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«So», sagte am andern Morgen Mutter Allenbach, als sie in ihres Mieters Stube kam, um seiner Tochter behilflich zu sein, «jetzt wollen wir das Zyt aufziehen.» Das galt Herrn Simeon und seiner Tochter. Dann aber redete sie zu der Uhr: «Du mußt einen neuen Lauf tun, Alte, und Gott geb’ dir gute Stunden.» Die Kettlein rasselten. Dann trat Eisi ans offene Fensterlein und tat einen Blick nach den Bergen, an denen das Nebelgerupfe hinjagte. Da und dort ragte, losgetrennt von Grund und Unterbau, ein Felsenhaupt, wie aus einer andern Welt, ins Lichte, fing schnell einen Sonnenblick auf und entschwand wieder ins graue Gewoge. Aus den rauschenden 29 Gräben stiegen, ewig strebend und doch an den gleichen Fleck gebannt, die Tannen feierlich bergan, ihre Wipfel ins schwebende Meer hinauf tauchend. Leises unregelmäßiges Geläute ließ erraten, daß irgendwo jenseits des Baches Kühe weideten.
Mutter Allenbach ging wieder zur Uhr, richtete ihre Zeiger auf halb acht und setzte das Pendel sachte in Schwingung: «So lauf in Gottes Namen!»
Herr Simeon zog sein goldenes Chronometer und warf einen sehr verwunderten Blick auf die alte Frau. «Jetzt möcht’ ich auch wissen, nach was Ihr Eure Uhr gerichtet habt, Mutter. Auf die Minute halb acht ist es.»
Da sagte sie mit einem pfiffigen Zug um den freundlichen Mund: «Unsereins müßte sich schämen, wenn’s nicht afange wüßte, wie spät es ist. – Aber ihr Stadtkinder, ihr lernt das nie, das hab’ ich schon gemerkt, ihr tragt zuviel Uhren mit euch herum. Und habt ihr einmal sie aufzuziehen vergessen, so wißt ihr schon nicht mehr, an welchem Stecken ihr euch halten sollt. O ihr klugen Leute!»
Diesen Vorwurf behielt Eisi den ganzen Vormittag auf der Zunge, besonders als Herr Simeon ihr in die Küche folgte und ihr, auf dem Scheitstock sitzend, während all ihrer emsigen Hantierung das Herz ausschüttete.
«Die Sache verhält sich nämlich so», hatte er den Faden des vor einigen Tagen abgebrochenen Gespräches wieder angesponnen, «als meine Frau vor bald zwanzig Jahren ihrer Entbindung entgegensah und in großer Angst schwebte, tat sie so etwas wie ein Gelübde. Nicht daß sie es in Worten ausgesprochen hätte; aber in ihrem Herzen gelobte sie sich’s – und just drum kommen wir jetzt um so weniger drüber hinweg –, nämlich, daß sie 30 das erwartete Kind Gott weihen wolle. An das ‹wie› dachte sie damals so wenig wie ich, dem sie in der tiefsten Not das Gelübde als ein Vermächtnis anvertraute. Seht, Frau Allenbach, wenn wir katholisch wären, machte sich das ganz einfach. Wir müßten halt in Gottes Namen, um unser Wort einzulösen, das Kind in einen geistlichen Orden geben, und wenn es uns Herz und Leben kostete. Aber wie nun? – Die erste Verlegenheit kam über uns, als wir Lydia in den Armen hielten. Wir ertappten uns beide darüber, daß wir uns eines Buben getröstet hatten. Da wäre ja der Weg gewiesen. Man hätte ihn Pfarrer werden lassen.»
«Wer?» Eisi blickte bei dieser Frage, die wie eine frisch geschliffene Schere den Faden des Herrn Simeon abschnitt, nicht einmal auf. Sie hatte sie nur so zu sich selber getan.
Herr Simeon aber vergaß auf einen Augenblick das Reden. Die unerwartete Frage hatte ihn sehr gestört, und er richtete forschende Blicke auf seine Beraterin.
«Ihr habt ganz recht gesprochen», sagte die. «Man hätte ihn werden lassen. Wahrlich, eines andern sollten die Menschen bei ihren Erziehungskünsten sich nicht vermessen. Können wir denn etwas anderes tun als werden lassen? Da liegt die Katz im Stroh. Darum haben wir auf den Kanzeln so viele laue Gelehrte statt gesalbter Priester des lebendigen Gottes. Es liegt in keines Vaters Hand, seinen Sohn zum Pfarrer zu machen. Gott selber muß ihn ins Heiligtum ziehen, wie die Sonne das Kräutlein durch das Dorngestrüpp emporzieht.»
Auch das hatte Eisi vor sich hergesprochen, als redete sie zu den Kartoffeln, die sie schälte.
Simeon war verärgert. War er nun doch wieder an eine 31 geschwätzige Stündeli-Mutter geraten? Aber die Stimme seines aufrichtigen Herzens sagte ihm: Kannst dich lang ärgern, ’s ist etwas dran an dem, was die Alte da sagt, und wenn du ehrlich bist, so mußt du zugeben, daß du und dein Weib es anders gemeint habt, als ihr euer Kind Gott weihen wolltet.
«Aber sagt mir, was habt Ihr nun weiter vor?» fuhr Frau Allenbach fort.
«Ei nun», antwortete Herr Simeon mit einem leichten Seufzer, «nun fing’s eben an, das, worüber wir nicht einig werden können. Wie nun halt ein Mägdlein da war statt eines Buben, sah alles ganz anders aus. Wie werde ich nun mein Gelübde einlösen? fragte meine Frau immer wieder. Das Kind muß Diakonissin werden. Ich hielt ihr entgegen, das sei nach unsrer evangelischen Auffassung durchaus nicht nötig. Ein Kind Gott hingeben, heiße ganz einfach, alles aufwenden, damit es der Erlösung im Glauben teilhaftig werde, es möge äußerlich sein, was es wolle. Ihr seht, Frau Allenbach, so weit weg ist meine Anschauung von der Euren nicht. Und auch meine Frau schien sie zu teilen; aber nach und nach verfiel sie wieder in ihre alte Sorge. Ein Gelübde sei ein Gelübde, sagte sie, und daran herumzudeuteln komme ihr schäbig vor und raube ihr den Frieden. Gut, gab ich ihr zu, wenn deine Seele anders nicht zur Ruhe kommt, so sei’s denn. Lydia mag Diakonissin werden; aber das sage ich dir: Erzwängt wird nichts! Wenn das Kind will, so bin ich der erste, der sich darüber freut. Und siehe da, der Mutter Wunsch scheint in Erfüllung gehen zu wollen. Noch nicht zehnjährig war Lydeli, als sie voll heiligen Feuers sich bereit erklärte, Diakonissin zu werden und in den Missionsdienst zu 32 treten. Unter die Schlimmsten der Heiden wolle sie, zu den Menschenfressern, um des Heilandes willen. Könnt Euch denken, Mutter Allenbach, wie da meiner Frau das Herz aufging. Ich sagte vorläufig: Gott sei Dank. Aber die Begeisterung der Zehnjährigen für das Märtyrertum ließ ich ruhig wallen, ohne noch hineinzublasen. Anders meine Frau, die nun aus jedem Ölfläschlein, dessen sie habhaft werden konnte, auf dieses Feuerlein Nahrung träufelte. Sie erwärmte sich selber dran und hatte ihren Frieden. Als mir dann aber des Guten zu viel werden wollte, gebot ich ihr Einhalt und verlangte, daß sie das Kind zur Besinnung kommen lasse. Wenn es nicht nach kühler Überlegung aus selbsteigenem Entschluß zur Hingabe seines Lebens komme, wolle ich nichts davon wissen. Ich mag deutlicher als nötig gesprochen haben. Meine Frau sagte nur: ‹Ja, selbstverständlich, lieber Simeon, so meine ich’s ja auch.› Das Antreiben schien nachzulassen. Aber bald merkte ich, daß es hinter meinem Rücken mit desto größerem Eifer geschah. Und schon hat sich eine Freundin meiner Frau der Sache angenommen und in ihrem Gemeindlein ausposaunt, die Lydia Bäuwlin sei Kandidatin für ein Missionshaus. Da habe ich mit der Faust auf den Tisch gehauen und Schluß erklärt. Bald mußte ich erkennen, daß ich mit dem unglücklichen Faustschlag das Vertrauen meiner Frau zertrümmert hatte. Ich suchte sie zu beruhigen. Nicht das Geringste will ich dem Kind in den Weg legen, sobald ich weiß, daß es in nüchterner Besinnung bei seinem Entschlusse bleibt. Du darfst nicht vergessen, so habe ich ihr gesagt, daß dein Kind ein selbständiger Mensch ist und daß ein Gelübde nicht gelöst werden kann durch den erzwungenen Entschluß 33 eines andern. Gib das Kind mir, ich will es zur Besinnung kommen lassen; weder dies noch das will ich ihm drein reden, nur seine Freiheit will ich schützen gegen jeden unberufenen Ratgeber. In die Berge, in die Freiheit will ich sie führen, und du wirst sehen, daß es gut kommt. Meine Frau konnte sich nicht dazu entschließen. Da habe ich meinen Willen durchgedrückt, weil mein Gewissen es so verlangt. Und nun, Frau Allenbach, werdet Ihr mich verstehen. Es liegt mir alles daran, das Vertrauen meiner Frau wiederzugewinnen. Ich glaube an die Aufrichtigkeit meiner Tochter. Aber frei soll sie sein und sicher vor dem Dreinreden Unberufener.»
Herr Simeon war gespannt auf einen zustimmenden Spruch der Mutter Allenbach, die mit sichtlicher Aufmerksamkeit ihres Gastes Beichte vernommen hatte. Noch schälte sie eine Weile weiter an ihren Kartoffeln, dann stand sie auf, nahm ihren Gertel und trat mit einer Gebärde zum Scheitstock, welche deutlich sagte: Weg da! Jetzt habe ich hier zu schaffen. Herr Bäuwlin hatte sie verstanden und trat zur Seite. Als er aber müßig erwartend stehenblieb, ging Frau Allenbach, bereits ein Scheit am Gertel, an ihm vorbei zur Tür nach der Laube, blickte hinaus und fragte: «Wolltet Ihr nicht ins Dorf, diesen Vormittag? – Der Regen hätte jetzt nachgelassen.»
Herr Bäuwlin sandte nun auch einen prüfenden Blick nach dem Gewölk und sagte nach einigem Zögern: «Ihr habt recht, Mutter, wir sollten den Augenblick benützen.»
Eisi hatte die Enttäuschung in seinen Zügen wohl bemerkt, ließ ihn aber ohne Antwort ziehen. Sie wandte sich einfach um, trat an das Tütschi und hieb das Scheit, das ihr am Gertel stak, vollends entzwei, wobei sie mit ganz strengem Gesicht vor sich hinmurmelte: «Was 34 meint der? Über solche Sachen will nachgedacht sein, bevor man redet.»
Bald nachher sah Mutter Allenbach ihre neuen Hausgenossen in grauwollenen Wetterkragen mit hochgezogenen Kapuzen dem Dorf zuwandern. Zu diesem Mädchen Sorge zu tragen, lohnte sich, so überlegte Eisi. Heute, als sie es bei Tageshelle betrachtet hatte, war es ihr mit dem ersten Blick lieb geworden. Einmal weil es aus seinen dunklen Augen so klar und wahr in die Welt hinausguckte und in all seiner gefälligen und geschmeidigen Handreichung gar nichts Berechnetes zeigte, und dann, weil es ein gewisses Bangen vor dem Vater nicht verstecken konnte. Das Kind hat’s nicht leicht zwischen seinen Eltern, sagte sich Eisi, aber mir scheint, es wird sich helfen lassen. Auch dem Vater ist zu helfen, er hat dieselben Heiterlöcher am Kopf wie das Mädchen. Man muß sie jetzt nur ins kühle Gras legen und die Stille schnaufen lassen.
Als der Talwind sich mit dem «Oberluft» um das Räuchlein aus Mutter Allenbachs Küche balgte, kamen Herr Bäuwlin und seine Tochter heimzugeschritten.
«Ei», fragte Lydia, vor dem Chalet angelangt, «das scheint ja leer zu stehen, Papa. Wäre das nicht wie gemacht für uns? Schau, wie entzückend, diese Lauben!»
«Es wäre sehr schön, mein Kind. Ich habe mir das auch schon überlegt; aber es geht nicht. – Sieh nur diesen Spruch.»
«Was würde uns der schaden? Er ist ein schönes Bekenntnis. Und wenn wir im Hause drin sitzen, siehst du ihn ja nicht mehr.»
«Mir tut der Spruch nicht weh. Aber wozu muß denn auf Kilometer-Distanz ausposaunt sein: Achtung, hier 35 wohnen fromme Leute? Das ist nicht im Sinne des Evangeliums. Ein verhängnisvolles Übel unsrer Zeit ist’s, sein Christentum öffentlich zu affichieren. Dabei entsteht in der Regel ein Mißverhältnis zwischen Form und Inhalt, Gewand und Leib. Der Fernstehende hat ein scharfes Auge für die Fehler frommer Leute und ist schnell zur Hand mit der Erklärung: So? Wenn das Christentum ist, so danke ich dafür. Wo der Geist lebendig ist, setzt er sich durch ohne Ankündigung und Aufschrift.»
«Aber, Papa, dem ist ja leicht abzuhelfen. Man hobelt den Spruch weg oder überstreicht ihn.»
«Sehr einfach, mein Kind. – Hobel drüber! Weg ist er, und ich habe meine Ruh, denkst du. Aber schau, wenn ich mich nun so hinter der abgehobelten Wand einquartiere, so wird mich doch der Gedanke quälen, daß ich eines frommen Menschen Weihespruch und Gelübde beseitigt und damit gewissermaßen meine Verachtung für solchen kindlichen Glauben kundgetan habe. Ich denke auch da: die Form ist verwerflich; aber wenn sie das Dokument einer wahren Frömmigkeit ist, so rühr’s nicht an. Du hast Gescheiteres zu tun als dergleichen Denkmäler einer vielleicht heiligen Stunde zu zerstören. Darum habe ich das hübsche Haus stehen gelassen, wie es ist, und mich da oben einquartiert.»
Noch am gleichen Tage gab es warme Sonnenblicke. Der Gutwetterwind siegte und enthüllte lockendes Revier. Vater und Tochter unternahmen Streifzug um Streifzug. Das Bergsteigen brachte Herrn Bäuwlin zu beruhigendem Schweigen, und wenn seine Verstimmung auch zuweilen in heftigen Ausfällen auf die mannigfachen 36 Spielarten des Ringens um die unvergänglichen Schätze sich Luft machte, so sorgte doch die gesunde Ermüdung des Leibes mehr und mehr für Ausgleich. Nicht wenig trug zu Herrn Simeons Beruhigung die Wahrnehmung bei, daß seine Tochter auf ganz selbständigen Wegen der Erfüllung des mütterlichen Gelübdes entgegenzukommen schien. Ihr ganzes Denken und Fühlen war unzweifelhaft von dem Wunsche beseelt, ihr Leben einem dem Reiche Gottes unmittelbar dienenden Beruf zu weihen. Diese selbstgewählte Bestimmung durchleuchtete ihr ganzes Wesen und äußerte sich in allzeit froher Laune.
Die erste Ferienwoche war vorüber. Der Sonntag brach mit dem vollen Glanz eines Frühsommermorgens an. Als der Wald, der sich jenseits der Schlucht an steilem Hang aufbaute, den Widerhall der Glocken gegen das alte Haus warf, trat Eisi, mit der Spitzenhaube geschmückt, aus der Laube. Gleichzeitig mit ihr stieg aus der andern Laube Lydia hinunter. Mutter Allenbach brach vom Rosenbusch, der im Taugefunkel über den windschiefen Gartenzaun ragte, zwei aufbrechende Knospen und reichte dem Mädchen die eine zum Kirchgang. Seit ihrer eigenen Mädchenzeit war Schwand-Eisi kaum je an einem Sommersonntag ohne Rose zur Predigt gegangen. Nie hatte sie darüber ein Wort gesprochen, aber die Bedeutung dieses Schmuckes war ihr wohl bewußt.
«Kommt Ihr allein mit?» fragte sie.
Noch ehe Lydia den Mund geöffnet, antwortete Herr Simeon aus dem Fenster seiner Stube: «Wenn’s Euch recht ist, begleite ich Euch bis vors Dorf; dann aber gehe ich meine eigenen Wege. Ihr wißt warum.»
37 Frau Allenbach erwiderte nichts. Selbdritt wanderten sie dem Dorfe zu, Eisi und Lydia mit einer gewissen natürlichen Feierlichkeit, während Herr Simeon, der genötigt war, seinen Schritt zu mäßigen, desto mehr seinen Spazierstock schlenkerte.
«Wer predigt eigentlich heute?» fragte Herr Bäuwlin.
«Weiß nicht», bekam er zur Antwort, «er wird uns wohl etwas zu geben haben.»
«Ihr seid genügsam und kommt vielleicht dabei besser auf Eure Rechnung», parierte Herr Simeon. «Ich gehe nicht mehr. Ich habe genug. Zu den Vertriebenen gehöre ich. Um mir von einem unreifen Jüngling Vortrag halten zu lassen über Probleme, an deren Lösung die größten Geistesheroen umsonst gearbeitet, ist mir solcher Tag zu kostbar. – Überhaupt... ich bin doch kein Uhrwerk, das man alle acht Tage aufziehen muß. Der Geist weht, wo er will. Wenn er mich in die Wüste treibt, so gehe ich in die Wüste. Und einmal hier in den Bergen, suche ich Gott in der einsamen Wildnis.»
«Nun ja», lachte Eisi, «der eine hält’s mit den Geißen, die ihre Nahrung am liebsten an den ungäbigsten Örtern und zur Unzeit suchen, der andere mit den Kühen und findet sein Wohlsein in einem geregelten Leben.»
Als sie um den Felskopf herum waren, hinter dem die Straße nach dem Dorf schwenkt, ließ Herr Simeon die Frauen ziehen. Er wandte sich nach rechts, wo der Wildbach durch die Tannen heraufschimmerte. Bald verschlang das Tosen des Wassers den Sammelruf der Kirchenglocken, und ungehemmt schritt der Einsamkeitshungrige über Weiden und Geröll dem Bach entlang ins hohe Revier der Wettertannen, zwischen deren 38 bartbehangenen Wipfeln silberne Firnkämme heruntergrüßten. Er freute sich all der lichten Schönheit und meinte noch nie so klares Wasser, noch nie so leuchtende Farben gesehen zu haben. Aber mit der Sabbatstille war’s nichts. Nicht einen Büchsenschuß weit ging Herr Simeon, ohne Touristen anzutreffen, Jungfräulein und Jünglinge mit zurückgestreiften Hemdärmeln und Schuhen, mit denen man auf einen Tritt eine kleinere Hauptstadt dem Erdboden gleichmachen konnte. Die pickelbewehrten Jungfrauen hatten ihr wirres Haar in farbenfrohe Tücher gebunden und warfen aus hochroten Gesichtern herausfordernde Blicke, während wuchtende Rucksäcke die junonischen Schultern derart schnürten, daß die Kröpfe blank aus den Hälsen quollen. Dazwischen schlenderten blasse Kurgäste, müde Herren, beleibte Damen, die unter Sonnenschirmen hervor mit mürrischen Augen Gott und den Gemeinderat anklagten wegen der immer noch zu jähen Steigungen der Spazierwege, Kinder, die jede erreichbare Blume abzwickten, jeden losen Stein ins Rollen brachten und mit unübertrefflicher Ausdauer einer geschnitzten Pfeife den einzigen und deshalb nicht minder falschen Ton entlockten. Dennoch! Es blieb des Schönen und Erquickenden noch genug, und wenn Herr Simeon wirklich erbauungsbedürftig war, so konnte er sich aus all dem, was er angetroffen, eine ganz wirksame Predigt über das Seufzen der Kreatur zusammendenken. Waren es etwa nicht Menschen, die wie er Gott in der Natur suchten?
Endlich hatte er im Schatten köstlich duftender Tannen ein Plätzchen nach seinem Herzen gefunden. Da zog er seine Taschenbibel heraus und versenkte sich mit einem wohligen Trotz in die Reden Hiobs. Es dauerte 39 indes nicht lange, so näherten sich auch da Schritte, und ein langer Schatten lief über seine in der Sonne ruhenden Füße. Eine hagere Mannsgestalt in schwarzen Kleidern stand ihm in der Sonne. Der Wanderer trug seinen flachen schwarzen Filzhut mit einer besonderen Vorrichtung am obersten Knopfloch seines feierlichen Rockes aufgehängt und ließ die Sonne auf seiner wallenden Silbermähne flimmern. Noch ehe Herr Simeon die Erscheinung erfaßt hatte, grüßte der vermutlich aus dem Schwabenland Stammende: «Gott mit dir, Bruder», und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, die Frage hinzu: «Verstehest du auch, was du liesest?»
Zornröte schoß Herrn Simeon ins Gesicht. Einen Augenblick schien er sich auf eine Antwort zu besinnen. Dann sprang er auf und lief, seine Bibel zuklappend, durch die Tannen davon. Einmal blieb er stehen, blickte sich nach dem weiter wandelnden Greise um und knurrte: «Wahrscheinlich besser als du.»
Sich irgendwo niederzulassen, fand er den Mut nicht mehr. Erst in langem, planlosem Laufen fand er sein inneres Gleichgewicht allmählich wieder, nachdem er sich zu seiner eigenen Belustigung über der Frage ertappt hatte: «Was treibt dieser Mensch eigentlich am Sonntagmorgen hier oben? So einer gehört doch um die Zeit in die Kirche.»
Als er zum Mittagessen heimkam, fand Herr Bäuwlin seine beiden Hausgenossen in einer durchaus veränderten Stimmung. Lydia hatte ein eigentümliches Lachen in den Augen. Sie schien über Eisi belustigt zu sein, die aufgeregter als sonst mit dem Geschirr hantierte. Nun warf auch Papa einen neugierigen Blick auf die Alte, der seine Wirkung tat.
40 «He nu, ’s ist wahr», platzte diese los, «jetzt bin ich grad eis e chly tubs. – So kommt’s nicht gut. Wenn man eine Gemeinde auseinandersprengen will, so muß der Pfarrer ihr Kopf und Herz zu trennen suchen. Unserem alten lieben Herrn wäre so etwas nie zu Sinn gekommen. Aber da schickt man uns einen ganz Jungen – er wird öppa auch Bergluft nötig haben. Der redet Euch eine Stunde lang von der Not der Massen und hat keine Ahnung von der inneren Not des Christenmenschen, nörgelt an der Heiligen Schrift herum, die Verfasser der Bibel hätten sich nicht klar ausgedrückt. – Was soll das heißen: Verfasser? – Es schickt sich nicht wohl, daß unsereins dreinredet; aber einmal hat alles seine Zeit. So bin ich nach der Predigt dem jungen Herrn in den Weg getreten und hab’ ihn z’Red gestellt: ‹Wie ist jetzt das eigentlich gemeint? Ist die Schrift Gottes Wort oder nicht?› Und was sagt er: ‹Ja, das heißt nein.› Oder vielleicht hat er gesagt: ‹Nein, das heißt ja. Es kommt darauf an...› Gewiß sei sie Gottes Wort; aber sie sei eben auch, weiß der Kuckuck was, ich könnt’s nicht mehr sagen. – Ich bin ein alt einfältig Fraueli, Herr Bäuwlin, aber soviel weiß ich doch noch, daß, wenn unsereins ja sagt, damit auch ja gemeint ist, und nein, wenn wir nein sagen.»
«Jetzt gefallt Ihr mir grad noch einmal so gut, Mutter Allenbach», versicherte Herr Simeon. «Nun seht Ihr wohl auch ein, warum ich meine Erbauung lieber anderswo suche.»
«Es ist wahr», pflichtete Lydia bei. «Mit heimgebracht hat man heute nicht viel. Und dabei hatte man den Eindruck, die Predigt habe dem jungen Herrn schwer zu schaffen gemacht. Dafür gab es aber sonst was Lustiges. 41 Hat nicht der Schulmeister im Vorspiel über ‹O du liebs Ängeli, Rosmarinstängeli› phantasiert!»
«Hab’ schon gesehen, daß die Fremden alle lachten», sagte Eisi. «Grad geistlich getönt hat’s nicht; aber ich kenne das Lied nicht und habe nur gedacht, jetzt möge man doch einmal losen, nicht wie das selb Mal, wo man das Sibenundnünzgi gesungen hat: ‹Fröhlich soll mein Herze springen›, und ein böses Maul hernach behauptete, der Ärtele-Brecht habe Zeit gehabt, heimzulaufen, um das Schnupftuch zu holen, und als er wiedergekommen sei, habe der Örgeler noch immer am gleichen Vers gezogen. – Aber jetzt eßt, sonst kommen wir selber noch ins Übelreden hinein.»
Nach dem Mittagessen hatte sich Herr Simeon auf ein Stündlein hingelegt, und es waren zwei daraus geworden. Länger hinter den rot und weiß gewürfelten Vorhängen zu bleiben, hätte er jedoch an solch schönem Tage für unrecht gehalten. Er machte sich mit seiner Tochter auf den Weg zu einem kleinen Streifzug in die Hornrunsen. Drunten, wo der Fußpfad zu ihrem Heim in die Straße mündet, streiften ihre Blicke zufällig den morschen Brunnentrog, der trocken und ausgedient hinter der Hecke lag. Da drin blinkte etwas, das sonst nicht dort war. Bei näherem Nachsehen fanden sie, hübsch geordnet, wie etwa die Gewehre im Rechen vor der Kasernenwache, drei gleiche Tabakpfeifen, seltsam gedrechselte Göhnchen mit hornenen Wassersäcken und ziemlich abgenagten Mundstücken.
«Eisi hat Besuch», wußte Lydia aufzuklären. «Ich habe drei alte Männer kommen sehen, während du schliefst, Papa.»
Nach einer halben Stunde gemächlichen Gehens überschritten 42 sie auf schmalem, wackeligem Steg den Hornbach. Da begegneten sie einer Familie, die im gleichen Augenblick das Brücklein von der andern Seite erreicht hatte. Ein strammer junger Mann, der voranschritt, war höflich zur Seite getreten, um Herrn Bäuwlin und seine Tochter passieren zu lassen. Als er vor Lydia den Hut zog, hatte er jenes freundliche Lächeln im Gesicht, das sich einzustellen pflegt, wenn man sich innert kurzer Frist mehrmals begegnet.
«Wer war das?» fragte Herr Simeon.
«Es müssen Ferienleute sein», antwortete Lydia unbefangen. «Unsre Blicke begegneten sich heute in der Kirche, als der Organist sein Rosmarinstängeli herunterspielte. Wir steckten uns gegenseitig an und konnten des Lachens nimmer Meister werden, und allemal, wenn eins den Ernst wieder erstritten hatte, nahm ihm das andre von neuem den Halt. – Wir haben uns eigentlich sehr unwürdig aufgeführt.»
«Nun, ich meine, das könne einem kein Mensch übel nehmen, wenn auf solches Präludium das Zwerchfell kräftiger reagiert als der Tränensack.»
Bei ihrer Heimkehr fanden sie die drei Pfeifen nicht mehr vor. Herr Simeon konnte sich’s nicht versagen, seine Hausmeisterin mit ihren Besuchern ein wenig aufzuziehen, was er aber als Mann von Bildung mit einem Lobgesang auf die öffentliche Sicherheit hiesiger Gegend einleitete, die es zulasse, daß man seine Tabakpfeife so nahe an der Straße dürfe liegen lassen.
«Ei», lachte Eisi, «wer wollte denn auch um solch abgenagten Stinktägel zum Dieb werden! – Die Pfeifen lassen meine Mandleni schön draußen, seitdem ich ihnen meine Meinung über das Rauchen gesagt habe. Die drei 43 sind meine Unterweisungsbuben, obschon ich zehn Jahre jünger als der jüngste unter ihnen bin. Zusammengerechnet sind sie zweiundeinhalb Jahrhundert alt. Alle drei reden viel vom Sterben, und doch möchten sie noch lange leben. Jeder meint in seinem Leben um etwas zu kurz gekommen zu sein. Vor acht Tagen erst bin ich dem Fuchsrüti-Menk drüber gekommen, daß ihn grad noch jetzt jedes Gemsi reut, das er nicht in jungen Jahren erfrevelt hat. Z’Predigt gehn die Mandleni nicht mehr; sie verstehen den Pfarrer nicht. Dafür kommen sie jeden Sonntag nachmittag zu mir, damit ich ihnen die Schrift auslege, so gut ich’s vermag.»
Auf diese Mitteilung hin hatte Herr Simeon nur noch einen Wunsch, nämlich solch einer Unterweisungsstunde beizuwohnen. Aber Eisi erklärte kurz und bündig, für junge Leute mit gesunden Sinnen sei die Predigt da. «In die geh’ ich aber nicht», wollte er trotzen. Bevor er jedoch damit herausgerückt war, hatte zu seiner Überraschung Lydia, die sonst so besinnliche, das Wort zu seiner Verteidigung ergriffen: «Das wollen wir von Papa nicht verlangen, Frau Allenbach. Bekäme er eine Predigt zu hören wie die heutige, so wäre es mit seiner Erholung wieder nichts.»
«O ich verstehe euch beide ganz gut», meinte Eisi. «Der Herr Bäuwlin will jetzt einmal ein paar Wochen in der Wüste bleiben, bei den Tieren. Gott gebe seinen Segen dazu!»
So war denn der Abend und mit ihm der erste Feriensonntag in bester Harmonie ausgeklungen. Herrn Simeon fehlte freilich etwas an der Vollkommenheit seiner Sonntagabendstimmung; aber er war durchaus nicht geneigt, dem nachzuspüren. Im Gegenteil, als am Montag die 44 Sonne zum Wandern rief, folgte er der Einladung mit unbeschwertem Herzen – ja, er betonte das wiederholt auf den Spaziergängen mit seiner Tochter, mit unbeschwertem Herzen. Und Lydia versicherte, es gehe ihr ganz gleich. Dann sangen sie zuweilen ein Stümpfchen von einem Wanderlied. Über ein Stümpflein hinaus kamen sie aber nie, weil – nun, nicht daß sie die Worte nicht mehr gewußt hätten, sondern weil sie beide das Singen auf einmal wieder vergaßen. Nur einmal hatte etwas anderes sie zum Schweigen gebracht. Da waren sie im besten Zuge gewesen: «Das Wandern ist das Allerbest für ein jungfrisches Blut», als aus den Tannen des Bergwaldes eine klare Mannsstimme einfiel und sie damit ungewollt beide zum Schweigen brachte. Als sie sich nach dem Sänger umsahen, erblickten sie den jungen Mann von der Hornbachbrücke, der oberhalb des Weges in den Alpenrosen lag und in den blauen Himmel hinein sang. Man tauschte einen frohen Gruß und wanderte weiter – schweigsam. Etwa zehn Minuten mochten sie gegangen sein, als Lydia plötzlich anfing: «Wirklich, Papa, ich glaube, die Predigt solltest du dir auch am nächsten Sonntag schenken. Was hättest du doch davon! Ich weiß, du würdest dich doch nur darüber ärgern.»
«Armes Kind», beruhigte sie Herr Bäuwlin mit gütigem Lächeln, «gelt, ich mache dir Sorgen mit meinem Aufbegehren über die Pfarrer und die frommen Leute. – Sei getrost, ich will dir deine Ferientage damit nicht vergällen und auch mir nicht. Es taugt ja zu nichts.»
Sie wanderten meist hintereinander, wie es die schmalen Weid- und Waldpfade mit sich brachten, sonst würde Lydias wachsamen Augen der belustigte Ausdruck auf ihres Vaters Antlitz kaum entgangen sein. Vater und 45 Tochter beobachteten sich gegenseitig. Jedes wollte das nicht merken lassen, und beide hatten es doch bald wahrgenommen.
Warte nur, dachte Herr Bäuwlin, ich werde deiner Sorge schon auf den Grund kommen.
Am Samstag las er in einer Ansichtskarte, die Lydia an eine Freundin geschrieben hatte, den Satz: «So viel noch bleibt uns zu sehen! Es ist nur schade, daß die Tage durch Nächte abgelöst werden. Ohne Rast möchte ich wandern. Und ich werde es auch tun und keine Stunde unbenützt lassen. Im Winter kann man dann lange genug in der Stube sitzen.»
«Lydia, mein Herzenskind», sagte er, nachdem er die Karte zur Post getragen, «was würdest du dazu sagen, wenn wir dieses wunderbare Wetter benützten, um heute abend zur Wildstrubelhütte hinaufzuwandern? Dann könnten wir morgen etwas Rechtes unternehmen.»
«Ach, lieber Papsli» – Lydia schmiegte sich an ihren Vater – «du weißt, ich bin zu allem bereit; aber warum gerade an einem Sonntag da hinauf? Da ist doch immer so viel Volks unterwegs, und die Hütten sind überfüllt.»
Dagegen war nun schlechterdings nichts einzuwenden, Herr Simeon war so klug wie zuvor. – Ob ich nicht doch morgen mit zur Kirche gehe? überlegte er; aber er kam zum Schluß, daß er sich diese Blöße nicht geben dürfe.
Und wiederum stieg am Sonntagmorgen Mutter Allenbach in ihr Gärtlein hinunter, brach Rosen vom Busch und schmückte sich und ihre Pflegebefohlene bräutlich zum Kirchgang. Daß Papa Bäuwlin sie begleitete, verstand sich von selbst. Aber diesmal bog er nicht vor dem Dorfe ab. Es hatte vielmehr den Anschein, als wollte er 46 dem Ruf der biedern Glocken folgen, die emsig aus ihrer hohen Stube herunterbimmelten:
Bhend, ihr Seelen, bhend, ihr Frummen,
Wend ihr in den Himmel kummen.
Als sie aber in den Friedhof traten, ließ er die Frauen vorangehen und setzte sich bei Peterleins Grab unter den Ahorn, von wo er alle Zugänge zu der Kirche überblicken konnte. Es hatte eine Zeit gegeben, da sich Herr Simeon Bäuwlin über jeden Menschen ärgerte, der während des Einläutens zum Gottesdienst achtlos an einer Kirche vorüberging. Heute blieb er wie der verstockteste Weltmensch draußen. Unversehens geriet er wieder ins Grübeln, wie damals, als er zum erstenmal hier gesessen. Und darüber entging ihm just, worauf er sein Augenmerk hatte richten wollen, nämlich der junge Herr vom Hornbachbrücklein. Der hatte sich richtig auch eingefunden, doch nicht wie andre Leute, die stracks vor sich hin an den gewohnten Platz im Hause der Andacht gehen, als die da hungert und dürstet nach Gottes Wort. Auf dem Mäuerlein im andern Eck hatte er gesessen, wo man den Weg aus dem Schermtannental weit hinauf beherrscht. Und kaum hatten Eisi und Lydia den Friedhof durchschritten, war er von seinem Mäuerchen geglitten und gleichzeitig, nur von der entgegengesetzten Seite, in das Kirchlein getreten.
Die Glocken hatten ausgeschwungen. Ob er wohl heute wieder das Rosmarinstängeli spielte oder vielleicht zur Abwechslung: «Es Burebüebli man i nid»? – Nein – auf Johann Sebastian Bachs feierlichen Noten kam das Vorspiel geschwommen.
Noch ehe der Peterli Allenbach sich wieder zu ihm 47 gesellen konnte, erhob sich Herr Simeon und wanderte zum Dorf hinaus. Aber das Geistlein schwirrte hinter ihm drein und rief ihm nach: «Über ein Kleines wirst du sie lieben, die du nicht ertragen kannst, gelt?»