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In dem großen Hause Molkenmarkt Nr. 3 befanden sich in einem kleinen Zimmer zwei Treppen hoch zwei Personen, ein kleiner runder Mann mit einem roten Gesicht und ein langer, hagerer Mann mit einem blassen Gesicht.
Das große Haus am Molkenmarkt Nr. 3 zu Berlin ist bekanntlich das Kriminalgerichtsgebäude oder, wie der Berliner sagt, das Kriminalgericht.
Die Stube, in welcher die beiden Männer sich befanden, war eine Verhörstube des Kriminalgerichts. Sie war es. Jetzt gibt es schon seit mehreren Jahren keine Verhörstuben mehr. Das neue öffentliche mündliche Strafverfahren mit einem Staatsanwalt und mit Geschworenen hat auch die Verhörstube mit ihren Inquirenten abgeschafft und dafür Instruktionszimmer mit einem Instruktionsrichter eingeführt, in denen übrigens genauso verfahren wird wie in den Verhörstuben des alten schriftlichen Inquisitionsprozesses.
Der kleine runde Herr mit dem roten Gesicht war der Inquirent der Verhörstube, der Kriminalgerichtsrat oder, wie seine Untergebenen zu ihm sagen mußten, Stadtgerichtsrat Pannemann.
Der lange, hagere Mann mit dem blassen Gesicht war sein Kriminalprotokollführer Köpke.
Der Kriminalgerichtsrat war soeben in die Verhörstube eingetreten, hatte Hut und Stock und Handschuhe abgelegt und sich an seinen Arbeitstisch begeben. Auf diesem lagen, musterhaft geordnet, seine Arbeiten für den heutigen Tag; auf der einen Seite die Akten, in denen zu dekretieren, auf der anderen die, in denen zu inquirieren war. Köpke hatte sie musterhaft geordnet, er hatte auch, wie immer, noch mehr getan. Die »Decernenda« hatte er schon »abdekretiert«; der Rat mußte nur seinen Namen darunterschreiben; ob er sie auch durchlesen wollte, stand in seinem Belieben. In den »Terminakten« hatte der fleißige Protokollführer die Protokolle schon fertig gemacht. Der Rat mußte nur noch die vernommenen Personen wieder vorkommen, ihnen die Protokolle vorlesen lassen und sie befragen, ob es so richtig sei.
Dies war indes nicht in allen Sachen so. Denn, wie gesagt, der Kriminalgerichtsrat hatte die wichtigeren sich zur eigenen Bearbeitung vorbehalten. Köpke mußte sie ihm obenauf legen.
Der Kriminalgerichtsrat Pannemann besah zuerst das Aktenstück, das oben auf den Terminakten lag, also mutmaßlich zu seiner eigenen Bearbeitung stand. Er wurde überrascht, und zwar angenehm überrascht.
»Piepritz?« rief er. – »Piepritz!« sagte der Protokollführer Köpke.
»Und bestätigt?«
»Bestätigt.«
»Gottlob, Gottlob! Köpke, klingeln Sie.«
Über dem Arbeitstische hing eine Schnur, die zu einer Klingel in den Verhörgängen führte. Köpke zog dreimal die Schnur. Die Verhörstube führte in dem Gange, an dem sie lag, die Nummer drei. Ein Kriminalgerichtsdiener trat ein. – »Den Piepritz«, befahl der Kriminalgerichtsrat. – »Zu Befehl, Herr Stadtgerichtsrat.« Der Diener ging zurück.
Der Kriminalgerichtsrat war so freudig aufgeregt, daß er keine Akten weiter ansehen konnte. Er ging in der kleinen Stube auf und ab.
Der Protokollführer faltete einen Bogen Papier und schrieb, den Eingang ins Protokoll darauf.
»Köpke!« sagte der Rat wichtig und vergnügt, »ich bin recht neugierig.«
Köpke nickte mit dem Kopfe, zum Zeichen, daß er es glaube.
Er war mit Schreiben beschäftigt, und der Rat, der selbst gern viel sprach, hatte es nicht gern, wenn andere sprachen.
»Der wird Augen machen, Köpke.« – Köpke nickte.
»Es hat mich auch Mühe genug gekostet. Was habe ich dem Kerl zusetzen müssen.« – Köpke nickte wieder. »Warum antworten Sie mir nicht, Köpke?«
»Ja, er war sehr zähe«, sagte Köpke mit einer melancholischen Stimme.
»Ich habe ihn dennoch zur Überführung gebracht. Indizium auf Indizium, alle so fein, so delikat« – der Rat schnalzte mit der Zunge – »und doch so fest. Ich umstrickte ihn, wie einen Aal in einem Fischernetze. Ja, ja, ein glatter Aal war der Kerl; aber ich bin ihm doch Meister geworden. – Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen, Köpke?«
»Ja, Herr Stadtgerichtsrat.«
»So recht habe ich selbst an die Schuld des Menschen nicht geglaubt.«
»Ich auch nicht, Herr Stadtgerichtsrat.«
»Aber sehen Sie, Köpke, er ist ein so alter und so oft bestrafter Dieb und hat so oft gestohlen, ohne daß er bestraft ist. Ist er hier auch unschuldig, so hat er durch hundert andere Verbrechen die Strafe doppelt, dreifach verdient.«
Köpke nickte.
»Und ein Exempel mußte an ihm statuiert werden, und darum gab ich mir auch so viele Mühe mit dem Menschen; ich selbst. Und gottlob, ich hatte die Genugtuung, daß das Kriminalgericht meinen Indizienbeweis für genügend annahm und ihn verurteilte, und jetzt hat es auch der Ober-Appellationssenat bestätigt. – Fünfzehn Jahre! Und gar mit Besserungsdetention! Eine lange Zeit! Er wird sich verwundern. Ich bin recht neugierig.«
Die Tür ging auf. Der Kriminalgerichtsbote führte einen Gefangenen herein.
Der Kriminalgefangene Piepritz war in den vierziger Jahren, ein kleiner schmächtiger Mensch, mit einem eingefallenen erdfahlen Gesicht und mit verschleierten, eidechsenartig schillernden Spitzbubenaugen. Er hatte seit seinem zwölften Jahre die meiste Zeit seines Lebens in Untersuchungsarrest und in Zuchthäusern zugebracht.
Er trat mit einem langsamen, ruhigen Wesen und einem unbeweglichen Gesicht in die Verhörstube. Ob er jemanden darin ansah, ob er etwas darin suchte, ob er überhaupt auf irgend etwas achtete, konnte man bei den völlig verschleierten Augen nicht sehen. Nur einen stillen Trotz konnte man an ihm bemerken.
Der Kriminalgerichtsrat redete ihn an. Mit den ersten Worten amtlich ernst; bald konnte er aber seine vergnügte Stimmung nicht mehr verbergen.
»Piepritz, dein zweites Urteil ist gekommen. Es soll dir publiziert werden. Was meinst du wohl, wie es ausgefallen ist?«
Der Gefangene schwieg trotzig.
»Du sagst nichts, Piepritz? Du hast wohl eine Ahnung?«
Der Gefangene antwortete mit jener heiseren Stimme des Schnapses aus früherer und der Gefängnisluft aus späterer Zeit: »Wenn es nach Recht und Gerechtigkeit geht, Herr Kriminalrat, so bin ich freigesprochen.«
»Wenn es nun nicht so wäre, bester Piepritz?«
Der Kriminalgerichtsrat war von Herzen ein grundguter Mensch, dem es auch wahrlich an Gerechtigkeitsgefühl nicht fehlte. Aber die lange Gewohnheit des Inquirierens hatte namentlich in zweierlei Weise eigentümlich auf ihn eingewirkt. Einerseits ergriff ihn gerade vermöge seines Gerechtigkeitsgefühls gegenüber den strengbindenden Vorschriften der Kriminalordnung über den Beweis, durch den es den Verbrechern so sehr leicht gemacht war, »sich durchzulügen«, manchmal ein zäher Eigensinn, gleichsam eine stille Wut, den leugnenden Verbrecher zu überführen, durch Indizien über Indizien »den frechen Lügner« wie einen »glatten Aal« zu umstricken und zu fangen. Andererseits, wenn er endlich seinen Zweck erreicht hatte, so bestand seine hauptsächliche Freude darin, mit dem armen überführten Inquisiten wie die Katze mit der Maus zu spielen.
»Aber wenn es nun nicht so wäre, bester Piepritz?« fragte der Kriminalgerichtsrat.
»Herr Kriminalrat, noch gibt es in Preußen Gesetze und gerechte Richter.«
»Du könntest dich doch irren, guter Piepritz.«
»Da drinnen, Herr Kriminalrat?«
»In deiner Freisprechung.«
»Na, lassen Sie hören.«
»Dein erstes Urteil ist lediglich bestätigt worden.«
»Lassen Sie es mir vorlesen, wie es Vorschrift ist«, sagte trotzig der Gefangene.
Der Rat mußte vorlesen.
»In der Kriminaluntersuchungssache gegen den Arbeitsmann Leonhard Friedrich Wilhelm Piepritz aus Berlin hat der Ober-Appellationssenat des Kammergerichts den Akten gemäß für Recht erkannt, die Erkenntnis des Kriminalgerichts zu Berlin vom 3. März 18 ... lediglich dahin zu bestätigen, daß der Inquisit Leonhard Friedrich Wilhelm Piepritz wegen zweiten gewaltsamen und zugleich dritten Diebstahls außerordentlich mit fünfzehn Jahren Strafarbeit und Detention in der Strafanstalt bis zu seiner nachgewiesenen Besserung zu bestrafen ist. Von Rechts wegen ...«
Damals dachte man bei der Strafe noch an Besserung des Verbrechers. Jetzt ist alles »absolute Strafrechtstheorie«.
Der Gefangene hatte der Vorlesung mit seinem ganzen unbeweglichen Trotze zugehört.
»Soll ich dir auch die Entscheidungsgründe vorlesen?« fragte der Kriminalgerichtsrat. »Du kannst es nach dem Gesetze verlangen.«
»Inkommodieren Sie sich nicht, Herr Rat. Ich weiß doch, daß ich meine Strafe nur Ihnen zu verdanken habe.«
Der Rat rieb sich die Hände.
»Ja, ja, Freund Piepritz, du warst klug, recht klug, aber ...«
»Aber wir sprechen uns wieder, Herr Kriminalrat. Fünfzehn Jahre sind zwar eine lange Zeit.«
»Ja, ja, eine recht lange Zeit!«
»Aber sie gehen vorüber, Herr Kriminalrat.«
»Und vergiß auch die Besserungsdetention nicht, bester Piepritz.«
»Oh, Herr Kriminalrat, was die anbetrifft, so werde ich vom ersten Tage an im Zuchthause mich so bessern, daß ich keine Stunde länger sitzen muß als meine fünfzehn Jahre. Und wissen Sie auch, warum, bester Herr Kriminalrat? Um genau nach fünfzehn Jahren mit Ihnen wieder sprechen und Ihnen dafür danken zu können, daß ich so lange Zeit im Zuchthause mich habe bessern müssen.«
Der Mensch hatte, während er diese Worte mit seinem vollen ruhigen Trotze drohend sprach, die verschleierten Augen weit geöffnet. Es waren ein Paar große hellgrüne Augen. Sie schossen Blitze auf den Kriminalgerichtsrat.
Der arme Rat sah sie vielleicht zum ersten Male in seinem Leben. Er mußte sich den Angstschweiß von der Stirn wischen.
»Köpke, haben Sie das Protokoll fertig?« fragte er.
Köpke hatte das Protokoll fertig. Er las es dem Inquisiten vor. Der Inquisit unterschrieb es ruhig.
Dann erhielt der Gerichtsdiener einen Wink, ihn abzuführen.
Aber in der Tür drehte sich der Gefangene noch einmal um.
»Ich komme nach Spandau, Herr Kriminalrat?«
»Als schwerer Verbrecher, ja.«
»Und wann werde ich abgeführt?«
»Morgen.«
»Also morgen über fünfzehn Jahre, Herr Kriminalrat. Vergessen Sie mich nicht!«
Er verließ das Zimmer.
»Das ist ein gefährlicher Mensch, Köpke«, sagte der Kriminalgerichtsrat. »Fünfzehn Jahre sind gottlob eine lange Zeit!«
Köpke nickte mit dem Kopfe.
Dem Kriminalgerichtsrat aber war der Schreck in die Beine gefahren. Er mußte sich auf seinen Stuhl setzen und lange ausruhen, bevor er seine Arbeit wieder beginnen konnte.
Der Gefangene wurde in seine Zelle zurückgeführt. Er hatte bisher allein darin gesessen. Bei seiner Rückkehr traf er einen Mitgefangenen.
Es war ein kleiner, verwachsener, sehr häßlicher Mensch, der aber gewandt aussah und außerordentlich listige Augen hatte.
Der Gefangene Piepritz kannte ihn nicht. Er betrachtete ihn eine Weile aufmerksam. Dann redete er ihn an: »Wie heißen Sie?«
»Friedrich Schulze ist mein Name.«
»Mir unbekannt. Sind Sie schon öfter hier gewesen?«
»Es ist das erste Mal.«
Piepritz sah Friedrich Schulze mit einiger Geringschätzung an. »Weshalb sitzen Sie?«
»Ich soll einen Bauern um zehn Silbergroschen betrogen haben.«
Piepritz sah den Menschen mit ungemeiner Verachtung an. »Darum!« Dann schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein. »Höre Er mal, Er wird hier nicht lange sitzen.«
»Meinen Sie?«
»Unterbreche Er mich nicht. Höchstens vierzehn Tage, und wenn Er sogleich zugesteht, kaum acht Tage.«
»Sie raten mir zum Geständnis?« fragte verwundert Friedrich Schulze.
»Was ist daran gelegen, ob so ein Lump, der nur Bauern betrügen kann, ein Geständnis ablegt oder nicht. Einen zweiten oder dritten Betrug gibt es ja nicht, und also immer nur drei bis vier Wochen Gefängnis. Aber Er kennt mich?«
»Sie sind der Leonhard Piepritz?«
»Ja, der bin ich«, sagte der Dieb stolz, »und ich habe Ihm einen Auftrag zu geben. In acht oder vierzehn Tagen wird Er, wie ich sage, freikommen. Dann gehe Er zu meiner Frau, Mulackgasse Nummer dreizehn, vier Treppen auf dem zweiten Hofe, nach hinten, und sage Er ihr, daß ich fünfzehn Jahre bekommen hätte...«
»Fünfzehn Jahre!« rief Friedrich Schulze.
»Na, falle Er mir nicht in Ohnmacht. Er wird in seinem Leben keinen zweiten gewaltsamen und zugleich dritten Diebstahl begehen. Aber unterbreche Er mich nicht wieder und höre Er zu, Er geht also zu meiner Frau und sagt ihr das, und zugleich sagt Er ihr, sie solle recht bald nach Spandau kommen und mir Tabak bringen. Hat Er verstanden?«
»Ja, Herr Piepritz.«
»Und nun schere Er sich in seine Ecke dort.«
Der Aristokrat macht sich nirgends mit dem Proletarier gemein.
Am andern Tage wurde Leonhard Piepritz zur Verbüßung seiner fünfzehnjährigen Strafarbeit zum Zuchthause in Spandau transportiert.
Genau fünfzehn Jahre und ein Tag waren seit jener Urteilspublikation verflossen.
Auf der breiten Chaussee, die von Charlottenburg durch den Tiergarten nach Berlin führt, ging ein Wanderer dem Brandenburger Tor zu.
Er ging allein. Es war ein schmächtiger, blasser Mensch. Das Gesicht war aufgedunsen; der übrige Körper war klapperdürr. Er war bekleidet mit langen Beinkleidern und kurzer Jacke, beide von grauem Zwillich. Auf dem Kopfe trug er eine alte Mütze, deren Farbe nicht mehr zu erkennen war, in der Hand einen Stock.
Ein Berliner, der ihn sah, erkannte leicht in ihm einen aus dem Zuchthause zu Spandau entlassenen Sträfling.
Piepritz hatte seine fünfzehnjährige Strafarbeit in dem Zuchthause zu Spandau verbüßt. Er hatte auch während seiner ganzen Strafzeit sich ruhig und der Hausordnung gemäß betragen und täglich unverdrossen sein Pensum Wolle abgespult. So konnte er, ohne daß es einer Nachdetention zu seiner Besserung bedurfte, mit dem Ablauf des Tages seiner Strafarbeit auch als gebessert entlassen werden. Er war heute entlassen und auf dem Rückweg nach Berlin, nach Hause.
Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit. Der Kriminalgerichtsrat Pannemann hatte es gesagt. Leonhard Piepritz hatte es erfahren. Die Zeit kommt einem noch einmal so lang vor, wenn man nach fünfzehn Jahren vor den Toren seiner Heimatstadt steht, in der man eine Frau, Kinder, Freunde und Bekannte zurückgelassen, von denen allen man in langen Jahren nichts erfahren hat. So war es dem Sträfling Piepritz in Spandau ergangen.
In den ganzen fünfzehn Jahren war er keinen Tag, keine Stunde aus den Mauern des Zuchthauses zu Spandau gekommen, hatte er von seiner Familie und von seinen Freunden nichts gesehen und nichts gehört. Weder war seine Frau selbst gekommen, um ihm Tabak zu bringen, noch war sonst jemand im Zuchthause gewesen, der ihm Nachricht von ihr und seinen Kindern gebracht hatte. In der ersten Zeit seiner Haft waren zwar noch Sträflinge aus Berlin in das Zuchthaus zu Spandau eingeliefert; sie hatten aber von den Seinigen nichts gewußt. Späterhin war die Strafanstalt zu Moabit bei Berlin für die schweren Berliner Verbrecher eingerichtet, und die leichteren wurden nach Brandenburg, nach Sonnenburg oder nach der Lichtenburg gebracht. Nach Spandau kam keiner mehr. In Spandau blieb nur der alte Stamm aus der früheren Zeit, der mehr und mehr ausstarb.
So war er auch ohne Kunde von dem geblieben, was sich während seiner langen Haft außerhalb seiner Familie in der Welt zugetragen hatte. Im ganzen bekümmerte ihn das freilich wenig. Doch hatte einzelnes näheren Bezug auf ihn, und darauf hatte er denn sehr angelegentlich geachtet. Dazu gehörte namentlich die Nachricht, daß im Jahre 1848 eine Revolution in Berlin war, welche die Gendarmerie abgeschafft und dafür eine Bürgerwehr und Schutzmänner, die man auch Konstabler nenne, eingeführt habe, beide aus Bürgern und anderen geborenen Kindern Berlins bestehend. Besonders war ihm dabei gesagt, daß die Schutzmänner sehr freundliche Menschen seien, die runde Hüte trügen, wie ein Lord vom Mühlendamm oder ein Geheimrat aus dem Geheimratsviertel, und den Leuten auf der Straße auf ihre Anfragen sehr höflich Bescheid geben und ihnen Platz machen oder ihnen sonst in ihren Angelegenheiten mit Rat und Tat an die Hand gehen müßten. Vor den Gendarmen, die das Einbrechen und Stehlen hinderten, hatte er stets einen großen Respekt gehabt. Aber vor den Bürgern und anderen Einwohnern Berlins, die sich so oft hatten bestehlen lassen!
Pah, sagte er, jetzt kann man ja am hellen Tage in der Leipziger Straße einbrechen.
Seine Nachrichten, die er erhalten hatte, reichten übrigens nur bis in das Jahr 1848. Seitdem aber war kein neuer Sträfling nach Spandau gekommen, und außer den Sträflingen sah er dort nur die Aufseher, die mit ihm über solche Sachen nicht sprachen.
Es war ein heller, warmer Sommernachmittag, als er auf der Charlottenburger Chaussee durch den Tiergarten dem Brandenburger Tore zuging. Zu beiden Seiten der Chaussee grünte der Wald so lustig, so dunkel, so duftig. An den Spalieren des Großen Sterns blühten bunte Blumen. Tausende von Spazierenden zu Fuße, zu Pferde, zu Wagen durchzogen die Chaussee, den Großen Stern, den Kleinen Stern, die schattigen Alleen, die zu beiden Seiten der Chaussee in den Wald führten. Alle waren so heiter, so fröhlich wie der helle Sommernachmittag.
Der entlassene Sträfling achtete auf das alles nicht. Sein Sinn war nur auf Berlin gerichtet. Was sollte er auch im Tiergarten, zumal mit seinen aristokratischen Gesinnungen? Er gab sich nur mit Einbrüchen ab; ein Taschendieb war ihm noch verächtlich, und höchstens ein elender Taschendiebstahl ließ sich unter den Spaziergängern machen. Nur manchmal sah er sich um, ob er unter den Leuten nicht irgendeinen Bekannten finde. Und das hatte folgenden Grund.
Bei seiner Entlassung aus dem Zuchthause hatte er das vorschriftsmäßige Reisegeld im Betrage von einem Silbergroschen und drei Pfennigen erhalten. Nahe vor den Mauern des Zuchthauses war er an einem Bäckerladen vorbeigekommen, in welchem frisch gebackene Semmeln weiß und duftend auslagen. Seit fünfzehn Jahren hatte er nichts als schwarzes, grobes, saures Kommißbrot gesehen. Ein süßes Verlangen bemächtigte sich seiner, und er kaufte sich für sein ganzes Geld die weißen schönen Semmeln. Er dachte an seine Familie, von der er seit fünfzehn Jahren kein Wort vernommen hatte. Er hatte sie frisch und gesund verlassen; seine Frau in ihrem besten Alter; seine Kinder, zwei Mädchen von fünf und drei Jahren, blühend und munter. Lebten sie noch? Was machten sie? Wo waren sie? Seine Frau hatte ihm den Tabak nicht geschickt, warum nicht? Er dachte an den Kriminalgerichtsrat Pannemann, dem er die langwierige erlittene Haft zu verdanken hatte. Lebte der noch? War er noch im Amt? Dachte er noch an ihn?
Er erreichte den Platz vor dem Brandenburger Tor. Auch hier alles wie sonst. Die Droschken, Fiaker und Charlottenburger an der Mauer; Spaziergänger und müßige Schauer überall, Bürger wie Soldaten, der alte Invalide mit dem Leierkasten; ein Meerschweinchen und Panorama.
Ein Neues war da, was er früher nicht bemerkt hatte, ein Affe, ein hübsches, zierliches, behendes Ding in rotem Jäckchen und mit weißem Federhut, der allerlei Sprünge und Künste machte.
Aber der Sträfling stutzte, als er den Führer des Affen sah, einen kleinen, verwachsenen, häßlichen Menschen, der viel Ähnlichkeit mit dem Affen hatte.
Den Menschen muß ich schon gesehen haben! Ist es nicht der Bauernbetrüger Friedrich Schulze, dem ich die Bestellung wegen des Tabaks an meine Frau aufgetragen hatte? Der Kerl sieht zwar nicht mehr schäbig aus wie damals; sein Rock ist ganz, und er hat gar ein vornehmes Gesicht, und wahrhaftig, er spricht ein Kauderwelsch, als wenn er ein Franzose oder Italiener wäre. Aber dennoch! – Ich muß es wissen.
Unter den Spazierenden waren ihm eine Menge ernster Männer in blauen bürgerlichen Überröcken, einen Soldatenhelm auf dem Kopfe, aufgefallen; sie zogen überall zwischen den Leuten umher. Vor fünfzehn Jahren waren sie noch nicht dagewesen. Er hatte auch später nichts von ihnen gehört. Plötzlich besann er sich auf die Bürgerwehr. Richtig, so wird es sein. Sie sind von der Bürgerwehr, die da drinnen die Torwache hat. Er kombinierte weiter. Sie kommen also oft hierher und müssen also den Affenführer kennen, der gewiß ebensogut seinen festen Stand hier haben wird wie der Invalide mit seinem Leierkasten.
Er redete einen der Männer an. »Entschuldigen Sie, ich sehe hier noch immer den unsterblichen Invaliden mit seinem Leierkasten.«
»Was wollen Sie damit sagen?« versetzte gemessen der Mann in dem blauen Überrock und dem Helm.
»Nichts. Aber ich wollte Sie nur fragen, ob der Affe da auch ein Berliner Kind ist.«
»Höre Er!«
»Und täglich hierher kommt? Das heißt mit seinem Führer.«
»Affen ohne Führer werden hier nicht geduldet.«
»Auch keine Maulaffen?«
»Wenn Er sich nicht im Augenblick fortmacht, so werde ich arretieren.«
»Oho, dazu ist die Bürgerwehr nicht da.«
»Schutzmann Kaiser!« rief der Mann mit dem Helme einem der andern behelmten Männer zu. »Kommen Sie mal her!«
Da ging dem Sträfling ein Licht auf.
Also das ist ein Schutzmann, und so sind die Schutzmänner. Er verlor sich in der Menge, ehe die Schutzmänner sich wieder nach ihm umsahen, und setzte seinen Weg in die Stadt fort. Als er unter der stolzen Viktoria durchgegangen war, sah er freilich; daß er auch in betreff der Torwache sich geirrt hatte. Die Alexander-Grenadiere hatten sie noch ganz wie sonst, sie standen nur hinter hohen eisernen Gittern.
Seine Wohnung war in der Mulackgasse. Dort war sie wenigstens vor fünfzehn Jahren gewesen. War sie noch dort? Er wußte es nicht. Er mußte es versuchen.
Das Haus Nr. 13, in dem er gewohnt hatte, war noch da. Auch die beiden Höfe noch, und im zweiten Hofe die vier schmalen, dunklen Treppen, die zu seinen zwei Stuben geführt hatten.
Er klopfte an die Tür.
Drinnen in der Stube regte sich etwas, langsam, schwerfällig. Die Tür wurde geöffnet.
Eine dicke, feuerrote Frauengestalt stand vor dem Sträfling.
»Grundgerechter Gott! Hole der Teufel dich alten Esel.« So rief die dicke, feuerrote Frau und wollte dem Sträfling die Tür vor der Nase zuschlagen.
Aber er hatte seine Frau erkannt: Er war zu Hause, und in seinem eigenen Hause ließ er sich die Tür nicht vor der Nase zuschlagen. Er drang mit der Frau in die Stube.
Und nun lebte auch auf einmal – leider muß es gesagt werden – jener russische Sinn in ihm auf. Er lenkte die ersten Schritte in seinem Hause nach fünfzehnjähriger Trennung nach dem alten Wandschranke, in welchem die Flasche stehen mußte. Sie stand noch da, halb gefüllt. Ein »kühner Griff«, ein herzhafter Zug, und sie war geleert bis auf den letzten Tropfen.
Die dicke Frau kreischte, heulte, schimpfte. »Spitzbube, Räuber! Mein sauer erworbenes Gut. Ja, es ist eine Schande für mich, einen solchen Mann zu haben; ließest dich von so einem dummen Inquirenten herumkriegen! Keinen von deinen Kameraden konnten sie mehr überführen. Daher hat die Regierung auch zuletzt diese Inquirenten abgeschafft und dafür die Staatsanwälte mit ihren Geschworenen eingeführt!«
Leonhard Piepritz war, nachdem er seine Wohnung und seine Frau wiedergefunden, sentimental geworden.
»Höre, Gattin, auf den Inquirenten kommen wir nachher. Sprechen wir jetzt von Familiensachen. Wo sind unsere Kinder?« »Aus der ältesten«, brummte die Frau, »der Dörthe, ist nichts geworden. Sie dient als Mädchen für alles.«
»Hm, hm, ein Mädchen für alles ist hier nichts. Aber weiter, die Lotte?«
»Die Person? Sie ist eine vornehme Dame geworden, hat seidene Kleider und seidene Kissen auf dem Sofa und silberne Messer und Gabeln. Aber ich darf ihr nicht mehr vor die Augen kommen, der hochmütigen Person, und ihre eigene Mutter läßt das Rabenkind verhungern.«
»Ja, ja, so geht es wohl in der Welt. Aber verhungert bist du noch nicht.«
»Das verdanke ich« – die Frau sprach es doch etwas zögernd – »einem braven Freunde, der in meiner Not sich meiner angenommen hat.«
»So? Und wer ist dieser brave Freund?«
Man sah es der Frau an, daß sie sich plötzlich einen frechen Mut zusammengesucht hatte.
»Schlechter Mensch«, rief sie, »nach deinem dritten Kinde hast du dich noch mit keinem Worte erkundigt.«
Der Sträfling war wie aus den Wolken gefallen. »Ein drittes Kind hätte ich?«
»Nun ja, unser Jüngstes, unser Sohn, der kleine Leonhard – aber was verwunderst du dich denn? Es ist ein allerliebster Junge geworden, der seine arme Mutter nicht im Stiche gelassen hat und dem sie ihre Ernährung, ihr Alles verdankt.«
Sie horchte nach der Tür und Treppe hin, als wenn sie dort etwas höre. Sie wurde unruhig.
In der Tat kam etwas die Treppe herauf, mit behenden, raschen Schritten. Rasch wurde auch die Tür aufgerissen, und es erschienen darin zwei lebende Wesen, ein kleiner, verwachsener, häßlicher Mensch und ein zierlicher, behender Affe in rotem Jäckchen mit weißem Federhut.
»Alle Donnerwetter!« rief der Sträfling. Er erkannte den Affen und den Affenführer von dem Platze vor dem Brandenburger Tor.
Er erkannte aber auch noch mehr.
»Ha, Weib, ist das der brave Freund, der in deiner Not sich deiner angenommen hat?«
»Nun ja.«
»Um dessentwillen ich keinen Tabak erhalten habe?«
»Er hat mich ernährt, für die Sträflinge muß der Staat sorgen.«
»Dieser Elende, der nur den Mut hat, einen dummen Bauern um ein paar Sechser zu prellen; der sein unwürdiges Dasein nur durch Heldentaten fristet, die ihm vierzehn Tage einbringen; der in Ohnmacht fällt, wenn er von einem ehrlichen Einbruche und von fünfzehn Jahren Zuchthaus hört! Weib, einem solchen schäbigen, buckligen Schufte, der eher einem Affen als einem Menschen ähnlich sieht, ihm konntest du mich zum Opfer bringen, ihm konntest du meine Kinder anvertrauen und dich selbst, du ehrvergessene Gattin?«
Dann wandte er sich an den Affenführer.
»Und du miserabler, buckliger Friedrich Schulze, der du jetzt nicht einmal mehr den Mut zu deinen elenden Betrügereien hast und ein gemeiner Italiener und Affenführer geworden bist, hast du denn nie an meine Rache gedacht?«
Der Affenführer Friedrich Schulze schien ein sehr gutmütiger Mensch zu sein.
»Lieber Herr Piepritz«, sagte er wehmütig, »wenn Sie wüßten, daß nach dem neuen Strafgesetzbuch der Betrug im Rückfalle gerade so schwer bestraft wird wie der Diebstahl, so würden Sie nicht so mit mir sprechen.«
Der Sträfling war aufmerksam geworden.
»Ein neues Strafgesetzbuch? Gilt denn das alte Landrecht nicht mehr?«
»Ist abgeschafft.«
»Und wie wird jetzt der dritte gewaltsame und zugleich vierte Diebstahl außerordentlich bestraft?«
Friedrich Schulze lachte.
»Wir haben jetzt keinen gewaltsamen Diebstahl mehr und keinen dritten und keinen vierten – es ist alles nur Rückfall – und keine außerordentliche Strafe und nichts von dem alten Kram mehr.«
Der Sträfling wurde sehr nachdenklich.
»Kennst du das neue Strafgesetzbuch, Friedrich Schulze?«
»Was die Kapitel von Betrug und Diebstahl betrifft, in- und auswendig.«
»Du kannst vor der Hand hier bleiben.«
»Ohne Gefahr?«
»Wenn ich dich aus dem Fenster werfen will, werde ich es dir früh genug vorher anzeigen.«
Der Friede war geschlossen.
Darüber ergab sich eine possierliche Szene.
Der Affe, der mit Friedrich Schulze gekommen war, hatte sich zuerst, bei dem Anblicke des fremden Mannes, etwas scheu hinter die Tür zurückgezogen. Von dort hatte er dann mit seinen klugen Augen sehr aufmerksam den Gang des Gesprächs verfolgt.
Auf einmal sprang er laut lachend hervor.
»Eine rührende Familienszene!« rief er. »Mutter, das ist wohl der Alte aus dem Zuchthause, von dem du uns zuweilen erzählt hast?«
Im ersten Augenblick hatte sich der entlassene Sträfling Leonhard Friedrich Wilhelm Piepritz über den lachenden und sprechenden Affen erschrocken.
Dann aber kam er bald zu der richtigen Erkenntnis und ergab sich mit großer Resignation in das Erkannte. Er hatte heute schon so viel erkannt, und fünfzehn Jahre Zuchthaus sind eine vortreffliche Schule der praktischen Philosophie.
»Ach, ach«, sagte er. »Der Bursche ist also wirklich ein Berliner Kind, und gar mein – höre, Gattin, ist dieser Affe vielleicht jener allerliebste Junge, unser drittes Kind?«
»Du hast es getroffen, lieber Piepritz.«
»Soso! Wirklich ein charmanter junger Mensch! Und so verständig! Andere junge Menschen werden Affen, und er wird aus einem Affen ein Mensch. Das ist lobenswert. Nur etwas zurückgeblieben ist er für sein Alter. Nun, auch sein Führer ist ein schwächliches Wesen.«
So wurde der Sträfling Leonhard Piepritz nach fünfzehnjähriger Abwesenheit in seiner Wohnung und von seiner Familie empfangen.
Aber der Empfang hatte plötzlich einen Gedanken in ihm erweckt, einen Gedanken, der ihm freilich in den fünfzehn Jahren selten aus dem Sinn gekommen sein mochte.
»Ein hübsches Metier«, sagte er, »das ihr den Jungen habt ergreifen lassen.«
»0 ja«, erwiderte Friedrich Schulze. »Es kommen hier so viele ausgekleidete Türken, Araber, Azteken, Armenier und andere Wilde an, die sogar mit dem alten Humboldt in der Oranienburger Straße ihr Wildsch sprechen konnten; und es ziehen jährlich so viele echte Berliner Kinder als Tiroler und Steyerische Natursänger, als russische Grafen und dergleichen weiter in der Welt umher, daß wir auf den Gedanken kamen, der Junge da könne als Affe sein Glück machen. Anlagen hatte er dazu.«
»Und auch ein ganz konvenables Äußere«, fiel der Sträfling ein.
»So machten wir denn, daß wir zu einem echten Affenfell kamen. Der Kleine mußte aus dem zoologischen Garten einen Affen von seiner Größe stehlen.«
Der Sträfling geriet in lebhafte Freude.
»Was? Der Junge selbst?«
»Wie ich sage.«
Friedrich Schulze fuhr fort. »Wir ließen ihm dann ein Jäckchen und einen Federhut machen. Die Natur der Affen hatte der Kleine schon im zoologischen Garten studiert. Ach, Herr Piepritz, Sie glauben nicht, wie diese wilden Tiere dort die Berliner Jugend bilden. – Ich selbst wurde darauf ein Italiener, und seitdem gehen wir auf den Platz vor dem Brandenburger Tor, wo er neben dem alten Invaliden mit dem Leierkasten seine Kunststücke macht. Es ist ein recht hübscher Verdienst. Nur leider im Winter nicht. Dann muß man sich in anderer Art zu helfen suchen.«
»In welcher Art helft ihr euch denn?«
Der Affe nahm selbst das Wort. »Im Winter«, sagte er lachend, »gehe ick vor's Hallesche Tor und lasse mir bessern.«
»Du stiehlst also auch andere Sachen als Affe, Bursch?«
»Wie sich's trifft.«
Die Augen des Sträflings leuchteten wie von stolzer Vaterfreude.
»Du bist ja ein kapitaler Kerl. Mit dir wird man etwas machen können. – Aber nun zur Sache. Lebt der Kriminalrat Pannemann noch?«
»Er lebt noch.«
»Noch im Amte?«
»Er hat seinen Abschied genommen. Er konnte sich in die neumodischen Geschworenengerichte nicht finden.«
»Wie geht es ihm sonst?«
»Ganz gut. Er wohnt noch in seinem alten Hause in der Köpenicker Straße, hat eine gute Pension, ist sehr geizig geworden und hütet mit seinem Affen seine Schätze.«
»Mit seinem Affen? Das wollte ich wissen. Er hat also seinen Affen noch?«
»Sie kennen diese alte Liebhaberei des Mannes?«
»Halb Berlin kannte sie schon vor fünfundzwanzig Jahren. Darum fragte ich ja so genau nach dem Jungen hier.«
»Was haben Sie vor, Herr Piepritz?«
Der Sträfling wurde wieder sentimental. »Dieser Mensch«, sagte er, »hat durch seine Tücke und Listen mich unglücklich gemacht. Ihm allein habe ich es zu verdanken, daß ich die schönste Zeit meines Lebens im dumpfen, feuchten, entehrenden Kerker habe zubringen müssen. Ich habe ihm Rache geschworen. Ein ehrlicher Kerl hält seinen Schwur. – Friedrich Schulze, was hat der Junge heute als Affe verdient? Rücke heraus damit! Frau, hole dafür Braten und saure Gurken und süßen Kümmel, und bei Tafel werden wir überlegen.«
Les anciens militaires finessent par radoter, sagt Friedrich der Große. Der große König muß es verantworten, wenn es nicht wahr ist. Er hat ja ohnehin schon genug zu verantworten ... Und andererseits kann ihm das Preßgesetz nicht beikommen.
Von den alten Kriminalisten sagt man, daß sie zuletzt tiefsinnig und meist menschenfeindlich und menschenscheu, dabei zänkisch, boshaft, Plagegeister für ihre Umgebung werden. Ein finsterer kriminalistischer Geist gehe mit ihnen überall, schlafe mit ihnen, stehe mit ihnen auf, esse und trinke mit ihnen. Ein verzweifeltes Verhängnis! Der Verbrecher wird nach einer philosophischen Anschauung durch die erlittene Strafe gereinigt, gesühnt. In den alten Kriminalrichter, der ihm die Strafe auferlegt hat, zöge der Fluch hinein! So werfen italienische Banditen auf stürmender See den Mönch, nachdem sie ihm ihre Sünden gebeichtet und von ihm die Absolution erhalten haben, als einzigen im Schiffe noch vorhandenen, den Sturm des Himmels provozierenden Sündenbock gemütlich über Bord.
Es gibt indes noch alte Kriminalisten, die anders sind. Zu ihnen gehörte der Kriminalgerichtsrat Pannemann in Berlin. Er war immer ein braver, treuer und tätiger Beamter gewesen und ein gerechter Richter. War er auch kein großer Geist, so war zu jener Zeit auch in Preußen die Kriminalrechtspflege eine sehr einfache. Die Wissenschaft hatte zwar schon angefangen, das einfache Recht und Rechtsbewußtsein zu verlassen und absolute philosophische Systeme aufzustellen, nach denen ein Fall wie der andere, trotz aller menschlichen und moralischen Verschiedenheit jedes einzelnen, beurteilt und nur durch abstrakte logische Haarspaltereien Unterschiede herbeigeführt werden sollten. Aber die praktische Rechtspflege hatte ihren einfachen, gerechten, die Strafwürdigkeit des einzelnen Falles erforschenden Weg noch nicht verlassen. So war es denn in Preußen Grundsatz geworden, zu Kriminalrichtern nur die sogenannten »schwächeren Subjekte« zu bestellen. Für verzwicktere, für schwierige Fälle waren noch immer ein paar ausgezeichnete Talente da, die »Karriere« machen wollten und sich deshalb zu den talentierten Kriminalrichtern hatten versetzen lassen. Sie drängten sich nach solchen causes célèbres. Zu einer gewissen Zeit rannten sie sich beinahe die Füße ab nach Untersuchungen gegen die Demagogen und demagogischen Umtriebe. Wer damals namentlich in Berlin in das Vorzimmer eines Gerichtspräsidenten oder gar des Justizministers kam, der konnte dort stets eine Anzahl junger Männer finden, in eleganter Kleidung, in gemessener Haltung, mit freundlichen, submissen und sehr verschwiegenen Gesichtern, nur unter sich zuweilen eifersüchtige, feindliche Blicke wechselnd. Es waren junge Räte oder Assessoren, die nun die Rolle eines Inquirenten, Dezernenten oder Referenten oder sonst eine Funktion in einer Demagogenuntersuchung applizierten, auf der Leiter zu künftigen Geheimrats- und Präsidentenstellen. Nichts Neues unter der Sonne! wird der jüngere geneigte Leser sagen.
Der Kriminalgerichtsrat Pannemann war mit dem alten Kriminalwesen verwachsen. Als in Folge der Revolution im Anfange des Jahres 1849 ein neues, das »Französische« Strafverfahren eingeführt wurde, könnte er sich in das »neumodische Wesen« nicht finden. Und als die Einführung auch eines neuen Strafgesetzbuches in Aussicht stand, nahm er seinen Abschied. Er sagte, es sei eine Gewissenssache für ihn, ferner einem System zu dienen, das seinen Ansichten von Gerechtigkeit so geradezu widersprach.
Er war ein Berliner Kind. Er hatte einiges ererbtes Vermögen, er hatte, durch einfaches Leben, von seinem Gehalte sich ein hübsches Kapital dazu gespart. Er besaß ein eigenes Haus in der Köpenicker Straße, mit einem Garten, der bis an die Spree ging.
Er war Junggeselle!
Wie angenehm konnte er bei dem allen in Berlin leben! Er hatte früher schon, trotz seiner Einfachheit und Sparsamkeit, recht angenehm gelebt. Zweimal die Woche hatte er das Theater besucht, an den anderen Abenden ging er zu Weißbier. Die übrige Zeit des Tages brachte er, die paar Stunden für das Kriminalgericht abgerechnet, zu Hause zu, mit Frühstück, Mittagessen und Nachtessen, mit seiner alten Haushälterin, seinen Blumen und einem Affen sich beschäftigend.
So lebte er weiter, nachdem er seinen Abschied genommen hatte. Freilich mit einigem Unterschiede. Die Revolution, von 1848 war, abgesehen von jenen Veränderungen in der Strafrechtspflege, nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er hatte sie verabscheut als eine Untergrabung aller bestehenden Verhältnisse, besonders auch der Kreditverhältnisse. Die Revolution mit ihren Umstürzen hatte im ersten Augenblick sein so lange und so sorgsam erspartes Vermögen in Gefahr gebracht. Er war seitdem ängstlich darum besorgt. Wo alles, der ganze »Staat« selbst, in Gefahr war, umgestürzt zu werden, da konnten auch Bankierhäuser fallen; er zog alle seine bei Bankiers ausstehenden Kapitalien zurück. Ja selbst andere, die soliden steinernen Häuser in der großen Steinmasse Berlins konnten einfallen: er kündigte alle Hypothekenkapitalien, die er auf Berliner Häusern stehen hatte. Er konnte natürlich nicht wagen, das Geld wieder auszuleihen. So mußte er es in seinem Hause verwahren. Er bewachte es ängstlich. Ein ängstlicher Geldverwahrer wird ein Geizhals. Er wurde ein großer, mißtrauischer Geizhals, zum Kaffee nahm er keinen Zucker, zum Nachtessen keinen Wein mehr. Er ging weder ins Theater noch zu Weißbier. Er ging überhaupt nicht mehr aus dem Haus.
Er lebte in diesem allein mit seiner Haushälterin und seinem Affen. Er lebte mit beiden ein sonderbares Leben. Während er mehr und mehr darbte, hatten die beiden Überfluß. Aus alter Gewohnheit hatte er nie gewagt, ihnen von dem, was sie immer gehabt hatten, auch nur das Geringste zu entziehen. Dazu kam folgendes: Die alte Haushälterin keifte fortwährend mit ihm, und er hätte mehr als Keifen riskiert, wenn er ihr etwas entzogen hätte. Der Affe dagegen bedarf näherer Erwähnung.
Etwas Wahres muß doch wohl daran sein, daß alte Kriminalisten zuletzt wenigstens zänkisch werden. Der Kriminalgerichtsrat Pannemann war es sogar schon vor seiner Pensionierung geworden. Er war es zugleich mit jener Katzennatur geworden, die gleichfalls ein alter Inquirent sich so leicht aneignet und mit der er schon bei jener Urteilspublikation den armen Piepritz hatte zappeln lassen. Mit seiner Haushälterin konnte er nicht zanken; sie war selbst so zänkisch. Da hatte er eines Tages vor seiner Tür einen herumziehenden Affen gesehen, und wie das Tier geneckt wurde von seinem Herrn, von Straßenjungen, von Vorübergehenden, wie es sich darüber erboste, aber immer klug und liebenswürdig blieb und geduldig und gehorsam gegen seinen Herrn und nur, wenn dieser es ihm erlaubte, einem Straßenjungen in die Haare fiel und Ohrfeigen gab und .den Kopf zerzauste. Das war etwas für ihn. Er kaufte den Affen. In den ersten vierzehn Tagen prügelte er ihn regelmäßig jeden Morgen eine halbe Stunde durch. Als alter Kriminalrichter war er Menschenkenner; er kannte also auch die Affennatur. Nachdem er sich so zum Herrn und Meister des Tieres gemacht und sich der Geduld und Unterwürfigkeit desselben versichert hatte, begann er mit ihm zu zanken. Im allgemeinen, wie man Affen zu necken und auszuzanken pflegt. Im besonderen aber liebte er es, vollständige Kriminaluntersuchungen mit ihm aufzuführen. Die diebische Natur des Tieres gab ihm die Gelegenheit dazu. So wurde der Affe in seiner Wohnung arretiert; es wurde nach dem gestohlenen Gute bei ihm Haussuchung gehalten; er wurde in die Stadtvogtei gebracht, zum Verhör vorgeführt, mit den Strafen offenbarer Lügen vor Gericht bekannt gemacht, verhört, wegen frecher Lügen gezüchtigt, überführt und zu Strafarbeit verurteilt, jedesmal nur außerordentlich, da das verstockte Tier nicht eingestehen wollte, manchmal auch freigesprochen. Es war eine Freude, wie verständig sich der Affe dabei benahm.
Das Gerücht ging, daß der Kriminalgerichtsrat Pannemann, seitdem er den Affen hatte, im Inquirieren sich bedeutend vervollkommnet habe, und ein Berliner Kriminalist soll, angesichts der jungen Kammergerichtsassessoren, die immer gelehrter, aber immer schlechtere Inquirenten wurden, einmal in allem Ernste den Vorschlag gemacht haben, für die jungen Herren solche Affenuntersuchungsschulen zu errichten.
So lebte der Kriminalgerichtsrat Pannemann in seinem Hause in der Köpenicker Straße in Berlin.
Von seinem Leben war manches bekannt geworden. Seine Affenliebhaberei, sein Reichtum und sein Geiz waren schon lange allgemein bekannt. Nur wo er sein Geld hatte, das wußten bloß er und sein Affe. Die verschwiegene Haushälterin erriet es vielleicht. Mancher Berliner Dieb dachte gewiß darüber nach.
Der Kriminalgerichtsrat Pannemann saß in seiner Wohnstube, deren Fenster auf die Straße führten. Hinter ihr lag seine Schlafstube, mit den Fenstern nach dem Garten hin. Beide Stuben waren durch eine Tür verbunden. Neben der Wohnstube war, gleichfalls durch eine Tür mit dieser verbunden, eine geräumige Kammer; sie war lediglich für den Aufenthalt des Affen bestimmt. Sie war für das Tier niedlich eingerichtet, mit lebenden Bäumen in Kübeln und toten Bäumen, die durch eiserne Klammern in dem Boden befestigt waren. Der Affe konnte springen und klettern nach Herzenslust. In einer Ecke stand ein großer, fester, eiserner Käfig mit einem weichen Lager darin.
Es war Nachmittag.
Die Türen zu der Schlafstube des Rats und zu der Kammer des Affen standen offen. Der Rat saß am Fenster und las die Vossische Zeitung. Er las sie lange mit großer Ruhe. Auf einmal wurde er unruhig. Er war zu den vermischten Nachrichten gekommen.
»Ei, ei«, sagte er. »Das ist fatal, recht fatal.«
Er las die Stelle, die er gelesen hatte, noch einmal leise, dann laut.
»Ein erfreuliches Zeichen der wohltätigen Folgen unseres verbesserten Gefängniswesens und besonders auch des frommen Eifers unserer Gefängnisbeamten ist folgendes: Vorgestern abend ist nach Verbüßung einer fünfzehnjährigen Zuchthausstrafe ein Individuum in die Residenz zurückgekehrt, das zu seiner Zeit zu den verwegensten, gefährlichsten und berüchtigsten Dieben unserer Residenz gehörte. Frühere Gefängnis- und Zuchthausstrafen hatten ihn nie zu bessern vermocht. Gegenwärtig ist er aber als ein so gebesserter, reumütiger und christlich gesinnter Mensch zurückgekehrt, daß er nicht nur gestern sofort bei der Polizei, sondern auch ganz aus freiem, innerem Antriebe sich bei dem Vereine für die entlassenen Sträflinge und bei zwei Missionsgesellschaften gemeldet und um Arbeit beziehungsweise um die Erlaubnis gebeten haben soll, an den gemeinschaftlichen Betstunden mit teilnehmen zu dürfen. Gestern ist seiner Bitte willfahrt worden.«
»Vorgestern?« sagte der Kriminalgerichtsrat. »Gerade vorgestern? Fünfzehn Jahre! Grade fünfzehn Jahre! Es ist leider richtig. Das ist der Piepritz! Kein Zweifel! Und ich sollte an ihn denken, wenn er zurückkomme! Wie schnell gehen doch so fünfzehn Jahre um! Und fromm ist der gefährliche Mensch gar zurückgekommen! So fromm! Das ist sehr fatal, sehr fatal!«
Aber das kommt alles von diesen nichtswürdigen neuen Gesetzen. Alles soll jetzt anders sein, französisch, französisches Recht, französische Jurisprudenz. Darum keine Besserung und auch keine Besserungsdetention mehr. Sonst hätte der Mensch ja noch seine anderthalb Jahre gebessert werden müssen.
Man sieht, wie der alte Kriminalgerichtsrat in seinem besonderen Ärger und allgemeinen Vorurteil der neuen Gesetzgebung Unrecht tat.
Aus der Kammer nebenan kam der Affe des Kriminalgerichtsrats. Es war ein großes, aber zierliches Tier, schon etwas alt und daher grämlich aussehend, aber auch klug, falsch und gewandt. Die Züge des Alters abgerechnet, hätte man viel Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Affen Leonhard Piepritz den Jüngeren finden können.
Er hatte seinen Herrn sprechen hören. Er steckte neugierig den Kopf durch die Tür. Als er den Rat nachdenklich sah, kam er näher zu ihm, legte ihm den Kopf auf die Knie und sah ihn wie fragend an.
»Braves, armes Tier«, sagte der Rat wehmütig. »Du bleibst mir noch mit deinem Diebsgelüste, deinem Mute und deinen Krallen. Du wirst uns alle beschützen.«
Unter den uns allen verstand er wohl nur sich und seine Schätze.
»Ach«, fuhr er fort, »es wäre jetzt die Zeit unserer gewöhnlichen Promenade im Garten. Aber heute wirst du sie allein machen müssen. Wenn der gefährliche Mensch wieder frei ist und gar Betstunden besucht, dann kann man sein bißchen Armut nicht sicher genug verwahren.«
Der Rat war sehr betrübt. Er ging in sein Schlafzimmer, öffnete ein Fenster, gab dem Affen einen Wink, und das kluge, gut gewöhnte Tier war mit einem Satze draußen im Garten.
Der Garten des Rats war zwar nicht sehr breit, aber er erstreckte sich in einer ziemlichen Länge bis unmittelbar an die Spree. Er war überall mit Obstbäumen, frei und in Spalieren, besetzt, fast überladen, so daß man auch von dem Hause aus ihn nicht übersehen konnte.
Der Affe des Rats mochte die Mitte des Gartens erreicht haben, als er plötzlich seine Schritte anhielt.
Nicht weit von sich sah er, unmittelbar vor einem dichten Spalier von Birnbäumen, einen anderen Affen, der sein Zwillingsbruder hätte sein können, wenn er nicht ein jüngeres, behenderes Aussehen und besonders ein lebhafteres Auge gehabt hätte.
Der fremde Affe war ganz ungeniert damit beschäftigt, von den kleinen Birnbäumen die unreifen Früchte abzulesen und sie in einen großen leinenen Sack zu stecken, den er neben sich an der Erde liegen hatte. Manchmal kroch er selber in den Sack hinein, als wenn er nachsehen wollte, wie viele Birnen er schon gesammelt habe; er verschwand in dem großen Sack ganz.
Der Affe des Kriminalgerichtsrats hatte bei diesem Anblick gestutzt; dann war er über den frechen Diebstahl empört. Er wollte entrüstet auf den unverschämten Dieb zuspringen.
In demselben Augenblick sah dieser ihn, erschrak, erschrak heftig und nahm feige Reißaus hinter das Spalier, seinen Sack im Stiche lassend.
Desto kühner und stolzer ging der Affe des Kriminalgerichtsrats auf den Sack zu, besah, befühlte und beroch ihn zuerst von außen, machte ein sehr grämliches und zorniges Gesicht, als er sich überzeugte, daß der Sack schon beinahe halb voll war, und kroch dann hinein, um noch genauer den verübten Diebstahl zu konstatieren.
Als er in dem Sacke verschwunden war, wurde dieser mit einer starken Schnur, die um seine Öffnung lief und die der arme Affe nicht wahrgenommen hatte, durch eine unsichtbare Gewalt zusammengezogen.
Gleich darauf kehrte der fremde Affe hinter dem Spalier zurück, besah den zugezogenen Sack, das Zappeln des gefangenen Affen darin, lachte und sagte verächtlich: »Schafskopf, du willst ein Affe sein!«
Dann kamen auch der alte Leonhard Piepritz und Friedrich Schulze hinter dem Spalier hervor, nahmen schweigend den Sack auf und entfernten sich damit, von dem lachenden Affen gefolgt, nach dem Wasser zu.
Nach wenigen Augenblicken sah und hörte man nichts mehr von ihnen.
Etwa eine Stunde später war der Kriminalgerichtsrat mit dem Nachsehen der Schlösser, Türen und Fensterladen fertig. Er ging an die Tür seines Zimmers, die auf den Flur führte.
»Rieke!« rief er durch die Tür.
Vor der Tür erschien seine alte Haushälterin, mager, verdrießlich, keifend, wie alle Haushälterinnen alter Junggesellen; nur sehr sauber.
»Rieke, holen Sie doch den Balthasar aus dem Garten.«
Wie könnte eine solche alte Haushälterin einen Befehl empfangen, ohne zu knurren?
»Es ist eine Sünde«, knurrte sie, »daß der Mensch auch noch den Diener eines Tieres machen muß.«
»Na, na, Rieke, ich kann ihn auch selbst holen.«
»Habe ich gesagt, daß Sie das sollen? Aber eine Schande ist es und bleibt es.«
Sie ging.
Aber nach zehn Minuten kam sie mit erschrockenem Gesichte zurück.
»Herr Stadtgerichtsrat, der arme Affe ...«
»Der Balthasar? Was ist mit ihm?«
»Tot!«
»Rieke, Sie redet doch nicht in der Tat irre?«
»Tot, Herr Stadtgerichtsrat, mausetot. Ich durchrannte den ganzen Garten, ich rief seinen Namen in alle Gänge, in alle Spaliere in alle Bäume hinauf. Er war nicht zu sehen, nicht zu hören. Ich rief in die Nachbargärten hinüber; keine Antwort. Da kam ich auf einen schrecklichen Gedanken. Ich laufe an die Spree. Da liegt er am Ufer; die Beine weit von sich gestreckt, die Zunge weit ...«
»Höre Sie auf, Rieke. – Tot! Das ist ein schrecklicher Tag für mich! Gerade heute tot! Das überlebe ich nicht.«
Der alte Mann war sehr niedergeschlagen. Er war in seinem Sessel zurückgesunken. Man mußte Mitleid mit ihm haben.
Selbst der Alten verging das Keifen: »Trösten Sie sich, Herr Stadtgerichtsrat; ein Affe ist wieder zu bekommen.«
»So einer nicht, Rieke.«
Er verfiel in ein finsteres Grübeln.
Aber ein alter Kriminalist bleibt Kriminalist. Er erhob sich, mühsam genug.
»Begleite Sie mich in den Garten, Rieke. Wir müssen den Tod konstatieren.«
Sie gingen zusammen in den Garten. Unterwegs war er still und nachdenkend. Die Haushälterin wollte ihn trösten.
»Laß mich in Ruhe«, sagte der Kriminalgerichtsrat. »Ich denke darüber nach, ob der Balthasar sich etwa selbst könne ums Leben gebracht haben. Die Selbstmorde sind seit einiger Zeit häufig in Berlin.«
»Aber ein unvernünftiges Tier, Herr Stadtgerichtsrat.«
»Es kann auch an die kommen, Rieke! Bei diesen neuen Gesetzen ...«
»Aber kann man sich selber den Hals umdrehen, Herr Stadtgerichtsrat?«
»Mir ist noch kein Fall vorgekommen. Aber das war unter dem Allgemeinen Landrecht. Also der Hals ist ihm umgedreht?«
»Von vorn nach hinten.«
»Dann ist ein gewaltsamer Tod durch fremde Hand verübt, also ein Verbrechen!«
Sie kamen an das Ufer der Spree. Sie fanden den Affen. Er lag da, tot, mit umgedrehtem Halse, wie die Haushälterin gesagt hatte.
»Ja, Rieke, hier ist ein Verbrechen verübt, ein scheußliches Verbrechen. Das kommt von diesen neuen Gesetzen. Sie verderben die Welt täglich mehr.«
»Ich werde sogleich dem Staatsanwalt drüben Anzeige davon machen«, sagte die Haushälterin.
Da fuhr der Kriminalgerichtsrat wütend auf. »Dem da? Unterstehe Sie sich! Ich jage Sie aus dem Dienst. Gar keine Anzeige soll gemacht werden. Gar keine Untersuchung sollen sie einleiten. Von den Leuten sollte ich mich vernehmen, verhören lassen? Nimmer! Wir wollen für ein ehrliches Begräbnis des armen, treuen Balthasar sorgen, und dann ... ach, wenn ich es nur selbst überlebe.«
»Und Sie wollen gar nicht nachforschen lassen, von wem der nichtswürdige Mord ausgegangen ist?«
»Ach, Rieke, ich habe eine entsetzliche Ahnung. Heute, nein vorgestern vor fünfzehn Jahren ...« Er brach in großer Traurigkeit und Niedergeschlagenheit ab.
Die Haushälterin erschrak. Sie war seine langjährige Vertraute.
»Der Piepritz!« rief sie.
»Ja, er ist seit vorgestern wieder hier. Es steht sogar schon in der Vossischen. Das hier ist sein Machwerk! Und nur der Anfang seiner Taten. Ach, Rieke, ich kann Ihr nicht sagen, wie mir das Herz schwer ist. Es steht uns noch großes Unglück bevor.«
Er ging in das Haus, in seine Stube zurück. Er war sehr angegriffen; er konnte sich nur mühsam fortschleppen. In seiner Stube setzte er sich in den großen Sorgenstuhl, der am Fenster stand. Die Haushälterin, die einmal in die Stube kam, erschrak, als sie ihn sah. Durch das rote Gesicht zogen sich violette Striche; der Kopf – einen kurzen Hals hatte der Rat immer gehabt – war zwischen die Schultern hinuntergesunken und hing schlaff nach vorn herüber; seine Augen waren wie von Glas. Er sah aus wie ein Mensch, der jeden Augenblick einen Schlaganfall zu befürchten hat.
»Soll ich zum Doktor schicken, bester Herr Stadtgerichtsrat?« fragte die Haushälterin leise. Sie war von dem Anblick so ergriffen, daß sie nicht einmal laut zu sprechen wagte.
Er schüttelte abwehrend mit dem Kopfe, zugleich bezeichnend, daß er allein sein wolle.
Sie mußte gehen.
Er lag lange in seinem hinfälligen, völlig apathischen Zustande.
Auf einmal wurde er lebendig. Er horchte plötzlich auf; sein Kopf richtete sich empor; seine Augen leuchteten.
Draußen auf der Straße, unmittelbar unter seinem Fenster, wurden die Töne eines Instruments laut, das eine Art von Dudelsack zu sein schien. Schnalzen mit der Zunge begleitete die Töne. Dazwischen rief eine etwas fremdartig sprechende Stimme: »Allons, Melchior! Lustig, mein Braver. Mache deine Kunststücke vor den verehrten Herrschaften.« – Lautes jugendliches Gelächter folgte.
Alles, was er hörte, brachte schnell neue Lebenskräfte in den Kriminalgerichtsrat. Er mußte auch sehen. Er sprang auf, an das Fenster. Welch ein Schauspiel hatte er!
Ein kleiner häßlicher Mensch mit einem Buckel ließ einen großen, hübschen, gewandten Affen tanzen. Die gesamte Straßenjugend der Köpenicker Straße hatte sich schnell als Publikum, als »Herrschaften«, um ihn versammelt.
»Den schickt mir der Himmel!« rief der Kriminalgerichtsrat. »Und so gerade zur rechten Zeit. Was hätte ich heute Nacht allein anfangen sollen? Wer hätte wachen, wer hätte mich beschützen sollen? Der Mensch hat einen festeren Schlaf als das schläfrigste Tier! Und welchem Menschen kann man trauen? Zumal jetzt, seit der Revolution!«
Er nahm sich nicht einmal die Zeit, die zierlichen Sprünge und hübschen Kunststücke des Affen zu bewundern. Er riß hastig das Fenster auf.
»Versteht Er Deutsch?« rief er dem Führer des Affen zu.
»Ein wenig, gnädigster Herr!« radebrechte der Kerl.
»Ist Ihm der Affe verkäuflich?«
»Für gute Bezahlung verkaufe ich alles.«
»Komme Er mal zu mir herein; mit dem Affen.«
Der Affenführer und der Affe kamen in das Haus.
Die Straßenjugend machte lange Gesichter hinter ihnen her.
Wie zwinkerten und lachten Affe und Führer einander zu, als sie allein und unbemerkt in dem Hausflur waren.
Der Kriminalgerichtsrat ließ sie in seine Stube treten. Er besah den Affen genauer.
Das Gesicht hatte so feine, zarte Knochen, einen so graziösen Körper, eine so reine, glatte Haut; seine Augen waren so klug, und doch so treu und beinahe ordentlich bescheiden. Die Schelmerei in diesen Augen, wenn sie einmal auf die Seite blickten, sah der Kriminalgerichtsrat freilich nicht. Der alte Mann war entzückt. »Wie heißt das Tier?« fragte er.
»Melchior? Meiner hieß Balthasar. Auch das ist eine gute Vorbedeutung. Wie alt ist er?«
»Drei Jahre.«
»Er kann also noch lange leben?«
»Fünfzig bis sechzig Jahre wenigstens.«
»Ist er bösartig?«
»Tout doux, gnädiger Herr. Sie können ihn befühlen, wie Sie wollen. Er tut Ihnen nichts.«
Der Kriminalrat befühlte ihn auch. Der Affe hielt ganz still, wie mit Wohlbehagen.
»Welch ein reizendes Tier«, sagte der Kriminalrat, aber leise für sich, um den Preis nicht zu verderben. Und wie konnte er vorhin springen; auch Kraft muß er haben.
»Er wäre also nicht abgeneigt, das Tier zu verkaufen?«
»Für gutes Geld verkaufe ich ihn.«
»Was fordert Er?«
»Gnädiger Herr, der Affe kann partoutement alles, was Sie wollen, das heißt, was man vernünftigerweise von einem vernünftigen Affen verlangen kann. Er kann tanzen, zu Tische sitzen, bei Tisch aufwarten, aus einem Glase trinken, die Violine spielen...«
»Genug; sage Er mir, was Er für das Tier verlangt.«
»Er bringt mir des Tags seine drei Taler ein, das macht des Jahres, die Sonntagsfeier abgerechnet, neunhundert Taler bar; also ein Kapital von ungefähr zwanzigtausend Talern.«
»Redet Er irre?« fragte der Kriminalgerichtsrat erschrocken.
»Zwanzigtausend Taler wäre er unter Brüdern wert. Aber da in dieser Welt das Verdienst nie belohnt wird, so will ich ihn Euer Gnaden für fünfhundert Taler lassen.«
»Er ist ein Narr.«
»Bedenken Euer Gnaden, was dieser ausgezeichnete Affe versteht. Er kann zu Tisch sitzen, aufwarten...«
»Das kann jeder Affe.«
»Die Violine spielen auch?«
»Fordere Er vernünftig.«
»Vierhundert Taler denn.«
»Keine dreihundert?«
»Dreihundert. Aber keinen Groschen billiger. Es ist mein letztes Wort.«
Der Mensch machte Miene zu gehen.
Der Rat wurde ängstlich.
»Die Rieke ist ja nicht da«, sagte er, »und ich brauche ihr nicht zu sagen, wieviel ich bezahlt habe. Dreihundert Taler! Es ist schweres Geld. Aber es bringt sich wieder ein. Doppelt!«
Er ging in seine Schlafstube und kam nach einer Minute mit drei Kassenanweisungen, jede zu hundert Talern, zurück. Er legte sie dem Affenführer hin.
Dieser strich sie ein.
»Ein schlechtes Geschäft«, sagten sie dann beide seufzend, aber beide im Herzen lachend.
»Wohin befehlen Euer Gnaden das Tier?« fragte der Führer.
»Vorläufig in den Käfig dort, bis wir uns näher kennengelernt haben.«
Er führte den Affen in die Kammer, neben der Wohnstube und dort zu dem großen eisernen Käfig.
In diesen wurde der Affe eingesperrt.
Darauf nahm der Führer Abschied von seinem Tiere, einen wahrhaft väterlichen, der auch den Rat rührte.
»Betrage dich hier immer ordentlich, mein teurer Melchior, und sei treu und redlich gegen deinen neuen Herrn, bei dem du es gut haben wirst. Und nun gehab dich wohl.«
Er reichte dem Affen die Hand. Der Affe legte zierlich seine rechte Vorderpfote hinein. Seine Augen waren betrübt.
Der Führer ging mit seinen dreihundert Talern.
Der Rat war glücklich. Er schien alle Sorgen und Angst vergessen zu haben.
»Welch ein schönes Tier! Und wie stark und wie klug. So ordentlich menschlich kluge Augen. Man kann sich nicht satt an ihm sehen.«
Die Haushälterin kam. Sie mußte an seiner Freude teilnehmen.
»Nicht wahr, Rieke, ein herrliches Tier? – Der arme Balthasar war doch schon zu alt geworden. Und nur fünfzig Taler kostet er. Spottwohlfeil.«
Die Alte freute sich, daß ihr Herr wieder wohlauf war. »Gottlob, Herr Stadtgerichtsrat, nun ist ja alles wieder gut.«
Sie ging mit leichterem Herzen an ihre Geschäfte.
Auch der Affe schien sich behaglich zu fühlen. Er hatte sich in seinem Käfig bald eingerichtet, als wenn er darin zu Hause wäre. Er machte sich sein Lager zurecht und kletterte und sprang an den Stangen auf und ab; er aß Birnen, knackte Nüsse, pfiff, schnitt Gesichter.
Der Rat wollte sich ausschütten vor Lachen und vor Freude. Aber auf einmal machte er ein sehr ernstes und strenges Gesicht.
»He, Bursch«, sagte er mit ebenso ernster und strenger Stimme. »Jetzt müssen wir in einem andern Tone miteinander reden. Deine Verbrechen dürfen nicht länger ungestraft bleiben.«
Er holte aus einer Ecke eine ungeheure Peitsche hervor, vollkommen von der Gestalt und dem Kaliber jener Peitsche, welche bis zum Jahre 1848 zur Züchtigung der Sträflinge gebraucht wurde. Damit kehrte er zu dem Käfig zurück.
Der Affe hatte verwundert das plötzlich ernste und strenge Gesicht des Rats gesehen. In seinen Augen zeigte sich einige Besorgnis, als er ihn mit der schweren Peitsche zu sich zurückkehren sah.
Dem Rat entging das nicht. Er lachte vergnügt.
»Wie heißt du, Bursch?«
Dem Affen brach unnatürlich genug und doch so natürlich der Angstschweiß aus. Er mußte die Augen niederschlagen.
»Oh, mein Sohn, du kannst mich nicht ansehen? Ja, ja, ich glaube es wohl! Das ist das böse Gewissen, Leonhard Piepritz!«
Der Affe fuhr bei dem Namen zusammen, als wenn ihn etwa ein toller Hund gebissen habe.
In einer ähnlich bedenklichen Lage war der Affe wohl noch nicht gewesen, und wenn er, wie seine ängstlichen Augen und der perlende Angstschweiß auf seiner grauen Stirn es in der Tat anzuzeigen schienen, ein denkender Affe war, so mußte er es klar genug erkennen. Er war allein, ohne Hilfe, in einem fremden Hause; eingeschlossen in einen festen Käfig, den ein Löwe nicht hätte erbrechen können; gegenüber einem Manne, der trotz seines Alters noch kräftig genug aussah und zudem mit jener fürchterlichen Peitsche bewaffnet war; zur Not stand dem Alten die Haushälterin mit ihrem keifenden Aussehen und ihren langen Nägeln zur Seite; andere Domestiken waren gewiß auch noch im Hause.
Welches Los erwartete ihn, wenn er erkannt war? Von Affeninquisitionen wußte der Affe nichts.
»Da bin ich schön in der Patsche«, knurrte er zwischen den Zähnen. »Wer vor dem Halleschen Tore wäre und sich da könnte bessern lassen.«
»Hast du verstanden?« wiederholte der Inquirent strenger.
»Ja!« wollte es dem Affen entfahren. Aber er zog ein unartikuliertes Geheul vor.
»Hole der Teufel die Schufte, die mich in die Patsche gebracht haben«, brummte er zwischen den Zähnen.
»Was sagst du da?« rief der eifrige Inquirent. »Sprich deutlicher!«
Der Affe wischte sich mit beiden Vorderpfoten den Schweiß von der Stirn.
»Nun, wird's bald?« Der Rat erhob drohend seine Peitsche.
»Ich bin entdeckt!« knurrte der Affe. Er war überzeugt, daß er verraten, entdeckt sei. Nur Trotz konnte ihm, wie er meinte, noch helfen. Er wies dem Rat trotzig die Zähne.
Mancher Bursch hat in solcher Weise schon seinen Inquirenten dekontenanciert. Der Veteran Pannemann in der Köpenicker Straße ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
»Aha«, sagte der Rat, »du willst keine Antwort geben? Das wird dir nicht helfen, Bursche.«
Und ein entsetzlicher Peitschenhieb folgte diesen Worten. Der Affe flog vor Schmerz in die Höhe.
»Bin ich entdeckt? Ist der Kerl ein Verrückter?«
Es war gleichgültig. Der Käfig war verschlossen. Er war unter allen Umständen in der Gewalt des alten Mannes.
Trotz half ihm hier nicht mehr. Er machte ein trauriges, flehentlich bittendes Gesicht; er fuhr mit der Pfote nach den Augen, wie um Tränen wegzuwischen.
Der Kriminalgerichtsrat wurde vergnügt, in seine Freude mischte sich Rührung.
»Endlich«, sagte er, »und gerade wie der gute Balthasar. Ganz so. So ist es recht, mein Bursche, du fühlst Reue, du bist auf dem Wege, wieder ein besserer Mensch zu werden. Morgen wollen wir das Verhör fortsetzen.«
Er war wirklich von den Ereignissen des Tages sehr angegriffen; er mußte sich in seine Stube zurückbegeben, um auf dem Sofa auszuruhen.
Es war Mitternacht.
Der Kriminalgerichtsrat Pannemann schlief.
Er war früh sehr ermüdet und erschöpft zu Bett gegangen.
Den Affen hatte er in dem Käfig gelassen. So war es auch mit Balthasar des Nachts gehalten worden. Er vertraute zwar dem Affen alle seine Schätze und deren Bewachung an, aber nicht sein Leben. Man hat Beispiele, sagte er, daß auch der beste Affe plötzliche Anfälle von Mordlust bekommt; in einem solchen Augenblicke könnte er mich im Schlafe erwürgen.
Der Kriminalgerichtsrat schlief fest.
Er wurde geweckt.
»Herr Stadtgerichtsrat, wachen Sie auf.«
Die Stimme sprach leise, ängstlich. Aber desto stärker wurde der Arm des Rates gerüttelt.
Er erwachte.
»Wer ist da?« fuhr er aus dem Schlafe.
»Still, still. Sprechen Sie um Gottes willen leise.«
Die alte Haushälterin Rieke stand mit einer kleinen Blendlaterne und mit völlig verstörtem Gesicht vor seinem Bett.
»Sie, Rieke? Was hat Sie?«
»Sprechen Sie um des Himmels willen leiser, damit er uns nicht hört.«
»Wer, Rieke?«
»Der Affe, Herr Stadtgerichtsrat.«
»Der Affe? Was ist mit ihm?«
»Er spricht da mit jemandem.«
»Wer? Der Affe?«
»Der Affe. Aber schreien Sie nicht so.«
»Sie redet irre, Rieke.«
»Aber ich schwöre es Ihnen zu. Herr Stadtgerichtsrat, das ist kein Affe. Das ist entweder der leibhaftige Teufel...«
»Es gibt keinen leibhaftigen Teufel, Rieke...«
»Ich weiß es leider, daß Sie ein Gottesleugner sind, Herr Stadtgerichtsrat, der in keine Kirche geht; sonst könnten Sie solche gotteslästerlichen Redensarten nicht führen und den leibhaftigen Teufel leugnen. Aber, Herr Stadtgerichtsrat, wenn dieser Affe nicht der Teufel ist, so weiß ich nicht, was er ist. Ein Affe ist er nun mal nicht; denn ein Affe kann nicht sprechen.«
»Hat Sie denn wirklich gehört, Rieke, daß er sprach?«
»Gewiß.«
Rieke erzählte: Sie hatte nicht schlafen können. Auch sie war zu sehr aufgeregt gewesen. Der gefährliche Dieb Piepritz wieder da; der arme Affe Balthasar jämmerlich erdrosselt; ihr armer Herr einmal fast dem Tode nahe. Da hörte sie ein sonderbares Geräusch; es war zwischen elf und zwölf. Sie schlief im Entresol nach dem Garten zu. Es kam ihr vor, als wenn leise vorn an der Straße die Haustür geöffnet, und dann, als wenn unten im Hause leise gesprochen werde. Unten lagen die Zimmer des Rates nebst der Kammer des Affen. Sie horchte eine Weile; das Sprechen dauerte fort. Verstehen konnte sie nichts. Die Sache wurde ihr immer verdächtiger; sie stand zuletzt auf. Sie öffnete ohne Geräusch ihre Tür und lauschte hinaus auf den Flur. Sie konnte jetzt deutlicher hören. Sie unterschied die Stimme eines Mannes und eines Knaben. Beide waren etwas heiser, besonders eigentümlich die des Knaben. Sie sprachen in der Nähe der Kammer, in der der Affe war und die auch eine auf den Hausflur führende Tür hatte. An dieser Tür schien gesprochen zu werden. Verstehen konnte sie auch jetzt nichts. Nur einmal glaubte sie zu hören, wie die Mannsstimme sehr ärgerlich die Worte: Dummer Junge! aussprach. Darauf hatte sie deutlich gehört, wie in das Schloß der Tür, ganz unzweifelhaft der Tür an der Kammer des Affen, ein Schlüssel eingesteckt und damit in dem Schlosse gedreht wurde. Jetzt hatte sie sich zu ihrem Herrn aufgemacht. Die Blendlaterne hatte die vorsichtige Alte des Nachts immer bei sich.
Der Kriminalgerichtsrat war unter ähnlichen Verbrechensattentaten alt geworden, freilich nur unter solchen, die von anderen und gegen andere verübt worden waren. Aber die täglichen Mitteilungen darüber hatten ihn doch damit vertraut gemacht. Er blieb völlig ruhig und besonnen, vielleicht eben weil die Gefahr einmal da war, und bei dem gleichzeitigen Gedanken an den entlassenen Sträfling Piepritz, der schon Betstunden besuchte.
»Es ist kein Zweifel, Rieke, das sind Diebe. – Der Piepritz! Ich konnte gefaßt darauf sein.«
»Aber sie haben von der Straße her ordentlich die Haustür aufgeschlossen, Herr Rat.«
»Und was soll das sagen, Rieke?«
»Da sind doch die Nachtwächter!«
»Ach, Rieke, und wenn Schildwachen vor der Tür ständen! Am Leipziger Platz wohnten einmal zwei Generäle der Infanterie und ein Generalleutnant. Sie hatten zusammen fünf Posten vor den Türen, und dennoch wurde mitten zwischen allen diesen Schildwachen gestohlen und eingebrochen und eingestiegen, ja einmal das ganze Zinkdach des Hauses abgenommen und fortgetragen. Solche Leute sehen mit sehenden Augen nichts. Nur eins begreife ich nicht, Rieke, wenn es an der Tür des Affen war...«
»Dort war es, Herr Stadtgerichtsrat.«
»Daß sich der Affe nicht gerührt hat.«
»Ach, Herr Stadtgerichtsrat, das ist es ja eben. Die eine Stimme, die des jungen Burschen, schien mir direkt aus der Kammer des Affen zu kommen. Und da kann nur der Affe gesprochen haben.«
»Rieke«, sagte der Rat strenge, »damit bleibe Sie mir vom Leibe. Gehe Sie jetzt in meine Wohnstube, damit ich aufstehen kann. Aber leise, und schiebe Sie die Blende der Laterne zu. Die Tür von der Kammer des Affen ist nur angelehnt.«
Die alte Haushälterin tat, wie ihr befohlen war.
Der Rat stand auf, kleidete sich rasch notdürftig an, nahm ein Paar geladene Pistolen, die er immer an seinem Bette hängen hatte, unter den Arm und trat in die Tür, die aus der Schlafstube in das Wohnzimmer führte.
Dicht vor dieser Tür stand die Haushälterin. Sie hatte sich nicht weiter in das Zimmer hinein gewagt.
»Pst, pst!« winkte sie so leise als möglich dem Rat zu.
Sie zog ihn in die Schlafstube zurück.
»Die Stimme ist wahrhaftig in der Kammer des Affen.«
»Welche Stimme?«
»Die des Knaben.«
»Es ist nicht möglich, Rieke.«
»Und dann habe ich auch noch so einen anderen sonderbaren Ton gehört. Es ging mir durch Mark und Bein.«
»Und was war das, Rieke?« »Als wenn drinnen gefeilt werde, und zwar an den Stangen des Käfigs, in dem der Affe sitzt.«
»Und die andere Stimme ist noch draußen?«
»Ich hörte sie noch soeben dort.«
»Ach, Rieke, dann ist der eine Dieb drinnen. Wie könnte auch ein Affe feilen?«
»Aber, Herr Stadtgerichtsrat, warum sollten die Diebe den Affen loslassen wollen?«
»Warum haben sie den Balthasar heute ermordet?«
Der Rat ging wieder in sein Wohnzimmer. Weit wagte auch er sich nicht hinein. Das war aber auch nicht nötig.
Schon gleich an der Tür hörte er das Feilen. Es geschah unzweifelhaft an einem der eisernen Stäbe des Affenkäfigs.
Nach einer Weile wurde eine Pause gemacht. Dann sprach eine heisere Knabenstimme. Sie kam ebenso unzweifelhaft von demselben Käfig. Sie sprach leise, aber der Rat verstand die Worte:
»Eine verdammte Arbeit! Ich komme nicht zum Ende.«
Eine heisere Mannsstimme antwortete. Sie war draußen an der Tür der Affenkammer. Dem Rat schlug das Herz, als er sie hörte und erkannte. Es war die Stimme des entlassenen Sträflings Leonhard Piepritz.
»Beeile dich, Junge!« sagte die Stimme, ebenso leise als dringend und befehlend. »Meine Nachschlüssel helfen nicht. Drinnen steckt ein Riegel vor der verfluchten Tür. Einen Centrumbohrer habe ich nicht. Wer konnte auch an solches Malheur denken! Mach nur schnell. Es war mir, als hätte ich schon jemanden im Hause schleichen hören.«
An der Stange wurde wieder gefeilt.
Der Kriminalgerichtsrat kehrte in seine Kammer zurück.
Er hatte die Überzeugung, daß Diebe in seiner Wohnung seien.
»Höre Sie meinen Plan, Rieke. Wir gehen jetzt beide rasch in mein Wohnzimmer. Sie reißt da gleich die Fensterladen auf und schreit durch das Fenster auf die Straße, so laut Sie kann: Diebe, Räuber, Mörder! Ich dringe unterdes in die Kammer des Affen, um den jungen Dieb dort zu fangen. Gefahr ist nicht dabei. Der Bursch ist in der Kammer allein, meine Pistolen sind geladen, und die Türen nach dem Flur sind alle von innen verriegelt. Hat Sie Mut, Rieke?«
»Ich bin dabei«, sagte die brave Haushälterin, die ihrem Herrn nicht nachstehen wollte.
Der Kriminalgerichtsrat spannte die Hähne seiner beiden Pistolen, steckte Zündhütchen auf die Kamine, nahm die eine Waffe unter den Arm und die andere schußfertig in die Hand und ging so wieder in sein Wohnzimmer. Die Haushälterin folgte ihm mit der offenen Laterne. Beide gingen rasch. Sie mußten sowohl in der Kammer nebenan als im Hausflur gehört worden sein. Man vernahm kein Feilen und kein Sprechen mehr.
Die Haushälterin stürzte zu den Fenstern, um sie aufzureißen und in die Straße zu schreien.
Der Rat stürzte mit seinen gespannten Pistolen in die Kammer des Affen. Er hatte die Tür weit aufgerissen. Die Haushälterin hatte ihre Laterne auf einen gerade der Tür gegenüberliegenden Tisch gesetzt. Derselbe Schein des Lichts fiel voll in die Kammer.
Der Rat sah sich erstaunt, verdutzt, beinahe erschrocken darin um. Es war kein anderes lebendes Wesen darin als er selbst und der Affe, der in seinem Käfig war. Er sah in alle Ecken, aber kein drittes Geschöpf, das Leben und Atem hatte, weder einen Menschen noch einen Affen. Er untersuchte die auf den Flur führende Tür; sie war verschlossen, der Riegel war noch vorgeschoben. Er untersuchte den Käfig des Affen; er war gleichfalls fest verschlossen; der Schlüssel hing an seiner alten Stelle. Er holte aus der Wohnstube die Laterne; er leuchtete damit überall umher; er entdeckte nichts weiter, als was er schon gesehen hatte.
Der Affe lag zusammengekauert auf seinem weichen Lager in dem Käfig, ganz natürlich, wie der Rat hundertmal den Affen Balthasar hatte liegen sehen. Er schien ruhig und fest zu schlafen.
Der Kriminalgerichtsrat glaubte es.
»Der hat einen festen Schlaf«, sagte er, doch nicht ohne Verwundern und Kopfschütteln.
In diesem Augenblicke hatte die Haushälterin die Fensterladen aufgerissen und schrie mit ihrer klaren, lauten, keifenden Stimme wütend in die dunklen Straßen und in die stille Mitternacht hinein.
»Diebe! Räuber! Mörder! Hilfe! Hilfe!«
Im Nu waren ringsumher zwanzig Fenster aufgerissen, ein halbes Dutzend Nachtwächter auf den Beinen.
Die Polizei in Berlin war doch nicht so schlecht geworden, wie der malcontente Rat sie machte.
»Wo sind die Räuber? Wo sind die Mörder?«
»Hier, hier! Hilfe, Hilfe!«
Es entstand auf der Straße und am Hause ein greulicher Tumult.
Der Affe wurde auch dadurch nicht geweckt; er schlief ruhig weiter.
Der Rat schüttelte mehr bedenklich als verwundert den Kopf.
»Solch einen festen Schlaf hat der Mensch nicht einmal!« sagte er. »Wie ist denn das? Warte, Schlafratz!«
Er holte aus der Ecke die ungeheure Züchtigungspeitsche hervor. Er trat damit an den Käfig. Er führte damit durch die aufrechtstehenden Stäbe einen derben Hieb auf den Affen.
»Himmeldonnerwetter!« rief der Affe, hochaufspringend.
Der Rat flog zurück bis in sein Wohnzimmer.
»Rieke«, rief er, »der Affe spricht.«
Er fiel erschöpft in seinen Sessel.
Der Nachtwächter des Reviers hatte den Schlüssel zu der Haustür. Er hatte sie aufgeschlossen. Man war in das Haus gedrungen, Nachtwächter, Polizeisergeanten, Gendarmen. Der diensteifrige Staatsanwaltsgehilfe war ihnen bald gefolgt. Man hatte ebenso umsichtig als schnell gehandelt. Unter der Treppe verborgen hatte man den alten Dieb Leonhard Piepritz gefunden, der nicht mehr hatte entfliehen können. Er wurde festgenommen.
Der Staatsanwalt begann sofort zu inquirieren.
Zuerst den festgenommenen alten Dieb Piepritz.
»Wie heißt Er?«
»Leonhard Piepritz, Herr Staatsanwalt.«
Friedrich Schulze hatte den alten Meister mit der neuen Gesetzgebung und deren Institutionen bereits völlig vertraut gemacht.
»Piepritz ist Er? Ich meinte, Er habe sich gebessert und wolle fortan nur auf den Wegen des Rechts gehen.«
»Jawohl, Herr Staatsanwalt, das ist mein fester Wille mit Gott, und darum eben sehen Sie mich hier.«
»Darum? Unterstehe Er sich nicht, die Autoritäten zum besten halten zu wollen.«
»Gott soll mich behüten, Herr Staatsanwalt. Ich weiß, daß Sie der Wächter des Gesetzes sind, und Sie werden mir daher recht geben, daß ein Vater, der seinen verlorenen Sohn aufsucht, um ihn in das väterliche Haus zurückzuführen, auf den Wegen des Rechts wandelt.«
»Aber Er ist hier als ein Dieb ergriffen.«
»Nur mein Kind habe ich hier gesucht.«
»Warum verkroch Er sich denn bei der Ankunft der Polizei?«
»Nicht erst bei der Ankunft der Polizei. Schon früher hatte ich mich verborgen, als ich hörte, daß Räuber und Mörder im Hause seien.«
»Und vor den Räubern und Mördern fürchtet Er sich?«
»So ist es, hochgeehrtester Herr Staatsanwalt.«
Der Staatsanwalt war noch neu in der Residenz. Er hatte in der Provinz gute Dienste geleistet, und darum war er in die Residenz versetzt. Aber die Berliner Diebe kannte er noch nicht.
»Wo ist denn Sein Kind?« fragte er mit zweifelndem Kopfschütteln.
»In jener Kammer, Herr Staatsanwalt. Dort wird mein armes Kind schändlich gefangen gehalten.«
Der Staatsanwalt begab sich in die Kammer des Affen. Er fand hier nur den Affen, der in seinem Käfig lag und wieder zu schlafen schien.
Er kehrte zu dem alten Diebe zurück, in die ehemalige Arbeitsstube des Kriminalgerichtsrats; sie hatte man zu seinem Inquisitionsbüro improvisiert. »In jener Kammer ist nur ein Affe.«
»Das ist mein Kind, mein beklagenswertes Kind!«
»Ich rate Ihm...! Wenn Er bei solchem frechen Hohne verbleibt, so lasse ich Ihn sofort in Aufbewahrungsarrest bringen.«
»Fragen Sie ihn nur, bester Herr Staatsanwalt. Ich beschwöre Sie.«
»Wen soll ich fragen?«
»Den Affen, mein Kind.«
»Mensch!«
»Ich beschwöre Sie.«
Der Dieb sprach mit solchem Ausdruck die Wahrheit!
Der Staatsanwalt ging zum zweiten Male in die Kammer des Affen. Aber ganz allein. Er wollte sich wohl nicht kompromittiert haben, wenn der Affe nicht der Sohn des Diebes war.
Er trat an den Käfig des Affen. Er beleuchtete von allen Seiten das Tier. Er sah einen veritablen, fest schlafenden Affen. Dennoch, seine Pflicht forderte es, und er war ja allein, redete er ihn an.
»Du, wenn du wirklich ein Mensch bist, so stehe auf und gib Antwort.«
Der Affe rührte sich nicht.
»Ich dachte es wohl«, sagte der Staatsanwalt. »Das ist ein frecher, verstockter Bursch; gegen den muß man die strengsten Maßregeln gebrauchen.«
Er sprach von dem alten Diebe.
Der Affe mochte, namentlich in der Erinnerung an den bereits erhaltenen Peitschenschlag, an etwas anderes denken. Er sprang auf.
»Hier bin ich! Was soll ich?« rief er mit seiner dünnen, heiseren Stimme.
Der Staatsanwalt flog zurück von dem Käfig, aus der Kammer.
Solche Lagen können freilich die deutsche Praxis wie die französische Jurisprudenz verwirren.
Aber der Staatsanwalt war noch ein junger Mann, und er erholte sich eher als der emeritierte Inquirent.
Er begab sich wieder zu dem Affen. Er inquirierte diesen. Dann wieder den alten Dieb. Dann die Haushälterin. Jene sagten ihm nicht viel. Diese wußte nicht viel. So erfuhr er folgendes:
Der alte Piepritz blieb dabei, daß er nur hergekommen sei, um sein Kind zu befreien, das Friedrich Schulze, der es zum Affen erzogen, wider seinen Willen als Affen verkauft habe. Daß er durch Hilfe eines Nachschlüssels in das Haus des Rats gekommen sei, gestand er zu, dies sei aber an und für sich kein Verbrechen, und eine verbrecherische Absicht leugnete er.
Der junge Piepritz gestand ein, daß er bei diesem Verbrechen zugegen gewesen, er wollte aber nur darum still geschwiegen haben, weil Friedrich Schulze ihm mit furchtbaren Mißhandlungen gedroht habe.
Die alte Haushälterin erzählte den Tod des alten, die Erwerbung des neuen Affen, die Versuche des alten Piepritz, mit einem Nachschlüssel die Kammertür zu öffnen, die des jungen, durch Feilen sich aus seinem Kerker zu befreien. Alles in unzweifelhafter Absicht, den Rat zu bestehlen, dessen Geld sich hauptsächlich in der Kammer des Affen befinde und von dem alten Affen Balthasar dort verwahrt und bewacht sei.
Nachschlüssel und Feile wurden aufgefunden, auch die klaren Spuren der damit gemachten Versuche.
Darauf begab sich der Staatsanwalt zu dem Kriminalgerichtsrat.
Der alte Mann hatte sich von dem Schreck, dem Arger, der Angst und was sonst alles ihm heute abend und nacht in die Glieder gefahren war nicht erholen können. Er lag erschöpft, halbschlummernd, in seinem Sessel. Der Anblick des Staatsanwalts machte ihn wieder lebhafter. Vielleicht auch die Erregung seines Zorns.
»Welches ist Ihre Ansicht von der Sache?« fragte ihn höflich der Staatsanwalt.
»Nach unserem ehrlichen Preußischen Rechte«, antwortete der Berliner Kriminalgerichtsrat, »liegen offenbar genug schwere Verbrechen vor.«
»Ich erlaubte mir die Frage eben mit Beziehung auf unser Preußisches Strafgesetzbuch.« »Ein solches französisches Gesetz nennen Sie preußisches Recht?«
»Ah, ich bedaure, auch Sie in dem beklagenswerten Irrtum zu sehen, den die Böswilligkeit zu verbreiten und zu unterhalten sucht, daß unsere neue Gesetzgebung keine nationale sei.«
»Kennt Ihre neue Gesetzgebung denn vielleicht auch Betrug und Diebstahl?«
»Gewiß.«
»Nun, dann werden Sie wissen, welche Verbrechen hier heute stattgefunden haben.«
Der Staatsanwalt zuckte höflich bedauernd die Achseln.
»Dürfte ich bitten, mir dafür Data anzugeben?«
»Nach dem, was meine Haushälterin mir gesagt, hat sie Ihnen alles mitgeteilt.«
»Sie wissen dem nichts hinzuzusetzen?«
»Nichts.«
»So bedaure ich aufrichtig, daß hier in keiner Art der Tatbestand eines Verbrechens vorliegt.«
Der Kriminalgerichtsrat fuhr wie konvulsivisch in die Höhe; man konnte nicht unterscheiden, ob mehr vor Schreck oder mehr vor Zorn.
»Was, Herr...? Was, kein Verbrechen?«
»Wie gesagt, ich bedaure.«
Der junge Beamte blieb, dem alten Manne gegenüber, immer höflich.
Der alte Kriminalist wurde heftiger.
»Ist hier nicht ein frecher gewaltsamer Diebstahl gegen mich versucht?« rief er.
»Das neue Gesetz kennt nur einen ausgezeichneten Diebstahl, freilich im ganzen mit denselben Kriterien des früheren gewaltsamen.«
»Nun, hat der Dieb denn nicht in der Absicht, mich zu bestehlen, seinen Burschen oder Affen in mein Haus gebracht?«
»Es ist möglich. Indessen, wenn es auch erwiesen wäre, das wäre kein Verbrechen.«
»Auch kein Versuch?«
»Auch noch kein Versuch. Nach dem Strafgesetzbuch wie nach der richtigen Theorie ist strafbarer Versuch nur eine solche Handlung, welche einen Anfang der Ausführung eines Verbrechens enthält.«
Der Kriminalgerichtsrat jammerte.
»Von einer solchen Theorie wußten wir zu unserer Zeit nichts. Wenn der Verbrecher etwas getan hatte, offenbar in der Absicht, ein Verbrechen auszuführen, so straften wir ihn, und das hatte er verdient. Und nun solche Spitzfindigkeiten! Aber weiter, hat denn der alte Dieb nicht mit Nachschlüsseln meine Haustür geöffnet, und ist er nicht so, offenbar in diebischer Absicht, in mein Haus gedrungen«?
Der Staatsanwalt zuckte wieder die Achseln.
»Auch das ist noch kein Anfang der Ausführung.«
Dem Kriminalgerichtsrat brach der Schweiß aus. »Großer Gott, großer Gott!« sagte er, »Aber, mein Herr, der Mensch hat auch mit seinen Nachschlüsseln die Stube jener Kammer zu öffnen versucht. Ist Ihnen auch das kein strafbarer Versuch des Diebstahls?«
»Darüber ließe sich streiten.«
»Mit ihm?«
»Im Gerichte.«
»Es ist Ihnen selbst also zweifelhaft, ob das ein Verbrechen sei.«
»Sehr.«
»Ihnen, der Gesetze so genau kennen muß und kennt? Und dennoch würden Sie jenen Menschen deshalb anklagen? Er soll bestraft werden für etwas, von dem Ihnen sogar zweifelhaft ist, ob es strafbar sei?«
Der Staatsanwalt zuckte die Achseln.
»Allerdings, Herr Rat«, sagte er. »Die Tür, an welcher der Mensch jene Versuche machte, war inwendig so fest verriegelt, daß kein Operieren mit dem Nachschlüssel sie zu öffnen vermochte. Das geben Sie zu?«
»Gottlob war es so«, stöhnte der Rat. »Sonst wäre ich ein armer bestohlener Mann.« »Also war ein jedes solches Operieren ein durchaus untaugliches Mittel, das gar nicht zu dem verbrecherischen Zwecke des Menschen, also auch nicht zur Ausführung des Verbrechens führen konnte.«
»Gottlob«, sagte der Rat wieder.
»Und da nun das Gesetz zum Tatbestande des strafbaren Versuchs eine Handlung fordert, die einen Anfang der Ausführung des Verbrechens enthält, zu dieser Ausführung also führen kann, so werden Sie mir wieder zugeben...«
»Großer Gott, großer Gott!« rief der Rat. »Das nennt man das Recht! – Aber«, fuhr er lebhafter fort, »der Affe, der Bursch, war doch auch ein Mittel zu dem Diebstahl, und der Junge hat schon gefeilt, und er konnte leicht die Stange durchfeilen und aus dem Käfig kommen und dann den Riegel der Tür zurückschieben und dann...«
»Aber, mein Herr, er war doch nur bis zum Feilen gekommen, und das war noch keine Versuchs-, sondern erst eine Vorbereitungshandlung. Die neuere Doktrin unterscheidet darin sehr frei...«
»Hol die neuere Doktrin der ... aber, Herr Staatsanwalt...«, und der Kriminalgerichtsrat spielte mit sicherem Triumphe seinen letzten Trumpf aus. »Aber, daß ich betrogen bin, niederträchtig betrogen, das werden Sie mit aller Ihrer neuen Jurisprudenz und Theorie und Doktrin mir doch nicht abstreiten können.«
»Betrogen?« lächelte der Staatsanwalt verneinend.
»Hat man mir nicht einen Menschen für einen Affen verkauft?«
»Gewiß.«
»Wider besseres Wissen?«
»Unzweifelhaft.«
»Für dreihundert Taler?«
»So ist es.«
»Nun, mein Herr, bin ich denn nicht um dreihundert Taler betrogen worden?«
»Ich bedaure, um keinen Silbergroschen.«
»Zu einem Betruge gehört die wirkliche Veranlassung eines Irrtums in der betrügerischen Absicht, nicht bloß die Benutzung eines schon in dem Betrogenen vorhandenen Irrtums. Jener Bursch hat nun aber das Geschäft eines auf den Straßen und öffentlichen Plätzen tanzenden und spielenden Affen schon lange getrieben, ehe man daran dachte, Sie mit ihm zusammenzubringen. Man hat also nur einen bereits vorhandenen Irrtum gegen Sie benutzt.«
»Himmel! Himmel!«
»Abgesehen davon kommt auch hier jenes jugendliche Alter des Burschen in Betracht; er selbst also ist unschuldig. Und darüber, daß sein Vater zu dem Verkaufe mitgewirkt habe, steht gar nichts fest.«
»Also auch nicht betrogen wäre ich?«
»Wie gesagt, ich bedauere ...«
»Das bedauern Sie noch, daß ich nicht um meine dreihundert Taler geprellt bin?«
»Dagegen«, sprach der Staatsanwalt mit erhöhter Stimme weiter, »läßt sich nicht leugnen, daß hier an sich das schwere Verbrechen der Freiheitsberaubung vorliegt; der Bursch ist ohne seinen rechtsgültigen Willen, also widerrechtlich, gefangen gehalten worden. Sie haben ihn gar in einen Affenkäfig eingesperrt, ihn auch außerdem wie einen Affen behandelt...«
Der Kriminalgerichtsrat wurde leichenblaß.
»Großer Gott, nun soll ich gar der Verbrecher sein ...«
»Ich spreche das noch nicht aus. Ich sage nur, daß objektiv das Verbrechen der Freiheitsberaubung vorliegt. Um Sie dessen anklagen zu können, mußte ich vorher ...«
Der alte Berliner Kriminalist fuhr in seinem Sessel hoch empor.
»Allmächtiger Gott! Die Diebe haben mich nicht bestehlen wollen. Ich bin nicht um meine dreihundert Taler betrogen worden! Kein Verbrechen ist gegen mich begangen! Aber ich, ich könnte eins begangen haben! Ich könnte als Verbrecher auf die Anklagebank kommen!« Das war für den alten Mann zuviel. Das Blut schoß ihm heftig zum Kopfe.
»O Zeit! O Gesetze! O Recht!«
Seine Sinne hatten sich offenbar verwirrt. Er fiel in seinen Sessel zurück. Er war tot.