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III.

Im Thal von Davos, in dem schweizerischen Canton Graubünden traf ich jene unglückliche alte Frau, deren Schönheit nicht Alter und nicht Unglück hatten zerstören können. Ich traf sie mit dem Kinde, das den Tod in der Brust, die Grabesblume auf den Wangen trug. Sie erschrak auf den Tod, als sie mich sah, und mir wollte das Herz sich zuschnüren.

Seit fast einem halben Jahrhundert hatte ich sie nicht gesehen; seit fast einem Menschenalter hatte ich nichts von ihr gehört.

Es war im Sommer 1874, als ich sie in Davos fand.

Die ich nach ihr fragte, kannten sie nicht, sie wußten von ihr nur, daß sie erst seit wenigen Tagen da sei mit dem kranken Kinde, das wohl ihr Alles auf dieser Erde sei, für dessen Leben sie ihr Leben hingeben möge, das nach dem Aussprache der Aerzte unrettbar dem Tode verfallen sei.

Sie hatte mich erkannt. Am Abend erschien ein alter Diener bei mir, überreichte mir eine Karte und bat um Antwort. Die Karte trug den Namen Baronin Willingen. Eine Frauenhand hatte unter dem Namen die Bitte um einen Besuch an demselben Abend im Hotel Curhaus geschrieben. Ich sagte dem Diener den Besuch zu.

Nach einer Stunde war ich in dem Hotel. Der Diener wartete auf mich in der Thür des Hauses, führte mich in ein Zimmer und bat mich, wenige Augenblicke zu verziehen, die gnädige Frau würde sogleich kommen.

Nach wenigen Augenblicken erschien die Baronin Willingen, mit den Spuren jener Schönheit, die ich vor fünfundvierzig Jahren an dem Fräulein Helene Haller auf Schloß Hohenburg bewundert hatte, mit all' dem Gram und all' dem Schmerze, die zu jener Zeit, seit jener Zeit immer, aber immer vergeblich, den Verdacht, daß sie eine Verbrecherin, eine Mörderin sei, in mir hatten niederkämpfen wollen.

Wollte sie jetzt selbst mir Auskunft geben, und welche? Wollte sie mir sagen: Ich war dennoch unschuldig; es war nur ein falscher Verdacht, der mich verfolgte, und ich selbst hatte zu seiner Hervorrufung am Meisten beigetragen. Oder wollte sie als die Mörderin sich bekennen?

Sie konnte das ja jetzt, ohne eine neue Untersuchung, eine Strafe befürchten zu müssen. Nach fünfundvierzig Jahren schreitet kein Strafgericht mehr ein, und das Gewissen des Menschen ist ein eigen Ding.

Wie manches Beispiel hatte ich erlebt, daß die schwersten Verbrecher mir entgegengekommen waren, sich mir aufgedrängt hatten, um durch endliches offenes Geständniß sich die gedrückte und gepreßte Brust zu erleichtern, lieber den schmachvollen Tod aufzusuchen, als sich langsam unter den Qualen des Gewissens zu verzehren.

Die unglückliche Frau trat ruhig zu mir ein.

»Eine Schuldige kommt zu Ihnen,« sprach sie, »eine mit schwerer Schuld Belastete –«

Sie konnte nicht weiter sprechen; sie brach zusammen. Ich ließ sie auf dem Sopha des Zimmers nieder.

Sie bedurfte längerer Zeit, sich wieder zu sammeln.

Also doch eine Schuldige, eine Verbrecherin!

Mich wollte, wenn ich sie so sah in ihrem Elende, in der Vernichtung ihres ganzen Wesens, eine Angst ergreifen, als wenn ich selbst ein schweres Verbrechen begangen hatte.

Sie kam wieder zu sich; sie konnte mir erzählen.

Und sie erzählte mir in einer Weise, daß ich in ihre Aufrichtigkeit nicht den mindesten Zweifel setzen konnte.

Sie war eine Schuldige. Eine Leidenschaft hatte sie zur Verbrecherin gemacht, die ihre erste Wurzel in den edelsten Regungen ihres Herzens gefaßt, dann aber immer mehr und immer stärker und mächtiger zu wild lodernder Flamme in ihrer Brust entzündet war, – sie zu dem zeitweisen willenlosen Werkzeuge eines Elenden herabgewürdigt hatte.

Ihre früheren Lebensschicksale waren so, wie sie vor jenen fünfundvierzig Jahren sie mir schon mitgetheilt hatte. Ihre erste Jugend war keine glückliche gewesen. Ihre Mutter war eine leichtsinnige Offiziersdame, hatte die Ehre ihres ersten Gatten nicht immer geschont, wie sie gesollt hätte. Der Gatte, der sie liebte, hatte in Folge ihres Lebenswandels seinen Abschied nehmen müssen, war darüber in Schwermuth verfallen, nach einem Jahre gestorben.

Seine Tochter – sein einziges Kind – war wider seinen und ihren Willen Zeugin seiner Leiden, dann die Vertraute seines Schmerzes und seiner Klagen geworden. Edle Vorsätze, Haß des Lasters und des Verbrechens hatten so schon in dem Herzen des Kindes sich festgesetzt.

Nach dem Tode des Vaters schritt die Mutter zur zweiten Ehe. Ihr zweiter Gatte war ein roher, verkommener Mensch, mißhandelte seine Gattin, wurde wegen schlechter Streiche vom Regimente verjagt, ging in die weite Welt, ließ Frau und Stieftochter im Elende zurück.

Die Tochter wurde Erzieherin; die Mutter verschwand, hatte nie wieder Etwas von sich hören lassen, Helene Haller war mit größerem Abscheu gegen das Laster, mit festeren Vorsätzen aus dem elterlichen Hause in das Leben getreten.

Was vermag der Abscheu des Bösen, was vermögen die besten Vorsähe gegen jene dämonische Macht, die man mit dem Namen Liebe bezeichnet, das reinste und heiligste Gefühl in der Brust des Menschen, aber auch die unbändigste, wildeste, unersättlichste Leidenschaft?

In den Kreisen, in denen sie zu Rom als Erzieherin bei einer vornehmen englischen Familie erscheinen mußte, verkehrte der Baron Emmerich Willingen: sie hatte mir dies schon früher auf der Hohenburg gesagt. Sie lernte ihn dort nur als einen Ehrenmann kennen. Er war ein schöner, gewandter junger Mann, zeichnete vor allen den anderen jungen Männern durch Geist und Kenntnisse sich aus, wurde selbst so ausgezeichnet. Er bewies ihr Aufmerksamkeit, bald nur ihr. Wie mußte ihr Herz ihm entgegenschlagen!

Da mußte die englische Familie in die Heimath zurückkehren, konnte dahin die Erzieherin nicht mit sich nehmen. Helene Haller blieb in Rom zurück, bis sich ein neues Engagement für sie finde. Mit Mitteln für ihren Unterhalt bis dahin war sie reichlich von jener Familie versehen. Sie nahm ein Unterkommen bei einer würdigen alten Frau, der Wittwe eines Officiers in der Schweizergarde des Papstes. Sie hatte die Frau schon früher kennen gelernt. Der Baron Willingen kannte ihr Unterkommen, besuchte sie, durfte dies unter dem Schutze der Officierswittwe.

Eines Abends spät wurde heftig an der Wohnung der Wittwe geklopft. Eine Stimme bat dringend um Einlaß. Es war die Stimme des Barons. Er wurde eingelassen. Er war in großer Aufregung; er war von gedungenen Mördern verfolgt; er hatte sich nur hierher retten können. Er fand eine schützende Aufnahme in dem Hause, bis am andern Morgen in den Straßen der Stadt keine Gefahr mehr für ihn war.

Er hatte zugleich mehr gefunden, die Gelegenheit, Helene Haller seine Liebe zu erklären, sie um ihre Gegenliebe und um ihre Hand zu bitten. Sie hatte geschwankt; sie kannte ihn ja nur aus jenen Gesellschaften, und – von gedungenen Dolchen in der Nacht auf der Straße verfolgt zu werden, wie oft es auch in Rom vorkommen mochte, ließ immer Beziehungen und Abenteuer voraussehen, die eben das Tageslicht scheuen mußten.

Helene Haller gibt ihm dies zu erkennen. Da wird er offenherzig; sie soll in sein ganzes Herz schauen, in dessen verborgenste Tiefen.

»Ja, ich war auf unrechten, auf schlechten Wegen. Ich war hier in unwürdige Gemeinschaft gerathen. Ich wurde darin verführt; ich wurde dann selbst der Anführer. Da lernte ich Sie kennen, Helene. Sie wurden mein Schutzengel, ohne daß Sie es wußten. Ich zog mich von meinen Gefährten zurück. Ich mußte damit manche Bande zerreißen, die für unauflösbar gegolten hatten. Ich hatte dadurch die Rache des Südens gegen mich heraufbeschworen. Ich fürchte sie nicht, wenn Sie, Helene, mein Schutzengel bleiben. Folgen Sie mir in meine Heimath. Meine Mutter wird dort unseren Bund segnen!«

Er hatte ihr dann seine Familienverhältnisse auseinandergesetzt, freilich wohl unter Uebergehung von Einzelheiten, die ihn in ein gar zu schlechtes Licht hätten stellen müssen.

Sie liebte ihn. Er eröffnete ihr eine glänzende Aussicht für ihre gemeinsame Zukunft; er hatte über seine Vergangenheit mit um so größerem Schein voller Offenheit sich ausgesprochen, als er ihr doch so Vieles entdeckt hatte, was ihn als einen sehr leichtsinnigen, durch seinen Leichtsinn oft bis an den Rand des Verderbens gebrachten Menschen erscheinen ließ. So mußte sie ihm vertrauen.

Sie gestand ihm ihre Liebe; sie sagte ihm ihre Hand zu.

Er verließ sie mit dem Versprechen, schleunige Anstalten zu der Abreise mit ihr nach seiner Heimath zu treffen.

Sie vertraute ihm; sie war glücklich.

Aber die Liebe, wie gern sie vertraut, quält nicht minder gern sich mit Zweifeln. In die Zweifel trat beschwichtigend ihr edler Sinn. Ich werde sein Schutzengel sein; ich werde ihn auf eine bessere Bahn zurückführen, auf dieser erhalten, sollte ich selbst darüber zu Grunde gehen.

Einige Wochen waren doch hingegangen, bis er mit den Vorbereitungen zu der Abreise fertig war. Er hatte sie unterdeß täglich besucht, sich ihr immer von der Seite eines reuigen Sünders gezeigt, den die Liebe gebessert hat, der mit der Liebe die innigste Dankbarkeit verbindet, dessen Herz also ein edles sein muß.

Dann hat er ihre künftige Kammerfrau und Reisebegleiterin ihr vorgestellt, die arme, unglückliche Wittwe eines französischen Offiziers – Madame Bernard. Madame Bernard war in der That so unglücklich, wurde so glücklich, einer so edlen und liebenswürdigen Dame ihre Dienste widmen zu dürfen, zeigte sich so ergeben, so aufopfernd, so treu.

Der Tag der Abreise war bestimmt.

Er mußte früher angesetzt werden, um zwei oder drei Tage nur; aber dem Fräulein Haller war doch eine gewisse Befangenheit aufgefallen, mit welcher der Baron es ihr ankündigte, und der Grund, den er angab, konnte sie nicht beruhigen: seine bevorstehende Abreise mit ihr sei bekannt geworden, und nicht bloß ihm, sondern auch jetzt ihr drohe neue Verfolgung; sie möge schon für denselben Abend sich bereit halten.

Sie konnte ihm gleichwohl nicht mißtrauen; sie willigte in Alles, um was er sie bat.

Sie reisten ab.

Aber es war so plötzlich gekommen; es geschah so heimlich; außerhalb der Thore Roms glich die Reise einer eiligen ängstlichen Flucht, und am zweiten Tage ließ der Kammerdiener, der vorn auf dem Bocke saß, den Wagen plötzlich halten, bat den Baron, auszusteigen, sprach wenige leise Worte zu ihm. Der Baron erblaßte, eilte an das Wagenfenster zurück, bat das Fräulein, ohne ihn weiter zu fahren; auf der zweiten Poststation werde er wieder bei ihr sein; zu Erörterungen sei im Augenblicke keine Zeit; aber sie solle sich nicht ängstigen.

Damit verschwand er allein.

Der Diener stieg wieder auf den Bock; die Reise wurde fortgesetzt.

Helene Haller wollte vor Angst vergehen, an eine bevorstehende Gefahr dachte sie weniger. Die alten Zweifel und Befürchtungen waren wiedergekehrt, erfüllten ihr ganzes Innere.

Sie fuhren mit Extrapostpferden. Auf der zweiten Station war der Baron wieder da. Er nahm seinen Platz im Wagen wieder ein. Er war still, in sich gekehrt, finster. Helene Haller konnte ihn nicht fragen.

Madame Bernard saß mit den Beiden im Innern des Wagens. So war es auch in der Nacht, am folgenden Tage, die Reise wurde ununterbrochen fortgesetzt, ohne anderen Aufenthalt, als den des Umspannens auf den Poststationen.

Erst als die Grenze des Kirchenstaats hinter den Reisenden lag, gönnten sie sich ein Ausruhen, und erst noch später, konnte das Fräulein einen Augenblick des Alleinseins mit dem Baron zu einer Frage an ihn gewinnen, was es mit ihm und mit ihrer Aller Flucht sei.

Er habe ein Unglück gehabt, war seine Antwort. Ein Freund, ein langjähriger Gefährte, sei plötzlich kurz vor seiner Abreise gestorben. Der Verlust habe durch einen eigenthümlichen Umstand ihn besonders schwer betroffen. Er habe wenige Tage vorher mit dem Freunde einen heftigen Streit gehabt; sie seien als erbitterte Feinde auseinandergegangen; er habe den Freund nicht wieder gesehen; dieser sei gestorben mit einem Fluch gegen ihn auf den Lippen. Es sei ein Unglück, an dem er sein Lebenlang werde zu tragen haben. Es treffe ihn um so schwerer, da der Tod unter Umständen erfolgt sei, die einen schweren Verdacht gegen ihn, den Baron, zu erregen geeignet seien, und, wie er erfahren, einen Verdacht gegen ihn in der That schon hervorgerufen hätten.

Eine unnennbare Angst ergriff Helene Haller bei dieser Mittheilung. Sollte sie glauben? Konnte sie nicht glauben? Sie konnte kein Wort erwidern; sie hatte hundert Fragen; sie konnte keine einzige aussprechen.

Er sah die Angst; es konnte ihm nicht entgehen, wie ein Grauen sie in seiner Nähe erfaßte. Er wollte weiter sprechen, die Unrichtigkeit, die Ungerechtigkeit des Verdachts gegen ihn ihr auseinandersetzen Es vermehrte ihre heiße Angst. Sie mußte ihn bitten, zu schweigen; sie konnte erst aufathmen, als die Französin wieder in der Nähe war. Sie wollte Athem schöpfen; da gewahrte sie, wie ihre Kammerfrau zuerst neugierige, dann zweideutige, dann höhnische Blicke auf sie warf.

Wußte auch diese Person schon, was in Wahrheit geschehen, welche Unwahrheit dafür der Baron ihr vorgeredet habe? Und wie entsetzlich mußte denn das sein, was geschehen war! Ein Mord? Das Blut stockte in ihren Adern bei dem Gedanken. Sie hatte dennoch keinen Muth zu einer Frage. Was sollte werden, wenn er sich für einen Lügner erklärte? Was war gewonnen, wenn er beim Leugnen verharrte? Sollte sie die Französin fragen?

Nimmermehr!

Eine volle Woche lang blieb sie in dem entsetzlichsten Zustande des Zweifelns, der Liebe, der Liebe trotz alledem.

Da waren sie auf der letzten Tagereise zu der Hohenburg.

Sie wußte die Französin auf einige Zeit zu entfernen.

»Emmerich, um Gottes willen, sage mir die Wahrheit!«

Er stand erbebend da, wie der gerichtete Verbrecher.

»Kannst Du es nicht, so tödte mich!«

»Kannst Du mir verzeihen, Helene?«

Er fiel vor ihr nieder; er umschlang ihre Knie.

»Mörder!« konnte sie noch rufen.

Dann sank sie zusammen. Er mußte sie halten, auf einen Stuhl tragen.

Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, theilte er ihr die Wahrheit mit. Sie wollte nichts mehr von ihm hören; aber es war nur der Widerstand ihres ersten Schmerzes. Seine Reue, seine Zerknirschung, seine und ihre Liebe bezwangen sie.

Was er ihr erzählt hatte, sie theilte es mir nicht mit.

»Ich liebte ihn,« sagte sie; »er war mein Gatte, der Vater meines Kindes; seine und meine Enkelin lebt noch. Ich muß seine Ehre, unsere Ehre schonen.«

Ich entdeckte ihr nicht, daß ich seine Verbrechen kannte. Der Herr van Roelof hatte mir unzweifelhaft die Wahrheit gesagt, als er mir die Geschichte des von der Französin verschmähten Liebhabers und von dem Baron im Spiele betrogenen Spielers erzählte, der diesen auf Pistolen gefordert hatte und dann durch die gedungene Hand des Banditen gefallen war.

Sie liebte ihn. Ein ganzes Jahr widerstand sie seinen Bitten, seine Gattin zu werden. Die Französin stand zwischen ihr und ihm. Sie hatte sein Verhältniß zu dieser Frau gleichfalls durch den Herrn van Roelof erfahren, der mir auch hierüber die Wahrheit gesagt hatte.

Durfte ein Mann ihr Gatte werden, den sie wegen seiner unendlichen Schwäche, wegen seiner Feigheit, wegen seiner ganzen inneren Haltlosigkeit verachten, wegen seiner Verbrechen verabscheuen mußte, an dessen Zukunft sie nur mit Entsetzen denken konnte, durch dessen Verbindung mit ihr sie den Fluch, der ihn verfolgte, verfolgen mußte, auch auf sich herabbeschwor, auf sich, ihre Kinder und Kindeskinder?

Welche unbegreiflichen und furchtbaren Widersprüche liegen in dem menschlichen Herzen beisammen!

Sie liebte diesen Mann; sie konnte nicht von ihm lassen. Sie müsse ihn aufrichten, erheben, einem besseren Leben zurückgeben, sein Schutzengel werden, sollte sie selbst darüber zu Grunde gehen; sie wolle, sie müsse jenen Fluch, der ihn treffe, mit ihm tragen; so sprach der Wahnsinn ihrer Liebe. Der Himmel werde ihr keine Kinder schenken, so betete sie zum Himmel hinauf.

Lange kämpfte, lange widerstand sie dennoch. Noch Schwereres mußte über den Mann dieser wahnsinnigen Liebe, und durch ihn über sie selbst kommen, bis ihre letzte Widerstandskraft gebrochen war.

Die Französin wollte die Gattin des Barons Emmerich Willingen, Herrin auf der Hohenburg werden. Es war die Absicht ihrer Mitreise dahin gewesen.

Fräulein Haller hatte Anfangs nur eine Ahnung davon gehabt, dann hatte der Herr van Roelof es ihr bestimmt versichert; endlich hatte den Baron selbst das Verhältniß zu der Frau gedrückt, und er hatte es Helene Haller mittheilen müssen, bei ihr Rath und Hülfe zu suchen.

Die Frau hatte mit ihrer ganzen Entschiedenheit ihm gedroht, in demselben Momente, da er Anstalten zu einer Verheirathung mit dem Fräulein treffe, werde sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln frühere Ansprüche geltend machen, und sollte Anderes nicht verfangen, seine früheren Verbrechen veröffentlichen.

Der Mann ihrer Liebe der Gatte einer Madame Bernard! Er war völlig verloren, dem Verbrechen, der Gemeinheit verfallen. Sie mußte ihm zu Hülfe kommen. Sie willigte ein, seine Hand anzunehmen; er müsse nur den Segen seiner Mutter zu der Verbindung erhalten. Die alte Baronin ertheilte ihren Segen in jener geheimen Zusammenkunft mit ihr, von der schon die Frau Walter Mittheilung gemacht hatte. Aber in demselben Augenblicke erlag Helene Haller einer Angst, der sie nicht Meister zu werden vermochte.

Das verbrecherische Leben des Barons trat wieder vor sie; war es denn möglich, daß er ein ganz anderer Mensch werden könne, daß sie an seiner Seite mit ihm nicht zu Grunde gehen müsse? Dann war die Französin da mit ihren Drohungen. Konnte sie mit dem Mann leben, der von diesem Weibe öffentlich der gemeinsten, entehrendsten Verbrechen bezichtigt war, gegen den auf Grund dieser Bezichtigungen doch noch am Ende Polizei und Gerichte einschreiten mußten?

Sie konnte jetzt auch den Bitten des Barons nicht nachgeben.

Da war die alte Baronin vergiftet.

Von wem?

Eines Tages tritt die Französin in das Zimmer des Fräuleins.

»Mademoiselle, Sie wollen dem Baron Ihre Hand reichen?«

Helene Haller erwidert, sie habe über ihre Angelegenheiten ihrer Kammerfrau keine Rechenschaft zu geben.

»Aber, Mademoiselle, es handelt sich zugleich um eine Angelegenheit Ihrer Nebenbuhlerin!«

Das Fräulein fordert die Frau auf, sie zu verlassen.

Das Weib geht mit drohenden Flüchen auf den Lippen.

Sie hat ihre Drohungen und ihre Flüche wahr gemacht. Sie, das entsetzliche Weib, hat das Gift für die Baronin gemischt. Nach dem Tode der alten Frau erscheint sie wieder bei dem Fräulein.

»Mademoiselle, das Schloß, die Gegend, die Polizei, das Gericht sind überzeugt, daß der Herr Baron und Sie die alte Dame, die Ihrer Verbindung entgegenstand, aus dem Wege geräumt haben. Wollen Sie den ganz vollständigen Beweis liefern, so heirathen Sie Ihren Herrn Baron, um gemeinschaftlich mit ihm das Schaffot zu besteigen.«

Sie hatte später dennoch die Schwäche gehabt, den Bitten des leichtsinnigen, verkommenen Mannes nachzugeben und ihm ihre Hand zu reichen, und – setzte sie hinzu:

»Ich wurde unglücklich, wie ich es gefürchtet und verdient hatte, und ich wurde ja nicht allein die Unglückliche. Die Sünden der Eltern werden an den Kindern und Kindeskindern gerächt.« –

Der Baron Emmerich Willingen hatte seine Güter in Deutschland verkauft, war mit seiner Gattin in fremde Länder gezogen, hatte sein früheres ausschweifendes Leben von Neuem begonnen. Die Ehe war eine der unglücklichsten gewesen, durch den Lebenswandel des Mannes, durch die stets und stärker sich erneuernden Selbstvorwürfe der Frau, daß sie die blutige Hand eines Verbrechers angenommen, dadurch ihre eigene Hand mit Blut besudelt habe.

Ein Kind, ein reizendes Töchterchen wurde, trotz jener Gebete der Frau zum Himmel, ihrer Ehe geschenkt. Aber war es denn ein Geschenk? Es wurde zum Fluche dieser Ehe. Es brachte neue Angst, vermehrte das Unglück; erfreuen konnten sich des armen Kindes beide Eltern nicht.

War es unter solchen Umständen nicht eine Erlösung für Beide, als nach Jahren die Französin, Madame Bernard – ob durch Zufall, ob durch Verfolgung – sie auffand, hartnäckig, leidenschaftlich, höhnend noch einmal ihre alten Ansprüche geltend machte und diesmal durchsetzte? Die erste Ehe des Barons wurde geschieden; er reichte seine Hand der Französin zu einer zweiten.

Er erhielt von ihr den Lohn seiner Thaten.

Helene Haller, die Baronin Willingen begab sich mit ihrem Töchterchen in ein stilles Thal der Pyrenäen. Bei der Scheidung von ihrem Gatten war ihr ein Capital ausgesetzt, das zu ihrem und ihrer Tochter Lebensunterhalt mehr als ausreichend war.

Das Kind war schwächlich, konnte nach dem Ausspruche der Aerzte nur unter der sorglichsten Pflege in einem milden Klima gedeihen. Die Baronin nahm mit ihm ihren Aufenthalt in den Bädern der Pyrenäen, widmete ihm ihre ganze Sorgfalt und Pflege. Es genas, aber es blieb zart.

Es hatte sich dennoch zu einer schönen Jungfrau entwickelt: die Schönheit der Mutter hatte sich auf die Tochter vererbt. Das schöne Kind gewann die Liebe eines jungen, braven, aber armen französischen Offiziers. Er hielt sich in demselben Bade auf. Er stand bei den Legionen von Algier; Klima, Strapazen, Wunden hatten den sonst starken Körper entkräftet. Er suchte Heilung in dem Pyrenäenbade. Er fand sie; er fand mit ihr eine liebenswürdige Gattin.

Aber die Gattin starb im ersten Wochenbette.

Der Gram trieb ihn nach Algier zurück; er fiel hier bald in einem Gefechte gegen die Kabylen.

Sein Kind blieb bei der Großmutter in dem reizenden Pyrenäenbade.

Es wuchs auf, blühend wie seine Großmutter, schön, wie Mutter und Großmutter es gewesen waren. Aber als es in sein fünfzehntes Jahr trat, zeigten sich Spuren einer das Leben bedrohenden Brustkrankheit. Die Wärme des Südens vermochte der verzehrenden Krankheit keinen Einhalt zu thun. Die Aerzte schickten die Großmutter mit der Kranken in die kalte, reine und feine Luft des hohen Schweizerthales von Davos.

»Die Sünden der Eltern hatten das Leben der Tochter gefordert. Sollten sie auch das der Enkelin verlangen?«

Die Baronin rief es aus, als sie ihre Mittheilung endigte.

»Ja,« antwortete sie sich selbst. »Die Gerechtigkeit des Himmels ist eine furchtbar strenge.«

»Was wäre die Gerechtigkeit ohne Strenge?« mußte ich ihr erwidern. »Aber ist dafür nicht auch die Gnade des Himmels die höchste, die barmherzigste?«

Sie versetzte mit einem schmerzlichen Blick:

»Gnade, damit der Fluch nicht weiter forterbe in das dritte und vierte Glied und noch weiter?« – –

Am zweiten Tage nachher erhielt ich von der Baronin eine Karte, mit der sie mir den Tod ihrer Enkelin anzeigte. Die Kranke war ohne Schmerzen, sanft entschlafen.

Ein Tod wird in Davos nicht bekannt.

Die Großmutter war mit der Leiche der Enkelin in der Nacht still abgereist, ich konnte nicht einmal erfahren, wohin.

Ich habe seitdem nichts wieder von ihr gehört.

Der Herr van Roelof und die Französin mit ihrem Kinde waren für mich schon seit jener Begegnung im Murgthale verschwunden geblieben.

Welchen Lohn sie gefunden hatten?

Die Gerechtigkeit des Himmels ist strenge, muß es sein. Wie unerschöpflich ist dafür die Gnade des Himmels!



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