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Ich hatte mich vollständig verirrt. Den See Pergusa hatte ich gesucht, an dem einst Proserpina von Poseidon geraubt worden war, ohne mehr zu finden, als eine faulige Wasserpfütze, die der Beschreibung aus den Ovidischen Metamorphosen ungefähr so entsprach, wie ein schmutziggrauer Regen- und Schneetag des Nordens einem sizilianischen Maientage ähneln mag. Und dann war ich auf's Geratewohl auf meinem müden Maultier die Straße durch das öde Gebirgsland fortgeritten, um noch vor Abend nach Chiazza zu kommen, wo mir ein guter Imbiß und ein leidliches Ruhelager im Albergo del Sole wohlgethan hätten. Die Richtung meinte ich nicht wohl verfehlen zu können, da mir der wackere Mafo, der es – übrigens mit meiner Zustimmung, denn das Alleinsein war mir gerade recht – vorgezogen, dem Sonnenbrande des langen Weges sich nicht auszusetzen, sondern unseren Rastort auf kürzerem Pfade zu erreichen, die Weisung gegeben hatte, das Maultier nur ruhig gewähren zu lassen, denn da es in Chiazza zu Hause sei, werde es unzweifelhaft seinen Weg dorthin nehmen, und ein Verirren sei unmöglich. Was Wunder, wenn ich dem Tiere, das seiner Gattung zufolge ja sogar »im Nebel seinen Weg sucht«, solchen Naturinstinkt nach der heimischen Krippe in der That zutraute, wenngleich es mir bisher besondere Beweise seines Intellekts noch nicht gerade geliefert hatte.

Was aber in das Maultier gefahren sein mochte, weiß ich nicht. Suchte es planmäßig einen nähergelegenen Ruheort für die Nacht, als das noch weit entfernte Chiazza, bis wohin wir unzweifelhaft noch mehr, als zwei Wegstunden, vor uns hatten, oder hatte es Gründe, gerade die Heimat zu meiden, oder war es ein Ausfluß schwermütig-apathischer Stimmung, die sich ihm angesichts der öden, einsamen Landschaft ebenso mitgeteilt hatte, wie mir selber, und die durch den Anblick des mythengeschmückten und sangesberühmten Sees Pergusa wahrlich nicht erhellt werden konnte? Genug: das Maultier schlug nicht instinktiv und nicht heimatsverlangend, wie wir es von ihm erwartet hatten, die Richtung nach Chiazza ein, und ich bestärkte es in seinem Eigenwillen noch dadurch, daß ich es, ohne mich den geringsten Zweifeln über seine richtige Führung hinzugeben, gewähren ließ und sonnenmüde und schlaftrunken im Sattel schwankte, ohne halbgeschlossenen Auges viel auf die Gegend zu achten.

So brach die frühe Dämmerung der Spätfrühlingstage in Sizilien herein, ohne daß ich ahnte, wie weit ich von meinem Wege, der mich schließlich über Caltagirone wieder hätte an's Meer und zwar an die südöstliche Küste desselben herabführen sollen, schon in westlicher Richtung abgekommen war. Ich blickte auf meine Uhr und berechnete, daß ich wohl noch eine Stunde so würde fortzutrotten haben, ehe ich meine schier verdorrende Kehle wieder an einem guten Trunk roten Weines laben könnte, spornte auch inzwischen im unmutigen Bewußtsein dieser langen Prüfungszeit das gesenkten Hauptes dahinschreitende Maultier durch etliche Hackenstöße, Zurufe und Zügelzerrungen, ohne daß es sich im Geringsten darüber empfindlich gezeigt hätte, als ich plötzlich in dem beginnenden Dunkel vor mir an einer Wegbiegung zwischen den rings starrenden, rötlich-grauen Felsklippen die steinbeschwerten Schindeldächer von ein paar armseligen Häusern wahrnahm und nach einer kleinen Weile entdeckte, daß ich einem burgähnlich auf einer vereinzelten Bergkuppe thronenden, aus kleinen Fensterluken düster und drohend herabschauenden Dorfe nahe war. Recht wie ein Räubernest lag es da in der wilden Bergeinsamkeit und unter dem schweigenden Abenddunkel. Nirgends ein Mensch zu sehen, nirgends ein Zeichen des Lebens; nur die kahlen, schwärzlichen Mauern der vollkommen gleichartigen, ununterscheidbar sich im Kranz aneinanderreihenden, niedrigen Häuser, die dem Anschein nach von nirgendsher einen Zugang boten.

Ich richtete mich erstaunt im Sattel auf. Das konnte nicht schon Chiazza sein, das man mir als eine ziemlich ansehnliche Landstadt geschildert hatte, und doch hatte mich Maso, der Maultiertreiber, ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß ich auf eine andere Ortschaft vorher nicht mehr stoßen würde. Hatte er diese nicht mitgerechnet, die freilich so wenig einladend aussah, wie nur je eines jener sizilianischen Raubnester, die aus mittelalterlichen Feudalburgen allmählich sich in kleine, armselige Bergdörfer verwandelt haben, um einer Bevölkerung zum Unterschlupf zu dienen, die häufig genug das Gewerbe jener adligen Schloßherren in ihrer Art fortführt? Oder war ich gar vom rechten Wege abgekommen? In jedem Falle wäre ich müde und durstig genug gewesen, um ein vorzeitig mir sich bietendes Nachtquartier mit freudigem Dank anzunehmen, hätte nur der Anblick dieses düster-traurigen Nestes da oben nicht einen so abschreckenden Eindruck auf mich gemacht.

Trotzdem mußte ich es durchreiten, denn ich überzeugte mich bald davon, daß der Weg nur mitten durch den Ort selber führen konnte, da ein anderer nirgends zu entdecken war; auch erschien es mir rätlich, mich nach der Entfernung zu erkundigen, in der Chiazza lag, ehe ich mich in der Dunkelheit dorthin aufmachte. So trieb ich denn mein Maultier, das scheinbar überrascht am Fuße des Bergsteges stehen geblieben war und dann ganz apathisch, wie in ein unvermeidliches Schicksal ergeben, den Kopf herabgebeugt hatte, zu dem ziemlich steilen Anstieg an, und bald klapperten seine Hufe auf dem holperigen Steinpflaster einer schmalen Gasse, die sich mitten in das düstre Häusergewirr hineinwand und, dasselbe durchschneidend, am jenseitigen Hange weiter in das öde Bergland emporzuführen schien.

Das ungewöhnliche Geräusch trieb alsbald ein Dutzend Kinder vor die Thüren hinaus. Es waren zerlumpte, ungewaschene Geschöpfe mit verfilzten, schwarzen Zottelhaaren, halbnackt und braunhäutig, aber mit den prächtigsten Zähnen im Munde und so glutäugig, daß man all' ihre elende Verkommenheit darüber vergaß. Sie stürzten, wie eine wilde Horde, jedoch merkwürdigerweise ohne jedes Geschrei, die steilen, schmutzigen, engen Steintreppen der höhlenartigen Wohnungen herab, in welch' letztere weder Licht noch Lust gelangen konnte, wälzten sich im Unrat der Gasse umher, im Wetteifer mit ein paar grunzend auftaumelnden, kleinen, schwarzen Schweinen und einem Schwarm davonstiebender Hühner, umringten mich, hängten sich förmlich an mein Maultier und starrten mich lachend, mit offenen Mäulern an, wie eine Wundererscheinung. Ich rief ihnen die Frage zu, wie weit es noch bis Chiazza fei. Das verstanden sie offenbar nicht, obgleich ich die Worte im sizilianischen Dialekt herauszubringen vermochte. Sie lachten nur noch toller, tanzten vor mir her, schossen Purzelbäume und geberdeten sich ganz wie rasend. Ich wiederholte meine Frage, jedes Wort einzeln betonend, aber mit keinem besseren Erfolg. Da riß ich ärgerlich am Zügel und wollte weiter.

Nun aber trat ein Weib unter den Thürrahmen des mir zur Rechten befindlichen Hauses und schrie mich an, was ich denn eigentlich wolle. So wenigstens deutete ich mir ihre Worte und fragte abermals nach Chiazza. Hierauf nun hob sie unter lebhaften Gestikulationen zu zetern an und schien mir bedeuten zu wollen, daß ich vollständig auf dem Irrwege sei; daß sie geglaubt, ich käme vielmehr von Chiazza, statt daß ich dorthin wolle; daß ich noch viele Stunden bis dorthin hätte – es schien ihr unendlich weit vorzukommen – und daß ich hier überhaupt heute nicht weiter könne, denn die nächste Ortschaft – den Namen verstand ich nicht – sei mindestens dreißig Miglien weit entfernt und liege so hoch, daß man nachts den gefährlichen Weg dorthin durch die Berge gar nicht machen könne, und Ähnliches mehr. Aus allem entnahm ich so viel, daß ich in eine völlig abgelegene Gegend geraten und von meinem Ziel vielleicht weiter entfernt sei, als ich es heute morgen gewesen, – dank der unglücklichen Vertrauensseligkeit Masos und des unbegreiflichen Eigensinns meines Maultieres, – sowie, daß ich an ein Weiterreisen in die Nacht hinein bei meiner Müdigkeit und ohne einen zuverlässigen Führer nicht würde denken können. Nun sah zwar das düster-einsame Bergnest mit all' den wilden, unheimlichen Gestalten, die allmählich im Düster der Thürbögen auftauchten und mich mit dunklen Augensternen anglimmerten, wahrlich nichts weniger, als einladend aus, trotzdem ich überall an maßgebender Stelle die gleichlautende Versicherung erhalten hatte, daß diese Distrikte Siziliens seit Jahren vollkommen sicher und der Brigantaggio in ihnen erloschen sei; aber doch mußte ich wohl hier gute Miene zum bösen Spiel machen und froh sein, wenn ich nur überhaupt mein müdes Haupt irgendwo niederlegen durfte. Gereichte mir doch das Bewußtsein zum Trost, daß man um meiner geringen Barschaft willen, die ich ohne viel Herzeleid hätte einbüßen können, schwerlich einen Mord an mir verüben würde, und daß selbst in den gefährlichsten Gegenden der Insel der fremde Reisende fast immer eine Sicherheit genießt, die dem begüterten Einheimischen dort vollständig mangelt.

Unter solchen Überlegungen entschloß ich mich kurz, das immer noch keifende Weib, das jetzt auf die Spitzbuben zu schelten schien, die mich hierher gelockt hatten, – ich verstand immer nur einzelne Worte davon – kurzerhand um ein Quartier für die Nacht zu bitten, im Stillen nach den mir gepriesenen Betten des Albergo del Sole in Chiazza seufzend und Masos wie meine eigene Leichtgläubigkeit verwünschend. Da kam ich aber gut an. Das Weib lachte und schrie auf mich ein, als ob ich einen unglaublichen Spaß mit ihr getrieben hätte, und aus den Thürbögen und höhlenartigen Öffnungen der Nachbarhäuser lachte es im Chor mit, so daß ich einen Augenblick lang glaubte, ich sei in ein Narrenasyl geraten. Schließlich glaubte ich soviel zu verstehn, daß das Weib mit sechs Kindern in einem und demselben Raume, ihrem einzigen, zusammenschlafe, so daß dann meine Bitte freilich wohl Unmögliches forderte.

»Ist kein Albergo im Ort?« fragte ich, und setzte, da mir das selber schon unwahrscheinlich genug vorkam, hinzu: »keine Osteria mit einem Schlafraum?«

Erneutes Lachen aus allen Thüren folgte. »Wo also kann ich die Nacht bleiben? Wer ist im Orte bereit, mich zu beherbergen?« Meine Frage erklang jetzt in sehr gereiztem Ton.

Hierauf trat Stille ein. Hier und da im Dunkel der Gasse wurde gemurmelt, man schien zu überlegen. Aber die Auswahl an Quartieren, die für mich möglich erschienen, mußte nicht groß sein, man kam lange zu keinem Resultat. Und inzwischen dachte ich vor Müdigkeit beinahe aus dem Sattel zu gleiten, während das Maultier, das an dieser ganzen Tragikomödie die Hauptschuld trug, mit einer so entsagungsvollen Ruhe unbeweglich da stand, daß ich mir ein Beispiel daran hätte nehmen können. Endlich war man zu einem Beschluß gekommen, und dieser Beschluß mußte wohl einstimmig gefaßt worden sein, denn plötzlich schrie es mir aus allen Kehlen entgegen: »Beim Sindaco! Der Herr kann beim Sindaco wohnen!«

Damit war ich natürlich einverstanden und bat, mich zu geleiten, während ich aus dem Sattel sprang und versuchte, ob meine Beine mich nach dem langen Ritte des Tages noch tragen würden. Ein ganzer Haufe geleitete mich, zwanzig Hände griffen nach dem Zaum des Maultiers, um es hinter uns drein zu zerren. So ging es bis vor das Haus des Sindaco, das am anderen Ende der Gasse lag, sich aber im übrigen nicht von denen unterschied, an denen ich vorüberkam. Überall dieselbe ärmliche, unsäglich düstere Verkommenheit, überall das gleiche, schmutzige Elend, von dem man nicht begriff, wie Menschen dazwischen hausen, wie darin ein neues Geschlecht aufwachsen konnte, welches das Lachen nicht verlernte. Vor dem Hause hielt der Schwarm an, die Kinder standen mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen, offenen Mundes, das ganze unerhörte Begebnis angaffend, da, im Kranze um das Maultier herum; ein paar Weiber, die sich einander den Rang ablaufen wollten, stürmten die steile, enge Treppe mit den ausgetretenen, zerbröckelnden Steinstufen herauf, offenbar um mich anzumelden und das nie dagewesene Ereignis zu verkünden.

Nach ein paar Minuten, während derer der zurückgebliebene Haufe in erwartungsvollem Schweigen verharrte, stoben die nacktfüßigen, haarumzottelten Botinnen wieder auf die Straße herab und nicht lange danach kam ein groß gewachsener, alter Mann langsam die Stufen hinunter und stand, während alles scheu zurückwich, im Rahmen der Thür, die er vollständig ausfüllte mit seiner stämmigen, breitschultrigen Gestalt, deren Glieder mir alles menschliche Maß zu übersteigen schienen, so massig und gewaltig waren sie. Steif emporstehendes, grauweißes Haar krönte einen mächtigen, braunen Kopf mit niedriger Stirn und derb vorstehendem Kinn, das unterhalb und fast bis zu den Ohren hinauf von dichten weißen Stoppeln umstarrt war. Das Gesicht war so von Runzeln überdeckt, ich möchte sagen durchrissen, wie ich nie ein ähnliches gesehen, und unter zusammengewachsenen, weißen Brauen blickten mich über einer scharf geschwungenen Nase zwei schwarze Augen mit stechendem Glanz an, als ob sie mich durchbohren wollten.

»Der Herr will die Nacht hier bleiben?« Die Stimme klang rauh und barsch, wie wenn sie zu befehlen gewohnt sei, das Italienische war nur wenig dialektisch gefärbt.

Ich setzte ihm meine Lage auseinander. Er sah mich während der ganzen Zeit, die Arme über der Brust verschränkt, schweigend und düster an. Dann sagte er: »Kommt herauf!«

Er gab den Leuten einen Wink, das Maultier in den Stall zu führen, dessen Thür sich unmittelbar neben dem Eingang zur Wohnung befand und der bereits von etlichen Schweinen und Ziegen eingenommen zu sein schien. Ich verteilte einige Kupfermünzen unter die Kinder wie unter die sich habgierig herzudrängenden Weiber, und folgte ihm dann, nicht ganz ohne ein bängliches Gefühl, die Treppe hinauf. Oben war es fast dunkel. Nur ein matt glimmender Docht in einer altertümlichen, von Schmutz starrenden, bleiernen Lampe verbreitete eine Art von Helle in dem ziemlich großen, doch niedrigen und dumpfluftigen Gelaß, in das der Alte mich geführt hatte. Er wies dort mit einer schweigenden, aber befehlshaberischen Geberde auf einen binsengeflochtenen Sessel, auf dem ich mich niederlassen sollte, und verschwand, um nach einer kleinen Weile mit einem Steinkruge voll Wein, einem Glase und einem Teller mit hartem, grauen Brot sowie einem Stück Schafkäse zurückzukommen. Das setzte er stumm vor mich hin, lud mich abermals mit einer Handbewegung ein, zuzugreifen, und nahm dann bei dem unzureichenden Lampenschein die vorher offenbar abgebrochene Beschäftigung wieder auf, indem er an einem verbogenen Sicheleisen hämmerte, ohne sich weiter um mich zu kümmern.

Ich konnte mich der Frage nicht enthalten, ob er nicht mit mir ein Glas trinken wolle, aber er lehnte das mit einem bloßen Kopfschütteln ab und hämmerte weiter. So ließ ich mich denn nicht länger nötigen, da mir eine Erquickung zu dringendem Bedürfnis geworden war, und aß und trank, ohne mich um den seltsamen und unheimlichen Gastgeber weiter zu kümmern. Der Wein war herb und feurig, das Brod zu zerbeißen aber bedurfte es der guten, blanken Zähne, die ich draußen bei dem schmutzigen Kinderrudel so bewundert hatte. Während ich so trank und der Alte neben mir schweigend und emsig mit dem Hammer an seinem Schmiedeeisen hantierte, ließ ich meine Augen in dem dürftig und unwohnlich ausgestatteten Gelasse umgehn, bis ich in der einen Wand desselben eine dunkle, thürähnliche Öffnung entdeckte, hinter der sich ein fensterloses Kämmerchen zu befinden schien.

Mich überlief es mit einem leisen Schauder, wenn ich daran dachte, daß mir der Alte dort wohl meine Schlafstelle anweisen würde, und ich nahm mir im Stillen schon vor, lieber auf dem Sessel hier die Nacht zu verbringen, als in diese Höhle hineinzukriechen, als ich mit meinen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten Augen entdeckte, daß sich dort schon ein menschliches Wesen befand. Ich sah nun immerfort, wie gebannt, nach der nämlichen Stelle, und endlich gelang es mir auch wirklich, dort die Umrisse einer weiblichen Gestalt zu unterscheiden, die in der Finsternis des Kämmerchens auf einem niedrigen Schemel zu kauern schien und unablässig die Hände bewegte, ohne daß ich zu gewahren vermocht hätte, was sie eigentlich trieb und ob sie überhaupt irgend etwas in den Händen hielt. Wie ein Automat bewegte sie sich und nickte unablässig mit dem Kopfe dazu. Ich hatte bei diesem Anblick unwillkürlich abermals den Eindruck des Unheimlichen, den mir schon der ganze Ort und insbesondere die Erscheinung sowie die Behausung meines Wirts erregt hatten.

Und dieser Eindruck steigerte sich nur noch, als plötzlich, wie durch die magnetische Kraft meiner Blicke angezogen, das Weib sich drüben von ihrem Schemel aufrichtete und an einem Stock ganz langsam und ganz geräuschlos gerade auf mich losgehumpelt kam. Denn nun sah ich, daß sie eine wirkliche Hexe war, daß ich etwas Hexenhafteres, als sie, nie vorher im Leben erblickt hatte. Um ein bis auf die Größe eines Kinderkopfes zusammengeschrumpftes, gelbbraunes, ganz aus furchenähnlichen Runzeln bestehendes Gesicht flatterte dünnes, weißes, wirres Haar über tief eingefallenen Schläfen, unter denen die Backenknochen in wahrhaft schreckenerregender Weise hervorstanden. Der zahnlose Mund, der über die ganze Breite des Gesichts ging, bewegte sich unaufhörlich in einem nicht vernehmbaren Gemurmel, während das Kinn darunter vollkommen verschwand, und die weit abstehenden Ohren etwas von den Flügeln einer Fledermaus an sich hatten. Dazu war die ganze Gestalt, die ursprünglich über die Mittelgröße hinausgegangen sein mußte, so vollständig verkrümmt, daß sich der Oberleib fast in gleicher Linie mit dem Erdboden befand, und von einer ans Unglaubliche grenzenden Hagerkeit und Dürre. Die krallenartig verwachsenen, mageren Finger der Rechten umklammerten die Krücke eines Stockes, an dem sich dies unheimliche Wesen ganz lautlos langsam weiterschob, während die der anderen Hand zuckend in die Luft griffen. Und halb erloschene, wimpernlose Augen unter unsichtbaren Brauen glimmerten mich an, halb argwöhnisch, halb neugierig, während die Alte unverwandt auf mich zukam.

Es fehlte nicht viel, daß ich einen leisen Schrei dabei ausgestoßen hätte, da meine Nerven ohnehin durch die Ermüdung und die ungewöhnlichen Erlebnisse dieses Tages überreizt waren. Wer konnte auch wissen, was diese Hexe gegen mich im Schilde führte? Da hatte der Mann trotz seiner eifrigen Beschäftigung auch schon das Herankommen der Alten gemerkt; er sah kurz auf, rief ein Wort, das ich nicht verstand, und wandte dadurch ihren Blick von mir ab und sich selber zu. Und nun gewahrte ich, wie er sie mit seinem Blick bannte. Er sprach kein Wort mit ihr, aber sie verstand ihn offenbar und gehorchte. Sie that das Letztere widerwillig, ließ noch einen schrägen Blick zu mir hinübergleiten, kicherte dann verstohlen vor sich hin, bedeckte sich das Gesicht mit der grauen, sackleinenen Schürze, die sie trug, und humpelte so langsam und geräuschlos nach ihrer dunklen Kammer zurück.

Der Mann hatte Hammer und Eisen zur Seite gelegt, seine Arbeit mochte beendigt sein. Ich sah ihn fragend an, ohne die Lippen zu öffnen. Da wies er mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf seine Stirn und zuckte vieldeutig die Achseln. »Sie ist verrückt,« bedeutete diese Geberde. »Ist sie Euer Weib?« fragte ich.

Es kam mir vor, als überlege er, was er mir antworten sollte. Dann sagte er: »Ja« und nichts weiter.

Ich hatte genug getrunken und sehnte mich nach Ruhe. Meine Phantasie war erhitzt, mein Blut klopfte mir wild in den Adern. »Welch' ein Unglück!« sagte ich mich erhebend. »Ist sie schon lange so?«

»Sehr lange.« Es klang zögernd, die Antwort wurde sichtlich ungern gegeben. Und gleich hinterher fragte der Alte: »Wollt Ihr zur Ruhe gehen?«

Ich bejahte das. Es war kein Zweifel, daß er jedes Gespräch, zumal eines über diesen Gegenstand, mit mir vermeiden wollte. Trotzdem versuchte ich es noch ein letztes Mal, ihn redseliger zu machen. Als er mich in eine Kammer geführt hatte, die hinter der Küche lag und ein ziemlich reinliches Bett aufwies, fragte ich ihn, ob ich auch nicht etwa ihn selber seines gewohnten Ruhelagers beraube, und als er das kurz verneinte, fügte ich hinzu:

»Welch' ein einsames, weltfernes Dorf Ihr bewohnt! Und welch' ein einsames Leben Ihr hier führen müßt!«

»Ich bin's zufrieden.« war seine Antwort.

»Habt Ihr immer hier gewohnt?«

»Seit Langem.«

Es war nichts aus ihm herauszubringen. Er blieb immer gleich finster, verschlossen und unnahbar. So gab ich es auf, ihm aufdringlich zu erscheinen, dankte ihm mit kurzen Worten für die Gastfreundschaft, die er an mir übe, was er schweigend hinnahm, und wünschte ihm gute Nacht. Diesen Gruß erwiderte er und ging.

So war ich allein in meiner Kammer. Sie war um ein Beträchtliches wohnlicher und einladender, als ich mir's gedacht hatte, und da ich sogar einen Riegel an meiner Thür gewahrte, beschloß ich alsbald, mutig zu sein und zu Bett zu gehen. Müde genug war ich dazu. Die kleine Luke in's Freie hinaus stand offen, es war luftig in dem Raum und draußen alles ruhig, auch im Hause selber rührte sich nichts. Trotzdem fand ich auf meinem Lager lange keinen Schlaf; das Blut jagte in mir, und mein Herz hämmerte laut. All' das Seltsame und Unheimliche meiner Lage regte meine Phantasie mächtig auf. Auch als ich endlich in eine Art von Halbschlummer verfallen war, wurde ich durch die wüstesten und wildesten Träume gequält, anstatt erquickt zu werden. In ihnen allen erschien die hexenhafte Alte, und mit einem Mal legte sie mir ihre verkrümmten Krallenfinger um den Hals, und ich fühlte, daß sie mich erdrosseln wollte; der Atem wurde mir unter ihrer Umschlingung immer knapper, immer mühsamer rang er sich empor; ich wollte schreien und konnte nicht, eine furchtbare Angst preßte mir die Brust, mein Herz schlug zum Zerspringen. Da weckte mich plötzlich ein lautes, dröhnendes Geräusch an der Thür, und mitten in meiner Traumverworrenheit hörte ich die Stimme des Sindaco: »Was ist Euch?«

Ich fuhr auf. »Nichts. Weshalb fragt Ihr?«

»Ich hörte Euch stöhnen.«

»Es muß im Schlafe gewesen sein. Wie spät ist es?«

»Für mich Zeit zum Aufstehen. Ich wollte Euch noch sagen, daß Ihr hier auf dem Tische Milch und Brot findet zum Frühstück, und daß ein zuverlässiger Mann aus dem Dorfe bereit sein wird, Euch nachher bis Chiazza zu geleiten oder wohin Ihr sonst wollt. Ich geh' auf Arbeit und bin vor dem Abend nicht zurück.«

»Es thut mir leid, Euch nicht noch durch einen Händedruck danken zu können. Ihr habt viel Gutes an mir gethan.«

»Nichts von Bedeutung. Gute Reise also!«

»Vielen Dank! Und gehabt Euch wohl!«

Ich weiß nicht, ob er die letzten Worte noch vernahm. Es war noch so dämmerig in meiner Kammer, daß der Morgen draußen kaum grauen konnte, und ich konnte mich der Vermutung nicht verschließen, daß der Alte sich nur einem abermaligen Beisammensein mit mir entziehen wollte, um nicht von mir wiederum ausgefragt zu werden. Sichtlich war ihm das gestern peinvoll gewesen. Mir selbst war es lieb, daß die Nacht herum war, obgleich sie mir kaum eine Stärkung gebracht, und ich wollte auch keinen Versuch mehr machen, Schlaf zu finden, sondern wach bleiben und alsbald meinen Ritt antreten.

Als die erste Helle des jungen Tages sich ankündigte, erhob ich mich. Ich kann nicht leugnen, daß ich ein geheimes Grauen nicht zu unterdrücken vermochte, als ich das Zimmer wieder betrat, in dem ich gestern Abend gesessen hatte; die Erscheinung der alten Hexe hätt' ich meinen von der nächtlichen Erregung gleichsam noch nachzitternden Nerven gern erspart. Zu meiner Genugthuung nahm ich alsbald bei meinem Eintritt wahr, daß die Thüröffnung zwischen dem großen Gelaß und dem Kämmerchen, in dem die unheimliche Alte hauste, durch ein eingefügtes Brett verschlossen war. Der Sindaco hatte also wohlweislich Fürsorge getroffen, daß die Alte mich nicht zum anderen Male erschrecken oder belästigen konnte. Daß sie hierzu Lust gehabt hätte, glaubte ich daraus entnehmen zu können, daß meine Schritte kaum auf dem dunklen Fliesenboden des Gemaches widerhallten, als auch schon innerhalb der Kammer an dem Schloß der Bretterthür energisch gerüttelt wurde, ohne daß das letztere zum Glück nachgegeben hätte. Und hinterher vernahm ich von drinnen das gleiche Gekicher, das die Alte gestern Abend hatte hören lassen, als der Mann sie durch einen einzigen, kurzen Zuruf gezwungen hatte, von mir abzulassen. So verzehrte ich gemütsruhig das Frühmahl, das der Sindaco mir bereit gestellt hatte, ganz allein in dem todesstillen Hause.

Als ich dann die Treppe hinunterging, um mich nach meinem Maultier und dem für mich bestimmten Führer umzusehen, nicht ohne für meinen Gastwirt auf dem Tische ein Geldgeschenk zurückzulassen, fand ich auf der untersten Treppenstufe einen weißhaarigen, freundlich dreinschauenden Alten sitzen, der mich zutraulich anlächelte und mir erklärte, er warte hier schon zwei Stunden auf mich, und er sei derjenige, der mir zum Führer dienen wolle, ich möge nur bestimmen, wohin. Auch das Maultier sei schon gesattelt und stehe bereit.

Vielleicht las er in meinen Mienen die Verwunderung darüber, daß er in seinen sichtlich doch schon hohen Jahren, der überdies klein und hager und etwas gekrümmt aussah, zu einem so anstrengenden Dienste auserwählt sein sollte, denn er fügte ohne eine Frage meinerseits hinzu: »Ich bin Peppe Masieri!« was offenbar so viel heißen sollte als, mein Name bürgt für mich. Und er lächelte ordentlich selbstbewußt dazu.

So gab ich ihm denn zu verstehen, daß und warum mir daran liege, möglichst bald nach Chiazza zu kommen, hieß ihn, mein Maultier vorführen und stieg auf, während abermals ein Haufe von Kindern, jetzt noch zudringlicher als gestern, aus allen den dunklen Häuserhöhlen hervorbrach und mich bettelnd und gaffend umringte. Ich war froh, als ich die enge, finstere Gasse wieder hinabreiten konnte, unterließ es aber nicht, vorher noch einmal an dem düsteren Hause des Sindaco emporzublicken, und da gewahrte ich den schrecklichen Hexenkopf der wahnsinnigen Alten an einer schmalen Fensterluke, wie er grinsend zu mir herablächelte, ja, ich meinte sogar schaudernd zu bemerken, daß ihre dürre Knochenhand mir herauswinkte. Ich glaube, ich murmelte ein: » Dii, avertite omen!« als ich zu dem öden, düsteren Felsenneste hinausritt, das in der jungen, freudigen Morgensonne des Frühlingstages nur noch weltverlassener und trauriger da lag, als unter dem Schleier der sinkenden Nacht gestern.

Langsam und schweigend ging es bergab, zunächst einen guten Teil des nämlichen Weges zurück, den ich gestern in blindem Vertrauen auf den Heimatssinn meines Reittieres hinter mich gebracht. Die Landschaft war öde und einsam. Der Wind fegte über die kahle Hochfläche hin und summte manchmal mit eigentümlichem Getön in dem bizarr geschichteten Gestein der Felsmassen. Der alte Peppe Masieri trottete rüstigen Ganges, einen derben Knotenstock in der Rechten, neben mir her. Ich hätte mir die lange Wegstrecke gern durch ein Gespräch mit ihm gekürzt, fürchtete aber auf die gleiche unwirsche Schweigsamkeit bei ihm zu stoßen, die diesem Menschenschlage da droben in den weltfernen sizilianischen Felsennestern eigen ist. Erst als ich seine runden, beweglichen, schwarzen Augen munter auf mir ruhen sah, getraute ich mich, ihn anzureden.

»Wie heißt Euer Dorf eigentlich?«

»Fortone.«

Mir kam's in die Erinnerung, daß ich diesen Namen schon hatte nennen hören, und wenn mich nicht alles täuschte, als den eines in dieser Gegend berüchtigt gewesenen Räubernestes. Plötzlich erschien mir unter solcher Vorstellung auch der Sindaco seinem ganzen Wesen und Gehaben nach um vieles verständlicher und erklärlicher. Das Bewußtsein, unter ehemaligen Briganten zu hausen, mochte ihn wohl argwöhnisch, wortkarg und finster gemacht haben und errichtete nach wie vor eine unübersteigliche Schranke zwischen ihnen und ihm selber; sie fürchteten ihn, aber er war auf seiner Hut vor ihnen. »Euer Sindaco muß einen schweren Stand haben in Fortone,« sagte ich.

»Oh,« machte der Alte, »im Gegenteil, Herr! Wir sind alle gut Freund mit ihm, – schon von früher her. Ein anderer hätte das gar nicht wagen dürfen, was er gethan hat.«

»Von früher her?« wiederholte ich neugierig.

»Freilich. Als er noch der berühmte Brigant war, den sie › il gigante‹ hießen.«

Ich sah den Sprecher verdutzt an. »Der Sindaco ein Brigant?«

»Das will ich meinen,« versetzte er mit einem listigen Zwinkern, »und die Hölle hat er ihnen heiß gemacht, den Herren vom Adel, damals, als sein Name noch die ganze Gegend mit Schrecken erfüllte und sein Name allein hinreichte, um die Schlösser zu veröden, in deren Nähe man ihn gesehen haben wollte. Ja, das war eine Zeit, Herr! Damals hätten wir freilich jeden ausgelacht, der uns hätte vorhersagen wollen, Ruggiero Pinto, der wilde Ruggiero, Ruggiero il gigante, werde einmal als Sindaco von Fortone in Ruhe und Frieden seine Tage beschließen. Für einen Verrückten hätten wir den gehalten. Und wenn nicht die gottverdammte Geschichte mit der Gemma gewesen wäre, – mit der tollen Gemma, – wer weiß, wie es gekommen wäre, wer weiß?«

Der Alte seufzte ein klein wenig und blickte wehmütig und nachdenklich vor sich hin, während er weiter schritt. In mir aber war bei seinen verworrenen Andeutungen das rege Verlangen erwacht, die Geschichte dieses verwunderlichen Lebenslaufes im Zusammenhange zu vernehmen, und tausend abenteuerliche Vermutungen darüber kreuzten sich in meiner Seele. »Ist die tolle Gemma etwa gar die alte Hexe im Hause des Sindaco?« fragte ich unwillkürlich.

»Das ist sie, Herr,« bestätigte mir der Alte, der nun selber sich ganz in die Vergangenheit zurückzuleben schien, »und wie schön sie einmal war, das könnt Ihr freilich jetzt nicht mehr ahnen. Santa Madonna, ja, es ist lange her, sehr lange, und aus dem Menschen kann mancherlei werden, wovon er sich in jungen Jahren nichts träumen läßt.«

Er murmelte das letztere nur noch leise zwischen den Zähnen drein und stieß dann seinen mit eiserner Spitze bewehrten Stock so wuchtig auf das Weggestein nieder, daß die Funken davon aufsprühten. »Erzählt mir doch einmal alles, wie es kam, Peppe Masieri! Wollt Ihr? Der Weg ist lang und bietet wenig Reiz.«

Der Alte sah mich sekundenlang mit seltsam glimmernden Augensternen von der Seite an, dann zuckte er gleichmütig die Achseln »Wenn Ihr's hören wollt ...«

Und während ich nun weiter in den sonnenfrohen Lenzmorgen hineinritt, immer zwischen diesem öden, kahlen Felsgestein hin, auf das er keine sichtbaren Spuren seines Daseins zaubern zu können schien mit all seiner Sonne und linden Anmut, und während Peppe Masieri sich immer dicht an meiner Seite hielt, die Augen gesenkt, den Stock kraftvoll mit vorgebeugtem Arm ausstoßend, vernahm ich in dieser schweigsam-verlassenen Welt um mich her eine wilde, seltsame Geschichte. –

* * *

Er war noch gar nicht lange »in die Berge«, d. h. zu den Briganten gegangen, als er seinen Namen auch schon in aller Munde gebracht hatte; und wo der Name genannt wurde, da verbreitete er Furcht und Entsetzen. Seinen riesigen Körperkräften zufolge, in denen keiner mit ihm zu wetteifern vermochte, hießen sie ihn » il gigante«. Wie eine übermenschliche Erscheinung kam er ihnen vor, und für alle diejenigen, die ihn nie mit Augen gesehen hatten, vergrößerte das Gerücht seinen Wuchs und den Umfang seiner Gliedmaßen noch ins Ungeheuerliche. Legenden, die sich, von der allezeit geschäftigen Phantasie des Volkes auf Grund eines wirklichen Begebnisses erfunden, um seine Person spannen und von Mund zu Mund gingen, breiteten überdies den Nimbus des Ungewöhnlichen und Absonderlichen über ihn aus.

Ruggiero Pinto war kein Brigant gewöhnlichen Schlages. Man wußte kaum, weshalb er in die Berge gegangen war, denn von den sonst üblichen Gründen, welche die Männer seines Landes veranlaßten, sich der Verfolgung seitens der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen, lag keiner bei ihm vor, und bloße Abenteuerlust oder der blinde Haß gegen alles Bestehende konnte ihn nicht getrieben haben, sich als vogelfrei außerhalb des Kreises seiner Volksgenossen zu stellen, weil er in seinem ganzen Wesen streng und schlicht war und auch streng und schlicht blieb, als er nach dem Tode des berühmten Leone, obgleich fast der jüngste von allen, zum Hauptmann der Bande gewählt wurde, die in den Felsenbergen der südöstlichen Inselhälfte ihr Wesen trieb. So nahm man an, daß ein Weib mit dabei im Spiele sei. Denn Ruggiero's Blut war wild und heiß, und seit er unter den Briganten war, blickte er finster drein und hatte nie mehr ein Auge für ein weibliches Wesen, duldete es auch als Hauptmann nicht, daß seine Leute sich mit den Weibern über das Notwendige hinaus einließen oder solche gar mit sich ins Lager schleppten. Strengere Manneszucht hatte nie einer gehalten, als er.

In Verazzo, wo der »Gigant« aufgewachsen war, munkelten sie davon, daß die schöne Gemma Ravaldi ihn als Freier ausgeschlagen habe. Warum? wußte keiner. Denn er war weder arm, noch hätte es sonst einer im Dorfe mit ihm aufnehmen können. Aber Gemma Ravaldi war launenhaft und gefallsüchtig. Sie spielte mit ihren Bewerbern und sie hatte ihrer viele. Es war ein Wunder, daß es nicht häufiger um ihretwillen zwischen den jungen Burschen von Verazzo und den nahegelegenen Dörfern zu blutigen Händeln kam, und nur weil sie keinen von allen sichtlich bevorzugte, hielt man den Frieden notdürftig aufrecht. Eines Tages aber ward sie Carlo Lombardi's Frau. Sie war auf einige Zeit zum Besuche bei einer Gevatterin nach Fortone hinübergegangen, und als sie zurückkam, hieß sie nicht mehr Gemma Ravaldi, sondern Gemma Lombardi. In aller Stille war die Trauung vollzogen worden, damit die Kunde davon nicht vorzeitig Aufsehen erregte und unter den Freiern daheim böses Blut machte gegen den bevorzugten Eindringling.

Die Thatsache, daß die schöne Gemma den reichen Carlo Lombardi heiratete, nahm übrigens niemanden Wunder, denn mit dem konnte sich von allen Bewerbern an Quattrini freilich niemand messen, und so fand auch jeder diese Verbindung ordnungsgemäß und natürlich. Was alle in Erstaunen setzte, war nur, daß von den zurückgesetzten Freiern keiner Carlo Lombardi über den Haufen stach; denn das wäre ebenso ordnungsgemäß und natürlich gewesen. Die Erklärung für das Ausbleiben dieser allgemein mit Bestimmtheit erwarteten Thatsache konnte nur darin liegen, daß von den Bewerbern sich jeder gleich sehr berechtigt oder gleich wenig verpflichtet fühlte, jene Forderung der gekränkten Ehre zu erfüllen, daß jeder sie von dem anderen erwartete und keiner sie doch dem anderen gönnte. Schließlich, hieß es gerüchtweise, hätten sie alle Ruggiero Pinto die Aufgabe übertragen, die Schmach der Verschmähten an dem begünstigten Freier zu rächen, oder das Loos, das sie zwischen sich geworfen, hätte für diesen entschieden. Ruggiero Pinto aber, erzählte man sich weiter, habe sich der ihm gewordenen Pflicht entzogen, weil er es nicht für ehrenvoll gehalten, mit seinen riesenhaften Körperkräften den ihm in keiner Weise gewachsenen Gegner anzufallen, den zu besiegen und niederzumachen für ihn keine Kunst war.

Und um einerseits solchem an ihn gestellten, dringlichen Verlangen zu entgehen, andererseits aus Gram und Zorn über der schönen Gemma Verlust selber, sei Ruggiero Pinto unter die Briganten gegangen.

Mit seinem Handwerk nahm es der Riese ernst. Von wilden Raubzügen gegen arglose Wanderer und vorüberziehende Handelsleute, gegen reiche Klöster und einsam gelegene Ortschaften war nicht mehr die Rede, seit sie ihn zum Hauptmann gewählt hatten. Ruggiero Pinto war ein »ehrlicher« Brigant. Nur gegen Überfluß und Ungerechtigkeit zog er mit seiner Bande zu Felde, und wenn er seinen Zweck ohne Blutvergießen erreichen konnte, wurde kein Pulver unnötig verschossen. Die reichen Grundherren im ganzen Distrikte zitterten vor ihm, und wer gegen seine Untergebenen sich eine Gewaltthat hatte zu Schulden kommen lassen, wußte, daß der Rächer nicht lange auf sich warten lassen würde. Ruggiero war ebenso rasch als unerbittlich, wenn es galt, Sühne zu heischen, und an Unterhandeln mit ihm war nicht zu denken. Wer sich durch Geld davon loskaufen zu können glaubte, ein begangenes Unrecht wieder gut zu machen, hatte sich in dem Brigantenführer verrechnet; bei Ruggiero wurde allezeit Gleiches mit Gleichem vergolten, und er scheute den Ruf der Härte und Grausamkeit nicht, wo es galt, Gericht zu halten und Gerechtigkeit zu üben. Streng, wie gegen seine Opfer, zeigte er sich aber dann auch gegen seine Untergebenen und war er gegen sich selber.

Da begab sich das Seltsame, daß Carlo Lombardi aus Fortone in die Berge flüchten mußte und zu der Bande des » gigante« stieß. Carlo Lombardi war seit Ruggiero's Verschwinden aus Verazzo mit den ehemaligen Freiern der schönen Gemma schon mehrfach hart zusammengeraten, und weil er hochfahrenden Sinnes war und es an Herausforderungen nicht fehlen ließ, kam es eines Tages beim Kirchweihfest von Verazzo zu einem blutigen Handel zwischen mehreren der Verazzaner Burschen einerseits und ihm, der von einer Schar guter Freunde aus Fortone umgeben war, wobei endlich Carlo Lombardi's Messer bis zum Hefte in der Brust eines der Gegner stecken blieb, und dieser alsbald lautlos zusammenbrach. Darnach war der erbitterte Streit zwar zu Ende gewesen, aber der Mörder des jungen Verazzaners mußte vor der Rache der Sippen des Getöteten und vor den Karabinieri zugleich flüchten. So blieb ihm keine Wahl, als Haus und Hof im Stiche zu lassen und zu den Briganten zu gehen. Und Ruggiero Pinto nahm ihn in seiner Bande auf, wie jeden, der vertrauensvoll sich ihm zuwandte, blinden Gehorsam gelobte und keinen Makel an seiner Ehre haften hatte. Mörder und Totschläger galten als unbemakelt, während Diebe und Räuber dem Riesen nicht würdig genug erschienen, um das ehrliche Brigantenhandwerk zu betreiben. An Carlo Lombardi hatte er nichts auszusetzen.

Der Gatte der schönen Gemma erwies sich auch bald genug als ein wackerer Kumpan und nutzbringender Helfershelfer, so daß die Briganten die Stunde segnen mußten, wo er zu ihnen gestoßen. Nur wurde er oft von verlangender Sehnsucht nach seinem Weibe arg heimgesucht und hatte dann seine schweren Stunden; ja, schließlich, da diese letzteren immer häufiger auftraten, verfiel er in völlige Schwermut und mußte dem Hauptmann endlich erklären, es bleibe ihm nichts übrig, als sich, auf die Gefahr hin, seinen Verfolgern in die Hände zu fallen, zu seinem Weibe zu begeben, ja, es sei fraglich, ob er dann überhaupt noch zurückkehren werde und es nicht vorziehe, sich lieber ein Eisen zwischen die Rippen stoßen zu lassen, anstatt weiter von seinem Weibe getrennt zu sein. Und von solchem verzweifelten Vorhaben war er durch keine Ermahnungen, keine Drohworte und keine Beschimpfung abzubringen, woran es die Kameraden, und allen voran Ruggiero Pinto, wahrlich nicht fehlen ließen. Lieber wollte er ihnen als ein Feigling und verächtlicher Weiberknecht erscheinen, als solch' ein Leben ohne die schöne Gemma weiterführen.

Unter diesen Umständen kamen die Briganten, die den tapferen und umsichtigen Genossen um keinen Preis verlieren wollten, auf den Gedanken, die schöne Gemma selber in's Lager zu rufen und sie bei sich zu behalten, damit Carlo Lombardi von seiner krankhaften Sehnsucht und Schwermut geheilt würde. Nun wollte Ruggiero zwar von einer solchen Ausnahme, die um des einen Schwächlings willen gemacht werden sollte, bei seiner strengen Unerbittlichkeit nichts wissen, zumal er nicht nur fürchtete, daß alsbald jeder als sein Recht fordern würde, was dem einen gewährt worden war, sondern auch, daß die Anwesenheit eines Weibes, – und nun gar eines so jungen und schönen Weibes, wie Gemma Lombardi es war, – die Mannszucht im Lager lockern und unter den Männern Hader, Eifersucht und Liebeleien hervorrufen werde. Das aber verschworen sie alle und wollten jedes härteste Strafgericht gern über sich ergehen lassen, falls sie ihr Versprechen brächen und als schwach befunden würden; auch sollte es nur auf einen Versuch ankommen und der Hauptmann jederzeit ermächtigt sein, das Weib wieder auszutreiben, sobald sich dessen Anwesenheit im Lager als unheilvoll erwiesen habe. Da Ruggiero auch auf solchen Vorschlag einzugehen zögerte, mußte er erleben, daß seine Leute zum erstenmale gegen ihn murrten, und schließlich sich den Argwohn gefallen lassen, dem einer von den Briganten offen ihm in's Gesicht Worte gab, er selber, der Hauptmann, fürchte ganz allein die Gegenwart eines schönen, jungen Weibes im Lager, und dies um so mehr, als er zu deren einstigen, abgewiesenen Freiern gehöre, oder aber er wolle sich durch seine Weigerung für den damals ihm angethanen Schimpf jetzt an dem Weibe und seinem bevorzugten Nebenbuhler rächen. Das gab den Ausschlag. Solch' einen wohlbegreiflichen Verdacht mochte der Gigant, der die Weiber alle gleicherart verachtete und nie ein Hehl daraus gemacht hatte, nicht auf sich ruhen lassen. Mit einem verächtlichen Lächeln willigte er darein, daß Carlo Lombardi sein Weib zu sich rief, im Stillen immer noch voller Hoffnung, die schöne Gemma werde solchem Rufe nicht Folge leisten wollen.

Darin aber hatte er sich einer Täuschung hingegeben. Carlo Lombardi's Weib zögerte nicht, zu ihrem Manne zu kommen. Weder die mannigfachen Gefahren, denen sie entgegenging, noch die Entbehrungen und Schrecknisse des Lagerlebens, noch das Zusammensein mit allen diesen wilden und wüsten Männern, die jede Stunde dem Tode in's Gesicht sahen und ihr Leben allein auf ihre Büchse gestellt hatten, konnte sie davon abhalten. Sie kam, geschmückt wie zu einem Feste, in ihrer besten Gewandung, ein Bündel mit wenigem Hausrat und etlichem Leinwandzeug auf dem Kopfe. Mit raschen Schritten war sie dem Briganten, der ihr die Botschaft gebracht und dann zum Führer gedient hatte, auf dem weiten und beschwerlichen Wege gefolgt, ohne je zu ermüden oder auch nur ein unmutiges Wort über die Fährnisse und Schwierigkeiten der Wanderung zu verlieren. Frisch und blühend, als ob sie von Fortone aus nur einen Gang in's Feld gemacht, voller Lebensmut und froher Zuversicht, weder angstvoll-verwundert, noch über ihre Berufung aufgeregt, erschien sie im Lager, gerade als ob sie es lange so erwartet habe, und als ob es anders überhaupt nicht sein könne. Ihre Haltung war dabei vornehm und stolz, wie immer, und sie trat gleich einer Königin unter die Männer, die sie mit ruhiger Würde begrüßte.

Als sie dem Hauptmann die Hand zum Gruße bot, sagte sie: »Ich höre, daß Ihr sonst keine Weiber bei Euch duldet. Ich danke Euch, daß Ihr es mir gewährt, hier zu sein, und Ihr dürft nicht fürchten, daß Ihr dies je bereuen werdet.«

Dabei sahen ihre großen, schwarzen Augen ihm klar und ernst in's Gesicht, und mit kühlem Anstand trat sie von ihm zurück. Ruggiero hatte ihr kein Wort erwidert. Seine Züge waren finsterer zusammengezogen als je, und ein düsteres Feuer glomm in seinen Augen. Von dem Tage an sah man ihn nie mehr lächeln.

Gemma aber ging alsbald daran, sich in dem Lager häuslich einzurichten. Sie hatte schnell einen Platz in dem Gefels aufgefunden, wo sie mit Carlo Lombardi, etwas abseits von den übrigen, unter dem Schutze überhangenden Gesteins, das ihnen einen grottenähnlichen Unterschlupf bot, gemeinsam hausen konnte. Sie waren dort beide wie in ihrem eigenen Reich. Vor den anderen Männern gestattete Gemma Carlo Lombardi niemals die geringste Vertraulichkeit, dort aber lebten sie in zärtlicher Gemeinschaft, wie zwei Neuvermählte, die Liebe zu einander geführt hat, und weder Neugier noch Spottsucht belästigten sie. So schwand Carlo Lombardi's Schwermut bald genug und machte einem freudigen Lebensmute Platz.

Die Männer kamen dem jungen Weibe alle mit jenem aus Achtung und Scheu gemischten Wohlwollen entgegen, das ihre Haltung und ihr Gebahren von ihnen erzwang. Keiner von ihnen trat ihr je zu nahe, sei es mit einem Worte oder auch nur mit einem Blicke; das Glück des Paares wurde auf keine Weise gestört, und des Hauptmanns Befürchtungen, die sich an die Anwesenheit eines jungen und schönen Weibes im Lager geknüpft, erwiesen sich als völlig unbegründet. Der ritterliche Sinn, der in den Briganten lebte, bewährte sich bei der Frau, der gegenüber jeder gleichsam für den anderen bürgte, auf's Glänzendste. Auch Carlo Lombardi war nie unterhaltungslustiger und nie waghalsiger gewesen, als eben jetzt. Nur Ruggiero Pinto verhielt sich voll trotziger Ablehnung, ja, es schien, als ob die Überzeugung, daß er sich in seinen argwöhnischen Vermutungen getäuscht, und daß die Wirklichkeit alle seine Sorgen zu Schanden machte, ihn nur noch mehr erbitterte als früher. Er verlor nie ein Wort an die einzige Lagergenossin, um die alle die anderen sich so geschäftig mühten, ja, er schien sie überhaupt gar nicht zu sehen, zollte ihr in keinem Falle irgend welche Beachtung. Wortkarger und finsterer, als er je gewesen, erteilte er seine Befehle und brütete er in müßigen Stunden, wenn die anderen sich mit Würfelspiel und Karten die Zeit kürzten, einsam vor sich hin. Nur manchmal, wenn er sich von keinem beobachtet wußte, hingen seine Augen an dem jungen Weibe, und dann glühte es heiß und wild in ihrer Tiefe auf, wie wenn ein unbezähmbarer Haß gegen sie in der Seele des starken Mannes wohne.

So verging etliche Zeit, als sich die Männer im Lager mit einem gutmütigen Lächeln ein großes Geheimnis unter einander zuraunten, das sich nicht lange mehr würde vor dem Lichte des Tages verbergen lassen. Ja, sie berieten mitsammen und unter schließlicher Zuziehung Carlo Lombardi's, ob es nicht nötig sein werde, Gemma für einige Wochen aus dem Lager fort zu senden, damit sie ihre schwere Stunde in der Nähe befreundeter Weiber erlebe. Aber Carlo Lombardi fürchtete, daß sein Weib, weil es ihm gefolgt und unter die Briganten gelaufen war, von den Sbirren drangsaliert werden könne, und daß man sie dann zum zweitenmale nicht wiederum werde in die Berge flüchten lassen. Und Gemma selber, als man ihr von den vorsorglichen Plänen und Ratschlägen der Männer Kunde gab, erklärte mit ruhiger Entschiedenheit, daß sie nicht gehen, sondern ihre schwere Stunde im Lager erwarten werde, denn das Weib eines Briganten gehöre in solcher Stunde enger als je zu ihrem Manne, gerade so, wie jedes andere Weib auch, und da ihr Kind eines Briganten Kind sein werde, sei das Lager der beste und geeignetste Platz für seine Geburt. So mußte man sie gewähren lassen.

Und Gemma Lombardi bewies, daß sie ebenso starken Geistes als Körpers war. Denn selbst in ihrem jetzigen Zustande ertrug sie klaglos und ohne Murren die mancherlei Strapazen ihres gefahrvollen Daseins; und da es sich gerade traf, daß die Briganten infolge eines verunglückten Ricatto ihren Lagerplatz ganz verlassen und sich in eine andere Gegend des einsam-wilden Felsgebirges zurückziehen mußten, um die Verfolger nicht auf ihre Spur zu bringen, machte sie den anstrengenden und die ganze Gewandtheit der geübten Bergbewohner erfordenden Marsch rüstig mit, ohne sich zu schonen oder vor den Männern zu ermatten. Solch ein ungewöhnlicher Kraftbeweis machte sie vollends den sie anstaunenden Briganten gegenüber zu einer Art von Wundererscheinung, und es fehlte nicht viel, daß man sie im Lager bald wie eine Heilige angebetet hätte.

Unter solchen zwiefach erschwerenden Umständen genas Gemma Lombardi in einer Felshöhlung des wilden Gebirges, um viele Miglien von jedweder menschlichen Siedelung entfernt und ohne jeglichen Beistand eines Kindes. Es war ein Knabe, und er erschien so kräftig und wohlgestaltet, wie ihn ein in Liebe vereinigtes Elternpaar sich nur hätte wünschen können. Als Carlo Lombardi von einem Streifzuge, an dem er mit etlichen anderen teilgenommen, heimkehrte, fand er seinen Sohn schon vor, und es war ihm schier zu Mute, als müsse er niederknieen und das Kind anbeten, so ganz, meinte er, ähnelte hier alles der Geburt des Heilandes, und Gemma kam ihm vor wie die heilige Gottesmutter in ihrer Anmut und Würde sowie in dem Ausdruck strahlenden Glückes auf ihrem blassen Antlitz. Und die Briganten, die der glückselige Vater alsbald in seiner freudigen Aufregung herbeirief, kamen mit andächtigen Mienen, fast feierlich gestimmt, heran und betrachteten sich schweigend das Wunder, nicht anders, als die Hirten vom Felde dereinst das Jesuskind, das da nackt und bloß in einer Krippe lag, betrachtet haben mochten. Es war ein Tag allgemeinen Jubels im Lager der Briganten.

Nur Ruggiero Pinto wies die Aufforderung, sich gleichfalls das Neugeborene zu betrachten, mürrisch zurück. Er ließ vielmehr seinem Grimme über solch einen Zuwachs im Lager freien Lauf und verwünschte die Stunde, wo er sich hatte beschwatzen lassen, das Weib aufzunehmen. »Es fehlte nur noch, daß Ihr jetzt alle zu Kindsmägden werdet!« schrie er den Männern zu, »zu Weiberknechten seid Ihr schon geworden!« Und wahrlich schien's, als hätten die rauhen Burschen nicht übel Lust, einander den Rang bei Wartung und Pflege des Kindes abzulaufen, das sie eigentlich alle als gemeinsames Gut und Eigentum betrachteten und als solches zärtlich und eifersüchtig behüteten. Gar kein seltener Anblick war's, daß einer von den wilden, bärtigen Männern, der Dolchmesser und Pistolen im Gurt trug und die Büchse über der Schulter hängen hatte, das Kind lachend in seinen Armen wiegte oder auf den Knieen tanzen ließ. Und wenn dann in der Öffnung der Höhle, die als Wohnraum, Küche und Schlafgemach zugleich für die kleine Familie diente, das junge, schöne Weib lehnte, das seit ihrer Mutterschaft noch um vieles bestrickender in ihrer Schönheit geworden zu sein schien, um voll freudiger Rührung solchem anmutigen Schauspiel zuzusehen oder es dem gleichfalls glückstrahlenden Gatten zu weisen, so hätte man glauben können, daß es sich mitten in der öden und traurigen Wildnis um eine liebliche Idylle handelte, während doch alle die hier Hausenden aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen waren, blutige Thaten auf ihre Seele geladen hatten und jede Stunde darauf gefaßt waren, neue zu begehen und ihr vogelfrei erklärtes Leben so teuer als möglich zu verkaufen.

Wenn Ruggiero Pinto schon dem früheren Verhältnis der Hochachtung und Ehrfurcht, in welchem die Briganten zu Gemma Lombardi standen, mit schlecht verhehltem Ingrimm und wildem Spotte zugeschaut hatte, so erbitterte ihn die Abgötterei, welche die Männer nunmehr mit dem Kinde dieses Weibes trieben, nur noch gewaltiger, und wenn er Carlo Lombardi's Weib schon gehaßt hatte, haßte er jetzt ihren Sohn noch mehr. Vielleicht waren es auch gerade diese Verbitterung und dieser Groll, die ihn in eine innere Unruhe versetzten, der er nicht anders Luft schaffen konnte, als daß er immer neue und immer kühnere Unternehmungen plante und die Männer dazu stachelte, sie zur Ausführung zu bringen. Dabei ging er nach der Ansicht der letzteren oftmals weit über alles vernünftige Maß hinaus, und die älteren unter ihnen mußten ihm ernstliche Vorhaltungen darüber machen, daß er das Leben seiner Leute zu waghalsig auf's Spiel setze und die ganze Sache des ehrlichen Brigantaggio gefährde. Dann aber geriet Ruggiero erst vollends in Wut, hieß sie Memmen und Feiglinge, die sich von einem Weibe knechten ließen und allen Wagemut über dem Getändel mit Säuglingen eingebüßt hätten, und war zu manchen Malen nahe daran, seine Hauptmannswürde niederzulegen, weil es nicht mehr ehrenvoll für ihn sei, weibisch-verweichlichte Männer noch länger anzuführen. Nach solchen Auftritten kam es zwar immer wieder zur Aussöhnung, aber oft fügten sich die Briganten nur noch knirschend in die Befehle ihres Hauptmanns, der jetzt mit ihrem Leben schaltete und waltete, als wäre nicht eben viel daran gelegen, ob es ihrer ein Dutzend mehr oder weniger gab.

Vor allem war es Carlo Lombardi, der sich jetzt ungern zu so gefährlichen Aufgaben aussenden ließ, wie Ruggiero sie gerade für ihn vorzugsweise auszusuchen schien, wie um seinen Mut und seine Thatkraft auf die Probe zu stellen, ob beide auch nicht unter der Anwesenheit seines Weibes und seit der Geburt seines Sohnes gelitten hätten. Carlo Lombardi war sich bewußt, daß dies nicht der Fall sei, und daß er noch heute in jeder Gefahr und bei jeder Kraftleistung, in Treffsicherheit, in List und Tollkühnheit seinen Mann stehe wie nur je, aber er wollte leben, – seit er Vater geworden war, wollte er es mit noch heißerem Verlangen, als zuvor. Und was Ruggiero Pinto ihm auftrug, hieß manchmal nichts anderes in seinen Augen als: »Geh' hin und lasse dich tot schießen!« Dazu verspürte er keine Neigung. Und einmal sagte er's dem Hauptmann gerade in's Gesicht: »Es sieht fast so aus, als möchtest du mich um jeden Preis aus der Welt schaffen!« Es war in halbem Scherz gesagt worden, aber Ruggiero's Augen funkelten bei den Worten, wie die eines beutegierigen Raubtieres auf, und der Atem ging ihm wie ein Zischen aus der Brust. Seine Faust hatte sich drohend erhoben, und es sah sekundenlang aus, als wolle er mit einem einzigen wuchtigen Hiebe den Frechen niederschlagen, der ihm zu trotzen gewagt hatte. Und dazu wäre er bei seinen riesigen Körperkräften gar wohl imstande gewesen. Dann aber schien er sich eines besseren zu besinnen, und ein verächtliches Lächeln spielte um seinen Mund. »Nein,« sagte er, während der Atem ihm stoßweise aus der Brust kam, »nein ich will dich von jetzt an nur noch als Kindsmagd verdingen, Carlo Lombardi!« Und achselzuckend wandte er ihm den Rücken.

Das aber stachelte den Ehrgeiz des Verspotteten nur wieder auf's Neue, und um sich von dem Verdachte reinzuwaschen, als ob er durch Weib und Kind zum Schwächling geworden sei, erbot er sich nun freiwillig und forderte es sogar als sein gutes Recht, zu der nächsten gefährlichen Mission ausgesandt zu werden, um allen beweisen zu dürfen, daß er noch immer und ganz der Alte sei. Das nahm Ruggiero scheinbar gleichmütig auf. Als es sich aber traf, daß eine Schleichpatrouille ausgesandt werden sollte, um das Lager der Karabinieri zu entdecken, die in letzter Zeit im Felsgebirge selber sich eingenistet hatten, um von dort aus einen Kampf bis aufs Messer mit den Briganten zu wagen, die ihnen nirgend Stand hielten, fragte er Carlo Lombardi, ob er zu solchem Unternehmen bereit sei, das freilich einen ganzen Mann fordere, da man mangels Nachrichten über die Richtung, welche die Sbirren zuletzt eingehalten, darauf gefaßt sein müsse, ihnen plötzlich einmal gegenüberzustehen, ohne sich mehr decken zu können, so daß in der Flucht dann die einzige Rettung liege; diese aber verlange wiederum viel Umsicht und Verschlagenheit, um die Sbirren nicht dadurch auf die Spur der Briganten zu bringen.

Carlo Lombardi erklärte, daß er sich eine glückliche Erledigung dieser schwierigen Aufgabe gar wohl zutraue, und daß man anderen Tages das Lager der Karabinieri kennen werde. Er war sehr zuversichtlich, küßte Weib und Kind und nahm lachend Abschied von den Kameraden, wie wenn er zu einem Besuche nach Fortone ginge, um dort ein Fest mitzufeiern. Ruggiero selber aber lag schlafend auf seinem Mantel zur Stunde, als Carlo Lombardi fortzog, und da man ihn nicht wecken wollte, trennten sich die beiden, ohne noch ein Wort oder einen Gruß gewechselt zu haben, von einander.

Anderen Tages zeigte der Hauptmann sich so unruhig, wie man ihn noch nie gesehen, seit er in die Felsberge gekommen war. Es verging keine halbe Stunde, wo er nicht nach Carlo Lombardi gefragt hätte, ob keine Botschaft von ihm eingetroffen sei, ob man nichts von ihm wisse. Was hätte man von ihm wissen sollen! Als der Tag sich neigte, war Ruggiero's Unrast bis zum Höchsten gestiegen, und während Carlo Lombardi's Weib ahnungslos und friedlich in ihrer Felshöhle, ihr Kind an der Brust, schlummerte, wanderte er ruhelos hin und her, spähte in die Nacht hinaus und verriet durch alle seine hastigen Bewegungen, mit denen er bald das Messer im Gurt lockerte, bald den Hahn seiner Büchse untersuchte, durch seine abgerissen hervorgestoßenen Worte, die man sich nicht zu deuten wußte, daß ein Sturm in seinem Innern entfesselt war, den die anderen, die ihn verwundert beobachteten, nicht wohl zu begreifen vermochten. Hatte er doch bis dahin bei jeder Gefahr eine Kaltblütigkeit gezeigt, die alle beschämt hatte, und noch nie den Tod eines Kameraden sonderlich schwer aufgenommen.

Als die Nacht hingegangen war, ohne daß sich das Geringste ereignet hätte, was auf ein Gelingen oder Mißlingen der Aufgabe gedeutet werden konnte, zu welcher Carlo Lombardi ausgesandt war, liefen leise Beratungen zwischen den Briganten um, was nun zu thun sei. Ruggiero selber hatte sich niedergestreckt und schien zu schlummern. Als aber ein paar von den Männern an ihn herantraten, um auch mit ihm Rats zu pflegen, schlug er die Augen groß auf und fragte, unruhig von einem zum andern schweifend, mit heiserer Stimme: »Ist er tot?«

»Wir wissen es nicht, Hauptmann,« sagte der schwarze Cino, der als der Älteste in der Bande an Ansehen Ruggiero zunächst stand, »aber wir meinen, man muß nach ihm aussenden.«

»Wozu?« Ruggiero stieß das so zornig heraus, daß die Männer sich verwundert untereinander anblickten.

Dann, ehe noch einer von ihnen etwas entgegen konnte, fügte er plötzlich hinzu: »Ihr habt recht. Wer von Euch will ihm nach?«

Dazu erboten sich alle gleicherart. Ruggiero hieß sie, das Loos entscheiden zu lassen und zu Dreien auf Kundschaft auszuziehen. Die Signale wurden verabredet, und die näheren Bestimmungen getroffen. Der Hauptmann zeigte dabei zu aller Befriedigung wieder ganz die kalte Ruhe und umsichtige Klarheit, durch die er von jeher alle zur Bewunderung und zum Respekt gezwungen. Eine Stunde später waren die drei Männer, deren Führung der schwarze Cino übernommen, schon unterwegs.

Von all diesen Vorgängen erfuhr Gemma Lombardi nichts, wie sie denn von den Befürchtungen und Sorgen um den Ausgebliebenen, die jeder vor ihr ängstlich geheim hielt, noch nichts ahnte. Das Fernsein ihres Gatten betrübte sie, aber an eine Gefahr für ihn dachte sie um so weniger, als er voll lächelnder Zuversicht von ihr gegangen war. Erst als der dritte Tag seit Carlo Lombardi's Abschied vorüber war, ohne daß ihr die geringste Kunde über ihn geworden, ward sie unruhig, und da nun ein leiser, schreckensvoller Argwohn in ihrer Seele aufzukeimen begann, konnten ihr auch die besorgten Mienen der Männer, deren Blicke den ihrigen auswichen, nicht mehr entgehen. Mit einem Male wußte sie, wie es stand. Und nun trat sie vor Ruggiero hin, der sie mit scheuen, düsteren Blicken empfing, und fragte, ihm gerade in's Gesicht starrend: »Wo ist Carlo Lombardi?«

»Wir wissen es nicht,« war die Antwort.

»Ist Carlo Lombardi tot?

»Ich sage Euch: wir wissen es nicht.«

»Ist man gegangen, ihn zu suchen?«

»Seit zwei Tagen sind sie unterwegs.«

»Und keine Botschaft?«

»Keine.«

»Was denkt Ihr also?« Ihr Auge wich bei alledem auch nicht sekundenlang von seinem Antlitz.

»Nichts.«

»Denkt Ihr, daß Carlo Lombardi tot ist, Ruggiero Pinto?«

Er gab keine Antwort mehr. Da wiederholte sie ihre Frage, sie schrie sie ihm förmlich in's Gesicht. Er aber zuckte wortlos mit den Achseln, wandte sich ab und verließ sie.

In der Nacht, die diesem Tage folgte, kamen die Männer zurück. Sie fanden den Hauptmann wach und ihrer harrend. »Er ist tot,« sagte der schwarze Cino.

Da löste sich ein Ächzen von Ruggiero Pinto's Brust. Es klang halb wie das Stöhnen eines waidwunden Tieres, halb wie der Triumphschrei eines Siegers im Kampfe. »Woher habt Ihr's?« fragte er dann schwer atmend.

»Sie haben ihn erschossen,« kam Cino's Antwort, »und seinen Leichnam öffentlich in Chiazza ausgestellt zu abschreckendem Beispiel. Ob es zu einem Kampfe gekommen, oder ob er aus dem Hinterhalte niedergestreckt worden, erfuhren wir nicht. Heute haben sie ihn verscharrt.«

Ruggiero murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen, aber seine Augen gingen an den Männern vorbei in's Leere. Er hatte sich auf seinen Ellenbogen aufgerichtet, den Schlapphut im Gesicht, den Mantel um die Schultern. »Bring' es ihr bei, Cino,« sagte er endlich, »ich kann's nicht. Mich wird sie für seinen Mörder halten.«

»Das ist ein hartes Stück, Hauptmann.«

»Muß aber doch sein. Und über die Sbirren habt ihr nichts ausgekundschaftet, Cino?«

»Doch. Und wir müssen auf unserer Hut sein. Sie haben ihr Lager bei den grauen Klippen. Alles deutet darauf hin, daß sie einen Hauptanschlag gegen uns vorhaben. Sie sind tollkühn und siegesgewiß, wie nie.«

»Wir wollen sie schon mit blutigen Köpfen heimschicken!« rief Ruggiero, und er lachte hinterdrein, wie wenn es sich um einen tollen Spaß handelte, den man ihm berichtet. Seine Unrast schien jetzt vollends von ihm gewichen. Seine Sehnen waren von Kampfbegierde und Thatenlust wie geschwellt, ein heißes Verlangen nach etwas neuem und großem durchglühte ihn. Den ganzen Rest der Nacht verbrachte er mit den Männern in ernsten Beratungen und mit verwegenen Plänen.

Indes ging der schwarze Cino zu Gemma Lombardi. Er hatte sich auf eine schwere Stunde vorbereitet und ernstlich darüber gesonnen, wie er seine Unglücksbotschaft einleiten solle. Eine ganze Geschichte hatte er zu diesem Zwecke schon erfunden, die er ihr vortragen wollte. Aber das blieb ihm erspart. Zu seiner größten Verwunderung fand er das Weib jetzt, mitten in der Nacht, wach vor dem Eingang der Felsgrotte stehen, wie wenn sie auf ihn wartete; und doch hatte sie nichts von dem hören können, was zwischen dem Hauptmann und ihm selber geredet worden war, und das Kommen der Männer, die absichtlich einen anderen Zugang zum Lager gewählt hatten, um nicht bei ihrer Höhle vorüber zu müssen, konnte nicht von ihr belauscht sein. So blieb Cino betroffen stehen und starrte sie an. Ihre Augen aber gingen durch das Dunkel gerade in sein Gesicht hinüber und ihre Lippen sagten: »Carlo Lombardi ist tot, nicht wahr?« Da gab der schwarze Cino nur ein kurzes »Ja« zur Antwort. Dann erwartete er, daß sie einen wilden Schrei ausstoßen, daß sie sich verzweifelt zur Erde werfen und das Haar zerraufen werde, ja, er traute ihr zu, daß sie über ihn selber herfallen und ihn mit ihren Händen zu zerfleischen versuchen werde, um dem Boten das entgelten zu lassen, was er gemeldet hatte, und um nur den Sturm ihrer Seele, allen Groll und allen Jammer, alle Wut und alle Verzagtheit austoben zu lassen. Er hätte das nur natürlich gefunden, und er wappnete sich dagegen. Doch abermals kam es anders. »Erzähle mir alles!« sagte das Weib nach einer Weile, und sonst kein Wort.

Dann berichtete ihr der Brigant, was er wußte, und sie hörte ihm schweigend zu, ohne durch ein Aufschluchzen, ohne durch eine Bewegung einmal, ihren Anteil an dem zu verraten, was sie vernahm. Als sie sich das ganze hatte erzählen lassen, bot sie dem schwarzen Cino die Hand und sagte: »Ich danke dir.« Das war alles. Und die Hand, die der Mann in der seinen fühlte, war eiskalt.

Ihm war ihre Ruhe unheimlich, Er fragte sie, ob er nicht etwas für sie thun könne, ob sie Botschaften auszurichten habe, ob sie nun nach Fortone zurückzugehen gedenke. Sie aber antwortete auf alles mit einem »Nein«, und so verließ er sie.

In der gleichen Starrheit, die sie dem Unglücksboten gegenüber gezeigt, trafen auch die übrigen Briganten Gemma Lombardi an, als sie nach Tagesanbruch kamen, einer nach dem andern, um ihr Trost einzusprechen und mit ihr über den Toten zu reden, der ihnen allen ein guter Kamerad gewesen war. Gemma Lombardi hatte noch keine Thräne vergossen. Sie hörte auch alles freundlich mit an, was man zu ihr sprach, aber sie gab kaum einmal eine Erwiderung; wie ein Steinbild erschien sie den Männern.

Zuletzt kam Ruggiero Pinto. Auch er begann davon zu reden, welch' ein trefflicher Genosse Carlo Lombardi gewesen sei, und wie schwer man ihn in der Bande vermissen werde. Da unterbrach ihn Gemma plötzlich mit dem zornigen Ausruf: »Lügt nicht, Ruggiero! Mir gewährt ihr keinen Trost dadurch, und die Madonna rechnet Euch die Sünde an!«

»Wie versteht Ihr das?« fragte er, sie düsteren Blickes von unten herauf anstarrend.

»Ihr seid zufrieden, daß Carlo Lombardi tot ist, Ruggiero Pinto!«

»Ihr raset!«

»Ich weiß, daß ich wahr spreche, und Ihr wißt es auch.«

»Weshalb sollte ich froh sein, daß Carlo Lombardi tot ist? Er war der Tapfersten einer bei uns!«

Sie gab keine Antwort mehr, aber sie sah ihn an, und er schlug vor ihrem Blicke seine Augen nieder. »Ruggiero Pinto,« sagte sie nach einer Weile, nachdem sie hin und wieder geschritten war, und blieb nun dicht vor ihm stehen, da er immer noch nicht ging, »wißt Ihr auch, daß ich denken könnte, Ihr hättet ihn absichtlich in den Tod geschickt?«

»Gemma!« schrie er auf.

»Hättet gewußt, er werde bei dem Auftrage, den er erfüllen sollte, zu Grunde gehen?« fuhr sie unerbittlich fort. Sie hatte die Arme über der Brust gekreuzt, ihre Augen glühten auf ihn herab, der, auf einem Felsblock gekauert, ihr zu Füßen saß.

»Warum?« ächzte er, »warum hätte ich das gethan?«

Sie lächelte; aber es war ein wildes, grausames Lächeln. »Ruggiero Pinto,« sagte sie, »ehe Carlo Lombardi mich zum Weibe begehrte, begehrtet Ihr mich, und ich schlug Euch aus, trotzdem ich wußte, daß Ihr mich liebtet.«

»Ich liebe Euch nicht mehr, Gemma Lombardi.«

»Um so besser für Euch.« Und verächtlich wandte sie sich von ihm.

Ruggiero verließ sie, und sie sah ihn während der nächsten Tage nicht wieder. Durch die anderen Briganten aber erfuhr er, daß Gemma nicht nach Fortone zurückkehren werde. Ihr Sohn sollte unter den Briganten aufwachsen, um dereinst seinen Vater an den Sbirren rächen zu können, die ihn erschossen hatten. Auch drohte dem Weibe des Briganten, das alle Raubzüge mit ihm geteilt hatte, Gefahr, falls sie heimkam, ohne zur Verräterin an denen werden zu wollen, unter denen sie gelebt. Die Männer hatten ihr alle geraten, zu bleiben, und ihr eigener Entschluß begegnete sich mit dem, was sie für heilsam und notwendig hielten. Ruggiero erhob keinen Widerspruch, aber er äußerte auch kein Wort der Billigung. »Einer von Euch sollte sie zum Weibe nehmen!« rief er mit rauhem Lachen, »aber schlagt Euch nicht unter einander tot um sie.«

»Am besten wär's, sie steckte sich in Männerkleider,« meinte der schwarze Cino, »denn sie ist mehr Mann als Weib, und keiner würde sie dann mehr erkennen oder begehren.«

Aber Gemma blieb nicht nur im Lager, sie blieb auch als Weib dort. Und die gefahrvollen Abenteuer und tollen, anstrengenden Raubzüge, die sich gerade jetzt in wildem Wechsel folgten, bestand sie alle gemeinsam mit den Männern, ihr Kind auf dem Rücken, ihre Büchse über der Schulter. Schonung konnte man ihr nicht angedeihen lassen, und sie verlangte sie auch nicht; widerstandslos fügte sie sich in alles, nie ermüdend, immer gleich unerschrocken und mutvoll. Die Briganten blickten mit Stolz und Bewunderung auf sie. Nur Ruggiero Pinto schien sie gar nicht zu sehen, von ihrer Anwesenheit nichts zu wissen. Wenn die anderen Männer sie rühmten, verharrte er in dumpfer Schweigsamkeit.

Dann war's einmal in einer schwülen Nacht, als sie nach langem, schwierigem Marsch durch die unwegsame Wildnis, auf der Flucht vor einer an Zahl ihnen weit überlegenen Karabinieri-Abteilung mitten im öden Felsgeklipp sich zu kurzer Rast niedergestreckt hatten.

Die Männer schliefen alle. Bleierne Müdigkeit hatte sie überwältigt, kaum daß sie sich zu Boden geworfen. Nur Ruggiero Pinto wachte. Er selbst hatte es für diese Nacht übernommen, den Wachtposten zu spielen, weil er wußte, er würde sich auf keinen von den Männern mehr verlassen können. Ihm selber wogte das heiße Blut noch immer zu ungestüm in den Adern, als daß er hätte schlafen können, selbst wenn er gewollt; der Scirocco hatte tagsüber einen Feuerbrand in ihm entzündet, den die noch immer glühende Luft der Sommernacht weder zu kühlen, noch zu dämpfen vermochte. Rastlos schritt er hin und wieder zwischen den Schläfern, starrte er in die wolkenumgraute, kaum hie und da von einem matten Sternbild durchblitzte Himmelsdecke empor und spähte in die lautlose Ferne hinaus. Er vernahm nichts, als einmal den Schrei eines Bergadlers aus dem nahen Horste. Der aber mußte wohl das Kind aufgeweckt haben, das mitten unter allen Fährnissen des Lebens der Vogelfreien munter heranwuchs, und als dessen Vater und Beschützer sich jeder einzelne von den Briganten betrachtete. Denn Ruggiero hörte jetzt ein leises Weinen durch die Nachtstille von dem Platze her, wo Gemma Lombardi sich zur Ruhe niedergelegt hatte. Er kannte den Platz sehr gut, wenn er sich auch immer den Anschein gab, als wisse er nichts von dem Weibe und ihrem Kinde, und er dulde sie wohl, weil es die anderen so wollten, doch sie kümmerten ihn nichts. Jetzt schritt er geräuschlos darauf zu, und hinter einem ragenden Felszacken lehnend betrachtete er das Weib, mit dem er seit jenem Tage, da die Männer die Botschaft von Carlo Lombardi's Tod gebracht hatten, noch kein Wort wieder getauscht.

Gemma wiegte das Kind, leise ein Lied summend, in ihren Armen hin und her, bis es ruhiger ward. Sie that das mit der stillen Anmut, die allen ihren Bewegungen eigen war, und die Zärtlichkeit einer großen und echten Mutterliebe redete aus ihren Blicken und Mienen. Ruggiero fühlte plötzlich, da er es wahrnahm, etwas in sich aufsteigen, was er bis dahin in seinem Leben nie gekannt und nie empfunden; ein heißes, irres Verlangen trieb ihn von seinem Platze auf, und das Herz klopfte ihm in der Brust, wie wenn ihm ein wuchtiger Hammer dagegen schlüge. Dann stand er dicht vor dem Weibe. »Gemma!« rief er sie leise, und da sie ihn nicht gleich hörte, sondern noch immer in dem Anblick ihres jetzt wieder eingeschlummerten Kindes versunken war, noch einmal: »Gemma Lombardi!«

Da richtete sie sich aus ihrer gebeugten Stellung auf und sah zu ihm hinüber. Sie zeigte keine Überraschung oder Bewegung bei seinem Anblick, nur ein ganz leises, triumphierendes Lächeln um ihre schön geschwungenen, vollen Lippen verbarg ihm das Nachtdunkel. Sie blieb sitzen, die Arme leicht über dem Busen ineinander verschränkt, während er vor ihr stand, den mächtigen Kalabreser in den Nacken geschoben, die Linke am Büchsenkolben, indes die Rechte in dem dunklen Barte wühlte. Er sprach nicht; es gewährte den Eindruck, als fände er keine Worte, oder das Übermaß derer, die sich ihm zudrängten, ließen ihn das rechte für diesen Augenblick nicht erfassen. »Wollt Ihr etwas von mir, Ruggiero Pinto?«

»Ich muß mit Euch reden,« Es klang wie ein Stöhnen, wie ein Aufringen gegen einen Bann, der den starken, großen Mann gelähmt hielt.

»Jetzt? Bei Nacht? Mich dünkt, dazu hättet Ihr Tagsüber Muße genug gehabt. Weshalb schwiegt Ihr da? Aber redet nur, ich will Euch anhören.«

Ruggiero konnte noch immer nicht sprechen. Seine Brust ging stürmisch auf und nieder, aber seine Lippen lagen krampfhaft übereinandergepreßt. Endlich sagte er mit ganz rauher Stimme: »Ich habe Euch neulich belogen, Gemma Lombardi, als ich Euch sagte, ich liebte Euch nicht mehr. Ich liebe Euch doch noch.«

Er schien zu erwarten, daß sie darauf etwas erwidern würde, vielleicht sogar, daß sie ihn heißen würde, von ihr zu gehen. Aber sie blieb ganz stumm, sie regte sich nicht einmal.

»Gemma,« fing er deshalb nach kurzem inneren Kampfe von neuem an, »Carlo Lombardi ist todt, Ihr seid ganz allein und könnt nicht mehr nach Fortone zurück. Es ist nicht gut, daß Ihr immer allein und unvermählt bleibt unter all' den Männern.«

Wieder machte er eine Pause. Und nun erwiderte sie ganz ruhig: »Ich bin nicht allein, ich habe mein Kind.«

Sie hörte, daß seine Zähne aufeinanderknirschten. »Wollt Ihr also keinem anderen Mann je wieder angehören?« fragte er nach einer Weile. Es lag beinahe etwas wie Hohn in seinen Worten.

»Ich weiß es nicht. Ich habe noch nicht daran gedacht.«

»Habt Ihr Carlo Lombardi noch nicht vergessen?«

»Nein.«

»Werdet Ihr ihn auch nie vergessen?«

»Nein. Die Madonna bewahre mich davor!«

»Ihr wollt mich also nicht zum Manne haben?«

»Euch? Ihr wollt mich heiraten, Ruggiero Pinto?« Es klang so, als ob sie sich vor Erstaunen kaum zu fassen vermöchte, und doch hatte sie gleich gewußt, weshalb er gekommen war.

»Weshalb sollte ich Euch nicht heiraten wollen, Gemma? Ich wollte es damals, als Ihr mich ausschlugt. Und deshalb bin ich unter die Briganten gegangen, denn ich hielt das Leben dort unten so nicht mehr aus. Ihr habt mir Carlo Lombardi vorgezogen, weil er reich war.«

»Nein,« warf sie ein, »nicht deshalb. Ich hatte Carlo Lombardi lieb, lieber als Euch Alle.«

»Gleichviel. Carlo Lombardi ist tot. Weshalb solltet Ihr jetzt nicht noch mein Weib werden, Gemma? Ich habe Euch noch lieb, wie damals, und Ihr seid allein, und von unserer Bande könnt Ihr Euch nicht mehr trennen. Schutzlos könnt Ihr aber auch nicht für immer bei uns bleiben, sondern braucht einen Mann, der Euch zur Seite steht; wenn keiner ein alleiniges Recht an Euch hat, werden sie bald alle Rechte an Euch geltend machen. Täuscht Euch nicht darüber! Nun Carlo Lombardi tot ist, wißt Ihr mir vielleicht keinen anderen mehr vorzuziehen und könnt mein Weib werden, Gemma.«

Er hatte jetzt ganz ruhig und fast demütig gesprochen; nur ein geschärftes Ohr hätte noch die verhaltene Leidenschaft in dem Klange seiner Worte zittern hören können. Gemma schien sich daran zu werden. Sie saß eine Weile ganz still, wie um diesen Klang voll in sich nachzuempfinden, oder sie überlegte ernstlich, was er ihr gesagt hatte. Von Zeit zu Zeit wandte sie ihm ihr Antlitz zu, und ihre großen, schwarzen Augen flogen in düsterem Feuer über das seine. Dann stand sie plötzlich auf und trat mit raschem Schritt hart vor ihn hin, mit ihren Blicken bohrend die seinen suchend.

»Ruggiero Pinto,« raunte sie ihm mit leiser, klangloser Stimme zu, und er fühlte ihren heißen Atem in seinem Gesicht, »schwöre mir bei der heiligen Jungfrau, daß du an Carlo Lombardi's Tode so unschuldig bist wie ich selbst, daß du nicht wußtest und nicht wolltest, er würde umkommen, als du ihn ausschicktest. Schwöre mir's, und ich will dein Weib sein. Aber sieh' mir gerade in die Augen, während du schwörst!«

Sie hatte krampfhaft seine Hand gepackt und ihre Schulter an die seine gedrängt, halb in Leidenschaft, halb im wilden Ungestüm ihres Verlangens nach der Wahrheit. Ihre Blicke ließen ihn nicht los. So spürte sie ein leises Zittern, das den starken, großen Mann erschauern ließ, wie ein sekundenlanger Windhauch den Riesenwipfel eines mächtigen Baumes. Dann stieß Ruggiero aus: »Du rasest! Wie könnt' ich gewußt haben –? Aber sollt' ich mich um seinen Tod grämen, da du doch frei dadurch geworden bist, und ich dich lieb habe und mein nennen möchte? Als du damals sein Weib wurdest, wollten sie alle, daß ich Carlo Lombardi niederstechen sollte, weil es eine unauslöschliche Schmach für uns sei, daß er dich gewann. Ich habe ihn nicht niedergestochen. Aber sein Leben war verwirkt. Und wenn ich ihn getötet hätte, so könnte mich keiner darum anklagen. Ich habe ihn nicht getötet, ich wußte nicht, ob er heil zurückkommen würde oder nicht. Und er selber war's, der sich dazu drängte, zu gehen.«

»Weil du ihn so lange gereizt und gestachelt hattest, bis sein Ehrgeiz nicht anders mehr konnte, Ruggiero Pinto!« fiel sie düster ein. »Und du willst nicht schwören?«

»Ich werde nicht schwören,« lachte er heiser auf.

»So geh'! Wir haben nichts mehr miteinander zu reden.« Sie stieß ihn von sich.

Er aber schritt ihr nach, das Gesicht heiß überflammt, mit wild arbeitender Brust. »Gemma,« raunte er ihr in zischendem Tone zu, »Gemma! Wenn ich schuldig wäre, um wen bin ich schuldig geworden? Weißt du, was es heißt, ein Jahr lang so in deiner Nähe leben und mit ansehen müssen, wie ein anderer dich besitzt, da ich dich doch liebte? Weißt du's?«

Sie antwortete nicht. Ein Schauer war durch ihren Leib hingeflogen. Zum erstenmale in ihrem Leben fürchtete sie sich. Nicht vor ihm, der ihr an Stärke dreifach überlegen war, und der sie mit einer einzigen Bewegung seines Armes niedergezwungen hätte, wenn er gewollt; sie fürchtete sich vor sich selber. Der Feuerstrom seiner Leidenschaft war plötzlich bis zu ihr hinübergeflammt, und sie fühlte, daß sie schwach war, daß sie sich nicht mehr gegen ihn würde wehren können. Die nächste Minute schon konnte über sie entscheiden. Ihr Atem ging eben so rasch wie der seine, und rasend klopfte ihr das Herz in der Brust. Da kam sie, vor ihm fliehend, der schon seine Hände nach ihr ausstreckte, an den Platz, wo ihr Kind lag. Im gleichen Augenblick als sie es sah, fühlte sie sich gerettet. Sie seufzte auf, sie riß das Kind mit einem halblauten, erstickten Schrei vom Boden empor, sie preßte es in stürmischer Zärtlichkeit an sich, sie hielt es Ruggiero zur Abwehr entgegen wie eine Waffe, wie ein Amulet. Und Ruggiero hemmte seinen Schritt. Er wußte, was diese instinktive Bewegung bedeutete, er stieß einen zischenden Ton der Wut aus, als er es erkannte.

»Lege das Kind nieder!« knirschte er.

Aber sie rührte sich nicht. Ihr Kind in den Armen stand sie vor ihm, und sie dünkte ihm größer und gewaltiger in ihrer Erscheinung, als er sie je gesehen. »Ruggiero,« sagte sie nach einer Weile, »wolltest du dieses Kindes Vater sein, nachdem du seinen Vater getötet hast?«

»Ich habe ihn nicht getötet!« schrie er wild auf.

»Für mich thatest du's. Aber gleichviel: wolltest du dieses Kindes Vater sein?«

Ruggiero antwortete nicht. Das Kind begann zu weinen, und Gemma schaukelte es in ihren Armen liebevoll hin und her. Nach einer Weile kniete sie nieder, um es wieder auf seiner Decke zu betten, sie war jetzt plötzlich wieder ganz ruhig geworden. Sie sang das Kind leise in Schlummer, ohne sich nach Ruggiero noch einmal umzusehen; sie wußte gar nicht, ob er an seinem Platze noch verharrte. Da klang seine Stimme zu ihr hinüber: »Hast du mir nichts mehr zu sagen, Gemma?«

»Nichts,« gab sie zurück. »Wir sind für immer von einander geschieden, Ruggiero. Dies Kind steht zwischen dir und mir.«

Ein wüster Fluch drängte sich zwischen seinen Zähnen vor. Er machte noch einmal ein paar verlorene Schritte gegen sie hin, dann wandte er sich und verließ sie. Bei Tagesanbruch weckte er seine Leute und befahl, weiterzuziehen. Seine Miene war umdüsterter, als man sie je vorher gesehen, und sein Auge glühte in schier unheimlichem Feuer; es sah aus, als habe er sich in dieser Nacht zu allem äußersten entschlossen.

Wider die sonstige Gewohnheit ordnete er einen gemeinsamen Raub- und Plünderungszug gegen eine adelsherrliche Besitzung an, ohne den Eigentümern vorher die Gelegenheit zu gönnen, sich durch die Zahlung einer von ihm zu bestimmenden, namhaften Geldsumme von dem ihnen drohenden Unheil freizukaufen. Offenbar dürstete er darnach, irgend eine tollkühne That zu begehen und sich durch ein waghalsiges Unternehmen wieder einmal mitten in Kampf, Not und Gefahr zu stürzen, lechzte danach, seinen heißen Drang nach außen hin stürmisch geltend zu machen. Und nie waren alle Maßregeln zu einem Ricatto so unbesonnen und leichtsinnig, wie auf das glückliche Gelingen als etwas Unausbleibliches geradezu pochend, getroffen worden wie diesmal. Auf den besorgten Einwurf des schwarzen Cino, daß man auf solche Weise die Karabinieri anlocken müsse und ihnen leichtes Spiel mache, die ganze Bande beim ersten Fehlschlagen eines der Pläne des Hauptmanns zu umzingeln und aufzureiben, erwiderte Ruggiero nichts, als: »Wenn du dich fürchtest, Cino, so will ich dich von der Teilnahme am Zuge entbinden.«

Da das Glück immer mit dem »Giganten« gewesen war, und die Männer blindlings an ihn glaubten, folgten sie ihm auch diesmal ohne Murren. Aber die Warnung des schwarzen Cino erwies sich als nur zu berechtigt. Denn als man die letzte Station glücklich erreicht hatte, von wo bei beginnender Nacht der Überfall in's Werk gesetzt werden sollte, ergaben die Berichte der ausgesandten Späher, daß die Sbirren von dem Vormarsche der Briganten Witterung erhalten haben mußten, da ein Streifkorps von ihnen unweit des Schlosses, dem der erste nächtliche Angriff gelten sollte, gesehen worden war. Ruggiero schäumte vor Wut. Aber sein anfänglicher Entschluß, die Karabinieri unverzüglich anzugreifen und es auf einen Kampf mit ihnen ankommen zu lassen, stieß auf den entschiedenen Widerstand der Männer, die ihr Leben nicht zwecklos in die Schanze schlagen wollten und die Übermacht der Sbirren fürchteten, von denen man keine Kunde hatte, ob das Hauptkorps noch das frühere Lager im Gebirge innehabe oder gleichfalls auf die Nachricht von einem Zuge der Briganten hin aufgebrochen sei. Die letztere Möglichkeit brachte die Gemüter in nicht geringen Aufruhr. Wenn es den Sbirren gelang, die Spur der Bande aufzufinden und ihr den Rückweg in die Wildnis zu verlegen, während das Streifkorps selber vom Schlosse her einen Angriff unternahm, so standen die Dinge sehr ernst und, da im offenen Gefecht die Briganten immer den Karabinieri unterliegen mußten, sogar verzweifelt. Vorerst war freilich alles das nur eine besorgte Vermutung, aber man stand allgemein unter dem lähmenden Bann einer unbestimmten Furcht, die auch der Mutigste nicht ganz von sich abzuschütteln vermochte.

Da faßte der schwarze Cino sich endlich ein Herz und riet Ruggiero dringend zur Umkehr. Der Gigant wollte lange davon nichts hören. Als aber die Männer alle in ihn drangen und sich durch seinen Hohn ebensowenig wie durch seinen wilden Groll schrecken ließen, gab er zähneknirschend nach, so lange von dem geplanten Ricatto abzustehen, bis man Sicherheit über den Aufenthalt und die Feldzugspläne des Hauptkorps der Sbirren erlangt habe. Ob es jetzt noch sicher genug war, die Rückkehr zu ermöglichen, blieb freilich dahingestellt, doch konnte im übelsten Falle keine schlimmere Gefahr drohen als die, welcher die Briganten hier, wenn sie blieben, fast zweifellos entgegengingen. So rückte man ab.

Es war ein schweigsamer Marsch durch die Felsöde. In den Männern kochte der verbissene Grimm über die Vereitelung eines Raubzuges, welcher, wenn er gelungen wäre, reichen Ertrag gebracht hätte, und über die Nutzlosigkeit einer langen und anstrengenden Wanderung, die sie aus gedeckter Stellung bis in ein wenig gekanntes, unsicheres Gebiet unternommen hatten. Überdies waren sie nicht frei von Beschämung darüber, daß sie auf den Rückzug bestanden hatten, lediglich aus Furcht vor den verhaßten Sbirren, und wußten, daß Ruggiero sie alle für Memmen hielt und sobald nicht wieder zu einem neuen Unternehmen werde führen wollen. Dabei währten Unruhe und Ungewißheit über das, was auf dem nächtlichen Marsche sich ereignen konnte, bei allen fort. Es herrschte eine gedrückte, wetterschwüle Stimmung.

Die Nacht sank herein, ohne daß man etwas Absonderliches wahrgenommen hatte, ohne daß sich die geringste Spur von der gefürchteten Nähe der Karabinieri zeigte. Schon begannen die Briganten ihren voreiligen Rückzugsplan zu bereuen, als der schwarze Cino, der die Vorhut bildete, plötzlich das Signal zum Halten gab. Man war gerade auf der gefahrvollsten Strecke des ganzen Weges angelangt. Es galt hier, einen schmalen Hohlweg zu passieren, der zwar von verkrüppeltem Piniengestrüpp durchwuchert war, das bei vorsichtigem Weiterrücken unter dem Schutze der Nacht Deckung bot, der aber andererseits auch, wenn die Sbirren etwa die Höhe besetzt hielten und das geringste Geräusch den Durchzug der Briganten ihnen verriet, diesen unweigerlich zum Untergange dienen mußte. Denn ein Entrinnen hätte es für sie dann nicht mehr gegeben.

So erschien es begreiflich genug, daß Cino vor dem Eingange in diesen Hohlweg den Trupp Halt machen ließ, um erst Kundschafter vorzuschicken, welche die Höhen zu beiden Seiten durchforschen sollten, ob auch nichts Verdächtiges sich dort zeige. Inzwischen machte der Hauptteil der Bande kurze Rast, und schweigsam wurde ein stärkender Imbiß eingenommen. Da krachte mit einem Male durch die Nachtstille ein Schuß. Alles sprang auf, machte die Büchsen schußbereit, lockerte die Pistolen und Dolchmesser im Gürtel. »Das war keine Büchse von den unseren,« flüsterte einer der Männer.

Er hätte es keinem zu eröffnen brauchen, denn sie wußten es alle. Und alle wußten, daß die Sbirren nahe seien, daß die Gefahr nun da sei, vor der man gebangt hatte. Aller Augen gingen abwechselnd mit gespannter Aufmerksamkeit in das lichtlose Dunkel hinaus und hingen an dem Gesichte Ruggiero's. Dieser letztere stand reglos, wie aus Erz gegossen, gegen einen Felsblock gelehnt, die Büchse schußbereit im Arm; kein Wimperzucken verriet, was in ihm vorging, seine Mienen waren voll finsteren Trotzes, seine Augen starrten düster in's Weite. Man wagte kaum, Atem zu holen. Die nächsten Minuten konnten über aller Tod und Leben entscheiden.

Da endlich rauschte es in den Büschen des Felshanges, und einer der ausgesandten Späher glitt geräuschlos an dem glatten Gestein nieder. Seine zerschundenen Kniee bluteten stark, sein Mantel war zerfetzt, und der kalte Schweiß stand ihm in großen Tropfen auf der Stirn. Er hatte kaum Atem genug, um in leisen, stoßweise hervorgebrachten Worten seine Meldung zu machen, die er mit aufgeregten Gestikulationen begleitete. Auch die ihn nicht hörten, begriffen, daß er Bedeutsames und Gefahrdrohendes berichtete. Und dann erfuhren sie es alle; von Mund zu Mund ging es und machte alle Gesichter schreckensbleich und ließ aller Hände fester den Büchsenkolben umspannen: der lange Pasquale war droben von den Sbirren erschossen worden, kaum fünf Schritte von seinem Begleiter entfernt, der seinerseits nun sein Heil in der Flucht gesucht hatte und nur durch List den Verfolgern entronnen war; und die Sbirren hielten droben in dreifacher Überzahl die beiden Höhenzüge besetzt, offenbar vorbereitet auf den Durchzug der Briganten, der diesen zum Verderben werden mußte.

Das aber war noch nicht alles. Das Streifkorps der Karabinieri, auf das man in der Umgebung des Schlosses gestoßen war, welchem der nächtliche Angriff der Räuber hatte gelten sollen, mußte von dem Abmarsch der letzteren unterrichtet worden sein oder hatte sich auf's Geratewohl auf die Suche nach ihnen begeben; denn der dritte Kundschafter, der gleichzeitig mit den beiden anderen ausgeschickt worden war und nun ebenfalls mit allen Zeichen größter Aufregung und Verstörtheit zurückkam, meldete das Herannahen desselben im Rücken, sodaß an Flucht auch dorthinaus nicht mehr zu denken war. So begegneten sich die entsetzten Blicke aller, während sich den zusammengepreßten Lippen nur hier und da ein wütender Fluch entwand, unter dem alle Köpfe gleichzeitig durchzuckenden Gedanken: wir sind verloren! Dann aber verkündete der wilde Todestrotz, der sich alsbald in den Mienen der Männer zeigte, daß sie entschlossen waren, ihr Leben nicht eben wohlfeil zu verkaufen.

Hastig und leise flogen die Worte der Beratung hin und wider. Die meisten waren dafür, man solle alsbald dem nachrückenden Streifkorps der Sbirren die Stirn bieten, sich in einem jähen, mächtigen Anprall gegen sie werfen und so versuchen, sich durchzuschlagen, was vielleicht mit Aufopferung einer nur kleinen Anzahl von Männern gelingen konnte; im schlimmsten Falle würde man Mann gegen Mann zu kämpfen haben, und jeder einzelne könnte dabei auf sein Entrinnen bedacht sein. Aber Ruggiero verwarf zur Verwunderung der Männer den Plan, der seinem immer auf's mutige Dreinschlagen gerichteten Sinne am ehesten zu entsprechen schien, mit großer Entschiedenheit. Er fürchtete, daß der Beginn eines Handgemenges zwischen den Briganten und der ihnen nachrückenden Abteilung der Sbirren unverzüglich das Hauptkorps der letzteren heranrufen würde, und daß dann eine Umzingelung unvermeidlich sei, die das vollständige Aufgeriebenwerden zur Folge haben müsse. Und die Männer mußten ihm Recht geben.

Ruggiero verlangte, daß man den Marsch durch den Hohlweg versuche. Wenn es gelang, durch eine völlig geräuschlose Fortbewegung die Sbirren über die eingeschlagene Richtung der Bande zu täuschen, so erschien es möglich, den Durchzug zurückzulegen, ehe jene noch erfuhren, welchen Entschluß die Briganten gefaßt, und ehe sie sich mit dem nachrückenden Streifkorps vereinigen oder auch nur verständigen konnten. Alles hing nur davon ab, jetzt in möglichster Eile und ohne jeden Lärm die gefährdete Straße zu passieren. Das geringste Geräusch, das die Späher der Karabinieri auf den von ihnen besetzten Höhen auf den drunten vorüberziehenden Trupp aufmerksam machte, mußte den Untergang desselben herbeiführen. So hatte jeder einzelne zugleich sein und aller Schicksal in der Hand, und jeder wußte, worauf es ankam. Zeit war nicht zu verlieren. Es galt, vor der Annäherung der nachrückenden Sbirren den Hohlweg passiert zu haben, und jede Minute erschien kostbar. Merkten die Verfolger, daß die Briganten abgezogen waren, und blieb ihnen Zeit, ihre Genossen aus der Höhe davon zu benachrichtigen, so war gleichfalls alles verloren. Übrigens schien die sternlose Nacht das kühne Unternehmen, das die Todesgefahr den Briganten aufzwang, wesentlich zu begünstigen.

So begann unter düsterem Schweigen der Zug. Wieder schritt der schwarze Cino voraus; Ruggiero selber bildete den Nachtrab, wie wenn er die größte Gefahr absichtlich auf sich zu nehmen entschlossen sei. In aller Brust lebte das Bewußtsein von der Entscheidungsschwere dieser Stunde, aller Sinne waren nur auf das eine gerichtet, das für sie Leben oder Tod bedeutete: in aller Heimlichkeit und in aller Stille vorzurücken, immer im Schutz des dunklen Nadelgestrüppes, vorsichtig und leise, Schritt vor Schritt. Kaum zu atmen wagten sie. Das Blinken eines Büchsenlaufes, das Knacken eines Astes hätte sie verraten, hätte aller Verderben besiegeln können.

Langsam drangen sie vor, ohne daß ein verdächtiges Geräusch sich hätte hören lassen. Die Sbirren schienen an die Möglichkeit des kühnen Durchmarsches nicht zu glauben, sie mochten sich zur Ruhe droben niedergestreckt haben. Immerhin waren ihre Späher wach, und die Gefahr groß genug, entdeckt zu werden. Auf allen Vieren krochen an ungedeckten Stellen die Briganten fort und wanden sich mit katzenartiger Behendigkeit durch das Gebüsch, immer gleichzeitig nach den Rändern der Berghänge lugend, ob dort auch nicht ein Licht aufschimmerte oder ein Späher sichtbar ward. In diesem Falle hatten sie den gemessenen Befehl, sich alle lang niederzustrecken und so regungslos das weitere zu erwarten.

Längere Zeit ging alles vortrefflich; kein Klirren einer Waffe, kein gleitender Schritt ward vernehmbar in der Tiefe, und auf den Höhen blieb es still. Schon begannen die Briganten an ihre Rettung zu glauben und erleichterter aufzuatmen, schon waren die ersten von ihnen dem Ausgange des Hohlweges nahe, da erscholl vom Felsgrat herab plötzlich die Stimme einer Schildwache: »Halt! Wer da?« Keine Antwort erfolgte. Wie mit einem Zauberschlage war unten in der Tiefe jedes Geräusch verstummt, die Männer hatten sich lautlos im Gestrüpp niedergekauert, sie atmeten kaum. Die Schildwache wiederholte ihren Ruf. Als auch jetzt keine Antwort kam, feuerte der Soldat auf's Geratewohl in die Schlucht hinab, um Alarm zu schlagen und die unten etwa versteckten Durchzügler zum Widerstande aufzureizen. Aber auch jetzt blieb dort alles still. Man vernahm von oben ein hastiges Hin und Her, Büchsenhähne knackten, Kommandorufe wurden laut, durch das Dunkel blitzten die Gewehrläufe der Sbirren. Jetzt galt es. Sprühendes Fackellicht, das an den Rändern des steilen Berghanges aufflammte, sollte den Sbirren Gewißheit verschaffen, ob die Banditen ihnen in die gestellte Falle gegangen waren, sollte den Schauplatz erleuchten, auf dem sich dann etwas Furchtbares abspielen mußte; denn lebendig würde ihnen kaum einer von allen entrinnen.

Aber die Briganten hielten sich nach wie vor so geräuschlos in ihren gedeckten Stellungen unter dem wuchernden Gestrüpp, sich völlig des Ernstes ihrer Lage bewußt, daß die Sbirren droben an der Wahrnehmung ihres Postens, der von unten her das Rauschen des Buschwerks, gleich wie wenn Menschen sich da hindurchwänden, gehört haben wollte, wieder irre zu werden begannen. Es mochten Wildkatzen gewesen sein, die hier in den Felsöden noch heimisch waren, und deren heiseres Belfern zuweilen die Nachtstille durchdrang. Überdies war es ihnen wenig glaubhaft, daß die schlauen Banditen sich hätten in die Falle locken lassen, noch unglaubhafter, daß sie dann jetzt nicht einen jähen Durchbruch versuchen sollten, statt sich versteckt zu halten und so unthätig zu erwarten, daß man sie entdeckte und ohne Widerstand niedermachte. Trotzdem erschien es angezeigt, alle Vorsicht anzuwenden und alle Maßregeln danach zu treffen, daß die Bande etwa doch drunten im Hohlweg gefangen saß. Bei dem ersten verdächtigen Geräusch sollte eine Salve in das Strauchwerk unten abgefeuert werden, um die versteckten Durchzügler hervorzulocken, die Posten, die den Ausgang des Hohlwegs bewachen sollten, wurden verdoppelt und Fackeln sollten brennen, bis das erste Morgengrauen kam. Erst nachdem diese Befehle erteilt waren, löste der Trupp der Sbirren, der droben unter die Waffen getreten war, sich wieder auf.

Und die Männer drunten in ihren Verstecken hörten die Kommandoworte bis in die Schlucht herabhallen und murmelten ein Stoßgebet vor sich hin. Für den Augenblick waren sie gerettet; was die nächste Stunde bringen würde, wußte freilich keiner von ihnen. Da gab Ruggiero dem vor ihm kauernden Briganten den leisen Befehl, der nun weiter von Mann zu Mann lief, man solle vorrücken. Nur so lange die Nacht währte, war an die Möglichkeit eines Entrinnens überhaupt noch zu denken, da das Tageslicht die Entdeckung unweigerlich herbeiführen und aller Untergang besiegeln mußte. Ob der Durchzug jetzt bei der Vorsicht gelang, die jeder instinktiv und im Vollbewußtsein dessen, daß sein Leben hier auf dem Spiele stand, anwenden würde, erschien freilich zweifelhaft; aber es mußte gewagt werden, als das letzte, was ihnen blieb. Und so krochen die Briganten jetzt auf allen Vieren unter dem Buschwerk weiter, jeden Augenblick mit verhaltenem Atem lauschend, ob auch nicht droben auf den Hängen eine erneute Bewegung entstand, ob ihre Flucht nicht wahrgenommen wurde und man etwa Veranstaltungen traf, sie zu hindern. Im letzteren Falle waren sie zu einem jähen, verzweifelten Ausbruch entschlossen und wollten sich wehren bis zum letzten Blutstropfen.

Wieder rückten sie eine Zeitlang ungefährdet vor, und schon hatten die Vordersten den Ausgang des Hohlwegs glücklich erreicht, als das Kind, das Gemma Lombardi auf dem Rücken trug, plötzlich zu wimmern anfing. Vergeblich versuchte die Mutter, es zu beruhigen, vergeblich war's, daß sie ihm in ihrer Angst die Hand fest auf den Mund preßte. Der Kleine machte sich zappelnd und strampelnd los, um nur noch kläglicher zu weinen, als zuvor. Eine von den Schildwachen droben hatte den Ton vernommen, der ihr noch verdächtiger vorgekommen wäre, wenn sie ihn mit dem Durchmarsch der Briganten nur hätte in Verbindung bringen können, der aber auch so ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie spähte vorsichtig hinab, befahl, die Fackeln näher heranzutragen und beriet sich mit einem ihrer Kameraden, ob sie Lärm schlagen solle. Das Wimmern des Kindes hatte minutenlang geschwiegen, da begann es aufs neue.

Nun aber streckte sich auch gleichzeitig schon eine riesige Hand nach dem Kinde aus, mächtige Finger umklammerten den kleinen, weichen Hals, und das Schreien war verstummt. Platt auf dem Boden liegend, drückte Ruggiero Pinto, der sich schlangengleich durch das Gebüsch hervorgewunden hatte, bis er das Weib mit dem Kinde erreichte, dem letzteren so fest die Kehle zu, daß es keinen Laut mehr von sich gab, nur noch durch krampfhaft zuckende Bewegungen verriet, daß Leben in ihm war, und daß dies Leben gegen die drohende Erstickungsgefahr anrang. Nicht lange mehr und nur schwach. Dann waren auch diese Bewegungen zu Ende. Als das Weib mit ihren beiden Händen die mächtigen, krallenden Finger des Mannes, die nicht loslassen wollten, endlich doch abgelöst hatte, – sie hatte ihre Zähne zu Hilfe nehmen müssen, um es fertig zu bringen, und Ruggieros Finger bluteten von ihrem Bisse, – da rührte das Kind sich schon nicht mehr; ein schlaffer, erkaltender, kleiner Körper mit blau gedunsenem, schreckhaft verzerrtem Antlitz lag in ihren Armen.

Lautlos, mit funkelnden Augen hatten sie beide in furchtbarer Wut den kurzen, schrecklichen Kampf um das Leben des Kindes miteinander gekämpft, er in dem Bewußtsein, daß das Leben aller auf's Spiel gesetzt wurde, wenn man das Kind nicht opferte, sie in der unbegrenzten Eigensucht der Mutterliebe, in der Empfindung, daß alle eher sterben könnten, müßten, als ihr Kind, daß für seine Rettung kein Opfer in der Welt je zu groß sei. Und nun, da das Entsetzliche geschehen war, da der Mann in diesem Ringen den Sieg davongetragen hatte, nun sahen sie sich beide an mit einem Blick so voll tiefsten, tätlichsten Hasses, daß es Sekunden lang den Anschein hatte, als wollten nun auch sie beide gegeneinander anringen in dem gleichen, lautlos-wütenden Vernichtungskampfe und nicht eher voneinander ablassen, als bis einer den letzten Atemzug gethan. Sie sprachen nichts, sie sahen sich nur an. Und Gemma hielt das tote Kind in ihren Armen, an ihrem stürmisch wogenden Busen, so zärtlich, so innig gepreßt, als glaubte sie, es noch einmal mit Lebenswärme, mit der Wärme ihres lebendigen, pochenden, zuckenden Herzens durchströmen zu können.

Und währenddessen entschied sich da droben auf dem Felsgrat ihr und aller Schicksal. Da das Weinen verstummt war, hatte der Posten keinen Lärm geschlagen, da er kein weiteres, verdächtiges Zeichen wahrgenommen, in seiner Wachsamkeit wieder nachgelassen. Man konnte den Durchzug fortsetzen und vollenden. Und das duldete um so weniger einen Aufschub, als schon die ersten, lichteren Streifen in der schwarzgrauen, gleichförmigen Decke des östlichen Himmels darauf deuteten, daß der Morgen nicht mehr fern war.

»Mörder!« sagte Gemma endlich und sah Ruggiero immer noch unverwandt mit dem nämlichen, haßfunkelnden Blick an, im übrigen wie erstarrt unter der Wucht des Entsetzlichen, das sich lähmend auf sie gelegt hatte, und noch einmal: »Mörder!«

Er zuckte die Achseln. »Es mußte sein. Sei vernünftig, Gemma! Sollt' ich uns alle an's Messer liefern, damit es dir erhalten blieb? Was soll dir das Kind auch? Was soll ein Kind unter den Briganten?«

Sie sah ihn noch durchdringender an, als bisher; nichts an ihr schien mehr zu leben, wie ihre Augen. »Du hast es immer gehaßt,« zischte sie, »und nur aus Haß thatest du's, – weil es sein Sohn war, Ruggiero! Erst den Vater, dann das Kind. Wann wirst du mich ermorden, Ruggiero?«

Der Brigant antwortete nicht. Die Männer hatten ihre langsame Fortbewegung wieder aufgenommen, und er selbst kroch jetzt in gebückter Stellung, vorsichtig die Deckung des Strauchwerks nützend, weiter an ihr vorüber. Er sah sich gar nicht nach ihr um, kümmerte sich nicht um sie. So gewahrte er auch den Blick voller Rachedurst nicht, den sie ihm nachsandte, ehe sie sich aufraffte, um ihm zu folgen, ihr totes Kind immer noch fest in den Armen. Sie war jetzt die letzte im Zuge, keinem drohte größere Gefahr, als ihr. Sie wußte das und sie dachte sekundenlang daran, ob es nicht auch am besten sei, wenn man sie hier tötete, ja, sie überlegte sogar, ob sie absichtlich durch ein Geräusch die Briganten verraten, alle aufopfern und mit allen zu Grunde gehen sollte. Wilde, wahnsinnstolle Gedanken wogten in ihrer Seele auf, die von Haß, Rachedurst und Vernichtungswut erfüllt war bis zum Rande.

Aber weshalb sollten die anderen, die Schuldlosen, büßen mit dem einen Schuldigen? Und weshalb sollte sie nicht selber ihre Rache an ihm nehmen, sich an dieser Rache werden, wenn sie sich vollendete? Auch der Selbsterhaltungstrieb war noch mächtig in ihr; sie wollte leben, um auf Rache sinnen, um Rache üben zu können. Instinktmäßig setzte Gemma ihren Weg fort, so vorsichtig und so geräuschlos, wie zuvor. Aber während sie es that, dachte sie immerfort daran, welche Rache Ruggiero am härtesten treffen würde, – an nichts anderes, als an das. Und als sie immer ihr totes Kind anblickte, dessen Körper allmählich in ihren Armen zu erkalten und zu erstarren begann, stieg plötzlich ein Gedanke so voll von wollüstigem Grausen in ihr auf, daß es ihr das Blut in den Adern bald wie mit Lavaglut durchfieberte, bald so eisig durchrann, als geriete der Strom ihres Lebens selber schon in's Stocken. Sie mußte der schwülen Nacht gedenken, wo sie nicht mehr gewußt hatte, wie sie Ruggiero und wie sie sich selber entrinnen solle. Damals hatte sie ihm ihr Kind zur Abwehr entgegengehalten, sich hinter ihrem Kinde gleichsam versteckt vor seinen wilden Wünschen, gegen die sie keinen Widerstand mehr in ihrem eigenen Herzen besaß. Jetzt, – wer sollte sie jetzt vor ihm retten, wenn er wiederkam? Und er würde wiederkommen. Gemma wußte es, und ein grausames, schreckliches Lächeln spielte um ihren Mund, – das Lächeln einer Irrsinnigen. –

Der Durchmarsch der Briganten gelang. Die langjährige Gewohnheit der Männer, sich in den unwegsamen Wildnissen des Gebirges, auf Kletterpfaden, die kaum für die waghalsigen Bergziegen geschaffen erschienen, mit katzenartiger Behendigkeit und Heimlichkeit fortzuschleichen, immer auf der Flucht vor den Verfolgern, denen sie in offenem Kampfe nicht gewachsen waren und nicht Stand halten wollten, hatte wieder einmal über alle Wachsamkeit und Entschlossenheit der Gendarmen den Sieg davongetragen. Am Ausgange des Hohlweges kam es zwar noch zu einem kurzen Gefecht, weil die Schildwachen hier verdächtige Geräusche wahrgenommen und darauf Schüsse abgegeben hatten, deren einer einen Briganten tötete, worauf die Begleiter desselben wütend gleichfalls ihre Büchsen gegen die Angreifer abschossen; als aber die letzteren nun Alarm schlugen, und die herbeieilenden Karabinieri einen regelrechten Kampf eröffnen wollten, zeigte es sich, daß die Räuber schon das Weite gesucht hatten, und nichts, als der Leichnam des Erschossenen, war von ihnen zurückgeblieben. Es frommte auch nichts, daß der Kapitän alsbald die schleunige Verfolgung der Flüchtlinge anordnete, denn die Briganten waren nun längst wieder auf einem ihnen heimischen Terrain angelangt, hatten sich nach verschiedenen Seiten hin zerstreut, um sich später auf nur ihnen selbst bekannte Signale hin an irgend einem Lagerplatze zusammenzufinden, und waren in Schlupfwinkeln verkrochen und auf Schleichwegen entschlüpft, von denen die Karabinieri bei allem Pflichteifer und in all' ihrem mutigen Thatendrange nichts wußten. Den ganzen Tag hindurch wurde die Verfolgung hartnäckig und planmäßig fortgesetzt, ohne den geringsten Erfolg zu bringen. Totmüde, über die abermalige Vereitelung eines so klug eingeleiteten Hinterhalts fluchend, mußten die Gendarmen abends ihre Bemühungen einstellen und auf eine neue Gelegenheit zur Überlistung der Räuber warten.

Diese selbst hatten inzwischen ihr Lager wieder erreicht. Aber das Hochgefühl über die gelungene, wunderbare Errettung wurde ihnen durch das Bewußtsein der fortdauernden Unsicherheit hier und durch die Nutzlosigkeit des ganzen Auszuges getrübt. Die Stimmung blieb gedrückt, und der Drang nach einer erfolgreichen Unternehmung war bei allen lebendiger, als je. Unter solchen Umständen faßte Ruggiero den Entschluß, den Lagerplatz ganz aufzugeben und einen anderen Schauplatz für neue Thaten zu suchen. Lange beriet man darüber hin und her. Zuletzt wurde der Plan festgestellt, daß ein Teil der Briganten, soviele davon den Sbirren nicht bekannt waren und eine Verfolgung von seiten der Behörden nicht zu fürchten hatten, in ihre heimischen Gebirgsnester zurückkehren sollten, einesteils um die Schwierigkeiten des Unterhalts der zu zahlreich gewordenen Bande zu vermindern, andererseits aber um die Gelegenheiten für neue Ricatti bequemer ausspähen, alle Vorbereitungen dazu treffen und den Räubern gleichzeitig einen Rückhalt bieten zu können, wenn ein Handstreich mißlang. An einen Verrat der Räuber von seiten derer, unter denen sie wieder leben wollten, war dabei nicht zu denken. Sie alle lebten in offener Feindschaft mit der Regierung und den Sbirren, welche sie aussandte, sie alle begünstigten den Kampf der Vogelfreien und Besitzlosen gegen die reichen Herren im Lande, und sie alle standen wie ein Mann zusammen, Alte und Junge, Weiber und Kinder, wenn es galt, den Briganten Handlangerdienste zu leisten, sie zu verstecken, ihnen Botschaften zu bringen, oder die Verfolger irre zu führen und in's Verderben zu locken. So konnte die Fortsetzung des Kampfes mehr in das Innere des Landes selbst verlegt werden und die Schlupfwinkel und Lagerplätze der Felswildnis blieben als letzte Zuflucht für die Verfolgten offen.

Vor allem war es Fortone, das von Ruggiero seiner beherrschenden Lage wegen und wegen der Wohlgesinntheit aller seiner Bewohner für den Brigantaggio zum Mittelpunkte für neue Unternehmungen erwählt wurde. Wer von den Briganten dort heimisch war, ohne fürchten zu müssen, daß man ihn bei seinem ersten Auftauchen schon wegen früherer Thaten, die zur Kenntnis der Regierung gelangt sein konnten und dort noch nicht vergessen waren, dingfest machen werde, wurde zur Rückkehr bestimmt. Auch Gemma Lombardi war unter diesen. Man glaubte nicht mehr daran, daß die Behörden sich ihrer erinnern und sie um ihres Gatten willen drangsalieren würden; beweisen konnte ihr niemand, daß sie unter den Briganten gelebt hatte.

Aber Gemma Lombardi erklärte, daß sie nicht nach Fortone zurück wolle. Seit dem Tode ihres Kindes war sie wie stumpfsinnig geworden. Sie hatte es damals mit in's Lager geschleppt und in ihrer Felshöhle auf demselben Platze niedergelegt, wo es Nacht für Nacht an ihrer Seite geruht hatte. Sie schien garnicht mehr zu wissen, daß es tot war. Erst die Männer, die alle Ruggiero's That billigten, wenn sie auch des Kindes Tod beklagten und voller Mitleid für das Weib waren, das es hatte hinopfern müssen, redeten auf sie ein, das Kind lebe nicht mehr, das Kind müsse begraben werden. Endlich hatte Gemma es zugegeben. Aber an der gleichen Stelle, wo es geschlafen hatte, sollte es bestattet sein. Gemma selber hatte dort ein Loch in den felsigen Boden zu hacken und zu graben begonnen, mit ihren Händen erweiterte sie es. Die Männer halfen ihr. Dann bettete sie das Kind dort hinein und streute Zweige des wilden Ölstrauches und der Zwergpinie darüber, das einzige, was ihr die öde Wildnis an Grünem bot. Einer von den Briganten hatte auch ein paar Asphodelenblüten gefunden, die steckte sie oben auf das Felsgetrümmer, mit dem das Grab bedeckt wurde, neben das kleine Holzkreuz, das der schwarze Cino ihr geschnitzt hatte. Und dann sprachen die Männer zusammen ein Gebet, und Gemma sprach das Gebet nach. Es war ganz feierlich in der schweigsamen Bergöde, und die Männer waren ergriffen davon, wie wenn sie einer Messe beigewohnt hätten. Nur Ruggiero war nicht erschienen, als der einzige von allen hatte er sich ausgeschlossen und war einsam im Gebirge umhergestreift, kein Mensch wußte, wo er weilte.

Aber auch nach der Bestattung ihres Kindes änderte sich Gemma's Wesen nicht. Sie saß den ganzen Tag neben dem kleinen Hügel, nahm kaum Speise oder Trank zu sich und starrte in's Leere oder sang leise ihre Wiegenlieder vor sich hin, mit denen sie früher ihr Kind eingeschläfert hatte, und wobei sie die Arme gerade so hin und her bewegte, als ob sie es noch darin schaukelte. Es war das Gebahren einer Irrsinnigen, und die Briganten betrachteten sie oft mit Scheu, ja, manche ängstigten sich vor ihr, wie vor einer von einem bösen Geiste Besessenen, und schlugen das Kreuz, wenn sie in ihre Nähe kamen. Jetzt weigerte sie sich, nach Fortone mit den Männern zurückzukehren. Sie habe ihr Kind hier, sagte sie, und ihr Kind könne nicht mit, also müsse auch sie bleiben. Dann erklärten sie ihr, daß das Lager verlassen werde, und daß sie auch dann nicht bei ihrem Kinde bleibe, wenn sie mit dem Hauptschwarm der Briganten zusammen fortan die Beschwerden und Fährnisse des unstäten Lebens weiter trage. Sie aber beharrte bei ihrem Entschlusse.

Als man die Sache vor Ruggiero brachte, entschied er: »Laßt sie bleiben, wenn sie will! Wir haben uns damals diese Bürde aufgeladen, als ich gegen meine Überzeugung eurem einstimmigen Wunsche nachgab. Nun können wir sie nicht fortjagen, die arme Närrin!« So blieb Gemma bei den Briganten, die unter Ruggiero's Oberbefehl in den Bergen hausten, wie bisher.

Sie und Ruggiero sahen sich selten, und wenn sie sich sahen, sprachen sie nicht miteinander, begrüßten sich einander nicht. Trotzdem wußte jeder vom anderen, wie er lebte, was er trieb, was mit ihm vorging. Ruggiero war voll friedloser Unstäte. So oft hatten die Briganten das Lager sonst in Monaten nicht gewechselt, wie jetzt innerhalb einer einzigen Woche. Und immer hatte er neue Pläne, bereitete er neue, kühne Unternehmungen vor. Die meisten mißlangen ihm aber, oder er mußte doch von ihnen abstehen, weil sich unüberwindliche Schwierigkeiten ihm in den Weg warfen.

Endlich gelang ihm doch wieder ein Hauptschlag, der den schon im Verblassen begriffenen Glanz seines Namens im Lande mit einemmale wieder auffrischte und den Giganten in aller Mund brachte, sodaß die Weiber auf den Gassen in Fortone und den umliegenden Bergstädten Romanzen auf ihn sangen, wenn sie vor den Hausthüren am Spinnrade saßen. Ruggiero hatte in Begleitung nur dreier von seinen Leuten mitten am hellen Tage einen reichen, herzoglichen Grundherrn in unmittelbarer Nähe der Stadt Caltagirone, wohin jener hatte reiten wollen, aufgehoben und mit sich geschleppt, er war am gleichen Tage ohne jede Bewaffnung durch die Straßen der Stadt geschlendert, wo jedes Kind ihn kannte, jedes Kind ihm nachstarrte, hatte sich von einem Barbier bei offener Ladenthür den langen Bart kürzen lassen und war, als endlich das Gerücht von seiner Anwesenheit bis zu den Karabinieri gedrungen, und als diese nach ihm gefahndet hatten, so spurlos verschwunden gewesen, als hätte der Erdboden ihn eingeschluckt; aber nur, um am folgenden Tage, als das geforderte, hohe Lösegeld für den Gefangenen nicht eingeliefert worden war, den abgeschnittenen Ohrzipfel desselben höchst eigenhändig seiner vor Schreck und Entsetzen fast entgeisterten Gattin mitten in einem der Gemächer des Schlosses zu überreichen, zugleich mit der Drohung, so Tag für Tag ein Stück vom Leibe des Herrn Herzogs überbringen zu wollen, bis das Lösegeld bis auf den letzten Centesimo bezahlt oder jener buchstäblich zerstückelt worden sei. Und auch diesmal hatte man ihn nach allen Richtungen hin vergeblich verfolgt, das Lösegeld aber war am folgenden Tage in den Händen des kühnen Räubers gewesen, worauf der herzogliche Gefangene mit sorgfältig verbundenen Augen und gestutztem Ohr in der Nähe seines Territoriums wieder ausgesetzt worden war.

Solch' ein Brigantenstücklein war ganz nach dem Herzen der sizilianischen Landbevölkerung, und je tollkühner der Räuber sich dabei benahm, je frecher er den Sbirren ein Schnippchen schlug, einen je komischeren Anstrich das ganze Unternehmen gewann, um so größer waren Jubel und Begeisterung im Volke, einen um so helleren Glorienschein wob man um das Haupt des Helden. Ruggiero's Bildnis und die auf ihn gedichteten Romanzen riefen alsbald die Händler auf den Gassen aus, und es konnte nicht fehlen, daß von allen Seiten her sich jetzt Handlanger dem kühnen Briganten darboten, welche ihm die Gelegenheiten zu ähnlichem Fang vermitteln und an dem erzielten Gewinn dafür Teil haben wollten, ja, auch an schwärmerischen Briefen und vielsagenden Liebesversicherungen von weiblicher Hand war für den gefeierten Briganten, der wieder einmal zum Helden des Tages geworden, kein Mangel.

Aber Ruggiero ließ sich durch alle solche stürmischen Erfolge nicht berauschen; äußerlich zum wenigsten trug er ein unverändert düsteres, wortkarges und wildes Wesen zur Schau, und nur das Lohen seines Auges redete jeweilig davon, daß er sich seines Ruhmes wohl bewußt und selber auf seine Thaten stolz war. Da begab sich's in einer Nacht, daß er aufwachte und eine weibliche Gestalt neben seiner Lagerstätte knieen sah. Sein erster, instinktmäßiger Griff umklammerte das Heft seines Dolchmessers, ehe er die Knieende erkannte: es war Gemma. Auch dann freilich ließ er die Waffe nicht los, aber er richtete sich doch nicht in die Höhe, sondern legte nur die Linke unter seinen Kopf und sah ihr fest in die Augen; er hatte die Empfindung, als ob er sie damit zähmen, sie von jeder wilden und jähen That zurückschrecken könne, denn er war überzeugt, daß sie ein Messer in der Hand hielt, das auf ihrem Rücken verborgen war. Gemma selbst regte sich nicht, sah ihn aber gleichfalls unverwandt an, so lange und mit so eigenartigem Funkeln, daß er es zuletzt nicht mehr ertrug, sondern seine Blicke zur Seite wandte. »Was willst du?« stieß er heraus.

»Dich fragen, weshalb du nach mir geschrieen hast.«

»Ich habe nicht nach dir geschrieen. Ich habe geschlafen.«

»Dann hast du im Schlaf nach mir geschrieen. Ich hörte es. Ich kam nur um deshalb.«

»Weshalb sollte ich wohl nach dir schreien?«

»Das frag' ich dich.« Als er nichts mehr sagte, fügte sie hinzu: »Vielleicht stört es dich im Schlaf, daß du immer denken mußt, was du mir angethan hast, Ruggiero Pinto.«

»Ich that, was ich mußte.« Er machte eine Bewegung, wie wenn er sie verscheuchen wollte. Aber sie blieb unbeweglich sitzen. Da fragte er: »Weshalb bleibst du?«

»Ich muß.«

Er verstand sie nicht, aber er sagte sich: sie ist eben toll! Dann fragte er weiter: »Weshalb bist du überhaupt noch hier im Lager? Du solltest nach Fortone gehen. Du denkst immer wieder an dein Kind, wenn du mich siehst, und das ist schlimm für dich. Geh' nach Fortone, Gemma!«

»Ich bleibe, wo du bleibst.« Sie sagte das ganz ruhig und ergebungsvoll, wie wenn es ein unabwendbares Schicksal wäre. Ruggiero fühlte sich seltsam davon bewegt: halb grauste es ihm vor diesem Weibe, halb fühlte er immer noch die Flammen seiner Leidenschaft für sie in sich, die nicht erlöschen wollten, nie erloschen waren, seit er damals vergeblich um sie geworben, ehe sie Carlo Lombardi's Frau geworden.

»Weshalb bleibst du, wo ich bleibe?« fragte er und sah sie wieder an. »Willst du mich töten?«

»Ich hätte das Recht dazu und die Pflicht. Und es ist eine schlimme Sünde, daß ich es nicht thue.«

»Warum?«

»Du hast Carlo Lombardi getötet, und du hast mein Kind getötet, Ruggiero Pinto.«

»Nun also! Warum tötest du mich denn nicht?«

»Ich kann nicht.«

»Bist du zu feige? Du hättest mich jetzt töten können, während ich schlief. Jede Nacht kannst du's ungehindert. Ich schlafe fest.«

»Ich sage dir: ich kann nicht. Lieber würd' ich mich selber töten.«

Mit einem Male sprang Ruggiero auf, riß sie wie ein Wahnsinniger in seinen Armen empor, hob sie über sich hinaus in die Luft, schwenkte sie im Kreise umher, geberdete sich wie ein Wahnsinniger. Dann setzte er sie eben so plötzlich wieder nieder, als ob er nur seiner Leidenschaft einmal hätte nachgeben, nur den Sturm in seinem Innern einmal hätte austoben lassen müssen. Er war jetzt ganz ruhig. Und auch Gemma hatte das alles geschehen lassen, ohne sich zu sträuben, ohne einen Schrei auszustoßen. Als sie jetzt wieder Boden unter den Füßen fühlte, sagte sie nichts als: »Du bist stark.«

Und dazu lachte er. Es war seit Wochen das erste Mal, daß Ruggiero Pinto lachte.

Dann sagte er: »Es ist noch garnicht Morgen. Laß uns weiter schlafen.«

»Schlafe nur!«

»Und du?«

»Ich kann nicht schlafen. Ich muß immer an die Zeit denken, wo mein Kind neben mir schlief.«

Ruggiero murmelte etwas Unverständliches zwischen den Zähnen. Dann legte er sich nieder, breitete seinen Mantel über sich und schloß die Augen. Gemma blieb neben ihm knieen und betrachtete ihn unverwandten Blickes. Da riß er die Augen unmutig wieder auf und schrie: »Ich kann nicht schlafen, wenn du mich ansiehst. Ich glaube gar, du hast den bösen Blick. Geh!«

Da stand sie gehorsam, wie eine Sklavin, auf und ging wirklich.

Nun trieben sie es beide wieder wie vorher, und als ob in dieser Nacht gar nichts besonderes zwischen ihnen gewesen wäre. Nur daß Ruggiero jetzt jede Nacht das Gefühl hatte mitten im Schlafe, als ob Gemma neben ihm kniee, und daß er in diesem Gefühl jede Nacht auswachte und nach dem Platze blickte, wo er sie damals gewahrt hatte. Aber sie war niemals da. Dann ertrug er es eine Nacht einmal nicht mehr und ging zu ihr hinüber, die, wie immer, abseits von den Männern und unter dem Schutz eines grauen Felsgeklipps sich auf einem Lager von kleingehackten Pinienzweigen, wie man sie zur Viehstreu bereitet, gebettet hatte. Er wußte nicht, ob sie schlief. Jedenfalls hatte sein Schritt, so leise er auch aufgetreten war, sie dann geweckt, denn sie blickte ihm mit weit offenen Augen entgegen, und es war das helle Funkeln darin wie damals, als er es nicht hatte ertragen können, Er sagte ihr nichts davon, weshalb er komme, und sie fragte ihn auch nicht danach. Nie hatte einer von den Briganten gewagt, sich nachts ihrem Lager zu nähern – wie ein Gelöbnis war's, daß sie allesamt abgelegt, ihr fern zu bleiben, – am wenigsten Ruggiero. Nun war er da, und sie schienen es beide natürlich zu finden, daß er da war.

»Morgen brechen wir wieder auf,« sagte Ruggiero, als ob er nur gekommen wäre, um ihr das mitzuteilen.

»Meinetwegen, – brechen wir auf,« erwiderte sie.

»Bist du auch nicht zu müde, um weitergehen zu können?«

Die Frage klang sehr seltsam in seinem Munde, fast zärtlich besorgt. Und sie lachte: »Dann trägst du mich, Ruggiero Pinto.«

Auch er mußte bei dieser Vorstellung lächeln, daß er Gemma auf seinen Armen durch die öde Wildnis trüge, und doch spürte er gleichzeitig auch ein plötzliches, heißes, wildes Verlangen danach, es zu thun. »Ich werde dich tragen!« sagte er. Er machte Miene, sich gleich zu ihr niederzubeugen, sie auszureißen und emporzuheben.

Aber sie drohte ihm plötzlich: »Rühr' mich nicht an!«

»Was wirst du denn thun, wenn ich dich anrühre?«

»Dich stechen.« Und sie zeigte auf den silbernen Pfeil, mit dem ihre im Nacken nestartig zusammengelegten, schweren, blauschwarzen Flechten durchstochen waren. »Höre du,« sagte er, »du bist eine Wilde.«

»Und du bist der Wildeste, den ich je gesehen, Ruggiero Pinto.«

»Dann passen wir ja gut zu einander, Gemma.« Und wieder lachte er. Diesmal war's ein geräuschloses, scheues Lachen. Ihm war seltsam beklommen zu Mute. Er blickte um sich. Hinter den Felszacken war der halbe Mond heraufgekommen und erfüllte Nähe und Ferne mit einem sanften Glanz. Silberduft schwamm in den Bergschluchten. Nun kroch das weiße, milde, gespenstische Licht näher und näher heran, strahlte in den Höhleneingang, umfloß mit unirdischem Schimmer das Haupt der Ruhenden. Sie lag immer noch ganz unbeweglich, die beiden zusammengeflochtenen Hände unter dem Kopfe, die lang bewimperten Augen halb geschlossen. Die schönen, strengen Züge des Gesichts, das in dieser Beleuchtung vollends wie aus Bronze gegossen erschien, waren weniger herbe, als sonst, ein Ausdruck von Gelöstheit und Milde war plötzlich darin. Ruggiero fühlte sein Herz hämmern, daß es ihm den Atem benahm. Er wollte gehen, aber es war, als ob seine Füße im Fußboden festgewurzelt wären. Trotzdem dachte er an die Nacht, wo sie vor ihm geflohen war und ihm ihr Kind zum Schutze entgegengehalten hatte. Jetzt besaß sie diesen Schutz nicht mehr, aber sie schien sich auch so sicher zu fühlen, daß sie nicht diesen und keinen anderen benötigte. »Gemma!« rief er halblaut, nach Atem ringend, als ob er ersticken müsse. Er riß sich mit der Hand die Jacke am Halse auf, so bedrängte es ihn.

Sie gab keine Antwort, änderte keine Miene; sie schien wieder eingeschlafen zu sein. Und der Mondglanz rieselte jetzt voll über ihr Antlitz hin.

Er beugte sich über sie nieder, um sie zu fragen – er wußte selbst nicht, was? er wußte überhaupt nichts mehr von sich, kannte sich selber nicht mehr. Er fühlte es endlich nur noch mit selig-stürmischer Gewißheit, daß er dies schöne Weib in seinen Armen hielt. Sie erwiderte seine Küsse zwar nicht, aber sie duldete sie doch. Und ein sieghafter Strahl flammte zwischen ihren Lidern auf. Die ganze Felsgrotte war jetzt vom Mondglanz erfüllt; die weite Felswildnis lag in tiefem, toten Schweigen. – –

Von dieser Nacht her war mit Ruggiero Pinto eine seltsame Veränderung vorgegangen. Seine Unstäte schien plötzlich von ihm genommen zu sein, und er war freundlich und mild, wie man ihn vordem nie gesehen, ja, er, der sonst immer ernst und düster abseits gesessen, scherzte mit den Männern und war guter Dinge, wie wenn erst jetzt das Leben für ihn anfangen sollte. Dabei schien er aber mit einemmale kein sonderliches Gefallen mehr am Brigantenhandwerk zu finden, sondern war zwar zu mancherlei abenteuerlichen Streichen aufgelegt, die er mit tollkühner Sicherheit durchführte, wollte jedoch von großen und gefährlichen Raubzügen nicht mehr viel wissen, sondern gefiel sich in einem ruhigeren und beschaulicheren Dasein, als ob er schon genug gethan habe und sich nach friedlicher Rast sehne. Das kam der Mehrzahl der Männer wenig gelegen. Übrigens konnte ihnen nicht lange verborgen bleiben, weshalb der Hauptmann sich in seinem ganzen Wesen so gewandelt hatte, und sie fingen jetzt an, Gemma mit mißgünstigen und feindseligen Augen zu betrachten.

Vor den Augen der Männer hielten die beiden zwar jetzt so wenig zusammen, wie je vorher, denn das hätte Ruggiero's strenge Manneszucht nicht geduldet; wohl aber wußte der Hauptmann es so einzurichten, daß sie zeitweilig, wenn die Briganten alle auf Kundschaft oder zu Botengängen und Streifzügen ausgesandt waren, allein im Lager zurückblieben, und unter dem Schutze der Dunkelheit kamen sie immer zueinander. Sie hatten das nicht verabredet, und Ruggiero hatte es weder erbeten noch Gemma ihm zugestanden, aber es war so, und sie schienen es sich beide nicht mehr anders vorstellen zu können. Was die Männer davon dachten, kümmerte sie nichts. Daß Gemma keinem unter ihnen allen mit größerem Rechte je zufallen könne als ihrem Hauptmann, war ihnen immer klar gewesen, nur begriffen sie nicht, wie das so plötzlich hatte geschehen können, da die zwei sich immer in Feindseligkeit gegenüber gestanden hatten, und daß Gemma den kühnen Giganten zu einem friedliebenden Weichling machte, gefiel ihnen wenig.

Ruggiero selber verspürte, wenn er mit Gemma zusammen war, sie auf seinem Schooße saß und sich seine wilden Liebkosungen geduldig gefallen ließ, oft das Verlangen nach einem ruhigen und gesicherten Leben in sich. Er hätte Gemma gern sich zu seinem ehelichen Weibe antrauen lassen: und wäre mit ihr aus den Bergen heimgekehrt, um arbeitsam und friedlich seine Tage mit ihr zu verbringen, – mit ihr und mit den Kindern, die sie ihm gebären würde. Denn er hatte Gemma gesagt, daß sie ihn nicht eher ganz so lieben werde, wie er sie, bis die Erinnerung an ihr totes Kind nicht durch die Geburt eines neuen Kindes, dessen Vater er sei, ausgetilgt sein werde. Und Gemma hatte ihm Recht gegeben. Ruggiero aber sehnte sich nach diesem Kinde, er hatte die Empfindung, daß er es wahnsinnig lieb haben werde, er freute sich darauf, wie er mit diesem Kinde, das Gemma ihm gebären sollte, spielen und tändeln werde; dieser große, riesenstarke Mann konnte selber zum Kinde werden, wenn er davon redete. Und Gemma sah ihn dann nur an und nickte vor sich hin, während ein irres Leuchten durch ihre Augen ging und ein seltsames Lächeln ihren Mund umspielte. Der Brigantenhauptmann sprach von nichts mehr lieber und von nichts öfter, als von dem Glück, wo er Gemmas Kind in seinen Armen schaukeln werde, und er, der, ohne mit einer Wimper zu zucken, Menschenblut vergoß und ohne jede Gewissensregung Raub und Plünderung, Brand und Totschlag veranlaßt, selber daran teil genommen hatte, malte sich gern ein kleines behagliches Heim aus, wo er mit Weib und Kindern ungestört leben und seinen Acker bestellen und seinen Wein keltern wollte. So seltsame Gegensätze schlummerten in seiner Natur. War er nur um Gemma's willen dereinst unter die Briganten gegangen, ohne durch ein ungesühntes Verbrechen dazu getrieben zu sein, oder aus wilder Abenteuerlust und Raubgier, so war seine Freude am Räuberhandwerk erloschen, nun er das Weib doch noch besitzen durfte, nach dem er in rasender Leidenschaft so lange Begehr getragen. Was ihn zu tollkühnen Thaten und blutigen Abenteuern getrieben, war nichts gewesen als das Feuer, das ungelöscht in seiner Seele gebrannt hatte und sich gewaltsam hatte einen Ausbruch verschaffen müssen, gleichviel wohin es schlug. Ehrgeizig war Ruggiero Pinto nicht mehr, und was an heißen und starken Empfindungen in ihn gelegt war, das galt dem Weibe, das sich ihm geeignet hatte, und dem Kinde, das sie ihm gebären sollte.

Und der Tag kam, wo Gemma Ruggiero gestand, daß sie sich Mutter fühle. Da stieß der Gigant einen Schrei aus, wie man ihn noch nie von ihm gehört hatte. Er klang von den Felswänden wider, gleich dem eines Raubtieres, das seinem Käfig entsprungen, zum ersten Male wieder die Freiheit begrüßt. Und es fehlte nicht viel, so hätte der Gigant sich über das Weib, das sein Kind unter dein Herzen trug, gestürzt, gleichfalls wie ein wildes Tier, um sie zu erdrücken, um ihr den Atem aus der Brust zu pressen. Er mußte sich erst darauf besinnen, daß er das jetzt nicht mehr dürfe, daß er sein Weib und sein Kind zugleich töten könne, wenn er den wilden Ausbrüchen seiner rauschartigen Freude jetzt keinen Zwang auferlegte. Und die Briganten liefen herzu, um ihn zu fragen, ob er wahnsinnig geworden sei, daß er mit seinem Schreien die Sbirren auf ihre Spur locke. Ruggiero sah ein, daß sie Recht hatten, aber er begriff nicht, wie er den Schrei hätte unterdrücken sollen, ohne daran zu ersticken. Er wollte es ihnen allen gleich zuschreien, was ihm bevorstand. Aber dann befiel ihn ganz plötzlich eine wunderliche Scham, und er kehrte sich ab und sprach kein Wort.

Von da an war der Riese voller Zärtlichkeit und Demut gegen Gemma. Er behandelte sie mit einer Art von scheuer Ehrfurcht, wagte kaum mehr, sie zu berühren, aus Furcht, ihr wehe zu thun in ihrem Zustande, und sah sie immer nur wie verklärt an. Wie eine göttliche Offenbarung war ihm das Geheimnis, das sie ihm enthüllt hatte. Gemma selber ging einher, wie eine Traumwandlerin. Es erfüllte sie mit wohliger Genugtuung, daß Ruggiero sich wie ein Verzückter geberdete in der Aussicht auf seine Vaterschaft, und doch überlief es sie manchmal wie ein Frösteln, wenn sie daran dachte, weshalb ihr das solchen Triumph gewährte. Sie selbst empfand nicht Freude und nicht Kummer darüber, daß sich ein Leben unter ihrem Herzen regte; das Kind, das sie gebären sollte, würde für sie zum Werkzeug ihrer Rache werden, nichts weiter. Und Ruggiero's Glückseligkeit in der Erwartung deutete ihr klar genug, wie tief diese Rache ihn dereinst im innersten Kern seines Lebens treffen werde, mehr, als sie selber geahnt, da der furchtbare Plan in ihrer von Schmerz und Groll erbitterten Seele zuerst aufgekeimt war. Ja, die Madonna, zu der sie Nacht um Nacht gefleht, meinte es gnädig mit ihr, die Madonna erhörte sie über alles Hoffen und Wollen hinaus.

Gemma war auch glücklich darüber, daß Ruggiero jetzt von seinen wilden Liebkosungen abließ, unter denen sie vorher oft zu ersticken geglaubt hatte. Er that es aus Schonung und Rücksicht für ihren Zustand, sie aber atmete dabei auf, wie wenn eine schwere Last von ihr abgefallen wäre. Sie dachte gar nicht mehr darüber nach, ob diese stürmischen Ausbrüche einer elementaren Leidenschaft auch in ihrem eigenen Busen Flammen entzündet hatten oder nicht, sie fühlte sich nur frei und wohl in ihrer Freiheit; sie konnte sich jetzt dem einen Gefühl der Rache hingeben und wollte es, kein Zwiespalt der Empfindungen beherrschte sie mehr. Je mehr Ruggiero in seiner seligen Bewunderung eines Unerhörten, das seiner wartete, ausging, um so kälter, fremder und starrer wurde Gemma ihm gegenüber. Er war ihr jetzt plötzlich wieder ganz nur der Mann, der ihren Gatten in den Tod geschickt und der ihr Kind ermordet hatte, und sie haßte ihn, wie sie das Kind haßte, das sie gebären würde, und dessen Vater er war. Ihre Züge sogar nahmen unter dieser Wandlung, die mit ihr vorgegangen war, eine seltsame, versteinerte Ruhe an, die allen auffiel.

Als ihre schwere Stunde nahe war, zeigte sich Ruggiero voll ängstlicher Besorgnis. Der riesenstarke Mann, den man oft lachen gehört hatte, wenn die Kugeln der Sbirren ihn umpfiffen, zitterte wie ein Kind, als sich bei Gemma die Wehen einstellten. Sie selbst mußte ihn mit Scheltworten aus der Höhle vertreiben, in der sie auf ihrer Streu und ein paar armseligen Decken lag und ohne Furcht dem Kommenden entgegensah. Erst da ging er, aber nur, um ruhelos in der Öde umherzustreichen; und einmal mußte er seine Büchse in die Luft abschießen, um nur irgend etwas zu thun in seiner nagenden Unrast, um nur irgend einen Ton in dem großen Schweigen der Wildnis zu vernehmen. Und was ihm nie geschehen war, erlebte er jetzt: er verirrte sich, hatte Mühe, sich wieder zurechtzufinden, verstieg sich in seinem trotzigen Vorsatz, sich da einen Aufgang zu erzwingen, wo tatsächlich kein solcher möglich war, mehr als einmal, so daß er immer wieder auf halsbrecherischen Bergrücken herabglitt und langte endlich, in Schweiß gebadet, zitternd vor Übermüdung und Erregtheit, aus zahllosen Hautabschürfungen und kleinen Fleischwunden blutend, wieder im Lager an, wie wenn er einen schweren Kampf mit einem Tier der Wildnis bestanden hätte. Die letzte Strecke hatte er, trotzdem ihm beinahe die Kniee brachen, noch laufend zurückgelegt, weil ihm plötzlich wieder die Angst um Gemma aufgestiegen war und ihm die Kehle zusammenpreßte.

Und nun, wo er atemlos in die Höhle wankte, hielt sie ihm, ohne ein Wort zu sprechen, ein kleines, zappelndes Etwas entgegen, von dem er sich sagen mußte, daß es ein Kind, – daß es sein Kind war. Da widerhallte abermals die Felswandung von einem gewaltigen Gejauchz des Brigantenhauptmanns; gleich darnach aber knickte er zusammen, wie ein gefällter Riesenstamm, und schluchzte im Übermaß seiner Empfindungen, von Mattigkeit, von Erregung, von Wonne überwältigt, niedergeworfen, gleich einem Kinde.

Gemma hatte abermals einen Sohn geboren. Ruggiero wollte, daß sein Sohn ebenso heiße, wie er, aber Gemma bestand darauf, daß er Carlo genannt wurde, wie ihr Gatte geheißen hatte und wie auch sein Sohn nach ihm hatte gerufen werden sollen, und der überglückliche Vater fügte sich, wenn auch nicht gern, darein. Das Kind war ihm gleich von vornherein an's Herz gewachsen, noch ehe es für ihn ein Spielzeug werden konnte und die Liebkosungen begriff, mit denen er es überschüttete. Die Briganten fanden, daß ihr Hauptmann völlig kindisch geworden sei, seit er Vater geworden, und murrten über die Unthätigkeit, zu der er sie und sich selber verurteilte.

Gemma ihrerseits betrachtete das Kind von Anfang an mit feindseligen Blicken. Nicht einmal auf Augenblicke schien sich der Instinkt der Mutterliebe in ihr zu rühren. Es sah freilich schon jetzt Ruggiero so ähnlich, daß man wohl annehmen konnte, es werde einst vollkommen sein Ebenbild werden. Manchmal, wenn sie es tränkte, spürte sie förmlich ein Zucken in ihren Fingern, als müßte sie dem kleinen, unschuldigen Geschöpf dieselben um den Hals krallen und so fest darum zusammenpressen, daß es keinen Laut mehr von sich geben konnte, bis es erstickt war. Und wenn das Kind sie mit Ruggiero's dunklen Augen ansah und dazu lachte, wußte sie, daß sie es haßte, daß es sie keinerlei Überwindung kosten würde, es zu töten. Aber sie wollte es nicht schon jetzt töten, es sollte Ruggiero erst noch lieber werden, ihm erst noch unentbehrlicher erscheinen, damit es ihn noch herber traf. Bis in's innerste Lebensmark sollte es ihn treffen.

Während Gemma sich immer tiefer in diesen Gedanken hineinbohrte, der ihr ganzes Inneres in Beschlag nahm, stachelte es sie doch gleichzeitig, auch Ruggiero's Eifersucht zu reizen. Es verletzte ihre weibliche Eitelkeit, daß er sie über dem Kinde so völlig vernachlässigte, ja, daß er ihrer neben demselben gar nicht mehr zu bedürfen schien. Und wenn es bloß gewesen wäre, um ihn noch mehr zu quälen, so wäre auch das schon Grund genug für sie gewesen, seine neidische Leidenschaft zu entflammen. Sie, die bis dahin die Männer alle in respektvoller Entfernung von sich zu halten gewußt hatte, näherte sich nun plötzlich selber ihnen und wußte durch heiße Blicke und abgerissene, vieldeutige Worte ihre Begierden alsbald zu stacheln. Eines Abends sah Ruggiero sie mit dem roten Menico in Lachen und Schwatzen zusammenhocken, während das Kind in der Höhle jämmerlich um Nahrung schrie. Da runzelte sich zum erstenmale seit der Geburt seines Sohnes wieder die Stirn des Giganten, und in drohend, befehlshaberischem Tone rief er dem Weibe zu, ihr Kind zu warten.

Gemma kam lässig näher, rief von unterwegs dem Roten noch ein paar Stachelworte zu, die diesen zu lautem Lachen reizten, und sagte: »Ich bin deine Dienerin nicht, Ruggiero. Was dem Kinde not thut, weiß ich selber und werd' es ausrichten.«

»Man merkt nicht viel davon, daß du seine Mutter bist!« erwiderte er wild.

»Am liebsten säugtest du es freilich selbst,« gab sie höhnisch zurück.

Und ein andermal verwies er ihr's mit strengen Worten, noch in der Dunkelheit mit dem roten Menico zusammenzukauern, ja, er drohte ihr, es werde ein Unglück geben, wenn es dennoch geschähe. Da traf er sie am nächsten Tage mit dem kleinen Baldassare zusammen in gleich traulichem Gespräche, und nun warf er ihr entgegen: »Bist du so eine geworden, Gemma? Ist dir jetzt jeder gleich recht?«

»Warum soll mir nicht jeder gleich recht sein?« versetzte sie gleichmütig dagegen.

»Weil du mein Weib bist!« schrie er zornig.

»Ich wüßt' nicht, daß der Priester uns zusammengegeben hätte!«

»Gemma!« Er stand ganz wie erstarrt über diese Antwort da. Dann wurde er nachdenklich und weich gestimmt, ergriff ihren Arm und zog sie mit sich in die Höhle zu dem Kinde. Und dort, das Kind auf dem Schoße, den rechten Arm um ihre Schulter geschlungen, redete er zu ihr davon, daß er das Brigantenhandwerk aufgeben und mit ihr nach Fortone zurückgehen wolle und daß sie dann sein eheliches Weib werden könne und sie alle in Frieden und Arbeitsamkeit ihre Tage verleben würden, wie glückliche Menschen.

Das hörte sie mit an, ohne ein Wort zu erwidern, und nur, als er geendet hatte, sagte sie, stier vor sich hinbrütend: »Das ist nun zu spät.«

Er verstand sie nicht und sprach zu ihr von der Möglichkeit einer Begnadigung durch die Regierung für alle Briganten, wenn man schwöre, fortan Frieden zu halten auf Lebenszeit. Sie schien ihn aber nicht mehr zu hören, sondern nickte nur vor sich hin und erwiderte abermals: »Ja, wenn es nicht schon zu spät wäre!«

»Warum sollt' es zu spät sein, Gemma?« fragte er.

»Weil du mein Kind getötet hast, Ruggiero!«

Da erschrak er so heftig, daß er den kleinen Carlo beinahe hätte aus den Armen fallen lassen. »Gemma!« sagte er und sah sie mit starrem Entsetzen an, »denkst du immer noch daran?«

»Bis zu meiner letzten Stunde!«

»Und was hat das mit unserer Rückkehr nach Fortone zu thun, Gemma?«

Sie sah ihn an, als begriffe sie seine Frage nicht, strich sich mit der Hand über die Stirn hin und erwiderte dann ganz langsam: »Ja, du hast Recht, Ruggiero, es hat mit unserer Rückkehr nach Fortone nichts zu thun. Dort oder hier, – das gilt alles gleich. Mach's, wie du willst, Ruggiero!« Wieder brütete sie vor sich hin, als sie das gesagt hatte, und er betrachtete sie mit stummer Scheu.

Seither mochte er über seinen Plan, der ihm fort und fort am Herzen lag, nicht mehr mit ihr reden, aber in der Stille erwog er ihn um so ernstlicher. Gemma's Wesen, das zwischen stierer, finsterer Verschlossenheit und den Ausbrüchen einer wilden und ausgelassenen Lustigkeit in Gesellschaft eines oder des anderen von den Briganten seltsam wechselte, ward ihm unheimlich und vertrieb ihn allmählich aus ihrer Nähe. Als er sich nachts wieder zu ihr gesellen wollte, entzog sie sich ihm in angstvollem Entsetzen und bat ihn in so herzbewegenden und zugleich wirren Reden, sie zu schonen, daß er von ihr abließ und ein geheimes Grauen vor ihr ihn für immer fernhielt. Wenn sie ihn umarmen wolle, trete immer der Schatten ihres toten Kindes vor sie hin und versage es ihr, hatte sie ihm in's Ohr geraunt, es sei der Sünde genug geschehen, nun sei es Zeit, daß die Sühne folge.

Ruggiero tröstete sich in dem Gedanken, daß ein ruhiges, gefahrloses und friedsames Leben, das er ihr bereiten wollte, Gemma's seltsamen Irrwahn schon wieder heilen werde. Inzwischen fand er in seinem Getändel mit dem Kinde, das er mit jedem Tage mehr liebte, je gleichgiltiger es Gemma zu werden schien, volle Befriedigung; er begriff kaum mehr, wie er je ohne dies Kind hatte leben können.

Inzwischen hatten Ruggiero's Thatenlosigkeit und die sorglosere Lebensweise, welche die Briganten sich neuerlich, seinem Beispiele folgend, angewöhnt, mit der Zeit dazu geführt, daß die Sbirren mutiger wurden und auf die Annahme hin, daß bei den Räubern nicht alles mehr stehe, wie früher, sondern wahrscheinlich Uneinigkeit und Unentschlossenheit dort vorherrschten, sich tiefer in's Gebirge hineinwagten, als je. Ja, sie schickten eines Tages durch einen halberwachsenen Burschen aus Fortone, den sie aufgefangen hatten, als er mit Nachrichten von dort in's Brigantenlager unterwegs war, von dem sie aber nichts herausbringen konnten, da er stumm war oder sich wenigstens mit raffinierter Geschicklichkeit so stellte, als ob er's sei, dem Hauptmann Ruggiero Pinto einen Brief, in dem sie ihn aufforderten, gegen Zusicherung seines Lebens und seiner Freiheit die ganze Bande ihnen auszuliefern, mit der man alsdann nach dem Rechte verfahren werde. Auf ein so schmachvolles Ansinnen aber erteilte Ruggiero ihnen nicht einmal eine Antwort, vielmehr stachelte ihn dasselbe, den Sbirren zu zeigen, daß er trotz allem immer noch der Alte sei, und daß sie lieber auf ihrer Hut vor ihm sein sollten, statt ihn zu reizen. Schon am nämlichen Tage bereitete er mit der früheren Umsicht und Kühnheit alles für einen neuen Raubzug vor.

Sein Wunsch wäre es gewesen, Gemma selber mit dem Kinde im Lager zurückzulassen, weil er seinen Liebling nicht allen den Gefahren aussetzen wollte, die sich bei einem Unternehmen, wie er es plante, niemals vorhersehen ließen, und weil die Erinnerung an das, was er einmal gethan hatte, hatte thun müssen, als ein Kind das Leben aller in Gefahr gebracht, ihn schreckte, ja, mit banger, ahnungsvoller Sorge erfüllte. Er mußte sogar darüber nachdenken, ob Gemma über den Tod dieses Kindes wohl eben solchen Schmerz empfinden würde, wie über den des Sohnes, den sie Carlo Lombardi geboren hatte, und er schüttelte den Kopf dazu. Aber Gemma weigerte sich, allein mit dem Kinde im Lager zurückzubleiben; sie behauptete, daß sie sich ängstige, wenn kein männlicher Schutz ihr mehr zur Seite sei. Und auf Ruggiero's grimmig-lachend herausgestoßene Frage, vor wem sie sich etwa ängstigen könne, gab sie zur Antwort: »Vor mir selber.« Da hieß er sie, einen Fluch zerknirschend, mitgehen.

Der Raubzug gelang den Briganten über alles Erwarten gut. Das Opfer des Ricatto, diesmal ein eingewanderter Schweizer, der durch einen schwunghaften Exporthandel, bei dem es nicht immer ganz reinlich zugehen sollte, zu bedeutendem Reichtum gelangt war, fiel den Räubern, von einem seiner eigenen Leute verraten, in die Hände, als er mit wohlgefüllter Geldtasche in seiner Chaise über Land fuhr, um bei den kleinen Besitzern Wein- und Getreidevorräte aufzukaufen. Er hatte ausdrücklich ohne jede militärische Bedeckung reisen wollen, um kein Aufsehen zu erregen und für einen schlichten Kleinhändler gehalten zu werden. Nun bereitete sein Fang den Briganten weder Mühe, noch kostete er ihnen einen Schuß Pulver. Und der ängstlich um sein Leben besorgte Mann war nicht nur mit jedem Lösegelde einverstanden, das die Räuber noch außer dem erbeuteten Geldvorrat für seine Freilassung beanspruchten, sondern faßte sogar das Schreiben, das ihm Ruggiero an seine Angehörigen diktierte, und wodurch diese zur sofortigen Zahlung der festgesetzten Summe aufgefordert wurden, freiwillig in noch beweglicheren Worten ab, als Ruggiero sie von ihm verlangt hatte. So ließ das Geld nicht lange auf sich warten, und die Briganten konnten mit reicher Beute den Rückzug antreten.

Auf diesem aber wurden sie alsbald von den Sbirren verfolgt, die ihnen schon hart auf den Fersen waren, noch ehe sie wußten, daß ihre Spur aufgefunden worden. Der Freigewordene hatte trotz seines den Räubern vor seiner Entlassung auf das Kruzifix abgegebenen, eidlichen Versprechens, weder eine Anzeige des stattgehabten Ricatto's bei der Obrigkeit abzugeben noch irgendwelchen Verrat über etwa bei den Briganten Gesehenes oder Gehörtes zu üben, sofort, nachdem er sich von einem Priester die Unverbindlichkeit solch eines Schwures hatte bestätigen lassen, voller Wut über seine Geldverluste und in der Hoffnung, daß man den Räubern wenigstens einen Teil derselben noch wieder werde abjagen können, die Behörden in Alarm gebracht, hatte, im Falle des Gelingens, den Sbirren den dritten Teil des wiedergebrachten Geldes versprochen und durch mancherlei trotz seiner verbundenen Augen Wahrgenommenes so viel wertvolle Fingerzeige für eine erfolgreiche Verfolgung der Briganten erteilen können, daß die aufgebotenen Karabinieri, denen eine halbe Kompagnie Bersaglieri als Reservetruppe mitgegeben ward, alsbald eine fieberhafte Thätigkeit entwickelten.

Als die Räuber ihrerseits einsahen, daß die Verfolgung mit so viel Eifer und Sachkenntnis in's Werk gesetzt worden war, daß es früher oder später zu einem Zusammenstoß kommen mußte, bei welchem sie wegen der Überzahl der Gegner den Kürzeren ziehen würden, beschlossen sie, auf Ruggiero's Rat, sich aufzulösen; in kleinen Trupps von zweien und dreien sollten sie auseinandergehen, alle eine verschiedene Richtung einschlagen, die Verfolger auf ihre Spur locken, zerstreuen, irreführen und auf solche Art schließlich unschädlich machen. Bei der genauen Kenntnis jedes Einzelnen von allen Schlupfwinkeln und Schleichwegen im Gebirge erschien ein späteres Zusammentreffen aller ebenso wenig schwierig, wie eine Vereitelung des von den Sbirren offenbar gewollten Gefechts Mann gegen Mann. Übrigens that Eile nötig, da bereits die ersten Kugeln durch die Luft pfiffen, mit welchen die Sbirren ihr Nahen anmeldeten, als eben erst alle von dem Fluchtplan in Kenntnis gesetzt waren.

In der nächsten Minute schon hatten die Briganten sich nach allen Richtungen zerstreut. Sie kletterten die Hänge empor, sie warfen sich in die Schluchten hinab, sie wanden sich durch dunkles Gestrüpp fort, das sie zu verschlingen schien, und kauerten in scheinbar unzugänglichen Felsenhöhlen nieder. Es war, als ob plötzlich der Erdboden sie alle verschlungen hätte. Die Sbirren stutzten und wußten nicht mehr, wohin sie sich wenden sollten. Überallhin schienen Spuren zu führen, welche die Flüchtigen zurückgelassen, ja, jetzt sausten ihnen sogar von mehreren Seiten her Kugeln um die Ohren, und mit lautem Aufschrei sprang einer der vordersten Karabinieri empor, warf die Arme in die Luft, fiel hintenüber, streckte sich und war tot.

Nun begann eine wilde Hetzjagd. Die wütenden Karabinieri, die der Tod ihres Kameraden angestachelt hatte und die sich den schon für sicher gehaltenen, wertvollen Fang überdies um keinen Preis mehr entgehen lassen wollten, stürzten mit wilder Todesverachtung die Berghänge hinauf und hinab, gerieten in der Hitze der Verfolgung auseinander, verirrten sich, kamen auf unwegsame Stellen, wo sie manchmal nicht mehr aus noch ein wußten, und fielen so zum Teil den im Hinterhalt liegenden Briganten hilflos und widerstandslos zum Opfer. Der ganze Trupp war im Umsehen durch die eigene Unbesonnenheit in der Verfolgungswut weit auseinandergesprengt, während es den Einzelnen nur in seltenen Fällen gelang, einen oder den anderen der Räuber aufzuspüren, mit dem sie sich dann Mann gegen Mann messen mußten, ohne ihm überlegen zu sein. So gelang es zwar, ein halbes Dutzend Briganten teils unschädlich zu machen, teils gefangen zu nehmen, aber die Karabinieri waren auch zugleich binnen Kurzem in eine Bedrängnis geraten, die ihre Lage zu einer verzweifelten machte. Ohne Verbindung untereinander standen sie erschöpft, zum Teil verwundet, in unbekannter Gebirgswildnis einem unsichtbaren, sie von allen Seiten her umlauernden Feinde gegenüber, ungewiß darüber, nach welcher Richtung sie sich zur Flucht zurückziehen mußten, und ungewiß, wo sie den Briganten die Stirn bieten könnten. Am Rande ihrer zu jäh verbrauchten Kräfte angelangt, verwirrt und versprengt, wie sie waren, bereiteten sie sich darauf vor, meuchlings niedergeschossen oder im besten Falle gefangen fortgeschleppt zu werden, ohne mehr viel an Verteidigung zu denken.

Das war's, was Ruggiero gewollt und vorhergesehen hatte. Er selber war nur eine kurze Strecke weit geflüchtet, hatte dann in einer waldigen Felssenkung eine gedeckte Stellung gesucht und die Sbirren an sich vorüberstürmen lassen, ohne ihnen nur eine Kugel nachzusenden, so daß er sich jetzt in ihrem Rücken befand. Gemma war ihm mit dem Kinde mechanisch auf dem Fuße nachgefolgt. Einmal fing der Kleine an unruhig zu werden, und Gemma's Augen flogen mit einem lauernden, wildunheimlichen Ausdruck zu Ruggiero hinüber. Diesem war's, als wollte sie ihm zurufen: »Töte ihn nun doch auch, wenn du damals recht thatest!« Und in einer plötzlichen Aufwallung, wie um das Kind vor seiner Mutter zu schützen, wandte er sich um, riß es Gemma aus den Armen und trug es selber an seiner Brust bis in das Versteck, das er sich ausersehen. Auch dort nicht einmal ließ er es von sich, sondern wickelte es sorglich in seinen Mantel, bettete es auf Blättern und Strauchwerk und schaukelte es leise mit der Linken hin und her, während die Rechte am Griffe der auf seinen Knien ruhenden Büchse lag. Und Gemma betrachtete das alles, in einem anderen Winkel der Höhlung niederkauernd, mit heißen, brennenden Augen, ohne eine Wort zu sprechen, ohne durch eine Miene oder Regung zu verraten, daß er sich anmaßte, ihre eigenen Rechte auszuüben, oder daß sie überhaupt etwas bei dem empfand, was sie mitansah.

So verging eine geraume Zeit, und das Kind hatte sich längst beruhigt, war sogar friedlich entschlafen, während um seine Lagerstätte her die Schüsse zwischen den Sbirren und Briganten unablässig gewechselt wurden, als Ruggiero den Augenblick gekommen glaubte, wo er den lange geplanten Hauptstreich gegen die Sbirren führen und mit einem Schlage die Verwirklichung seines Lieblingswunsches herbeiführen konnte, der ihm heute, wo ihm wieder einmal die Gefahren so nahe getreten waren, die seinem Kinde jederzeit bei dem jetzigen Leben drohten, mehr am Herzen lag, als je. Behutsam erhob er sich, um den kleinen Schläfer nicht zu wecken, winkte Gemma einen Gruß zu, der ihr bedeuten sollte, daß er wiederkomme, und daß sie ihn hier erwarten möge, und wollte davonschleichen.

Sie aber hatte sich jäh erhoben, stand neben ihm und umklammerte seinen Arm. Ihre Augen forschten mit irrem Glühen in seinem Antlitz. »Wohin?« stieß sie mit leisem, zischenden Ton aus.

Er wollte sie von sich schütteln, aber sie hing sich fest an ihn. »Närrin,« raunte er ihr zu, »meinst du, ich wollte euch allein lassen und nicht wiederkommen?« Und als sie noch immer nicht beruhigt schien, fügte er hinterdrein: »Wenn ich wiederkomme, denk' ich, nie mehr von euch gehen zu müssen. Heut soll sich's entscheiden. Wenn mich mein altes Glück nicht im Stiche läßt, und die Herren in der Schreibstube Vernunft annehmen, werden wir bald in Fortone sein. Das wird ein Leben sein, Gemma! Und das Kind –« Sein Blick, den er auf das kleine, schlummernde Geschöpf zurückwarf, strahlte.

Dann riß er sich, ohne den Satz zu beenden, los, nickte ihr nochmals zu und klomm vorsichtig die Felswand hinauf.

Gemma war jedoch in der nächsten Minute wiederum neben ihm. Jetzt hielt er inne und blickte sie finster an. »Bist du toll? Was soll das? Was willst du?«

»Nimm mich mit!«

»Du bist wahnsinnig!«

»Eben deshalb.«

»Und das Kind?«

»Wegen des Kindes will ich gerade mit.«

»Diese Narrheit!« Er blitzte sie zornig mit seinen großen Augen an. »Du bleibst!«

»Dann bleib' auch du!«

Jetzt hob er seine Faust und schüttelte sie vor ihrem Gesicht hin und her. »Höre, du, reize mich nicht länger!« zischelte er ihr ingrimmig zu. »Ich sage dir: du bleibst, und ich gehe!«

»Wenn du nicht bleibst und mich nicht gleich mitnimmst, geschieht ein Unglück, Ruggiero!«

Er drohte ihr abermals. Dann zuckte er die Achseln. »Du bist toll, Poverina.« Und er strich ihr mitleidig plötzlich über ihr Haar hin. »Geh!« raunte er dann, sich aufraffend, »geh', sei ruhig! Wenn ich wiederkomme, wird alles gut werden. Geh, Poverina!«

Er warf ihr noch einen ganz traurigen, gutmütigen Blick zu, ehe er sie verließ. Und sie blieb wie angewurzelt auf der Stelle stehen, wo er sie verlassen hatte, und sah ihm nach mit stieren, glanzlosen, trockenen Augen, die beiden Hände lose im Schoß in einander gefaltet, vorgebeugten Leibes, mit kraftloser Haltung, als ob sie nahe daran sei, zusammenzubrechen. Auch als er droben verschwunden war, verharrte sie so noch eine Weile, ehe sie wie betäubt wieder in die Senkung zurückkroch.

Dort hockte sie sich an demselben Platz nieder, wo sie vorher gesessen hatte, und starrte immer nach dem Kinde hinüber. Es war ihr seltsam wüst und dumpf im Kopfe. Manchmal zog es sie wie magnetisch zu dem Kinde hin, und dann packte es sie mit einer wunderlichen Angst vor sich selber, daß sie sich gewaltsam bezwingen mußte, um sitzen zu bleiben und sich nicht ihm zu nähern. Dabei dachte sie immerfort an das, was Ruggiero gesagt hatte; aber es zog ihr ganz schattenhaft, ganz traumähnlich vor der Seele vorüber. In Fortone würden sie wohnen, und dann würde alles gut sein. Dann brauchte er auch ihr Kind nicht mehr zu töten, weil es die Briganten nicht mehr in Gefahr bringen würde. Aber ihr Kind war ja schon tot. Und sein Kind sollte um deswillen auch sterben. Wenn sie aber in Fortone waren, und wenn das Brigantenleben zu Ende war, brauchte es nicht zu sterben. Deshalb mußte es sterben, bevor sie nach Fortone gingen, und so lange sie noch Briganten waren. Und sie, sie mußte es töten. Sie hatte es ihm gesagt, daß sie es töten werde, töten müsse, wenn er nicht hier bliebe und sie auch nicht mit sich nähme. Er war trotzdem nicht geblieben und hatte sie auch nicht mitgenommen. Mit der Faust hatte er sie bedroht, als sie sich an ihn hatte hängen wollen. Er wollte es also, daß sie das Kind töte. Und es mußte ja auch sein. Nur daß ihr doch davor graute, und daß sie noch im letzten Augenblick gern davor bewahrt geblieben wäre. Nun freilich, da es sein eigener Wille auch war, und da sie doch nicht warten durfte, bis sie nach Fortone gingen. –

Mit einem Schrei sprang Gemma auf. Das Kind hatte einen leisen, wimmernden Laut von sich gegeben. In der nächsten Sekunde kniete sie vor ihm, bückte sich über es, griff mit ihren Fingern nach seinem Halse. Da war es schon wieder still. Aber ihr Kind war ja auch schon wieder still gewesen, als Ruggiero es doch erdrosselt hatte, nur weil es Carlo Lombardi's Kind war, und weil er Carlo Lombardi haßte. Sie aber haßte ihn, und sein Kind war jetzt in ihre Gewalt gegeben. Dies Kind hatte sie ihm ja nur geboren, um es töten zu können, um sich an ihm zu rächen.

Sie zog ihren Silberpfeil aus den Flechten. Damit hatte sie Ruggiero stechen wollen, hatte sie ihm gedroht, wenn er sie anrühre. Und in derselben Nacht noch war sie sein geworden. Nun wollte sie das Kind damit stechen. Gerade durch's Herz wollte sie es stechen, – dann würde es gewiß still sein, still für immer. Sie wickelte das Kind aus dem Mantel, in den Ruggiero es eingehüllt hatte, nahm es auf den Schoß, riß ihm das grobe Linnenkleid über der Brust auf und tastete mit zitternden Fingern nach seinem Herzen. Nun fühlte sie es, fühlte sie ganz deutlich, wie es schlug. Und nun nahm sie den Pfeil in die Hand und setzte die nadelscharfe Spitze desselben auf die Stelle. Da wimmerte das erschrocken aufgewachte Kind kläglich. Und Gemma ließ den Pfeil wieder fallen. Instinktiv schaukelte sie das Kind in mütterlicher Zärtlichkeit auf ihren Knien hin und her, um es zu beruhigen. Erst als ihr das gelungen war, fiel ihr wiederum ein, daß sie das Kind ja hatte töten wollen. Sie wußte jetzt nicht mehr, warum? sie wußte nur noch, daß es geschehen mußte. Aber sie wollte es auf andere Art thun. Erdrosseln wollte sie es. Sie hatte ja damals mit angesehen, wie man es machen mußte. Ganz fest drücken, ganz fest den Hals umklammert halten, bis es still war, bis sich nichts mehr darunter regte. Und das that sie nun. Aber sie mußte wohl nicht stark genug drücken können, denn das Kind jammerte und winselte fort unter ihren Händen. Und das ertrug sie nicht, sie ließ wieder los, sie wiegte es an ihrer Brust, sie stillte es sogar. Und doch empfand sie das gleichzeitig als eine Sünde, die sie beging. Das Kind durfte ja nicht leben bleiben. Ganz in Verzweiflung riß sie es an sich, kletterte mit ihm die Bergsteile empor, stand aber dann atemberaubt oben, ohne zu wissen, was sie wollte, weshalb sie hier heraufgestürmt war. Dann fiel es ihr ein. Sie wollte das Kind zu Ruggiero bringen, Ruggiero sollte es vor ihr schützen. Aber nein, nein, auch er konnte es ja nicht. Carlo Lombardi war da, und Carlo Lombardi verlangte, daß sie das Kind töte, wie Ruggiero das seinige getötet hatte. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und wenn sie sich weigerte, so würde er selber das Kind töten und sie mit ihm zugleich. Da war er schon! Und er langte nach ihr mit seinen bleichen Knochenarmen und grinste sie an, und seine Gestalt wuchs aus der Felssenkung empor in ungeheuerlichem Riesenmaß, und sie wußte es, er würde sie erdrücken. Sie fühlte es schon wie eine Bergeslast auf ihrer Brust, daß ihr der Atem darunter verging, und der kalte Schweiß auf ihrer Stirn stand. Eine furchtbare Angst packte sie an; die Augen quollen ihr aus den Höhlen, ihr Herz schlug wie rasend, und der Schaum stand vor ihrem Munde. Immerfort wirre, zusammenhanglose Worte murmelnd, die sich zuletzt in völlig unartikulierte Töne verloren, stierte sie in die Felssenkung zurück, trat näher, immer näher an den Rand derselben heran, wie wenn eine unsichtbare Macht sie magnetisch anzöge, und nun – mit einem jähen, irren Auflachen, das schaurig durch die Bergöde schrillte, warf sie sich samt dem Kinde in die Tiefe hinab. –

Ruggiero hatte unterdessen mit Mut und Verschlagenheit seinen Plan zur Ausführung gebracht. Die umzingelten Sbirren waren zum Niederlegen ihrer Waffen gezwungen worden und wurden von den Briganten, die ihre Büchsen im Arm und die Hand am Hahn hielten, bewacht. Zähneknirschend hatten sie sich in das Unvermeidliche gefügt, statt sich widerstandslos und nutzlos hinschlachten zu lasten, wozu sie verdammt gewesen wären, wenn sie die Schande nicht hätten über sich ergehen lassen wollen. Einen der Sbirren aber sandte Ruggiero verbundenen Auges und mit gefesselten Händen in Begleitung des schwarzen Cino an den Sindaco der zunächst gelegenen Ortschaft Alverde, um durch dessen Vermittlung mit dem Präfekten der Provinz in Verbindung zu treten, dem er, Ruggiero, den folgenden Vorschlag machte: Genehmigt die Regierung, daß die Briganten, so viele ihrer Lust dazu bezeigen, in ihre Heimat und zu ihrer früheren Thätigkeit zurückkehren, ohne wegen der Vergehen, um derentwillen sie einst in die Berge geflohen, oder wegen ihrer späteren Thaten als Briganten je zur Verantwortung gezogen zu werden, so versprechen die Zurückkehrenden nicht nur, fortan friedlich ihrem Gewerbe nachzugehen, sondern Ruggiero Pinto selber, welcher zu ihnen gehören wird, verpflichtet sich auch, im Interesse der öffentlichen Ordnung, dem Brigantaggio in diesen Gegenden überhaupt ein Ende zu bereiten. Desgleichen werden die gefangen genommenen Gendarmen und Bersaglieri ohne Lösegeld und mit ihren Waffen zurückgesandt. Nimmt die Regierung diese Bedingungen nicht an und bietet sie nicht volle Bürgschaft für die dauernde Aufrechterhaltung des geschlossenen Paktes, so werden nicht nur die sämtlichen Gefangenen erbarmungslos niedergemacht, sondern Ruggiero kündigt zugleich an, daß er von nun an einen Krieg gegen die bestehende Ordnung führen werde, wie er bisher noch nicht gleich blutig und gleich grausam dagewesen, daß er überall sengen, brennen und morden werde, ohne mehr Schonung zu üben oder Pardon zu geben. In vierundzwanzig Stunden sollte die Entscheidung getroffen sein, oder die Exekution an den Gefangenen werde vollzogen werden.

Die unerhört stolze und drohende Sprache, welche Ruggiero durch den Mund seines Abgesandten führte, übte auf den geängstigten Sindaco von Alverde keine geringe Wirkung. In derselben Stunde schon, wo er sie vernehmen mußte, war er in Begleitung des Gendarmen zu Pferde unterwegs nach der nächsten Eisenbahnstation, und am gleichen Abend noch hielt er in Catania dem Präfekten Vortrag über das ungeheure Begebnis. Der Karabiniere konnte die Thatsachen, die Ruggiero's angebotener Pakt zur Grundlage hatte, nur ingrimmig bestätigen.

Der Präfekt überlegte die Sachlage nur kurze Zeit. Für ihn konnte es sich nicht darum handeln, der Regierung die Blöße zu ersparen, die sie sich durch die Annahme der ihr unter solchem Zwange gestellten Bedingungen gab, sondern er mußte allein das Wohl und Wehe der Bevölkerung im Auge behalten und im Interesse der Gesamtheit handeln. Der Brigantaggio, der die Landplage der Provinz bildete, an deren Spitze er stand, war nach allen seit langen Jahren gemachten Erfahrungen durch die Behörden durch den ewigen, opferreichen und kostspieligen Krieg zwischen Gendarmen und Räubern nicht auszurotten, man konnte sich keiner Täuschung darüber hingeben. Hier aber bot sich eine Gelegenheit, ihm mit einem Schlage und ohne alles Blutvergießen ein Ende zu bereiten. Diese Gelegenheit hätte selbst dann ergriffen werden müssen, wenn es weit härtere Bedingungen zu erfüllen gegeben hätte, als es nun der Fall war. Denn daß eine Reihe von thatkräftigen und arbeitsfähigen Männern ihrem Gewerbe zurückgeführt werden sollte, statt wie bisher ein Räuber- und Diebshandwerk auszuüben, konnte den moralischen Schaden, der in der Nichtbestrasung begangener Verbrechen lag, reichlich wieder aufwiegen, zumal man bedenken mußte, daß es zu einer Bestrafung derselben unter den obwaltenden Verhältnissen doch schwerlich kommen würde, und daß dieselbe, wenn sie stattfand, nur wieder neue Feinde und Rächer groß zog. Zudem konnte man die Schar wackerer Leute, die durch ihren Übereifer in die Gefangenschaft derer geraten waren, die sie hatten unschädlich machen wollen, unmöglich preisgeben. Auch war es wahrlich nicht das erste Mal, daß die Obrigkeit einen gefürchteten Briganten dadurch zum Freunde der Regierung und zu einem ihrer brauchbarsten Werkzeuge machte, daß sie ihn in ein einflußreiches Amt, an die Spitze eines unsicheren, unruhigen und gefahrdrohenden Gemeinwesens berief und ihm und den Seinigen volle Straflosigkeit zusicherte. Warum hätte man also Ruggiero's Anerbieten verschmähen sollen?

Der Erfolg aller Überlegungen und Betrachtungen in der Präfektur von Catania führte also dahin, daß Ruggiero Pinto's Vorschlag in seinem ganzen Umfange angenommen wurde, und daß der Präfekt, vorbehaltlich der ministeriellen Genehmigung, an welcher nicht zu zweifeln war, den Brigantenhauptmann zum künftigen Sindaco von Fortone bestimmte. Mit diesem Bescheid kehrte der Sindaco von Alverde aus der Provinzhauptstadt zurück und überbrachte dem seiner harrenden, schwarzen Cino die durch Brief und Siegel beglaubigte Entscheidung, die Ruggiero's Bedingungen rückhaltlos annahm.

Als Cino zu den Briganten zurückkam, hatte sich inzwischen dort Furchtbares begeben. Ruggiero war bei beginnender Nacht zu der Felshöhlung zurückgeeilt, um Gemma von dem, was geschehen war, Kunde zu bringen, sie aus das, was geschehen konnte, vorzubereiten und sie zu bitten, guten Mutes zu sein, da nun alles sich günstig wenden werde. Nicht zum wenigsten hatte ihn auch die Sorge um sein Kind getrieben. Auf sein Rufen von oben her aber war drunten in der Schlucht alles still geblieben. Von schrecklicher Angst gepackt, hatte er nun den Abstieg angetreten, immerfort nach Gemma und seinem Kinde rufend und suchend. Endlich, als er die Hoffnung, sie zu finden, schon aufgegeben und an ihre Flucht zu glauben begonnen, hatte er sie bei dem ungewissen Licht des hinter Wolkenschleiern dann und wann vortretenden Mondes entdeckt: beide leblos, zerschmettert, das Kind blutüberströmt im Schooß der Mutter. Da hatte Ruggiero einen Schrei ausgestoßen, so furchtbar, wie man ihn noch niemals von einem Menschen vernommen, wie er in dieser Wildnis noch nicht gehört worden war, einen Schrei, der das Nachtgevögel im Horst aufschreckte und etliche von den Briganten herbeirief, die nicht anders glaubten, als daß Ruggiero Pinto rasend geworden sei. Denn das war kein Ton, wie ihn ein Mensch ausstoßen kann, der noch im Besitz seiner Sinne ist.

Und dann hatten sie gefunden und erfahren, was geschehen war. Aber sie sahen noch mehr, als das. Sie entdeckten alsbald, daß das Kind, dessen Stirn auf einen Stein beim Fall aufgeschlagen, zwar tot war, daß das Weib aber noch lebte. Der Sturz hatte sie nur betäubt, ihr Herz schlug noch. Und sie brachten es mit ihren Bemühungen dahin, daß sie die Augen wieder aufschlug, daß sie ihre Glieder wieder regte. Da freilich fanden sie, daß noch etwas Schrecklicheres geschehen war, daß der Tod dem armen Weibe mehr zu gönnen gewesen wäre, als das Leben; denn Gemma war wahnsinnig geworden.

Das war nicht mehr das frühere, wunderliche Wesen, das man an ihr bemerkt hatte, damals, als ihr Erstgeborener begraben worden war, es war der volle Irrsinn, der ihr aus den Augen schaute. Sie erkannte keinen von den Männern, die sie fragend umstanden, sie gab lauter sinnlose Antworten auf das, was man von ihr wissen wollte, sie lachte gellend auf, als man ihr das tote Kind wies, sie betrachtete Ruggiero, den man ihr zeigte, wie er in seinem wilden, fassungslosen Schmerze zusammengekauert neben diesem toten Kinde kniete und entgeistert darauf niederstarrte mit ganz fremden, teilnahmlosen Augen. Darüber, wie das Furchtbare sich hatte ereignen können, war keinerlei Auskunft von ihr zu erlangen. Sie trug dauernd eine völlig unnatürliche Heiterkeit zur Schau und versuchte sogar, mit dem roten Menico durch allerlei Zeichen und Geberden ein Liebesgetändel zu beginnen, das selbst diese rauhen und harten Gemüter an solcher Stelle und in solchem Augenblick mit Grausen erfüllte. Auch ihre eigenen Züge erschienen dabei so widrig verzerrt, daß von ihrer ursprünglichen Schönheit kaum mehr etwas zu gewahren blieb. Die Erschütterung des Falles mußte ihr Hirn völlig verwüstet haben. Als man sie fortführen wollte und, da sie sich weigerte, aufzustehen, Gewalt anzuwenden anfing, ergab sich auch, daß eine Beschädigung ihrer Glieder stattgefunden haben mußte, da sie sich nur gekrümmten Rückens, hinkend und sichtlich unter großen Schmerzen fortbewegen konnte. Die Männer mußten sie schließlich die Bergwand hinauftragen, was sie lachend geschehen ließ.

Ruggiero selbst aber nahm sein Kind in die Arme und trug es mit sich bergauf. Der starke, gewaltige Mann war wie gebrochen, er wankte bei jedem Schritte, den er that. Die ganze Nacht hielt er an einsamer Stelle einsam die Totenwache bei der kleinen Leiche und immer wartete er darauf, daß sein Kind noch einmal wieder aufwachen solle. Aber es erwachte nicht mehr. Da grub er ihm beim ersten Morgengrauen selber ein Grab in der Felsöde, füllte dasselbe zur Hälfte mit Blumen und Baumzweigen an und bettete dann, gerade als die Sonne unterging, den Leichnam darauf, um endlich die Höhlung wieder zu schließen. Kein anderer war sonst dabei zugegen und keiner wußte um das, was Ruggiero that. Als die Männer kamen, um ihn zu suchen, fanden sie ihn lang über den kleinen Hügel hingestreckt, den er selber aufgeworfen, und hörten, daß er schluchzte und weinte, wie ein Kind.

Als sie ihm nun zuredeten und ihn fortführten, gewann er seine Fassung zwar wieder zurück, weil er sich seines weichmütigen Schmerzes vor ihnen schämte, aber er blieb so starr und düster, als sei alles Leben für immer von ihm gewichen. Für keinen war er mehr zugänglich und zu keinem redete er ein Wort. In solcher Stimmung empfing er den Sindaco von Alverde und die Botschaft des Präfekten, die dieser ihm überbrachte. Als er das Schriftstück mehrmals aufmerksam durchlesen, steckte er es zusammengefaltet in seine Tasche, ohne daß seine Mienen die geringste Veränderung gezeigt hätten. »Es ist gut,« sagte er.

Was lag ihm jetzt noch daran, daß man alle seine Forderungen erfüllte, daß man ihn in ein verantwortliches Ehrenamt einsetzen wollte, daß die Regierung von seiner Thatkraft, Umsicht und Energie Großes, Entscheidendes erwartete? Was daran, daß er unter die Menschen zurückkehren und ein ehrliches, arbeitsames und friedfertiges Leben beginnen durfte? Wie schneidender Hohn erschien ihm das alles, die ganze, rückhaltlose Verwirklichung aller seiner lange gehegten Pläne, seiner kühnen Träume jetzt in dieser Stunde. Was sollte ihm das alles nun noch? Sein Kind war tot, sein Weib war dem Wahnsinn verfallen. Und es lebte eine Stimme in ihm, die sich nicht beschwichtigen ließ, sondern fort und fort ihm zuraunte, daß sein Weib selber das Kind gemordet habe, weil er dereinst das ihre getötet, daß sie um deswillen allein von Sinnen geraten. Und nun wäre er weit lieber geblieben, was er war, und hätte seinen Groll und Grimm gegen die ganze Welt, all' die kochende Wut gegen das Schicksal über das Unerhörte, was ihm angethan worden, in wilden Thaten, in blutigen Vergehen zum Ausbruch bringen mögen. Nun aber war's geschehen, und sein Wort mußte er halten, wollte es bis zum letzten Augenblicke.

»Laßt die Gefangenen frei!« befahl er. Und als das geschehen und die Sbirren, denen man ihre Waffen zurückgegeben, abgezogen waren, versammelte Ruggiero die Männer alle um sich und redete zu ihnen. Er sagte ihnen, daß sie zur Stunde, jeder für sich, die freie Wahl hätten, ob sie Briganten bleiben oder wieder zu den Ihrigen und an ihre Arbeit zurückkehren wollten. Er selbst habe das letztere gewählt und werde noch an diesem Tage nach Fortone gehen, um fortan für immer dort zu bleiben. Nicht viel mehr sprach er zu ihnen, als solche wenigen, trockenen Worte; er wollte ihnen keinen Rat geben, durch nichts bestimmend auf sie einwirken und ihnen die Zukunft nicht in zu freundlichen Farben malen, im Falle sie sich entschlössen, dem Räuberhandwerk abzuschwören; es sollte ein jeder sich sein Schicksal selber schmieden.

Es fand sich jedoch, daß nur wenige grollend einer Rückkehr in die Heimat widerstrebten und auf eigene Faust ein Räuber- und Wegelagererleben weiterzuführen gedachten, während der große Haufe treu zu Ruggiero hielt und dem Brigantaggio Valet zu geben beschloß. Als die letzte, reichliche Beute zwischen den Männern verteilt worden war, brachen alle nach dem ehemaligen Lager auf, um auch dort die noch vorhandenen Waffen und Vorräte untereinander zu verlosen und dann gemeinsam von da aus den Weg in die bewohnten Landstriche zurück anzutreten. Gemma, die willenlos alles mit sich geschehen ließ, nur immerfort lächelnd und verliebte Blicke um sich werfend, wurde abwechselnd von zweien der Männer getragen. Um Ruggiero kümmerte sie sich nicht, und auch er vermied es, sie anzublicken; ihre Erscheinung erregte ihm Grausen.

Um die Tagesneige langten sie auf dem verlassenen Lagerplatze an, und wenige Stunden später zogen die zur Rückkehr entschlossenen Briganten thalwärts, während das kleine Häuflein derer, die dem Räuberhandwerk nicht entsagen wollten, zurückblieb. Alle die Männer, die so viele Gefahren und Nöte treulich zusammen geteilt hatten, nahmen mit Umarmungen Abschied von einander; auch die Heimziehenden, die verschiedenen Ortschaften zustrebten, mußten sich unterwegs trennen, und immer wieder gab es dieserart Händedrücke und Abschiedsworte, und die Schar derer, die gen Fortone zogen, ward immer kleiner. So kam es, daß, als die übrigen ermüdeten, zuletzt Ruggiero selber das irrsinnige Weib tragen mußte, und es fügte sich, daß er so, sie in den Armen haltend, in Fortone einzog. Er nahm das als ein Zeichen, daß er sie nicht mehr von sich lassen sollte.

Ruggiero Pinto hielt sein Versprechen, und die Regierung hatte den mit ihm abgeschlossenen Pakt nicht zu bereuen. Der Sindaco von Fortone, der nicht nur wegen seines riesenhaften Wuchses und seiner gewaltigen Körperkräfte, sondern auch wegen seines düsteren, schweigsamen und herrischen Wesens allgemein ebenso geachtet als gefürchtet wurde und eine schier wunderbare Macht über die Gemüter dieses halsstarrig-trotzigen Volksschlages ausübte, brachte es bald dahin, daß Ordnung und Frieden in der Gegend zu herrschen begannen. In dem ehemals verrufenen Räubernest lebte jetzt eine armselige Bevölkerung, die sich in harter Arbeit ohne Murren ihren kärglichen Unterhalt errang, und der Brigantaggio, der noch etliche Jahre lang in den Bergen sein Wesen weiter trieb, erlosch, ohne daß die Sbirren zu blutigem Eingreifen gelangten, allmählich, weil der Boden ihm überall in der Bevölkerung, die sich zu Handlanger- und Spionendiensten nicht mehr hergeben wollte, entzogen ward, und weil die mancherlei Wohlthaten, welche die Regierung im Verein mit den bemittelten Grundherren und Eigentümern der Provinz den Darbenden erwies, die Räuber ihres alten Rufes als Beschützer der Armut und als Rächer der Bedrückten zu entkleiden begannen. Zehn Jahre nach Ruggiero's freiwilliger Unterwerfung konnte man den Brigantaggio in dem ganzen Distrikte von Catania als beseitigt ansehen, und er erwachte dank einer umsichtigen und wohlwollenden Regierung auch nicht wieder.

Ruggiero hatte Gemma, die er sich nach der Sitte seiner Landsleute schämte, einer Irrenanstalt anzuvertrauen, zumal sie in ihrem Wahnsinn ungefährlich für andere blieb, zu sich genommen. An eine Verheiratung mit der Irren konnte er natürlich nicht denken. Und er blieb unvermählt. Sein finsteres, wortkarges und menschenscheues Wesen wich nicht mehr von ihm, aber er war pflichtgetreu, hilfsbereit, und, wo es galt, von unerbittlicher Entschiedenheit, so daß alle sich von ihm beherrschen ließen, und sein Ansehen groß war. An einem Tage jeden Jahres verschwand er aus Fortone. Keiner wußte, wohin er ging. Er aber schritt in die Felsenwildnis hinauf, suchte dort das einsame Grab seines Kindes und betete lange auf dessen vergessenem Hügel.


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