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Die Anzeige, durch welche Rechtsanwalt Dr. Fritz Bendring seine Verlobung mit Frau Rose Herlet, geb. Wellcomb, bekannt gab, ging durch die gelesensten Tagesblätter der Kaiserresidenz und wurde von den Blättern kommentierend besprochen.
Auf allen Seiten wog die Betrachtung vor, daß mit dem Schritte des hochgeachteten Anwalts der letzte, auch der leiseste Zweifel gegen die einmal schwer beschuldigte Frau – wenn ein solcher noch hier und da sich fortgefristet haben sollte – schwinden mußte.
Die den Verlobten befreundeten Familien brachten ihre Glückwünsche meist persönlich dar, und die Wohnung der Braut wurde in der Besuchszeit von Gratulanten nicht leer.
Bendring ging seinen Geschäften nach, verbrachte aber jede freie Stunde in Gemeinschaft mit der Geliebten.
Sie speisten zu Mittag in einem Restaurant unter den Linden, machten Spazierfahrten, erwiderten Besuche. trafen sich nach beendigter Bureauzeit des Anwalts und besuchten Konzerte und Theater.
Der Rechtsanwalt fand sich für die Uebergangszeit in die ungewohnte Lebhaftigkeit des Verkehrs und tröstete sich mit der Hoffnung, daß sie nach der Hochzeit, die auf einen nahen Termin vereinbart war, sich mehr zurückziehen würden in die Stille der Häuslichkeit.
Der letzte Septembertag brachte lachenden Sonnenschein. Nach Tausenden zählte die Menge, die in der Straße unter den Linden hin und her flutete. Vor einzelnen Restaurants und Schaufenstern traten Stauungen ein, und der breite Strom konnte nur langsam weiter fließen. Der Uebergang an der Friedrichstraße mit dem immensen Wagenverkehr war lebensgefährlich, und berittene Schutzleute hielten nur mühsam die Ordnung aufrecht. Plötzlich ein Stocken des Passantenstromes auf der ganzen Linie und ein Drängen an die Außenseite des Bürgersteiges. Allen Wagen wurde Halt geboten. Ein augenblicklicher Stillstand an Stelle des Hastens in der ganzen breiten Straße.
Ein raunender Ruf pflanzte sich fort: »Der Kaiser kommt!«
Auch der Anwalt und seine Verlobte blieben stehen und wurden von den Nachdrängenden ohne ihren Willen in eine sich darbietende Lücke der ersten Reihe geschoben.
Bendring sah bereits den wallenden Federbusch des kaiserlichen Leibjägers.
Der Wagen, ein offener Zweispänner, rollte in raschem Trabe heran und vorüber. Der Monarch grüßte mit gewohntem Ernst, aber freundlich dankend nach allen Seiten.
Hinter dem kaiserlichen Wagen schlugen die nur für Minuten gedämpften Wogen wieder zusammen. Die Menschenmauer löste sich, die Omnibusse, Equipagen und Droschken drängten sich beängstigend.
Der Anwalt bog auf die Mittelpromenade ab und strebte dem Brandenburger Tor zu.
»Bist Du einverstanden, daß wir auf eine Stunde nach der Kunstausstellung gehen?« fragte er die Verlobte.
Sie stockte.
»Kunstausstellung, Fritz? Viel – mache ich mir nicht daraus. Aber wenn Du willst – –«
Er redete zu.
»Es ist der letzte Tag heute, und ich habe noch nichts gesehen. Es wäre gemütlich, wenn wir die Gelegenheit wahrnehmen wollten ...«
Er erinnerte sich auf einmal, daß er in dem luxuriösen Heim der Braut nur wenige kunstvolle Radierungen, aber kein einziges Oelgemälde bemerkt hatte, obwohl sie früher doch selbst eifrig im Malen sich versucht hatte.
»Du scheinst nicht besonders mehr für die Kunst begeistert zu sein,« bemerkte er lächelnd. »Sag' mal, verehrte Rose, wollen wir auch in unserem künftigen Heim nur den Stahl- oder Kupferstich zulassen, nicht auch ein paar Landschaften in Oel, zum Beispiel von Rose Bendring, verwitweten Herlet?«
»Ach, von mir! Du willst dich wohl lustig machen über mich?«
»Das würde ich mir nie erlauben, meine Gnädige! Aber wenn nicht von dir, dann doch vielleicht von anderen. Wir könnten ja heute gleich mal Umschau halten ...
»Wie du willst, Fritz.«
»Sagt es dir nicht zu?« forschte er.
»O doch! Aber ich meine, das machst du nach deinem Geschmack.«
»Mit deiner gnädigen Zustimmung! Einverstanden. Malst du gar nicht mehr, Lieb? Nein? Na, ist ja auch nicht nötig. Eine gute Hausfrau hat schließlich anderes zu thun.«
Der große Park der Kunstausstellung war von promenierenden Menschen belebt. Zwei Militärkapellen spielten abwechselnd und lockten den allgemeinen Strom bald vor das Café, bald vor das Hauptrestaurant.
In den weiten Sälen der Ausstellung waren die Besucher spärlich verstreut. Nur vor einigen Berühmtheiten der Sammlung fanden sich mehrköpfige Gesellschaften zusammen, die aber meist darauf bedacht schienen, die letzten Stunden noch möglichst auszunutzen und immer rasch weiter zu ziehen.
Der Anwalt erstand einen Katalog und ging langsam musternd an den Wänden hin.
»Ich denke, unsere deutschen Herrschaften sind uns die nächsten, meinst du nicht ebenso?« fragte er.
»Ja, Fritz.«
»Du bist einsilbig ... Sieh mal her – die berühmten Worpsweder! Man braucht den Katalog nicht einmal zu befragen. Diese Bauernfamilie an der Leiche des kleinen Sprößlings ... Genial einfach und lebenswahr. Alles Trauer und Ergebung: in den Mienen der einfachen Menschen, in der Lichtwirkung, in den stumpfen Farben. Tief ergreifend. Aber doch nichts Friedvolles; etwas wie Leichenduft, das mich stört ...«
Sie standen noch eine Weile in stiller Betrachtung, ehe sie weitergingen.
Ein Blumen- und Obst-Stillleben fesselte Frau Herlet, ein belebtes Schlachtenbild den Anwalt.
Vor einem Seebild fuhr Bendring betroffen auf.
»Das ist doch – –! Rose ist das nicht ein wahrhaft berückender See- und Sonnenzauber?«
Von einem Silberschimmer übergossen lag die Seefläche, ein Sonnenbrennen zitterte in der Luft – ein Blenden ging von Licht und Wasser aus!
Bendring blätterte hastig in dem Katalog.
»Das ist doch –!« wiederholte er abgerissen.
Das Bild trug die Nummer 748.
»Na, natürlich!« stieß der Anwalt lebhaft hervor. »Den Künstler kenne ich! Da, Rose: ›748. Vermissen, David. Am Ufer des Plattensees.‹«
Er beugte sich vor, um in der rechten unteren Ecke des Bildes nach dem Namen oder Initial des Künstlers zu suchen und bemerkte infolge dieser Ablenkung nicht, daß seine Braut weiß geworden war wie das fliegende, helle, sonnendurchleuchtete Gewölk des Bildes, und daß ein Zittern sie durch Sekunden überfiel, als drohe sie umzusinken.
Er fand das klein und versteckt angebrachte Initial D. V. erst nach längerem Forschen, und dadurch gewann die Frau Zeit, sich zu fassen.
Er sprach enthusiastisch von dem Bilde und erging sich in Erinnerungen.
»David Vermissen! Also doch! Also doch ein erster Künstler ...!«
Sie horchte begierig auf seine Erzählung.
»Er hat einmal Hedwig schwer gekränkt ...« Bendring führte das weiter aus. »Dann brachten wir ihn in Verbindung mit ihrem Tode, beluden ihn mit der Beschuldigung des an ihr begangenen Mordes. Dadurch lernte ich ihn kennen. Fern am Plattensee. Er malte, malte an diesem Bilde. Er wollte die Sonne fangen, sagten die Leute. Und er hat sie gefangen! Sein Werk ist ein Meisterwerk. Und es freut mich. Ich habe ihm lange vergeben. Ich glaubte ihn verschollen ... So tritt er einem wieder entgegen! Jetzt freut es mich doppelt, daß ich den Einfall hatte, herzugehen. Wollen wir das Bild kaufen. Lieb? Es wird uns wohl erschwinglich sein – oder dir.«
Sie schwankte müde, und er bemerkte es erschreckt.
»Lieb!« rief er besorgt. »Was ist dir –?«
Sie wehrte matt ab.
»Ich habe Kopfschmerzen. Das Sehen strengt mich an; komm, Fritz, in die frische Luft ...«
»Wir wollen in den Park gehen,« stimmte er bei.
»Nein, nach Hause,« bat sie.
»Auch, ganz nach deinem Wunsch! Aber, Lieb, warum hast du nicht gesprochen ... Schleppe ich dich da herum, habe nur Augen für die Bilder und nicht für dich! Verzeih!«
Er stützte die Halbohnmächtige und zog sie fort.
Sie ließ sich in einem Nebensaal erschöpft auf einen Stuhl nieder.
Wenige Minuten nur. Dann erhob sie sich wieder, legte ihren Arm in den seinen und schritt hinaus.
Die frische Luft that ihr wohl.
»Komm, trink in der Klause ein Glas kräftigen Wein!« bat er.
»Nein, laß. Ich möchte heim,« flüsterte sie.
Er folgte ihrem Wunsche willig.
Am Ausgange rief er eine Droschke an, reichte der Verlobten die Hand und half ihr hinein.
Der Taxameter rollte rasch davon, und die Insassen waren ahnungslos, daß die brennenden Augen eines auf dem Bürgersteige wie angewurzelt stehen gebliebenen, herkulisch gebauten Mannes ihnen folgten, so lange der Wagen in Sicht war.
Frau Herlet erholte sich schnell, und Bendring, der sie nach der Wohnung gebracht hatte, konnte sich beruhigt nach seinem Bureau entfernen.
Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht auf die Verlobte geachtet hatte, und schrieb ihre Schwäche den Nachwirkungen der ihr auferlegten Sorgen zu, die sie doch mehr erschüttert haben mochten, als sie selbst zugegeben und er bisher angenommen hatte.
Er nahm sich eine aufmerksamere und liebevollere Beobachtung vor, dachte aber dann doch wieder an das seltsam fesselnde Bild David Vermissens und richtete vom Bureau aus an die Leitung der Ausstellung ein Schreiben mit der Anfrage, ob das Bild käuflich sei, welcher Preis gefordert werde und ob sich vielleicht eine persönliche Verhandlung mit dem Künstler ermöglichen lasse.
Im neuen Opernhause wurde abends ›Der Verschwender‹ gegeben. Die Fee Cheristane, dargestellt von einer der tüchtigsten Künstlerinnen, war eine der Lieblingsgestalten des Anwalts. Aber sie vermochte ihn nicht wie sonst zu fesseln. Es war ihm bisweilen, als drängte sich vor die Lichtgestalt ein breitschultriger Mann mit gramdurchfurchtem Antlitz, tiefliegenden Augen und verwildertem Bart.
Und in die Bühnenworte klang es geheimnisvoll hinein wie von den Lippen des ungarischen Eisenbahnbeamten: »Er will die Sonne fangen ...«
Frau Herlet zwang sich zu lächelnder Miene, wenn der Verlobte mit ihr sprach, und starrte ohne Interesse und ohne Erkennen auf die Bühne, wenn sie sich unbeachtet wähnte.
Die Antwort der Ausstellungsleitung kam schnell. Sie wurde am Nachmittage des nächsten Tages durch einen besonderen Boten überbracht und trug auf dem Umschlag den auffallend unterstrichenen Vermerk: »Um Antwort wird gebeten.«
Der Anwalt las:
»Sehr geehrter Herr! Der Zufall fügte es, daß bald nach Eingang Ihrer gefälligen Zuschrift der Schöpfer des Bildes ›Am Ufer des Plattensees‹ unser Bureau aufsuchte und wir somit auch Ihren Wunsch bezüglich einer eventuellen persönlichen Unterredung zur Sprache bringen konnten.
Der Preis des Bildes war von dem Künstler schon vorher auf den Betrag von sechstausend Mark festgesetzt worden; doch hat sich Herr David Vermissen vorbehalten, sich im gegebenen Falle persönlich mit Ihnen zu vereinbaren.
Sie ersehen schon hieraus, das Ihrem Wunsche nach mündlicher Besprechung nichts entgegensteht. Herr Vermissen ersucht uns vielmehr, Ihnen mitzuteilen, daß schon er selbst – aus anderen Gründen – den Wunsch nach einer Begegnung mit Ihnen gehegt hatte und Ihnen verbunden sein würde, wenn Sie einen Zeitpunkt – und zwar einen nahen – sowie den Ort für das Rendezvous anzugeben belieben wollten.
Unterlassen möchten wir nicht, darauf hinzuweisen, daß für das Vermissensche Seestück ein Kaufgebot der Nationalgalerie seit langem vorliegt, das bisher nur nicht erledigt werden konnte, weil der Künstler sich die Entscheidung bis zu seiner persönlichen Ankunft vorbehalten hatte, die erst am gestrigen Nachmittag erfolgt ist.
Wir zeichnen mit hochachtungsvoller Empfehlung.«
Der Name unter dem Stempel war schwer zu entziffern.
Der Rechtsanwalt antwortete:
»Ich lasse Herrn David Vermissen durch Ihre gefällige Vermittelung bitten, mich morgen nachmittags zwischen zwei und fünf Uhr in meiner Wohnung besuchen zu wollen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Bendring.«
Er fügte die Adresse hinzu und gab die Antwort dem Boten mit.
Rose einzuweihen wollte er unterlassen. In der dem Maler angegebenen Zeit konnte er unauffällig abkommen und erhielt dadurch die Möglichkeit, die Geliebte mit dem Ankaufe des Bildes zu überraschen. Die Unpäßlichkeit hatte sie verhindert, es in der Ausstellung zu würdigen; im eigenen Heim würde es ihr oft genug vor Augen treten und ihre Bewunderung herausfordern – das heißt: wenn der Künstler sein Angebot dem ehrenden der Galerie vorziehen wollte, wie es nach dem Briefe möglich, vielleicht auch zu vermuten, aber noch nicht entschieden war.