt und gelüftet. Vielleicht daß ihm der Besen half. Es war zu dumm. Vorlenz kam nicht mehr los davon. Er wollte ... Ja, das wußte er selbst noch nicht, das fiel im erst am Abend ein, als er sich niederlegte und fror, weil der Strohsack ein Sack ohne Stroh und die Decke nur eine Decke war, und weil er sich so allein und einsam fühlte. Er wollte auch etwas Warmes, Lebendiges in der Hand haben, wollte es an die Brust drücken und ... Also, das schämte er sich beinahe zu denken, dachte es aber doch: wollte es küssen. Man hat eben seine Einfälle, und Vorlenz hatte sie auch. Er schlief schlecht, hörte es überall zirpen und hielt schließlich auch sein Herz für einen Spatzen, wurde selber zum Käfig und konnte nun erst recht nichts mit sich anfangen. Er träumte von einem Meer aus Vogelleim, das er überfliegen mußte, flog schon eine Woche lang und konnte nimmer länger, wurde müde und mußte sich setzen und durfte doch nicht. Es war ein gefährlicher Traum und eine anstrengende Reise bis zum Morgen. Vorlenz erwachte keuchend und schwitzend, sprang auf die Beine und stand auch schon wieder mitten drin: »Ob sie nicht gar erfroren sind?« Es wurde eine neue Sorge zu den alten und nicht die geringste. Ein Trost war dabei: »Der Winter meint es gut. Er bläst nur so um die Ecke und bröselt ein bißchen Schnee hin. Mag sein, daß ihn die Sache nimmer freut. Er ist doch schließlich auch schon eine Weile beim Geschäft. Aber es bleibt doch kalt genug, wenn einer in der Freiheit draußen lebt und nicht zentral geheizt wird. Das muß man bedenken. Und da muß man helfen.« Der Besen taugte nicht. Er war zu dünn und wäre gebrochen, und darauf stand eine Extratour ohne Einbrennsuppe und mit Dunkelheit. Auf die Suppe konnte man zur Not verzichten, doch das Licht war unentbehrlich, war das Einzige, was man mit denen draußen noch gemein hatte. Vorlenz blickte sehnsüchtig nach dem Fenster und machte tatsächlich den törichten Versuch, an einer glatten Wand hinaufzuklettern. Es konnte nicht gelingen. Er war betrübt und wurde es immer mehr, konnte nichts anderes denken, nichts mehr wollen, vergaß, daß er gefangen war und daß ihm selber keiner helfen konnte, war wie besessen und hatte bloß den einen Gedanken: »Wie kann ich ihnen helfen?« Man wird das nicht verstehen, wird sich Mühe geben müssen, es auch nur nachzufühlen. Vorlenz nahm seinen Fall nicht schwer. Das Opfer lebte. Was konnte ihm geschehen? Er war in Not, hatte kein Geld und überhaupt: »Wenn einer einen Hund reizt, wenn einer ein Stück Fleisch in die Hand nimmt und damit einen hungrigen Hund reizt und gebissen wird ... Wer ist da schuld? der Hund vielleicht? ... Und war es nicht auch so? genau so? ... Da ist der arme Johann Vorlenz, hat keinen Knopf in der Tasche, nur einen hungrigen Magen, und da ist der reiche Jude Salomon Stein, fährt im Automobil und heiratet eine russische Milliardärin ... Der Hund wird gereizt und der Jude gebissen. Wer ist da schuld? Der Arme, oder der Reiche?« Vorlenz wog die Gerechtigkeit mit den Händen ab, und das ergibt immer ein falsches Gewicht. Er wußte nicht, daß Richter anders wägen, vergaß, daß es Gesetze gibt, in denen die Gerechtigkeit begraben liegt und nur ungern zum Leben aufersteht.
Nächsten Morgen entdeckte Vorlenz, daß unter dem Fenster an der Mauer in Schritthöhe eine Kerbe war. Er entdeckte es bloß und dachte noch an nichts. Nachmittag hatte er aber schon eine Fußspitze darin stehen und versuchte, mit dem anderen Bein hinaufzuhopsen, tat es wie ein ungeschlachter Sack und kam nicht höher, als er selber hoch war. Es hatte Zeit, mußte ja nicht gleich gelingen. Wenn der Wächter links vorbeiging, dann dauerte es von einundzwanzig bis einunddreißig, und wenn er rechts vorbeikam, dann konnte man bis neunundfünfzig zählen. Vorlenz ließ keine Weile unbenutzt verstreichen, sprang immer leichter, immer höher hinauf, übte zwei Tage lang und hatte einmal schon das Gitter gegriffen. Seine Freude war überschwenglich. »Ich werde sie haben, werde sie holen, einen werde ich mir holen und ihn haben, werde ihn unter das Hemd stecken und wärmen, werde sein Herz hören und ihn bei mir horchen lassen, werde ihn füttern, werde mit ihm schlafen, etwas Warmes, Lebendiges haben und ...« Er schämte sich wieder, an einen Kuß zu denken, lachte sich selber aus und wird es doch tun, wird es ganz bestimmt nicht unterlassen können.
Das Nest war in Gefahr. Vorlenz bemerkte es beim Zirkus, trat wie ein Elefant herum, wurde ermahnt und stellte sich von selber auf die Seite. Es war kalt geworden, und ihn fror. Wie mußten erst die Spatzen frieren! Er starrte hinauf. Das Sims war ganz mit Schnee bedeckt. Eine Lawine beugte sich darüber. »Sie wird noch das Nest verschütten, wird es herunterreißen.« Vorlenz war außer sich und wollte schon den Aufseher bitten, ... aber das war nicht erlaubt und hätte ihm nur einen schlechten Witz, ein dummes Lachen eingetragen. Und die Sache war ernst. Vorlenz brütete in seiner Zelle, saß unbewegt auf einem Fleck und stierte in das Fenster, übte nicht, wußte, daß es gelingen wird, und wartete bloß, bis es finster wurde, saß Stunde um Stunde und überlegte seinen Plan. »Heute hat der Dicke Nachtdienst. Er macht drei Runden und schenkt sich die vierte, sitzt nur auf der Bank und klappert mit den Sohlen, als ob wir nicht wüßten ..., räuspert sich immer und ist kaum zu überhören. Er hinkt seit gestern auch ein bißchen, und das wird ihn noch fauler machen. Ich muß ihn grüßen, wenn er das erstemal vorüberkommt. Das mag er gern und stimmt ihn freundlich. Dann leg ich mich hin. Er schaut beim zweiten Gang, wie weit es damit ist. Dann schnarche ich, das ist ihm am liebsten, je lauter, je lieber. Dann ...« Vorlenz hatte alles überdacht. Der Dicke blieb schon nach der zweiten Runde aus. Man hätte gut bis hundert zählen können. Die Kerbe saß fest. Der Sprung gelang. Vorlenz faßte das Gitter mit einer Hand, kam ihr mit der anderen zur Hilfe und zog sich hinauf, daß die Gelenke krachten. Der Riegel war verrostet. Er wollte nicht gleich, drehte sich dann aber doch. Das Fenster huschte auf. Die Nacht war klar. Der Mond spiegelte sich sanft. Vorlenz schielte hinaus. Er sah den Hof und das Tor und die Gasse, sah aber kein Nest. Er reckte sich höher und wechselte den Griff. Man konnte es nicht sehen, konnte es nur greifen. Er streckte einen Arm durch das Gitter, zwängte auch den Kopf hinaus und tastete im Schnee am Sims entlang. Es ließ sich auch nicht greifen, lag zu tief. Er gab nicht nach. Er mußte. Einen Ruck noch! einen kleinen Ruck! Da war das Blech. Er klammerte sich an und zog den Körper nach, so weit es ging. Da war nun auch das Nest. Sein Herz setzte vor Freude aus. Aber das Nest war leer. Vorlenz verlor den Halt, rutschte hinab, verdrehte den Kopf, blieb zwischen den Stäben hängen und brach sich das Genick.
Rese war in Barcelona. Thomas hatte telegraphiert. Es kam aber keine Antwort. Ihr Leben ging den Weg der Liebe und des Geldes, und den kann ein toter Vater nicht hindern. Er soll es auch kaum, denn was gestorben ist, das wird gestrichen und ist vorbei. Vielleicht daß Rese sich doch dann und wann erinnerte; vielleicht daß sie nur deshalb nicht geschrieben hat, weil ihr die Worte fehlten, weil sie nur Tränen hatte und man die nicht schicken kann.
Thomas ging als Einziger hinter dem Sarge her und fühlte nichts, keine Trauer, keinen Haß, keinen Verlust. Ein Mensch ist gestorben. Das kommt täglich vor. Er war sein Vater. Kann es die Schuld des Sohnes sein, wenn ihm nicht das Herz bricht, wenn er nicht hinsinkt und aufschreit, Gott verflucht und sich verdammt, weil er zurückbleibt und weil dieser da gegangen ist? Es war der Mann seiner Mutter. Brigitte hatte so gesagt. Er hat ihn mit ihr gezeugt. Das war natürlich und ist längst kein Wunder mehr. Thomas wußte auch schon, wie man Vater wird. Doch dieser Mann ist niemals mehr gewesen, niemals das geworden, was man Vater nennt. Und so geschieht ihm recht. Sterben muß jeder Mensch, aber nur der, der ohne Liebe gelebt hat, ist ganz gestorben. Thomas ging einen Weg der Pflicht, ging ihn mit reiner Seele zu Ende und belog sich nicht. Er hielt die Augen trocken und den Mund verschlossen. Seine Tränen werden nicht Wasser, sondern Perlen sein, und was er reden wird, das ist gesprochen. Mag die Welt auch anders denken! Sie ist jung und kann von diesem Jüngling lernen.
Brigitte hatte nie erfahren, daß Johann gestorben ist. Sie hörte wohl, was man ihr sagte, doch sie begriff es nicht oder verstand es falsch, denn ihre Augen leuchteten unziemlich hell dabei, als sähen sie den Himmel offen, und ihre Lippen lächelten, als küßte sie ein Engel auf den Mund. Von ihrem Leben ist allein das Licht geblieben und verbrannte sie. Der Körper schwand. Man meinte fast nur ihre Kleider wandeln zu sehen, die schweren Falten des Rockes und die leichtere Hülle der Bluse. Das Antlitz schimmerte fahl unter dem Kranz der Haare und verblaßte vor den Finsternissen der Augen und dem tieferen Brunnen des Mundes, aus dem ihre Stimme sang, wie Kinder singen, die noch keine Worte haben und doch singen wollen. Selten nur kam es zu einem Sinn der Sprache, und dann war jedem, als hätte ein fremder Geist aus ihr gesprochen. Die Hände tasteten wie Fühler in der Luft. Der Gang war Flucht von Schritt zu Schritt, ein Zittern über den Boden hin, beinahe schon ein Fliegen. Ihr Herz schlug nie allein, hatte beständig das Kind an sich gedrückt und zählte seine Schläge mit, wie man Geld zählt, seine letzte Habe, den Rest dieses Daseins, hatte nichts in den Armen, ein unglückseliges Häuflein Fleisch und Knochen mit einem Hauch von Seele, und meinte doch der Welt den König aller Könige zu bringen. »Nur der Glaube ist das Brot, ... heiliges Brot, von dem wir essen, ... dem wir leben ...«
Thomas fürchtete die Mutter. Sie war ihm fremd geworden, ein Wesen ohne Boden unter sich, denn ihre Wege schienen nicht von dieser Erde, ohne Zeit, denn ihr Sinnen zielte in die Ewigkeit, ohne Alltag, denn immer feierte sie dunkle, geheimnisvolle Feste mit dem Kind. Thomas fürchtete sich. Das Grauen finsterer Geschichten schlich ihn an. Er wußte noch, er kannte sie genau und gruselte vor ihren Schatten. Sie fingen mit dem Abend an und nahmen in der Nacht kein Ende. Riesen standen auf und schlurften um das Haus. Gespenster huschten durch das Licht. Es wisperte von toten Stimmen, zeigte dürre Knochenfinger. Es war Angst in jedem Ding. Es krachte, knisterte und klirrte ... Mutter ging um, die Mutter ging herum.
Agnes mußte einmal die Nacht über bleiben und schlief im Bett der Schwester, wurde dann öfters darum gebeten und blieb endlich überhaupt, weil es für alle besser war und weil ihr keiner sagte, daß sie gehen soll.
Brigitte blieb über Tag allein und sperrte die Türe gar nicht auf. Sie ging vom Bett zum Tisch, vom Tisch zum Bett, trug Josef mit sich herum und sang ihm vor und betete ihn an. Der Sessel wurde zum Altar, das Kind zum Allerheiligsten, der Raum zur Kirche und sie selbst zum Priester, der die Messe hielt. Es war unheimlich und doch wunderbar zugleich. Brigitte spürte weder Kälte noch Hunger. Sie lebte von den Vorräten ihres Leibes und zehrte sich auf wie die Kerzenflamme den Talg. Sie ging barfuß und vergaß oft ganz, ein Kleid über das Hemd zu ziehen. Sie war auch sonst kaum irdisch zu nennen. Ihr Wesen flirrte und hatte keinen Bestand, war lustig und traurig ohne Grund, lachte und weinte in einem und war dann plötzlich überhaupt nicht da, schien ausgezogen, verlorengegangen. Es waren die Stunden der Leere und des Wartens, auf sich selber warten, eine Ohnmacht des Bewußtseins, die den Augen das Gesicht, den Ohren das Gehör, dem Willen jede Kraft zu wollen nahm.
Bis es geschah. Bis Brigitte eines Tages das Kind aus den Windeln hob und nackt an die entblößten Brüste legte, die Tür aufsperrte und hinaustrat, barfuß und im Hemd, ein nacktes Kind an nackter Brust.
Es war grausam kalt. Der Wind peitschte den Schnee auf, daß er in weißen Fahnen wirbelnd durch die Gassen flatterte. Es knirschte unter den Rädern, klirrte unter den Schritten.
Und eine Frau im Hemd, ein nacktes Kind an nackter Brust, ging hin und lächelte, nickte nach rechts, nickte nach links und flüsterte, weil es doch ein Geheimnis war und außer ihr noch keiner wußte:
»Josef ist Jesus, ... und ich bin seine Mutter ...«
Man brachte sie ins Irrenhaus. Brigitte glaubte sich im Himmel, denn es war auch ein Garten dabei, standen viele Bänke darin, war alles weiß und licht, gab keine Sorgen mehr, nur Güte und Liebe auf der Welt. Die Schwestern wurden zu Engeln. Der Doktor war der liebe Gott. Nur das Kind ist gestorben. Aber das merkte die Kranke nicht. Sie drückte einen Polster an die Brust und hörte mit ihrem Herzen auch noch das andere schlagen. Kein Glück konnte größer und keine Seligkeit schöner sein als die ihre.
Thomas war nun allein.
»Jetzt bin ich fertig«, schluchzte er und schwankte, als hätte er sein Leben lang auf vier Beinen gestanden und sollte nun plötzlich auf zweien stehen.
»Du wirst zu essen haben«, tröstete ihn Herr Berg.
»Das ist es nicht allein.«
»Du schläfst auch bei mir, kriegst eine Kammer und wirst dich gewöhnen. Bin auch einmal so weit gewesen und lebe immer noch.«
Thomas küßte ihm die Hand und biß seine Zähne hinein, daß Tränen und Blut sich mischten, war wie ein Tier, das einem Menschen sein Leben dankt, war wie ein Kind, das unter Schmerzen zur Liebe geboren wird.
»Ich will ... Ich werde ...« stammelte er und wußte in diesem Augenblick sicher nicht, was er wollte, und noch weniger, was aus ihm wurde.
»Schon gut«, sagte der Buchhändler, wischte seine Hand ab und knöpfte den Rock zu, damit ihm sein Herz nicht gestohlen wird, das doch gar nicht mehr ihm gehörte, weil er es längst verschenkt hatte.
Thomas gewöhnte sich so schnell in seiner Kammer ein, daß er schon am dritten Tag niemals anderswo zu Hause gewesen ist. Er hatte einen Diwan zum Sitzen. Es waren auch Sessel da, doch er saß nur auf dem Diwan. Er hatte einen Waschtisch aus Marmor und leckte sich anfangs nur wie eine Katze ab, um ihn nicht naß zu machen, als ob er aus Zucker gewesen und zergangen wäre. Er hatte einen Kasten, einen riesigen Kasten, obwohl er ihn gar nicht brauchte, denn es lag nur sein zweites Hemd und eine zerrissene Hose darin. Er hatte ein großes, herrliches Eichenbett, in dem man wie ein König lag und nur die besten Träume haben konnte. Er hatte einen Schreibtisch, einen wirklichen Schreibtisch, mit grünem Tuch bespannt, mit Laden und Fächern, mit Lampe und Tintenzeug. Es lag auch schon ein Blatt Papier darauf und eine Feder bereit.
Am liebsten aber saß Thomas doch auf der Leiter, hoch über allem, was sich das Leben hieß und die Welt bedeutete, das tiefe, gemeine Leben, wie er es nannte, und die törichte Welt, in der es immer nur um Eitelkeiten geht, um Geld und Tand, die ihm nicht nahe kamen, denn er saß auf der Leiter hoch über allem.
Daheim wohnte Agnes, die Federnschmückerin. Thomas hatte ihr alles geschenkt. Und so war es nur selbstverständlich, daß er hie und da nachschauen kam, was der Kasten machte, ob der Tisch noch stand und wie man auf dem Sessel saß, wenn Agnes daneben sitzt.