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Die Sonntagsschüler.

Mir soll noch einer von Zufall reden. Wer sie gekannt hat in ihren jüngern Jahren, die Albertine Lemaire, das Liseli Rösti, den Arnold Knellbold und den David Klütterli, der wußte, daß es so kommen mußte, wie es nun leider gekommen ist. Ich kann nicht eines jeden Lebensgeschichte erzählen, sonst liefen mir die Zuhörer davon und sagten, das sei gar nichts Neues. Und es ist wahr, von den dreihundertfünfundsechzig Tagen ihrer Jahre brachten mindestens dreihundertsechzig ungefähr das, was so ziemlich jedem Menschen passiert. Aber eben, an so drei bis fünf Tagen hatte ein jegliches von den Vieren seine besonderen Erlebnisse, und auf die kommt es zumeist an, wenn gezeigt werden soll, warum es so und nicht anders kommen mußte.

Eines Tages – es war im Monat April, und ein rauher Wind pfiff durch die grauen Gassen von Bern – war wieder einmal Wohltätigkeitsbazar. Zu wessen Gunsten der Verkauf abgehalten wurde, tut nichts zur Sache. Daß es einem guten Zweck galt, dafür bürgt der Schauplatz der Begebenheiten. Vor dem roten Haus mit dem himmelhohen Stufengiebel an der Zeughausgasse hielt eine Droschke. Nicht von den elegantesten eine. Von Gummireifen schon gar nicht zu reden, 83 auch nicht von blinkendem Lack; aber der runzlige Lederbalg, der den schabenzerfressenen Bezug des Interieurs sorgsam überdachte, und die ob jeder Unebenheit des Pflasters in wildes Geklirr ausbrechenden Kutschenschläge saßen immerhin noch auf vier ganzen Rädern. Das Pferd, das bis vor zwölf Jahren im eidgenössischen Postdienst gelaufen war, hatte längst an Haupt und Gliedern den Ausdruck der Enttäuschten angenommen. Wie oft es schon vor dem Schicksal auf den Knien gelegen, wußte nicht einmal sein Besitzer, der biedere David Klütterli, der in seinem fassonlosen Pelerinenmantel auf dem Bock saß. Das auf dem Mantelkragen ruhende Kinn, die Unterlippe, der Borstenschnauz, die rote Nasenspitze, die Augsbrauen, alles war aufeinander zusammengedrückt, als bestünde der wie immer mit einem roten Blümchen geschmückte Lackhut aus Blei. Das Blümchen rührte von einem Damenhut her. Er hatte es einmal in seinem Rumpelkasten gefunden, und weil es der schönsten Frau gehört, die jemals auf dieses Polster sich verirrt hatte, trug er’s zum ewigen Gedenken auf dem Hut. Seither fragte auch kein Mensch mehr nach Nummer oder Namen des treuherzigsten aller Berner Fiaker; er hieß nur noch «der mit dem Blüemli».

Es ging schon gegen ein Uhr, und sowohl David wie die vierbeinige Fanny Klütterli sehnten sich nach ihrem Mittagsmahl. Der Droschkenmann war mittelst des Telephons hergerufen worden. Viele Menschen hatten das Haus schon verlassen, 84 seitdem er hier wartete, aber niemand hatte den Wagen in Anspruch genommen. Endlich zeigte sich so etwas wie ein Portier an der Haustüre. «Du,» sagte Klütterli, die Gelegenheit am Schopf erfassend, «tu mir doch den Gefallen und sag da droben im Bazar, ich warte schon lange.»

Bald kehrte der Mann mit dem tröstlichen Bescheid zurück: «Sie kommt.» Im Hausgang wurden, langsam sich nähernd, weibliche Stimmen laut. Klütterli dämmerte etwas auf. Gespannt richtete er seine Blicke nach der dunklen Oeffnung, in der eine Wolke von schwarzem Stoff und rosafarbenem Packpapier sichtbar wurde. Da entrang sich dem Mann mit dem Blüemli ein Laut des Entsetzens. «Eh d’r verfluecht!» brummte er. «Ist das die? Wenn ich das gewußt hätte, so wäre ich my armi Tüüri nicht gekommen.» Aber jetzt war er einmal da und wollte nicht umsonst gewartet haben. Was die Dame bei den Lohnkutschern in Ungnade brachte, war ihre Gewohnheit, unendlich lange auf sich warten zu lassen und dann erst die Kutscher durch zehnmal wiederholtes Abschiednehmen von allen erreichbaren Leuten und fast unausbleibliches Vergessen und Nachholen von irgendwelchen Gegenständen auf eine neue Geduldsprobe zu stellen. Kam man am Bestimmungsort an, so hatte sie niemals Kleingeld, und weil das Aufrunden der pedantisch Erzogenen nicht leicht von der Hand ging, verlor man abermals seine kostbare Zeit viertelstundenweise. Sie war also ein wenig der Schrecken der Kutscher. 85 Sonst aber genoß Frau Albertine Fäh geb. Lemaire stadtauf, stadtab so ziemlich die Verehrung einer Heiligen. Schon in ihren Kinderjahren war es ihr besonderes Vergnügen gewesen, möglichst unbemerkt alles das zu tun, was andern Leuten zu langweilig oder nicht lohnend erschien. Lange hatten sich ihre Eltern gesorgt, das Albertineli werde ganz jung sterben, ein so gutherziges Kind könne in dieser Welt gar nicht durchkommen. Aber es war gewachsen an Leib und Seele, hatte in dem reichen Herrn Fäh einen Gatten gefunden, der ihre Herzensgüte zu schätzen wußte und sie nach etlichen Jahren gemeinsamen Wohltuns im Besitz seines stattlichen Vermögens kinderlos hinterließ.

Nun trat sie aus der Haustür, die etwas schwerfällig Einhertrippelnde. Was zwei Menschenhände zu fassen vermögen, trug sie selbst. Zwei junge Damen vom Bazar folgten ihr mit dem Rest, und alle drei hatten sich noch sehr viel zu sagen. Einen großen Korb mit allerhand Lebensmitteln kriegte Klütterli zu sich auf den Bock. Auf den vorderen Kutschsitz wurden verschiedene Topfpflanzen, Torten und Pasteten verstaut, und auf dem Sitz neben der alten Dame wurden Spielzeug, Schnitzlerwaren und Kleidungsstücke aller Art aufgeschichtet. Wer etwa gerade vorüberging, wunderte sich über den schlechten Geschmack, mit dem Frau Fäh einzukaufen schien. Aber das war ein Irrtum. Die gute Frau hatte sich’s bloß zur Pflicht gemacht, die geschmacklosesten Dinge jedes Bazars zusammenzukaufen. 86 Das Brauchbare schenkte sie weiter, der Rest blieb in ihrer Wohnung, die schon längst ein Museum von Ladenhütern geworden war.

Endlich durfte David Klütterli sein an Unkenruf erinnerndes «Hü!» von sich geben, und der klirrende Wagen rollte sittig der Predigergasse zu, um am Theater vorbei die Kornhausbrücke zu gewinnen.

Sie waren aber noch nicht weit getrottet, als Frau Fäh an das Glasfenster hinter dem Kutschersitz pöpperlete und Klütterli bat, noch einmal zurückzufahren, sie habe etwas vergessen. Unwirsch fragte er, ob denn noch nicht Gräbels genug in dem Wagen sei; wenn er wüßte, was noch fehle, ginge er es lieber selber holen, statt mit dem Wagen nochmals zu wenden.

«Nein,» sagte Frau Fäh, «ich will schon gehen.» Mühsam kletterte sie, von Klütterli unbeholfen unterstützt, rücklings aus dem Wagen.

Als der Kutscher murrend und knurrend der davontrippelnden Dame nachblickte, ward seine Aufmerksamkeit durch einen Sandwich-Mann abgelenkt. Der Dienstmann Bieri trug auf Brust und Rücken ein Plakat, auf dem in Riesenbuchstaben zu lesen war: «Kursaal Schänzli. Jeden Abend Auftreten der lyrischen Tänzerin Bibi Luritanska.» Das brachte sogar Klütterlis langsamen Denkapparat in rasche Bewegung. Gestern hatte er nämlich vernommen, wer die Tänzerin sei. Beim Abendschoppen hatte Arnold Knellbold, der Taxameter-Chauffeur, zum Besten gegeben, 87 die Tänzerin sei einst mit ihm in die Sonntagsschule gegangen. Sie seien beide in der Gruppe von Fräulein Lemaire gewesen.

«Besinnst dich etwa nicht mehr?» hatte Knellbold gefragt, «du bist ja auch dorthin gekommen. Du warst bei den ältesten Buben, wir bei den Kleinsten. Das Liseli Rösti, so heißt sie nämlich von rechtswegen, die Bibiluri – weiß nit wie, hat immer die ganze Sonntagsschule lachen gemacht. Das kleine Zwaspeli trieb sich überall im Saal herum und gab die lustigsten Antworten. Als man da die Geschichte vom Johannes hatte, weißt, da von der schönen Königstochter, wo getanzt hat und dann zum Lohn dem Johannes seinen Kopf haben wollte, da ist das Chrottli auf die Bank gesprungen, hat sein Röcklein gefaßt – so – und gesagt: ‹Gältet, Jumpfer Lemaire, däwäg?› – Niemand hat begriffen, wo es das her hatte.»

Ja, ja, David Klütterli erinnerte sich ganz gut der Kleinen. Und er wußte, welchen Verdruß es dann bei den braven Eltern und den Monitoren der Sonntagsschule und allen biedern Leuten abgesetzt, als so an die zehn Jahre später das hübsche Mädchen zu den Komödianten ging. Und der Arnold Knellbold, einer der difigsten Jungen, der hatte sich ganz besonders gut mit ihr verstanden und wäre am liebsten auch mit in die weite Welt. Aber der mußte bei seinem Vater, dem Schlossermeister Knellbold, bleiben und sollte einst dessen Geschäft übernehmen. – Ach, wie doch alles so anders geht, 88 als man sich’s vorgestellt. – Diese Menschen – diese Menschen! Alle sind vom gleichen Teig, und doch will keiner wie der andere, und jeder meint, er sei der Gescheiteste. Er hatte ein gutes Geschäft, der alte Knellbold. Aber den Arnold litt es nicht in der Butike. Kaum waren die ersten Motorwagen aufgetaucht, so war mit dem jungen Manne nichts mehr anzufangen. Noch bei Lebzeiten des Vaters lernte er das Fahren. Ja, wenn er noch als Mechaniker in eine Fabrik gegangen wäre! Aber nichts als das Fahren hatte er im Kopf, und dabei blieb er hängen.

So flogen David Klütterlis Gedanken in die Vergangenheit, und er dünkte sich diesen Jugendkameraden gegenüber ein ungewöhnlich braver Mann. Nicht, daß er’s weiter gebracht hätte, aber eben gerade das war’s ja, was ihn vor den andern auszeichnete, daß er so bei der Sache geblieben und nicht mehr begehrt hatte, als wozu er sich geboren fühlte.

Vor einigen Tagen nun hatte Bibi Luritanska, als sie den Berner Bahnhof verließ, unter den Kraftwagenführern ihren ehemaligen Schulkameraden entdeckt, und das hatte ihr großen Spaß gemacht. Unter dem Eindruck ihrer Schönheit hatte er, noch nichts ahnend, mit einer ihm sonst fremden Dienstfertigkeit ihre fünf Koffer und drei Hutschachteln kunstgerecht auf seinen Wagen gebunden. Erst als sie den Chauffeur mit fürstlichem Trinkgeld entließ, sagte sie mit berückender Vertraulichkeit zu ihm: «Arnold, kennst du mich nicht mehr?»

89 Das schoß ihm zu Herzen. Fast körperlichen Schmerz verursachte dem Manne die verblüffende Frage. Jetzt durfte er ihr, die ihm in ihrer Eleganz wie ein höheres Wesen erschien, herzhaft in das wohlgepflegte Gesicht schauen. Und nun fiel’s ihm wie Schuppen von den Augen. Er müßte nicht schon Hunderte von Menschen, darunter gar viele Weiblein von leichtem Lebenswandel, geführt haben, hätten ihm die Spuren entgehen sollen, welche auf dem schönen Antlitz trotz den raffiniertesten Toilettekünsten verrieten, daß Bibi nicht immer in den Wegen gewandelt sei, die man sie in der Sonntagsschule gewiesen. Aber diese Spuren verrieten ihrem alten Freunde gerade die Zugänglichkeit der scheinbar unnahbaren Künstlerin.

Arnold Knellbold wollte in seinem süßen Schreck antworten: «Ei wohl! Sind Sie nicht Fräulein Rö...?» Aber das Unpassende des alten Geschlechtsnamens empfindend, brachte er kaum einen lauten Ton heraus. Das hatte nun nichts zu sagen. Sein Gesicht war mit amerikanischem Chic so glatt rasiert, daß auch nicht ein Tüttelchen seiner Wiedersehensfreude der welt- und menschenkundigen Dame entging.

Bibi engagierte den Wiedergefundenen, der allem Anscheine nach ebenfalls dem Gängelbande von Albertine Lemaire völlig entschlüpft war, für die Dauer ihres Aufenthaltes in der Vaterstadt.

Der Chauffeur war all die Tage nicht mehr recht bei Trost vor Freude und Dienstfertigkeit. Arnold und Liseli schossen in der Welt herum 90 wie zwei verliebte Schmeißfliegen. War’s denn nicht ein wahr gewordener Jugendtraum?

Arnolds Frau und Kindern ging’s gar nicht schlecht dabei. Der Gatte und Vater war ungewöhnlich guter Laune, hatte Geld und tat wichtig.

Von alledem wußte nun freilich David Klütterli sozusagen nichts, als er mit knurrendem Magen auf seinen Passagier wartete. Er sann nur so allgemein über seinen und seiner einstigen Kameraden Lebenslauf nach. Endlich – es schlug halb zwei Uhr – kam Frau Fäh mit neuen Paketchen gewatschelt. Der Kutscher mußte sich beinah Gewalt antun, sie nicht mit groben Händen in den Wagen zu schoppen. Den Schlag warf er zu, daß die Scheiben zu springen drohten. Dann klomm er pustend auf den Bock, und «Fanny» durfte die Reise fortsetzen. Fast «an Ort» träbelte die alte Stute die Predigergasse hinunter. So wollte es der mit dem Blüemli haben. Was doch das Dreinketzern abtrage, pflegte er zu räsonnieren. Das sei eine großhansische Einbildung der Menschen, daß sie immer meinen, es pressiere. Je weniger einer zu bedeuten habe und je weniger er nutz sei, desto verfluchter, meine er, müsse gesprengt sein, damit die Leute glauben, was Grüsligs von einem Wichtigen da einherfahre. Einmal er habe das nicht nötig und er sei noch immer an seinen Ort gekommen. Was einer auch davon habe, wenn ihm sein einzig Roß z’halbzyt büüchlige auf dem neumodischen Pflaster gaßab rutsche.

91 «Gäll, Fanneli, gäll,» sagte Klütterli halblaut, «öppis dumms eso mache mir nid. Hübscheli jitz, hübscheli.»

Man war an der Ecke gegenüber der Polizei angekommen, und David Klütterli wollte den Rank noch um eins sorgfältiger nehmen, schon der Maienstöckli und Kuchen wegen, die den Wagen füllten, und dann eben wegen Fannys lockern Gelenken. Da kam vom andern Ende der Straße – tuu – tuu – als ob es um die Verhütung einer Weltkatastrophe ginge, ein Automobil um die Theaterecke. – Natürlich, es pressierte schauderhaft. Tuu – tuu – tuuuu! – Der Wagen wuchs heran. Dem mit dem Blüemli schwindelte. Sein Gefährt sperrte in seiner Langsamkeit den Rank. Das wollte das nötliche Tuten sagen. Und David wußte sich nicht zu helfen. In seiner Verwirrung knurrte er: «Blas du nume! Du wirst wohl warten!» und riß am Leitseil, worüber nun auch Fanny den Kopf verlor. Die alte Stute tat in ihrer Angst, was sich besser für eine Rakete schickt. Sie stieg. Wahrhaftig, Fanny stieg mit gräßlich grätschenden Hinterbeinen, und ihr Stangengebiß fing sich einen Augenblick am Gepäckgitter auf dem vorbeisausenden Auto. Zum Glück löste es sich gleich wieder. Aber der Ruck hatte genügt. Fanny glitt aus und kam mit klapperndem Gebein auf die Seite zu liegen. Durch den Stoß rückwärts geriet das rechte Hinterrad auf den Randstein des Trottoirs, wodurch der Schwerpunkt der Droschke jäh verschoben wurde. Langsam, fast würdevoll, 92 neigte sich der alte Kasten nach der Straße und schlug endlich mit Krachen und Klirren auf das Makadampflaster hin. David Klütterli hatte im kritischen Moment abspringen wollen; aber sein zur Wolke geblähter Pelerinenmantel, das Leitseil, die Peitsche, der Korb mit den Eßwaren! Es war da zu viel Ehrbares beieinander, als daß eine Auseinanderwicklung vor dem Aufschlagen am Boden noch möglich gewesen wäre. Jetzt freilich rollten Aepfel und Quitten behende auseinander. Der Rest lag an einem Haufen.

Ein giftig blaues Rauchfähnchen hinter sich, surrte das Automobil um die Ecke am Waisenhausplatz.

Vom Portal des Polizeigebäudes her näherte sich ein blutjunger Gendarm. Er schnallte sich, behaglich kauend, den Gurt um und verlängerte um etwas seine Schritte, da er die von allen Seiten anrückende Schuljugend sich um die Unglücksstätte sammeln sah. Er traf ungefähr gleichzeitig mit einem durch das Geläufe der Kinder aufgeschreckten Sanitätsmann, mit dem Theaterkassier, dem Zivilstandsbeamten, dem Stimmregisterführer, dem Abwart des Gymnasiums, den Herren und Frauen vom Arbeitsamt, vielen Lehrern, Redakteuren, Schriftsetzern und andern Menschen, die gegen zwei Uhr den Platz kreuzen, vor der Bescherung ein. Etliche dieser sehr entrüsteten Menschen ließen ihre Blicke zwischen der Richtung, in welcher der Kraftwagen entschwunden war, und dem Polizeimann hin und her schweifen und riefen in bewundernswerter 93 Geistesgegenwart: «Ds Numero! – Ds Kontrollnumero! – Het niemer ds Numero vo däm Hallungg notiert?»

Der ganz neu eingeteilte Schutzmann ärgerte sich über diese unerbetene Raterteilung und brummte: «Weiß scho, was i z’tüe ha.» Er streckte dem inzwischen von mehreren Bürgern aufgerichteten Klütterli den mit dem Blümlein geschmückten Hut dar, von dessen gelbem Lackband er die Nummer 13 in sein Buch notiert hatte. Er überzeugte sich noch, ob sie übereinstimme mit der Nummer des umgeworfenen Wagens. Dann musterte er mit bärbeißigen Blicken den unglücklichen Kutscher, der verstrubelt und verstaubt inmitten eines dichten Kreises von Neugierigen zunächst seine Gedanken zu ordnen suchte, indes die kleinen Schüler ihrem Bedauern mit der hilflos am Boden zitternden Fanny Ausdruck verliehen. Klütterli sollte dem Polizisten Aufschluß über den Hergang geben. Aber er schien großen Schmerz zu leiden und brachte mit verhaltener Wut heraus: «’s isch nume das dumme verfluechte Großhanse. Das Möntsch wär däich wohl no zur Zyt hicho, wo’s highört.»

Jetzt hörte man, wie aus der Ferne, eine weibliche Stimme: «E aber Chlütterli, wie redet Dir o!»

Man wandte sich nach dem umgestürzten Wagen. Ja, zum Kuckuck! Da war ja jemand drin. Der Kasten war dicht umstanden. Der Theaterkassier, der zuerst den Schlag geöffnet und hineingeguckt, hatte aus angeborenem Takt die 94 Frauen vom Arbeitsamt herbeigerufen. Zu diesen gesellten sich die Damen vom Rotkreuzpflegerinnenbureau im obern Stockwerk. Ganz leicht war das Rettungswerk nicht, denn die mit ihren mannigfaltigen Krämlein völlig verbackene Frau Fäh mußte vorerst gekehrt werden, bevor sie auf schickliche Art der ledernen Gruft entnommen werden konnte. Während die Lehrer und Lehrerinnen unter dem Klingen der Schulglocke die auf zwölf Dutzend angewachsene Schar ihrer Zöglinge wegscheuchten, entstieg Frau Fäh, von vielen Händen gestützt und gehoben, der Droschke und wurde zu den Rotkreuzschwestern hinaufgebracht.

Klütterli mußte mit Gewalt weggeführt werden. Nachdem ihm der diensteifrige Gendarm wegen seines unvernünftigen Fahrens fürchterlich wüst gesagt, hatte die Sanitätspolizei an dem armen Manne einen Armbruch konstatiert. Trotzdem wollte er nicht von seinem vierbeinigen Lebens- und Leidgefährten weg. Aber man schob ihn in ein herbeigeholtes Automobil, woselbst ihm bald darauf ein Licht über den Vorteil des Pressierens aufging. Das letzte, was er von der Katastrophe noch sah, war, daß ein Mann seiner armen Fanny den Kopf in die Höhe riß, während andere mit Geißelklepfen und wilden Hü-Rufen eine Art Indianertanz um den Hinterteil der Zusammengebrochenen aufführten. Im Inselspital vergoß Klütterli bittere Tränen, nicht ob der schmerzhaften Behandlung seines arg zugerichteten Armes, sondern aus Erbarmen mit 95 seinem Roß, das nun in so fremden Händen lag, und aus allgemeinem Elend und Verdruß.

Während aus allen Fenstern des Schulhauses Gesang, Rezitation und heftiges Lehren scholl, wurde auch der alte Wagen wieder aufgestellt. Es ist nicht zu sagen, wie viel Zeugnisse frommen Fleißes dem zerschmetterten untern Türlein beim Heben entfielen. Nur schade, daß all die braven Bücher, Maienstöcklein, Nadelkissen, Tintenhäuser, Schnitzereien, Gugelhöpfe, Rahmtorten, Strümpflein und Schühlein durch die darauf gefallene Käuferin in so unliebsame enge Verbindung unter sich geraten waren.

Ja, so hatte es kommen müssen. Wie recht hatte doch David Klütterli mit seinem unartigen Ausspruch über die große Eile der Bibi Luritanska! – Sie hatte, aus ihrem dahinsausenden Wagen zurückschauend, noch den Beginn des Einsturzes gesehen, und es war ihr davon ein unbehagliches Gefühl geblieben. Das verdarb ihr ein wenig den Ausflug zur Moospinte, der ja mit etwas geringerer Geschwindigkeit auch ausführbar gewesen wäre. Aber am Ziel des Ausfluges beruhigte sie der gewandte Arnold. Es habe seinem Wagen nichts getan. Man sehe nirgends eine Spur des Zusammenstoßes. Mithin seien keine Folgen zu befürchten. Uebrigens würde er vor dem Polizeirichter mit Leichtigkeit den Nachweis führen können, daß die Schuld ausschließlich auf Seiten Klütterlis liege. Er hatte ihn nämlich trotz der raschen Kreuzung erkannt – an dem roten Blümlein.

96 «Darum ist mir nicht bange», sagte Mademoiselle Bibi; «aber wir wissen nicht, wer in der Droschke gesessen hat, und...»

«Das geht uns erst recht nichts an», fiel ihr der Chauffeur ins Wort. «Mit der Herrschaft soll sich der Kutscher abfinden, wenn er dumm fuhrwerkt. Und überhaupt Leute, die sich in eine solche Lotterfalle von Pferdedroschke setzen!»

Die Tänzerin verfolgte das Thema nicht weiter. Arnold Knellbold hatte sie noch einmal nicht verstanden. Ueber Handel und Wandel in der Welt wußte sie nicht weniger Bescheid als er. Schadenersatzsorgen plagten sie nicht. Aber so oft sie sich schon das Herz aus dem Leibe getanzt, es gab doch so Dinge, die einem anklebten und die sich mit den dröhnendsten Katarakten der Lebenslust nie völlig aus der Seele hinwegspülen ließen. Man hat so seine Gefühle und Ahnungen, die, Gott weiß wo, in der Tiefe wurzeln und immer wieder nachwachsen, wie oft man sie oben abraust und hinter sich wirft. Bibi-Liselis Vaterstadt, obwohl Residenz der Bundesbehörden, war eben klein – mon Dieu, quand on est habituée à la grande vie de Paris! – und in ihrem engen Rahmen hing alles aneinander. – Kurz, man konnte doch nicht wissen, wen man da über den Haufen gefahren. All die rosa Pakete, die den Wagen füllten...

Daß jetzt niemand da war, der ihr einen ihrer Tänze aufspielen konnte! Mehr als je empfand sie das Bedürfnis, sich ihrer seltenen künstlerischen Qualitäten bewußt zu werden und sich 97 darin hinwegschaukeln zu lassen über die dunklen Untergrundflecken. Bibi blickte träumerisch über das Moosseedorfseelein, das da vor dem Fenster glitzerte, umkränzt von sprießenden Saaten und knospenden Bäumen. Unbewußt summte sie eine weiche Berceuse, und ihr geschmeidiger Leib kam in wiegende Bewegung. Ihre Gedanken flogen über dicht besetzte Parkette hin, und sie labte sich in der Erinnerung an die sie bewundernden Menschenmengen, als ein leises Klirren sie aufschreckte. – Ach ja, da hinten im Säli saßen ja Menschen. Zwei Männer, Viehhändler oder Bauern oder dergleichen – Leute aus dem Volk, ihrem Volk, gewissermaßen Bein von ihrem Bein. – Sie sah zwei Paar glotzende Augen auf sich gerichtet. Halbgefüllte Weingläser standen vergessen auf dem Tisch. Auch Knellbold, der bei der Flasche saß, verschlang Bibis schlanke Gestalt und wünschte die beiden Halbleinenen ins Pfefferland.

Die Tänzerin genoß die Bewunderung dieser beiden mit Widerstreben. Ob sie auch weit in der Welt herumgekommen, so war ihr doch aus der Jugendzeit noch ganz deutlich bewußt, wie tief weibliche Wesen von ihrer Art bei aller Bewunderung vom schlichten Landvolk eingeschätzt wurden: «Ein liederliches Mensch» war noch eine milde Bezeichnung. – Aber wie käme sie durch das Leben, wenn sie darauf achten wollte? Von der Männerwelt hatte sie eine unsäglich geringe Meinung. Was diese Tröpfe nicht alles über sich ergehen ließen, um zur Befriedigung ihrer Begierden 98 zu gelangen! Es lag Bibi schon so im Blut, ihnen mit Verachtung zu begegnen, daß sie auch jetzt tat, als wären ihr die Leute in der Gaststube Luft. Wiegend und summend durchschritt sie den Raum und würdigte niemanden eines Blickes, bis sie fand, es sei Zeit, weiterzufahren.

Als sie aber wieder auf die Polster hineinschlüpfte, war ihr der Uebermut aus den Augen gewichen. – Warum? –

Wie die stallduftenden Menschen da drin, denen so viel Erde an den groben Schuhen klebte, so mahnte sie jetzt auch die ganze Landschaft ringsherum an vergangene Tage. Die dampfenden Aecker, die wie Ehrentafeln von harter, aber fruchtbarer Arbeit zeugten, der ernste Tannenwald, an dessen Rand wohlgefügte Klafter standen, die Torfbrüche, die stattlichen Bauernhäuser, das Dorf mit dem heimeligen Kirchturm, sogar die Schneeberge, die dort drüben aus dem Boden heraufragten, alles blickte sie so seltsam an, als wollte es im nächsten Augenblick in ein Lied, ein Heimwehlied, ausbrechen. Bibi lächelte, wehrte sich und sträubte sich, aber Liseli wollten die schönen, großen blauen Augen feucht werden. Bibi Luritanska schoß im fauchenden Automobil die Landstraße entlang, als verstünde sich die Fahrt von selbst. Dem Liseli Rösti war zumut, als würde es in einem Käfig unter lauter Blicken der Verwünschung durch das Land geschleift. Und ob diesen Blicken wollte es sich flüchten an ein Herz. Liseli wußte, das schlug 99 nicht unter einem seidegefütterten Smoking, es schlug, es schlug – ach Gott! – es hatte geschlagen – einst vor langen wüsten Jahren, in einer – Mutter, deren Augen in bittern Tränen ertranken, als das Liseli, das viel und heiß geliebte Kind, in die Welt hinauszog.

Jetzt hieß man Bibi. – Es war der Dahinfahrenden, als gelle Hohngelächter. Sie barg ihr Gesicht im parfümierten Taschentüchlein. Vor wem denn – in dem dunklen Kasten? – Ums Erbrechen war’s ihr beinahe.

Sie wußte nicht, war es Parfüm oder Gestank, als sie im Hotel in ihrer Garderobe kramte, um sich auf den Abend zu rüsten. Mit Ekel und Widerstreben setzte sie sich ins Auto, als Knellbold sie zur Vorstellung abholte. Wie gern hätte sie sich aus dem Staube gemacht! Aber es kam ihr deutlicher als je zum Bewußtsein, wie gefangen sie war, sie, die sonst immer im Wahn lebte, alles um sie herum tanze an ihren Drähten und seidenen Schnüren. Woher kam denn nur dieser innere Aufruhr? Es hatte ja kein Mensch ihr ins Gewissen geredet. – Nein, kein Mensch, aber die Heimaterde. Die hatte, als die Tänzerin heute nachmittag über sie hinwegrollte, zu wogen angefangen wie eine warme Mutterbrust, unter der wuchtig und sicher ein Herz schlug. Es war ihr gewesen, als dröhnte da aus einer Tiefe eine Stimme: «Fahr nur, du Fratze, du seidene Lüge, eile, flitze! Du kommst doch nicht von mir los. Hüpfe, tanze, fliege! 100 Deine Fußspitze muß mich wieder und wieder berühren, muß meine Wärme fühlen.»

Lichter flimmerten. Der Wagen hielt. Arnold öffnete dienstbeflissen den Schlag. Bibi hatte keinen Blick für ihn. Der war ja auch nur einer von den vielen Laffen, die vor ihr auf den Knien lagen, von der Profossenbande, die sie selbst sich geschaffen. Auch er war seiner Heimatscholle untreu geworden. Vom klingenden Amboß, vom sprühenden Feuer, an dem der biedere Vater Schlossermeister sein schlichtes, sauberes Glück schmiedete, war der Junge fortgelaufen, um in einer «vornehmeren» Branche weiterzukommen und in die weite, große Welt hineinzublicken. – Wart nur, wenn auch du sie einmal im Tageslicht erkennst, wird das Heimweh nach des toten Vaters Esse mit eisernen Krallen in deine Seele greifen, daß du in schwarzen Nächten meinst aufbrüllen zu müssen. Heulen wirst du wie ein geprügeltes Kind, Tränen in deine Kissen träufeln wie ein betrogenes Mägdlein.

Die Rampen strahlten. Der Vorhang teilte sich und enthüllte unter betörender Musik die dunkle, staunende Gafferherde. Lüsterne Blicke funkelten aus dem Parkett, aus den Logen und tasteten an ihr herum. Sie vergaß, tanzte, wirbelte, lächelte. In breiten Wogen kam der Beifall heraufgerauscht. Blumen flogen heran. Zwischen den Kulissen erschienen Herren und suchten mit Bibi ins Gespräch zu kommen. Schmeicheleien – blöde, abgebrauchte – wurden laut. Aber der Reiz des Bewundertseins, der 101 Triumph über die Gaffer taten ihre betäubende Wirkung. Und in diesem Dusel glomm auch die Leidenschaft wieder auf.

Da war nirgends mehr etwas von dem zürnenden, seufzenden Erdhauch zu verspüren. Und zu aller Sicherheit gegen sein Wiederaufleben trank hernach die aufgeglühte Tänzerin in der Gesellschaft ihrer Begaffer Schaumwein. Die Stimme der Heimaterde ward nicht mehr vernommen. Der Schlaf löste den Taumel des Abends ab.

Aber bald blickte der Morgen mit nüchternen Blicken durch die Gardinen. Ein kalter, blasser Frühlingshimmel wartete draußen auf die Schläfer. Bibi Luritanska war um eine Verlängerung ihres Gastspieles ersucht worden. Was sollte sie tun?

Beim Frühstück durchging sie die Zeitungen nach Berichten über ihr Auftreten. Da stieß sie auf die «Unglücksfälle und Verbrechen». – «Unfall an der Predigergasse.» Mit lachenden Augen verschlang sie die Zeilen. Jetzt wußte sie, wen man in den Grund gebohrt hatte. Bibi-Liseli wußte ganz genau, wie ehedem Frau Witwe Fäh geheißen und wer sie war. Und der Droschkenkutscher Klütterli, der einen komplizierten Armbruch davongetragen – ja, ja, das mußte der sein – ach je, der Davidli von der Sonntagsschule! Bei den Großen war er damals gewesen.

Ueber die Verlängerung des Gastspiels war entschieden. – Scheinbar belustigt, legte die Tänzerin das Zeitungsblatt weg und vertiefte 102 sich in das Kursbuch. Wenige Stunden später reiste sie, in einen Roman vertieft, ohne den heimischen Fluren, die vor dem Fenster vorüberglitten, einen Blick zu gönnen, der Grenze zu.

*   *   *

Im Inselspital war Besuchstag. Gott sei Dank! dachte mancher Patient, dem das Lachen des Frühlings vor den Fenstern weh tat, weil er dem brausenden Siegeszug durch Feld und Wald nicht folgen konnte. Besuche lenkten immer ab, auch wenn sie andern Patienten galten. Man hörte doch etwas, mitunter sogar recht lustige Sachen.

Es währte nicht lange über den Stundenschlag, der den Besuchern die Portale des Spitals öffnet, so schwebte auch schon – lautlos wie immer – jene schwarze Dame in den Saal der chirurgischen Abteilung. Das lose Maul im fünften Bett nannte sie die Madonna mit dem Bastdruckli. Hätte der Mann gesagt: der Engel mit dem Bastdruckli, so würde er den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Es war immer dasselbe Bild. Auf einmal stand sie da, wie aus dem Boden gewachsen, so vornehm schwarz, in der Hand eine abgescheuerte Ledertasche. Sie blickte sich nach allen Seiten um, und immer fand sie unter den Kranken einen, der das Gesicht von der Welt abgekehrt hielt und in sein Kissen hinein schnüpfte. Nicht, daß man es etwa drauf angelegt hätte, ihr etwas vorzumachen. Es war nicht jedem erwünscht, wenn sie mit ihren frommen 103 Zusprüchen ans Bett herantrat und ihn mit ihren glänzenden Augen auf Herz und Nieren musterte. Aber wer sich nicht widersetzte, erfuhr es ganz gewiß: Ging sie, so war’s allemal, als läge ein Strauß duftender Blumen auf der Decke. In Wirklichkeit war nichts da – das heißt, doch, eben das obligate Bastdruckli auf dem Nachttisch – aber sonst nirgends etwas, und doch war’s einem noch eine Zeitlang zumute, wie am Abend nach einem so recht «gfreuten» Sonntag.

Sie tat’s auch heute wieder ganz gleich. Richtig hatte sie wieder einen erwischt, der die ganze Woche das Plären zuvorderst gehabt. Leise redete sie ihm zu, und männiglich spitzte die Ohren. Aber da kam der Dröschkeler mit dem gebrochenen Arm, der seit vorgestern dalag, so ins Fegnesten, daß man nicht wußte, was es mit ihm geben wollte.

«Die suecht, der Tüfel soll’s näh, mi. – I bi de hie, Frau Fäh», rief er halb aufgerichtet.

«Schwyg doch! Si bättet ja», flüsterte ihm sein Nachbar strafenden Blickes zu.

Bald darauf wandte sich die Dame nach dem unruhigen Gesellen um, wodurch der Droschkenmann noch mehr ins Zappeln geriet. Aber Frau Fäh ließ sich’s nicht anfechten. Als ob sie eine Amtspflicht zu erfüllen hätte, ging sie von Bett zu Bett, und ob er noch zehnmal zu seinen Nachbarn sagte: «Si chunnt nume wäge mir», und auch an die Besucherin selbst sich wandte: «Heit Dir jitz o no ne Letzi dervo treit?» kam er doch zu allerletzt an die Reihe.

Ja, sie trug kleine Heftpflaster und Beulen, 104 die dem samtweichen, wohlgepflegten Gesichte gar übel anstanden, und die eine Hand hatte sie recht fest eingebunden.

Klütterli streckte ihr seine Linke entgegen: «Das isch jitz schön, daß Dir no dahäre chömet, Frau Fäh. Gällit, gällit nume, wie das jitz o het müesse gah. – U Dir heit o no erwütscht. Eh der Donner, Donner, Donner! – Aber wüsset Dr, Frau Fäh...» Der Patient richtete sich auf.

«Aber Chlütterli,» unterbrach ihn die Besucherin, «schämet Ech doch, so z’rede. Eure Rede sei ja ja, nein nein. Was darüber ist, das ist vom Uebel.»

«Scho rächt,» eiferte Klütterli, «aber mir sy de no nid fertig mitenangere. Dä Lushung, daß i no so säge...»

«Chlütterli, wenn Dir nid weit ordlech tue, so gange-n-i uf der Stell wieder hei.»

«Ja nu, item. Es isch halt eso.»

«Heit Ech jitz still, Chlütterli, das isch Euem Arm nid guet, wenn Dir so i d’Hitz chömet.»

Der Kranke legte sich wieder hin und schickte sich an, artig zuzuhören, als die gute Dame fortfuhr: «Es nützt Euch gar nüt, Euem Zorn Luft z’la. Heit Dr Ech o scho Rächeschaft gä, ob der Fähler ganz nume-n-uf der andere Syten isch?»

«Frau Fäh!» anwortete der Invalide, dessen rotbraunes Gesicht mit den zorngequollenen Augen sich recht blutrünstig von dem weißen Kissen abhob, «Frau Fäh, was das isch, so fraget nume, wän Dr weit. Aber eso, wie-n-i fahre, fahrt Ech de nid gschwing Eine. – Nenei, da git’s nüt 105 z’brichte. Zahle mueß er. We’s jitz no eine dernah wär gsi, oder wenn er öppe ne Hebamme hätti glade gha oder süscht öppis pressants. Aber wüsset Dir eigetlech, wän er im Wage gha het?»

«Die chönne ja nüt derfür», besänftigte Frau Fäh.

«Nüt derfür! – Was het das Möntschli so gha z’pressiere! – Wüsset Dr, wär’s gsi isch? Ds Liseli Rösti, das Donners Huschi, daß i no so säge. Dir bchennet’s ja. Bsinnet Dr Ech no?»

«Ja, ja», sagte die Besucherin, «i ha das Liseli nie ganz us den Ouge verlore. Aber es isch nid üsi Sach, se z’verdamme. Gott hat nicht Wohlgefallen am Tode des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.»

«Scho rächt, aber mit däm isch my Wage nid wieder ganze, und ds Roß! Meinet Dir, so-n-es alt’s Tier mög’s erlyde, däwäg ufem Pflaster umez’gheje. Der Knellboldli mueß bläche. Wartet nume! Wenn i wieder uf de Beine bi. Dä mueß mir zueche. Ja wäger, Frau Fäh.»

«Chlütterli, Chlütterli!» sagte die Dame. «Siebenzig mal siebenmal sollst du deinem Widersacher vergeben. – Dir syd de villicht einisch o no froh, wenn me-n-Euch vergit. Und wäge däm Schade wei mer de luege. Jedefalls machet nüt, bevor mer no einisch z’säme drüber g’redt hei. Jitz bhüet Ech Gott. Und gueti Besserung. Heit Ech schön still.»

«Wär wett mir öppis z’vergä ha? I ha mir nüt vorz’wärfe, Frau Fäh. Bi-n-i öppe nid süferli gfahre?»

106 «Wohl, wohl, ganz süferli. Aber jitz heit Ech still und dänket chly drüber nache. – Bhüet Ech Gott, alli z’säme.»

«Dankheiget, Frau Fäh. Adie, adie!» tönte es aus allen Ecken. Nur der Droschkenmann stimmte nicht ein. Nicht daß er undankbar gewesen wäre; aber adie sagen, danken und koldern kann so einer nicht alles aufs Mal.

Nach einer Weile wurde das Gespräch unter den Patienten wieder aufgenommen. Mehrere gaben Klütterli recht und schimpften heftig über die Autoraserei. Das Schlimmste sei, daß die Chauffeurs immer recht behielten. Immer wüßten sie sich draus zu ziehen, wenn sie Schaden angerichtet, ein Pack seien sie, und eine Schande sei’s, daß jedesmal die braven Leute zu kurz kämen.

Das tat Klütterli grausam wohl. Ja, sagte er, wenn er gewollt hätte, er würde es im Leben auch weiter gebracht haben. Als ihm vor Jahren der Herr gestorben sei, bei dem er als Kutscher gedient, da hätte er die Wahl gehabt, ein größeres Geschäft zu übernehmen. Aber er habe es vorgezogen, still und eingezogen seinen Weg zu gehen mit dem, was der gute Herr ihm vermacht. Nie hätte er’s über sich gebracht, Roß und Wagen des Verstorbenen in andere Hände zu geben. Und er wisse es ganz gut, nur weil er darin so treu gewesen, sei er bis jetzt immer rechtschaffen durchgekommen. «Aber so chunnt’s halt jitz. Was öppe rächt Lüt sy, die müesse hinger abnäh, u di schlächte Hüng säge, was gah müeß.»

107 «Jo, jo, Chlütterli.» sagte darauf der Bettnachbar, «es geit nümme mit rächte Dinge zue, sünsch wärisch du scho lang mitsamt dym Roß und Wagen am heiterhälle Tag i Himmel uehe gfahre.»

«Wie lang hätt’ er ächt bruucht?» meinte der im fünften Bett.

«Spottit ume!» polterte der Droschkier. «Einisch chunnt’s de no angersch. Ds letscht Wort het de dä da obe.» Er zeigte mit seiner Linken fast drohend nach der Zimmerdecke.

«So?» antwortete es aus Nummer fünf. «I ha gmeint, du.»

*   *   *

Ein tieftrauriger Novembertag lag über Stadt und Land. Der Nebel hatte sich in den Kronen der alten Alleebäume verfangen, aus denen die letzten dürren Blätter in den Kotstrom der Laupenstraße herniederflatterten. Durch diesen grauen Brei trottete eine Droschke. Auf dem Bock saß, in seinen alten Pelerinenmantel gehüllt, David Klütterli, genau wie ehedem Hutkrempe, Nase, Schnauz und Kinn aufeinander gedrückt. Alles an der Erscheinung war gelblich-grau-braun-trübe, außer der kalt angehauchten Nasenspitze und dem roten Stoffblümlein auf dem Hute. Es war wohl ein neues. Woher es stammte, wußte nur der Kutscher. Das Blümlein mußte sein. Entweder leuchtete das vorn am Hut, oder das Mißgeschick saß hinten auf dem 108 Wagen. Aber nicht nur das Blümlein war erneuert. Auch der Wagen und das Pferd waren neu, das heißt, sie hatten den Zusammenbruch an der Predigergasse nicht miterlebt. Eben rechnete David nach. Siebeneinhalb Jahre waren schon verflossen, seitdem sie ihn mit dem gebrochenen Arm da hinausgeführt hatten.

Sappermoscht, war das eine Büez gewesen, als sie ihm den Arm streckten! Ja, wenn David nicht so lange hätte liegen müssen, so wär’s dem Knellbold übel ergangen. Bezahlen hätte er müssen. Mancher von den Kollegen hatte ihm das seither versichert. Nun, zum Schaden war es dem Klütterli nicht geworden, daß er der Frau Fäh nachgegeben und vom Prozeß abgesehen. Dieses Nachgeben, das sie für ein christliches Vergeben hingenommen, hatte die gute Frau damit belohnt, daß sie ihm zu einem neuen Wagen und einem Pferd verhalf. Er war seither ihr Leib-Droschkier geblieben, sie sein bester Kunde. Eine sanft hinrollende Harmonie war es geworden, eine Art trabendes Heiligtum, worin alles tadellos assortiert war, Wagen und Insasse, Kutscher und Roß. Bis in den Zwick der Geißelschnur hinaus war alles von ein und demselben Hauch des Friedens durchdrungen, den keine fremde Gewalt anzutasten wagte.

Auch heute trug der klappernde Wagen Heil und Segen über Land. Frau Fäh wollte in die Anstalt Brünnen hinaus, um mit dem Vorsteher Rücksprache zu nehmen über die Weihnachtsbescherung.

109 Pflatsch – Pflatsch – pflatsch! Fanny, die Zweite, tauchte ihre Hufe, nach allen Seiten spritzend, in die Pfützen. Die Straße war menschenleer bis auf zwei Gestalten, eine große blaue und eine kleine braune, die etwa hundert Schritte vor dem Wagen ihres trostlosen Weges stapften. Man überholte sie rasch. Die große Gestalt war ein Landjäger im blauen Kaput, die kleine ein schmächtig Weiblein, kümmerlich angetan. Den Kopf hatte sie in ein schwarzes Tuch gehüllt. Mit der einen Hand hob sie das Kleid, so daß ein paar recht zierliche Fußgelenke in durchsichtigen Strümpfen sichtbar wurden, mit der andern preßte sie das weiße Taschentuch vor ihr fast ebenso weißes Gesicht.

Klütterli blickte hin. O je, welch armes Menschenkind! Ein zartes, blutloses Antlitz. Gramfalten lagen um den Mund und um die bitterbös blickenden Augen ein wunderlich Wirrsal von beulenartigen Flecken und widerlichen Runzeln. Von weither erriet man, daß dieses Frauenzimmer Wege gewandelt, die rechtschaffene Menschen meiden.

Daß David Klütterli bei dem Anblick zusammenzuckte, hätte niemand bemerkt, weil der weite Lodenmantel seiner Gestalt allen Ausdruck nahm. Aber er griff nach der Peitsche, und seinem borstigen Munde entglitt jener klingende Laut, der Fanny zur Eile zu mahnen pflegte. Es war dem Kutscher, als müßte er nach dem Hut hinauflangen, um sich zu überzeugen, ob der kleine rote Talisman noch am gelben Bande stecke.

110 Da klopfte es auch schon sachte an das Fenster hinterm Kutschbock. Klütterli überhörte es absichtlich. Aber es pöpperlete wieder und dringlicher und zum drittenmal schon mit ziemlich derben Knochen. David Klütterli durfte nicht länger den Schwerhörigen spielen. Er mußte anhalten und sich von seinem hohen Sitz in den Kot hinunter bequemen. Die Unterbrechung der Fahrt war ihm um so unangenehmer, als von der Stadt her ein Automobil im Anzug war. Schon war er grimmig entschlossen, nicht einen Zoll auszuweichen, und dieser Grimm stand gewissermaßen im Weißen seiner Augen, die er fragend in den offenen Wagenschlag richtete. «Rufen Sie mir doch schnell den Landjäger heran!» befahl Frau Fäh.

David Klütterli wollte nicht verstehen, trotzdem ihm ganz deutliche Ahnungen schon alles erklärt hatten.

«Den Landjäger?» fragte er. In seinem Staunen verriet sich schon deutlich der Aerger. Er stellte sich breitspurig in den Weg und winkte mit dem Kopf nach dem Wagen hin. Nun überkam den Landjäger das Staunen. Aber Frau Fäh winkte ihn deutlich zum Schlag heran. Die Weibsperson schob das Taschentuch noch höher in das fahle Gesicht, so daß man nur noch ihre verwilderten Augen zwischen Hut und Taschentuch blinken sah, etwa wie die Augen eines Fuchses in seinem Bau.

«Wo wollen Sie mit der Person hin?» fragte Frau Fäh.

111 «Müssen Sie das wissen?» lautete des Gestrengen Gegenfrage. Frau Fäh ließ sich aber nicht verblüffen. «Ja,» sagte sie bestimmt und doch freundlich, «das muß ich wissen. Ich kenne sie, sie war einst meine Schülerin. – Gället, Liseli?»

Es ließ sich nicht unterscheiden, ob die Gefangene lachte oder schluchzte.

«Müßt ihr weit marschieren?» fragte Frau Fäh.

David Klütterli fing an ungeduldig zu werden. – Das Automobil kam näher; aber es tutete nicht.

«Auf die Heimatgemeinde,» antwortete der Landjäger, «nach Frauenkappeln hinaus muß sie. Sie ist per Schub von der Grenze gekommen.»

«Nach Frauenkappelen? – Da habt ihr also grad den gleichen Weg wie wir. Oder nicht? Wißt was, Landjäger, setzt Euch zum Klütterli auf den Bock, und Eure Schutzbefohlene gebt Ihr mir in den Wagen. – Mit solchen Schuhen und Kleidern ist’s ein schlimmes Heimwandern.»

Jetzt stellte sich der Kutscher in ganzer Breite vor den Wagenschlag.

«Frau Fäh,» sagte er, und es sah aus, als plähte seine Entrüstung den ganzen Lodenmantel auf, «Frau Fäh, das jitz hingäge nid. Grad es nieders Faaggeli...»

«Chlütterli! I wett Ech de!»

«Und i tue’s nid. – Das Möntsch...»

Frau Fäh trat aus dem Wagen. « Allons, voyons! So redt me nid vo syne Mitmöntsche.»

112 «Sägit, was Dr weit, Frau Fäh! Aber ender spanne-n-i ds Roß ab, als daß i nes settigs Wybervolk lade.»

Jetzt prustete das Automobil heran. Wie ein schaumschnaubendes Torpedoboot, nur daß es statt weißen Gischtes nach beiden Seiten einen Sprühregen von Straßenkot warf. Klütterli hatte allsogleich seinen Freund Knellbold am Steuer erkannt. Der fuhr dicht heran, so daß die vier Personen zu beiden Seiten auseinanderwichen. Zur Linken standen Frau Fäh und ihr Kutscher, zur Rechten der Landjäger und die außer Dienst gesetzte Ballerina.

Knellbold hatte, am Bahnhof stationiert, den traurigen Transport gesehen. Erst noch unsicher, ob es wirklich die Tänzerin sei, konnte er sich nicht enthalten, den beiden sachte nachzufahren. Im Fahren verstärkte sich in ihm die Ueberzeugung, daß sie es sein müsse. Das Bild hatte ihm tief ins Herz geschnitten. Er schämte sich ihrer und empfand doch ein inniges Mitleid mit ihr. Er staunte über das frühe Ende ihrer glänzenden Laufbahn und konnte sich doch alles leicht erklären. In einer Anwandlung von Ritterlichkeit und Neugier war er dem Transport von ferne gefolgt. Was er eigentlich wollte, war ihm selber nicht ganz klar. Er würde je nach den Umständen handeln oder einfach wieder umkehren. Jedenfalls wollte er wissen, wohin man Bibi brachte.

Nun wurde er Zeuge des Streites zwischen Frau Fäh und ihrem Kutscher, und das reizte 113 ihn. Als Klütterli, durch die Gegenwart des Chauffeurs echauffiert, die Makellosigkeit seines Wagens immer schroffer verteidigte, warf sich Arnold Knellbold plötzlich mit der Einladung dazwischen: «Wissen Sie was, Frau Fäh, zwingen Sie den Pharisäer nicht zur Barmherzigkeit. – Mein Wagen ist vielleicht der armen Verschupften vertrauter. Kommen Sie, Gendarm, mit dem Fräulein. Wohin soll’s gehen?»

Jetzt wandte sich der Landjäger plötzlich um. «Halt, halt! Wo wottsch hi?» Bibi Rösti lief eilends auf dem Trottoir den Bäumen entlang weiter.

Während der Gendarm die Fliehende einholte, wandte sich Frau Fäh an ihren Kutscher: «Seht Ihr jetzt, Klütterli, wie Ihr die Gelegenheit, Liebe zu üben, verscherzet? Euer Widersacher hat das Herz auf dem rechten Fleck».

«Ja Dreck!» wetterte David Klütterli, «auf dem rechten Fleck. – Schon recht! Eben. Die gehören schon zusammen. Sind damals auch zusammen gefahren, wo sie uns überschossen haben. – Aber wißt, Frau Fäh, Ihr müßt nicht meinen, ich sei so einer. Donnerli nei! – Seh!» – Das galt nun dem Gendarm. «Hock miera uf! U seie cha zur Herrschaft yhe, we’s zwängt sy mueß.»

«Nein,» wehrte Frau Fäh, «gezwängt soll es nicht sein. Aber ich weiß, warum ich sie bei mir haben will.»

«He nu also, so hocket uf.»

Bald blickte Knellbold der davonplätschernden Droschke nach, auf deren Bock, einem Leibjäger 114 gleich, der Gendarm saß, während der lederne Kasten zwei andere, gar ungleiche Menschen barg. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr der Stadt zu.

Seine Gedanken weilten bei der unglücklichen Jugendgespielin. Er mußte sich eingestehen, daß sein romantisch-ritterlicher Anflug im Nu geschwunden war, als er aus der Nähe in das von Leidenschaften und Leiden zerstörte Gesicht geblickt, daß er beinahe erschrocken war ob dem Anerbieten, das ihm der selbstgerechte Droschkenmann entlockt hatte. Daß ihn niemand dabei behaftete, war ihm eine Erleichterung gewesen. Und doch, wenn er sich vergegenwärtigte, wie abstoßend die einst Angebetete jetzt auf ihn gewirkt, empfand er ein schmerzendes Bedauern für sie.

«Ich könnte ihr nicht ohne Ueberwindung die Hand reichen», gestand er sich im tiefsten Grund seines Herzens. «Es ist doch gut, daß es Menschen gibt, wie diese Frau Fäh, die es über sich bringen, solche Geschöpfe zu sich auf die gleiche Bank zu ziehen.» Dann glitten ihm die Gedanken weit zurück, bis in die Sonntagsschule und wieder zu der Katastrophe an der Predigergasse. Er sah die würdige Dame mit all ihren Paketchen hinpurzeln, und ein schnödes Lachen kam ihn an. Und doch wußte er ganz bestimmt: Die Frau Fäh blieb in seiner Erinnerung haften als das Bild eines edlen Menschen, dessen Lebensauffassung trotz allem und allem, was ihm die Welt Lächerliches umhängen mag, recht behält.

115 In dem nach Frauenkappelen rollenden Wagen vollzogen sich indessen seltsame Vorgänge. Während David Klütterli dem Landjäger seinen siebenjährigen Kolder über Knellbold und die Rösti, über vierbeinige und Zylindermotoren, über vernünftig Fahren und hirnlose Raserei und über die Schlechtigkeit der Welt im allgemeinen auskramte, ging es in dem gepolsterten Sanktuarium sehr stille zu. Bis nach Weyermannshaus sagte überhaupt keiner der Insassen ein Wort. Das aus den Karrgeleisen gerettete Geschöpf lehnte in seiner Ecke und verhüllte hartnäckig das Gesicht. Erst glaubte Frau Fäh, es sei in Tränen aufgelöst. Zu ihrem Entsetzen entdeckte sie aber immer deutlicher, daß es von Zeit zu Zeit lachte. Dann schien es ihr wieder, die einst so lieblichen Vergißmeinnicht-Augen sprühten Haß und Hohn. Sie täuschte sich darin kaum, denn wie draußen die Alleebäume vorüberglitten, so zogen auch die vergangenen Tage und Jahre an Liselis Seele vorüber. Haßvolle Anklagen glühten auf wie Raketen. Aber schnell zerstoben sie in der Nacht ihres zerrütteten Herzens. Sie erblaßten vor dem Wetterleuchten komischer und toller Erinnerungen. Die alte Mahnerin und Warnerin da hatte recht behalten. Alle ihre Voraussagen waren eingetroffen, häßlicher und brutaler, als sie es wohl je selbst geahnt. Was konnte doch so eine Heilige in ihrem Schneckenhaus von der großen Welt wissen! Hundertmal schlechter noch waren die Menschen, als die sich’s vorstellen konnte. All das draußen 116 Erlebte gab Liseli Rösti tausendmal recht, Aber daß sie nun so der Barmherzigkeit der lange verschmähten Freundin preisgegeben war, verdroß die Schiffbrüchige. Es brauchte wirklich den Hunger, die Erschöpfung, das Kranksein, den Kot und das Hundewetter, um diese Demütigung in Kauf zu nehmen. Wenn sie mir nur nicht anfängt mit Bekehren, sonst bin ich flugs auf der Straße draußen! So überlegte Liseli, und ihre Augen drohten: «Nimm dich in Acht, Alte! Wenn du wüßtest, wie die Kanaille mit mir umgegangen ist, die sich einst an mir ergötzte, du würdest dich wohl besinnen, mir Vorwürfe zu machen.» Liseli kam’s zuweilen in die Füße, als müßte sie nach der tadellosen Dame stüpfen.

Da fühlte sie ihr Handgelenk plötzlich von der Hand ihrer Helferin sanft und doch fest umschlossen. Und Frau Fäh sagte mit einer von tiefem Weh durchzitterten Stimme: «Verzeihen Sie mir, Liseli!»

Der Tänzerin kam es vor, als wäre sie schlaftrunken und hätte etwas ganz Widersinniges im Traum gehört. – Verzeihen Sie mir! – Sollte sie lachen oder schreien? Wie konnte die alte Dame darauf verfallen, sie um Verzeihung zu bitten? Das hatte Liseli seit zwanzig Jahren kaum je zu hören bekommen. Sie ahnte nicht, daß Frau Fäh sich auf dem ganzen Weg in Anklagen gegen sich selbst gepeinigt, daß sie sich vorwarf, nicht alles getan zu haben, um ihrer einstigen Schülerin den Weg in den Abgrund zu verlegen.

117 «Was sollte ich Ihnen zu verzeihen haben?» sagte die Tänzerin verwirrt.

«Ihr Unglück.»

«Mein Unglück», wiederholte Liseli in Gedanken. «Von Unglück redet sie.» Das kam ihr wunderlich vor, hatte sie doch erwartet, Frau Fäh würde nur von Schuld und Sünde zu ihr reden.

Nach längerem Schweigen fragte die alte Dame: «Wollen Sie mir etwas von Ihrem Unglück anvertrauen?»

«Einmal ja,» erwiderte sie, «aber erst muß ich wieder ein wenig zu mir selbst kommen. Mich dünkt, es müßte mich töten, finge ich an aufzuzählen, was ich erlitten habe.»

«Gut. Ich werde Sie besuchen, wenn ich weiß, wo Sie untergebracht sind.»

Bald darauf erreichten sie das Landhaus zu Brünnen. Frau Fäh stieg aus und befahl ihrem Kutscher, die übrigen Fahrgäste nach Frauenkappelen hinüberzuführen und sie hernach in der Anstalt abzuholen.

*   *   *

Vor dem Stöckli des Bauernhofes auf Lang-Aegerten stand der Arzt von Mühleberg in eifrigem Gespräch mit der Bäuerin. Die große, starke Frau hatte ein überlegenes Lachen in ihren gutherzigen Augen, als sie, die Hände in die breiten Hüften stemmend, sagte: «Jawäger, Herr Doktor, das kann ich Euch nur sagen, hüten muß man die Person grad wie eine Geiß. Den Winter über ging’s ja. Sie war viel nid zwäg. 118 Und wenn öppe die Frau Fäh zu ihr gekommen ist, die für sie zahlt, da hat sie ihr grüseli nach dem Sinn reden können. Das geht albe so schön, man sollte meinen, sie hätte nie kein Wässerlein getrübt. Aber jetzt, kaum daß sie sich wieder ein wenig bchymet, so, der Gugger söll’s näh, muß man ihr uf u nahe sy wägem Mannevolch. Es hat mir schon manchmal Kummer gemacht wegen den Burschen. Ja, die hat Euch ein Feuer im Leib. Das ist eben das Grüsliche. Wenn so Eine schon brav sein wollte, so kann sie nicht mehr, es läßt ihr keine Ruhe mehr. Ach, du mein Gott, da sieht man grad, daß unsereins nicht genug zu den Kindern luegen kann.»

«Je nun,» sagte der Arzt mit Achselzucken, «es wird sie nun schon lehren. Sie kommt nicht mehr davon. Lang macht sie’s vielleicht überhaupt nicht mehr, und wenn’s ihr arg bösen sollte, so muß sie in einen Spital. – Ja, ja, Schönheit ist manchem braven Meitschi zum Verderben ge... Hoppla!»

Ein Windstoß, der eine ganze Wolke von Apfelblüten über den Hof wirbelte, hatte des Doktors Hut über den mächtigen Misthaufen davongetragen, und wäre nicht das alte Bauernhaus im Wege gestanden, so, wer weiß, hätte man den Flüchtling aus der Aare fischen müssen, die da tief unten hinterm Wald vorüberrauschte.

So hatte die kranke Pensionärin droben hinter ihrem Stöcklifenster doch noch den Spaß, den kleinen Doktor und die dicke Bäuerin Wettlaufen zu sehen.

119 Als der Hut wieder saß, wo er hingehörte, kehrte die Bäuerin um und begab sich zu der Patientin, die mißmutig in ihrem Lehnstuhl am Fenster saß.

«Ihr solltet ein paar Tage liegen, hat der Doktor gesagt», hub sie an.

«Ach,» seufzte die Kranke, «das kommt auf eins heraus, ob ich liege oder nicht. Weiß schon, daß meine Tage gezählt sind. Es ist jetzt einmal so. Soll ich kein Glück haben, so gönnt mir wenigstens, daß auch mein Leiden kurz sei.»

«Ihr sollt nicht denken, daß wir Euch nicht das Beste gönnen. Aber an Eurem Platz täte ich öppe, was von uns geschehen kann, um das Leben erträglich zu machen. Wenn man sich dazu hält, so vermag man noch manches einzubringen, was man in der Jugend versäumt hat.»

«Ihr habt gut reden, Bäuerin.» Mit einem Blick voll Bitterkeit maß die schmächtige, doch trotz aller Verzerrung noch schöne Kranke die vierschrötige Gestalt ihrer Hüterin. «Ich wollte sehn, was geschehen wäre, hätte man, bevor ihr den Weg in diese arme verfluchte Welt antratet, Euren Leib und meinen Leib, Euren dicken Lebenssaft und mein feuerheißes Blut Euch zur Wahl vorgelegt. Würdet Ihr nicht auch nach dem Sonntagsrock gegriffen haben?»

«Ihr müßt nicht meinen,» erwiderte die Bäuerin mit verschränkten Armen, «unsereins sei öppe nie jung und lustig gewesen. Potz Schieß abenangere. Mir ist’s manchmal auch schön warm durch die Glieder gelaufen. Aber wißt, Jungfer 120 Rösti, wenn eins sein Brot aus dem zähen Boden herauswerken muß und dazu für gesunden Nachwuchs auf den Hof sorgen soll, dann vergeht ihm das Gümpmachen, ja wäger. Ich kann Euch nur sagen, das sähe nicht so brav und wachsig aus da z’ringum, wenn unsereins immer nur Sonntag haben und sich nie Gewalt antun wollte. Aber bei uns befiehlt der Boden, darauf wir leben, was wir zu tun haben. Und wehe dem, der vergißt, daß er Staub von diesem Staube ist und mit Red’ und Antwort der Erde zurückgeben muß, was er von ihr empfangen hat. Die Erde und was Lebendiges sie hervorbringt, gehören zusammen, und alles ist Gottes.»

Die Kranke schwieg, und die Bäuerin kehrte an ihre Arbeit zurück. Was wußte denn die von allem, was seit der traurigen Heimkehr in Liselis Herzen vorging?

An Wegweisung zu den Höhen des ewigen Lebens fehlte es der Unglücklichen nicht. Frau Fäh belagerte sie schonend und sorgsam in heiliger Geduld. Ab und zu reichte ihr, behutsam tastend, der alte Pfarrer sein geistlich Brot. Und bei Gelegenheit rückte ihr die Bäuerin mit derben Schritten auf den Leib. Aber immer noch schien ihr der eigene Arm zu kurz, um die schönen Gaben zu ergreifen. Je mehr die guten Leute von der Reinheit und Herrlichkeit des Lebens in Gott sprachen, desto unwürdiger kam sie sich vor, fühlte sie doch immer noch die Triebkraft ihrer besondern Sünde in sich.

Aber eine leise Hoffnung dämmerte ihr aus 121 ihrer geheimen Zwiesprache mit der Erde. Wenn sie das Bauernvolk ausziehen sah zur Arbeit, wenn sie den Dengelhammer ticken hörte, an die schweren, sichern Schritte dieser Menschen, an ihre gebräunten Gesichter und die lauteren Augen dachte, so ging ihr ein Licht auf über das, was in unbeholfenen Worten die Bäuerin ihr sagte. Dieses Ringen mit der heimischen Erde schien ihr die böse Lust zu ertöten. Da war eine geheime Wechselwirkung. Je zäher und heißer sie mit dieser Erde rangen, die doch einst ihre Leiber mit Rechenschaft zurückforderte, desto froher wurden sie. Zwischen Liselis vergeudetem Leben, das ihr höchstes Glück vorgetäuscht, und diesem Leben der Mühsal gähnte eine Kluft, die Kluft zwischen Lüge und Wahrheit.

Aus dem Leben der Mühsal und der Wahrheit, das ihre Eltern noch geführt, war Liseli hervorgegangen. Zu ihm wollte sie zurückkehren, bevor sie das Kleid, in dem sie ihr untreu geworden, der Heimaterde zurückerstatten mußte. Dann würde sie selbst wieder frei werden und der Herrlichkeit entgegengehen, die nach der Meinung ihrer braven Berater jedem reuigen Sünder verheißen sei.

Als aber Liseli sich Zwang antat und mit ihren geringen Kräften bei der Arbeit Hand anlegen wollte, begegnete sie einem mißtrauischen Lächeln. Das würde sie keinen halben Tag lang aushalten, meinte die Bäuerin. Und bald merkte die Verschmähte auch, daß man sie nicht bei den andern Leuten haben wollte. Man glaubte nicht 122 an ihren ehrlichen Willen zur Arbeit. Es werde ihr wohl eher um das junge Volk zu tun sein.

Mit Mühe erlangte Liseli, daß ihr gestattet wurde, im Krautgarten der Bäuerin, innerhalb des Staketenzauns leichte Arbeit zu verrichten.

Als sie eines Tages auf allen Vieren mit ihren schmalen Fingern Unkraut zwischen den Lattichstauden auszog, erschien der Pfarrer am Gartenhag und rief sie an. «Ich habe Euch eine schlimme Nachricht», sagte er nach freundlicher Begrüßung. «Eure Gönnerin und Beschützerin, Frau Fäh, ist gestorben.»

«Wenn nicht Ihr mir das sagtet, Herr Pfarrer, so hätte ich Mühe, es zu glauben. – War sie krank?»

«Nur wenige Tage. – Ja, die wird vielen Menschen fehlen.»

«Was soll nun aus mir werden?» fragte Liseli, sich vollends aufrichtend.

«Es sei für Euch gesorgt, habe ich gehört», beruhigte der Pfarrer.

Als Liseli dem Hause zuwankte und auf das Bänklein hinfiel, trat der alte Herr näher zu ihr und redete ihr tröstlich zu. Liseli sagte nicht viel. Als sie wieder allein war, beschlich sie ein Gefühl der Befreiung. So sehr sie sich Frau Fäh zu Dank verpflichtet fühlte, hatte sie doch eine gewisse Scheu vor dieser mütterlichen Beschützerin nie ganz überwinden können. Und doch ward sie im Nachdenken es immer deutlicher inne, welchen unersetzlichen Verlust sie erlitten habe. Ein Halt, eine lebendige Kraft war ihr entrissen. «Nun 123 muß ich mich erst recht an die Erde halten», sagte sie sich.

«Sie ist ein seltsam Weibervolk», erzählte bald darauf die Bäuerin dem Pfarrer. «Seitdem ihre Fürsorgerin gestorben ist, redet sie nicht mehr, und das Werchen ist sie angekommen. Kein Werkzeug kann sie mehr sehen, ohne danach zu greifen. Es ist, als wollte sie nachholen, was sie versäumt hat. Aber herrje, herrje...!»

«Laßt sie machen!» sagte der Pfarrer.

So trieb es Liseli ungeachtet der Sommerhitze, bis das Laub sich rötete und die müde Erde den Rest ihrer Frucht hergab. Da erschien eines Tages der Doktor von Mühleberg vor David Klütterlis Stalltüre.

«Ihr seid doch der, nicht wahr, der immer die verstorbene Frau Fäh nach Frauenkappelen hinausgeführt hat, zu der Jungfer Rösti?»

«Ja, der wäre ich.»

«Nun also. Würdet Ihr nicht diese Person von dort abholen? Sie ist schwer krank und muß in das Asyl für Unheilbare gebracht werden.»

«So, so? – Ja, der ist’s übel ergangen, daß unsere gute Frau Fäh gestorben ist, grad wie mir.»

«Eben, das meine ich auch. Aber sie ist schlimmer dran. Man hat sie neulich ohnmächtig auf einem Rübenacker gefunden. Für schwere Arbeit ist so eine nicht gemacht. Jetzt steht’s übel mit ihr, und sie muß versorgt werden.»

«Wohin wollt Ihr sie geführt haben?»

«Nach Beitiwyl.»

124 «Jaso? – Was meinst, bringen wir das noch zustand an einem Tag? Nach Frauenkappelen hinaus und dann noch nach Beitiwyl und wieder heim?» Diese Frage galt dem Pferd, das, ohne den Kopf zu wenden, Heu rupfte und mit einem Schweifwedeln antwortete, welches ebensowohl ja wie nein bedeuten konnte. «Laß mich in Ruh!» war sein eigentlicher Sinn.

Unterdessen zählte David Klütterli an den Fingern: «Eine oder anderthalbe, macht dreie, zwo, viere, macht... ja du meine Güte! Nein, das ist zuviel auf einmal.»

«Ei warum nicht gar,» lachte der Doktor, «ich hatte eine zwölfjährige Stute, die lief Euch ihre acht Stunden des Tages wie geschnupft, und so weit ist’s ja gar nicht, wie Ihr da rechnet.»

«Herr Doktor, was wir erlaufen mögen, wissen wir am besten. Das ist halt nicht mehr wie albe. – Aber wißt Ihr was? Diesmal könnte der Knellböldli dran, mit seinem Benzinwagen. Der hat ja dannzumal, als wir die – die Persöni hinausgeführt haben, getan, als wär’s ihm die größte Freude.»

«Ja, jetzt noch gar! Und die Kosten?»

«Kosten, z’Donnerli. Ist’s öppe für den weiter als für mich? Er braucht weniger Zeit. – Und wißt» – Klütterli trat ganz dicht an den Doktor heran – «der Knellböldli hat’s mit dem Rösteli gar chätzers gut gekonnt, dannzumal, als sie noch Büchsenpulver im Leib hatte. – Soll ich ihn fragen?»

Der Doktor hatte sich überlegt, daß die Fahrt 125 im Auto der Kranken bekömmlicher wäre als in der alten Droschke. «Wenn dem so ist, so wär’s ums Fragen. – Gut. Um zwölf Uhr hol’ ich den Bescheid bei Euch. Adieu!»

«So, so,» sagte der Chauffeur, als ihm Klütterli am Bahnhof den Handel vortrug, «wär’ ich dir jetzt kommod, he?»

«Ja schau,» erklärte der Droschkenmann, «grad ganz so leicht ist’s mir nicht worden, dir damit zu kommen; aber weil mir der Doktor zugeredet hat, es sei der letzte Dienst, den man der armen Tröpfin erweisen könne, da hab’ ich gleich an dich gedacht. – Und ich weiß nicht wieso, aber auf einmal ist mir die Frau Fäh selig in Sinn gekommen, und ’s ist mir so, als müßte es ihr wohltun, wenn sie uns beide das im Frieden abmachen sähe. Meinst nicht auch? – Weißt, ich glaub’ halt, ich fahr’ auch nicht mehr lang.»

Klütterli hatte feuchte Augen, als er das sagte. Arnold Knellbold dagegen verzog den Mund, in dessen einem Winkel eine Zigarette hing, zu einem spöttischen Lachen.

«Wann müßte man sie holen?» fragte er endlich.

«Der Dokter hat gesagt, noch diese Woche; aber auf den Tag käm’s nicht an.»

Knellbold ließ seinen alten Konkurrenten noch ein Weilchen zappeln. Dann sagte er, breitspurig auf gespreizten Füßen wippend, und ohne die Zigarette aus dem Munde zu nehmen: « Bon, mon vieux. – Am Freitag kann ich’s machen. Willst mit?»

126 «Ich?»

«Ja du. – Grad du. Es ist ganz gut, wenn du einmal einen Begriff bekommst vom Autofahren.»

David Klütterli wollte nicht den Namen haben; aber aus all seinen Runzeln und den im Weißen schwimmenden Augensternlein grinste verräterisch die Freude.

Als Knellbold ihn am Freitag abholte, erschien Klütterli mit dem Droschkierhut, worauf noch immer das Blümlein prangte.

«Hast keinen andern?» fragte der Chauffeur.

«Eben nicht. Nur so eine grüsliche Pelzkappe. Für die ist’s mir noch nicht kalt genug, und sie liegt noch im Pfeffer.»

«Nun, so komm halt mit dem!» spaßte Knellbold ernsten Gesichtes. «Aber wenn wir das Ungfell haben sollten, etwa eine alte Droschke zu überschießen oder ein Huhn zu überfahren, so lesen sie halt dann das Nummero auf deinem Hut. – Aber hock jetzt auf. Da, neben mich. Kannst dann grad lernen, wie unsereiner kutschiert.»

Und nun fuhren sie los. Dem David Klütterli gingen die Ohren breit vom Kopf, und die Aeuglein stachen in völligem Vergessen von Zeit und Raum in die Luft.

«Gäll?» sagte Knellbold.

«Allwäg», schmunzelte Klütterli.

«Meinst nicht, die Frau Fäh tät schier einen Gump vor Freude, wenn sie uns sähe?»

«Wohl bi Goscht!»

127 Rrrux. Der Chauffeur hatte an einem Hebel gedrückt, und nun schoß der Wagen davon, daß man kaum die Alleebäume zählen konnte. Klütterli wurde stiller, und als bei Weyermannshaus ein Huhn vor dem Wagen davonflatterte, nahm der Droschkenmann seinen Hut sachte ab und versenkte ihn tief zwischen die Knie. Er wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch, und war doch kein Tröpflein Schweiß drauf. Erst als sie über den Gäbelbach kamen und nun langsamer den Berg hinanrollten, setzte er den Hut mit der 13 vorn drauf und dem Blümlein nebendran wieder auf das borstige Haupt.

O wie war’s doch so schön, so im goldenen Herbsttag aus dem Nebelschleier hinaufzufahren, dem blauen Himmel entgegen, der sich über die leuchtenden Wälder wölbte. Dazu läutete droben so friedvoll und heimelig die Kirche von Frauenkappelen. Erst dachten sich die beiden nichts dabei. Aber auf einmal fragte Knellbold: «Was läuten sie eigentlich da droben?»

«He, es ist elf Uhr», erklärte sein Gast.

Sie hatten die Höhe erreicht und fuhren ins Dorf. Da kam von der andern Seite eine kleine Schar sonntäglich gekleideter Bauersleute. Voran aber kam der alte Pfarrer barhaupt. – Ein Leichenbegängnis. Knellbold stoppte.

Als der Zug an ihnen vorüberkam, erkannte die Bäuerin von der Lang-Aegerten den Droschkenmann an seinem Hut. «Ei, du mein Trost!» sagte sie, stehen bleibend, zu den beiden aus der Stadt. «Eh weder nid habt ihr die 128 Jungfer Rösti holen wollen. Es manglet’s wäger nümme. Die hat jetzt ihre Ruhe gefunden. Seht da!»

Knellbold und David blickten sich verlegen an, nahmen ihre Kopfbedeckungen ab und folgten dem Zug auf den Friedhof, der inmitten leuchtender Obstbäume lag und ein gar wehmütig schönes Bild darbot.

Als der schlichte Sarg eingesenkt war, trat der Pfarrer vor, hielt feierlich seine Hand über das Grab und sprach: «Was du bei der Erde gesucht, hat sie dir nicht geben können. Aber der Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, ist größer denn seine Werke. Zur Erde, was von ihr genommen ist! Der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben. Amen.»

Und indem der alte Herr das sagte, fuhr der Herbsthauch der Erde durch die Bäume, warf ihre blutroten Blätter hoch in die Luft, daß sie im Sonnenlicht aufglühten, und aus den niederflimmernden Flämmchen wob er eine warmleuchtende Decke über das Grab der Büßerin.



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