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Fünftes Kapitel.
Nikhils Erzählung

IV

Alles rauscht und wogt in der Flut des Augusts. Die jungen Reisähren glänzen wie die Glieder eines kleinen Kindes. Das Wasser ist in den Garten beim Hause gedrungen. Das Morgenlicht gießt sich wie die Liebe des blauen Himmels verschwenderisch über die Erde aus–... Warum kann ich nicht singen? Der ferne Fluß schimmert von Licht; die Blätter glitzern; die Reisfelder erschauern in goldenem Leuchten; und in dieser Herbstsymphonie bleibe ich allein stumm. Der Sonnenschein der Welt trifft mein Herz mit seinen Strahlen, doch es wirft sie nicht zurück.

Wenn ich sehe, wie mir die Gabe versagt ist, meine Gefühle auszudrücken, dann weiß ich, warum ich einsam bin. Wer könnte auf die Dauer Tag und Nacht meine Gesellschaft ertragen? Bimala ist voll von Lebenskraft, und daher bin ich ihrer in all den neun Jahren unsrer Ehe keinen Augenblick überdrüssig geworden.

Mein Leben hat nur seine stumme Tiefe, aber kein murmelndes Rauschen. Ich kann wie der stille See nur aufnehmen, nicht fortreißen. Und daher ist meine Gesellschaft wie ein Fasten. Heute erkenne ich es klar, daß Bimala die ganze Zeit an meiner Seite gedarbt hat.

Wen soll ich darum tadeln? Wie Vidjapati kann ich nur klagen:

August ist da. Wild schluchzt der Himmel auf,
Und Tränenströme stürzen auf die Erde;
Und, ach mein Haus ist leer.

Mein Haus, das sehe ich jetzt, war von Anfang an bestimmt, leer zu bleiben, weil seine Türen sich nicht öffnen lassen. Aber bis jetzt wußte ich nicht, daß seine Gottheit draußen saß. Ich war töricht genug zu glauben, daß sie mein Opfer angenommen und mir dafür ihre Gnade verliehen hätte. Aber ach, mein Haus ist die ganze Zeit leer gewesen.

Jedes Jahr um diese Zeit pflegten wir uns in einem Hausboot über die weite Fläche des Samalda treiben zu lassen. Ich sagte oft zu Bimala, daß jedes Lied immer wieder zu seiner Grundmelodie zurückkehren müsse. Die ursprüngliche Grundmelodie jedes Liedes findet sich in der Natur, wo der regenbeladene Wind über den rauschenden Strom hinfährt, wo die grüne Erde sich den Schattenschleier übers Antlitz zieht und ihr Ohr dem plaudernden Wasser zuneigt. Da ist es, wo am Anfang aller Zeiten Mann und Weib sich zuerst begegneten, – nicht zwischen Mauern. Und daher müssen wir beide wenigstens einmal im Jahr zur Natur zurückkehren, um unsre Liebe neu zu stimmen auf den ersten reinen Ton, in dem unsre Herzen sich fanden.

Die beiden ersten Jahre unsrer Ehe verbrachte ich unsern Hochzeitstag in Kalkutta, wo ich meine Examina machte. Aber von dem nächsten Jahre an, in den sieben folgenden Jahren haben wir jedesmal diesen Tag inmitten der blühenden Wasserlilien gefeiert. Jetzt beginnt eine andere Oktave meines Lebens.

Es wird mir schwer, nicht daran zu denken, daß der August in diesem Jahre wiedergekommen ist. Ob Bimala wohl daran denkt? Sie hat mich nichts merken lassen. Alles um mich her ist stumm.

August ist da. Wild schluchzt der Himmel auf,
Und Tränenströme stürzen auf die Erde.
Ach, und mein Haus ist leer.

Das Haus, das leer geworden ist, weil die Liebenden sich trennten, ist doch mitten in seiner Leere noch von Musik durchzittert. Aber das Haus, das leer geworden ist, weil die Herzen sich trennten, ist furchtbar in seinem Schweigen. Selbst der Schrei des Schmerzes ist dort nicht am Platz.

Dieser Schmerzensschrei muß in mir zum Schweigen gebracht werden. Solange ich fortfahre zu leiden, wird Bimala nie wahrhaft frei werden. Ich muß sie ganz freimachen, sonst werde ich mich selbst nie von der Lüge befreien können–...

Ich glaube, eins habe ich jetzt angefangen zu verstehen. Der Mensch hat die Flamme der Liebe zwischen Mann und Weib so angefacht, daß sie über ihr rechtmäßiges Gebiet hinaus um sich gegriffen hat, und er ihr jetzt nicht mehr Halt gebieten kann. Der Mensch hat aus seiner Liebe einen Götzendienst gemacht. Aber es wird Zeit, daß die Menschenopfer an ihrem Altar aufhören–...

Ich ging heute morgen in mein Schlafzimmer, um ein Buch zu holen. Es ist lange her, daß ich es am Tage betreten habe. Ein Schmerz schnitt mir durch die Seele, als ich mich heute im Licht des Morgens darin umblickte. Am Kleiderriegel hing ein Sari von Bimala, zum Gebrauch fertig geplättet und gekräuselt. Auf dem Toilettentisch stand ihr Parfüm, daneben lagen ihr Kamm, ihre Haarnadeln, und da war auch die Scharlachpaste für das Stirnzeichen! Unten standen ihre goldgestickten kleinen Schuhe.

Einst, in früheren Zeiten, als Bimala ihre Abneigung gegen Schuhe noch nicht überwunden hatte, da brachte ich ihr diese von Lakhnau, um ihr Lust dazu zu machen. Das erstemal wollte sie vor Scham zu Boden sinken, als sie nur damit hinaus auf die Veranda gehen sollte.

Seitdem hat sie manches Paar zu Ende getragen, aber dies Paar hat sie immer wie einen Schatz aufbewahrt. Als ich ihr zuerst diese Schuhe zeigte, neckte ich sie mit einer merkwürdigen Gewohnheit, die sie hatte: »Ich habe dich überrascht, wie du meine Füße ehrfurchtsvoll berührtest, als du glaubtest, daß ich schliefe. Dies ist mein Liebesopfer, das die Füße meiner Gottheit, wenn sie wach ist, immer in Ehrfurcht berühren soll.« Allein sie wehrte erschrocken ab: »Du mußt nicht solche Sachen sagen, sonst werde ich nie deine Schuhe tragen!«

Dies Schlafzimmer, – es hat eine so feine Atmosphäre, die ich bis ins innerste Herz spüre. Ich habe bis heute nie gewußt, wie mein durstendes Herz seine Wurzeln ausgestreckt und sich um jeden einzelnen vertrauten Gegenstand geklammert hat. Ich sehe, es genügt noch nicht, wenn ich die Hauptwurzel ausreiße, um mein Leben zu befreien. Selbst diese kleinen Schuhe halten mich fest.

Mein wandernder Blick fiel auf die Nische. Mein Bild da blickt noch ebenso wie immer, obgleich die Blumen, die es schmückten, längst welk und trocken sind. Von allen Dingen im Zimmer sind sie mit ihrem Gruß allein aufrichtig. Sie sagen mir, daß sie nur noch da sind, weil es nicht der Mühe lohnte, sie fortzunehmen. Doch mag es sein; ich will die Wahrheit willkommen heißen, wenn sie auch in so dürrer und trostloser Gestalt mir erscheint, und will auf die Zeit hoffen, wo ich imstande sein werde, so unbewegt und ruhig auf alles hinzublicken, wie mein Bild da oben in der Nische.

Als ich noch dastand, trat Bimala hinter mir ein. Ich wandte hastig meinen Blick von der Nische ab zu dem Bücherregal und murmelte: »Ich wollte mir nur Amiels Tagebücher Henri Frédéric Amiel, Genfer Dichter und Philosoph deutscher Schule (1821-81), besonders bekannt durch die Auszüge aus seinen Tagebüchern, die nach seinem Tode veröffentlicht und ein verbreitetes Erbauungsbuch wurden. (Übers.) holen.« Wozu brauchte ich ihr freiwillig eine Erklärung zu geben? Ich fühlte mich wie ein Übeltäter, ein Eindringling, der ein Geheimnis, das er nicht wissen soll, ausspäht. Ich konnte Bimala nicht ins Gesicht sehen und eilte schnell hinaus.

 

V

Ich saß draußen in meinem Zimmer und hatte mir gerade gesagt, daß es keinen Sinn hätte, wenn ich versuchte zu lesen oder mich irgendwie sonst zu beschäftigen, – es war mir, als ob alle meine künftigen Tage in eine feste Masse zusammenfrieren und sich für immer schwer auf meine Brust legen wollten, – da kam Pantschu, der Pächter eines benachbarten Zemindars Der von der Regierung gegen eine Pachtsumme angestellte Hauptpächter eines Landstriches mit dem Recht der Unterverpachtung. mit einem Korb voll Kokosnüsse und begrüßte mich ehrerbietig.

»Nun, Pantschu«, sagte ich. »Was soll denn dies?« Ich hatte Pantschu durch meinen Lehrer kennengelernt. Er war sehr arm, daher dachte ich, der arme Bursche wollte sich durch dies Geschenk ein kleines Trinkgeld verschaffen, um aus einer augenblicklichen Verlegenheit zu kommen. Ich nahm etwas Geld aus meiner Börse und hielt es ihm hin, aber er wehrte mit gefalteten Händen ab: »Nein, Herr, das kann ich nicht nehmen!«

»Warum nicht, was hast du denn?«

»Lassen Sie mich Ihnen beichten, Herr. Einmal, als ich sehr in Not war, stahl ich ein paar Kokosnüsse aus diesem Garten hier. Ich werde alt und kann jeden Tag sterben, daher bin ich gekommen, um sie Ihnen zurückzuzahlen.«

Amiels Tagebücher hätten mir an jenem Tage nicht helfen können, aber diese Worte Pantschus machten mir das Herz leichter. Es gibt doch noch andere Dinge im Leben als die Vereinigung oder Trennung von Mann und Weib. Darüber hinaus erstreckt sich die große Welt, und man hat erst das rechte Maß für seine eigenen Leiden und Freuden, wenn man mitten in dieser Welt steht.

Pantschu hängt mit großer Verehrung an meinem Lehrer. Ich weiß recht wohl, wie er sich abmüht, um das Notwendigste zum Leben aufzubringen. Er steht jeden Morgen vor Tagesgrauen auf, watet mit seinem Korb voll Betelpfefferblättern, Tabakrollen, farbigem Nähgarn, kleinen Kämmen, Spiegeln und anderm Kram, den die Dorffrauen lieben, durch das knietiefe Wasser des Sumpflandes und geht hinüber zu dem Namasudra-Viertel. Da tauscht er seine Waren gegen Reis ein, wodurch er etwas mehr bekommt, als er dafür bezahlt hat. Wenn er früh genug zurückkommt, geht er, nach einer eiligen Mahlzeit, noch einmal fort zum Konditor, wo er bei Schlagen des Zuckers für die Waffeln hilft. Sobald er heimkommt, setzt er sich hin und macht Schildpattspangen und plagt sich oft dabei bis Mitternacht. Und bei all dieser trostlosen Plackerei verdient er kaum so viel, daß er und die Seinen sieben Monate hindurch zweimal am Tage essen können. Um satt zu werden, trinkt er erst immer eine tüchtige Portion Wasser, und seine Hauptnahrung sind die billigsten und minderwertigsten Bananen. Und doch muß die Familie den übrigen Teil des Jahres mit einer Mahlzeit auskommen.

Ich dachte einmal daran, ihm eine jährliche Unterstützung zu geben, aber mein Lehrer sagte: »Du kannst das harte Los dieses Mannes nicht ändern, du könntest nur ihn selbst mit deiner Gabe verderben. Mutter Bengalen hat nicht nur diesen einen Pantschu. Wenn ihre Brüste ausgetrocknet sind, so kann die Milch, die von außen kommt, das nicht gutmachen.«

Solche Gedanken machen nachdenklich, und ich beschloß, es mir zur Aufgabe zu machen, einen Ausweg aus der Not zu finden. Noch am selben Tage sagte ich zu Bimala: »Wir wollen unser Leben daran setzen, die Wurzel dieses Übels in unserm Lande auszurotten.«

»Ich sehe, du bist mein Prinz Siddharta Der Name Buddhas, bevor er der Welt entsagte.«, erwiderte sie lächelnd. »Aber gib nur acht, daß der Strom deiner Gefühle mich nicht am Ende auch mit hinwegfegt!«

»Siddharta legte sein Gelübde allein ab. Ich möchte, daß wir es zusammen tun.«

Wir kamen auf andere Dinge zu sprechen. Bimala ist nämlich im Grunde, was man eine »lady« nennt. Wenn auch ihre Familie nicht in guten Verhältnissen lebt, so ist sie doch eine geborene Fürstin. Sie zweifelt nicht, daß es für die Sorgen und Leiden der niedrigeren Klassen einen andern Maßstab gibt. Natürlich leiden sie beständig Mangel, aber es ist nicht gesagt, daß dies für sie wirklich »Mangel« bedeutet. Sie fühlen sich gerade in ihrer Enge wohl und sicher, wie der Teich in seinen Ufern; wenn ihre Grenzen weitergesteckt werden, kommt nur der Schlamm zum Vorschein.

In Wahrheit teilt Bimala doch nur mein Heim aber nicht mein Leben. Ich hatte sie so vergrößert und ihr einen so großen Platz eingeräumt, daß, als ich sie verlor, mein ganzes übriges Leben mir eng und klein schien. Ich hatte alles andre in eine Ecke geworfen, um Platz für Bimala zu machen, – indem ich ganz dadurch in Anspruch genommen war, sie zu schmücken und zu kleiden und zu erziehen und Tag und Nacht mich um sie zu drehen, und dabei vergaß, wie groß die Menschheit ist und wie kostbar des Menschen Leben. Wenn die Zufälligkeiten des täglichen Lebens anfangen, den Menschen zu beherrschen, so sieht er die Wahrheit nicht mehr und verliert seine Freiheit. Und Bimala nahm diese Zufälligkeiten so peinlich wichtig, daß die Wahrheit sich mir ganz verbarg. Daher sehe ich keinen Ausweg aus meinem Elend und starre nur immer auf den leeren Platz, der mir die Welt bedeutete. Und so klingt mir an diesem Augustmorgen schon stundenlang der alte Kehrreim im Ohr:

»August ist da. Wild schluchzt der Himmel auf,
Und Tränenströme stürzen auf die Erde.
Ach, und mein Haus ist leer.«

 

Bimalas Erzählung

 

XI

Die Veränderung, die mit einem Schlage über den Geist Bengalens gekommen war, war ungeheuer. Es war, als ob der Ganges die Asche der sechzigtausend Söhne Sagars Der Fluch, der sie in Asche verwandelte, hatte verhängt, daß sie nicht anders ins Leben zurückgerufen werden könnten, als wenn der Ganges zu ihnen herabgebracht würde. (Anm. d. engl. Übers.) berührt hätte, die kein Feuer hatte entzünden, kein Wasser in lebendige Erde hatte umwandeln können. Das tote Bengalen stand plötzlich aus der Asche auf und sprach: »Hier bin ich!«

Ich habe irgendwo gelesen, daß im alten Griechenland einmal ein Bildhauer das Glück hatte, dem Bildnis, das er mit eigener Hand gemacht, Leben zu verleihen. Doch selbst bei jenem Wunder war die Form schon da, als das Leben entstand. Aber wo war die Einheit in diesem Haufen unfruchtbarer Asche? Wäre sie hart gewesen, wie Stein, so hätten wir die Hoffnung haben können, daß eine Form aus ihr entstehen könnte, wie ja auch Ahalja, obgleich sie in Stein verwandelt war, doch ihre Menschheit wieder erhielt. Aber diese zerstreute Asche muß dem Schöpfer zwischen den Fingern hindurch in den Staub gefallen sein, um in alle Winde verstreut zu werden. Sie hatte sich angehäuft, aber nie in sich verbunden. Doch an diesem Tage, der für Bengalen gekommen war, nahm selbst diese lose Masse Gestalt an und rief mit Donnerstimme dicht vor unsrer Tür: »Hier bin ich!«

Wie konnten wir anders als an ein Wunder glauben? Es war, als ob dieser Augenblick unsrer Geschichte uns wie ein Edelstein aus der Krone eines trunkenen Gottes in die Hand gefallen wäre. Er hatte keine Ähnlichkeit mit unsrer Vergangenheit; und so hofften wir nun, daß all unser Mangel und Elend wie mit einem Zauberschlage verschwinden würde, daß es für uns keine Grenze mehr gäbe zwischen dem Möglichen und Unmöglichen. Alles schien uns zu sagen: »Es kommt, es ist da!«

So kamen wir zu dem Glauben, daß unsre Geschichte kein Roß brauchte, sondern daß sie wie der himmlische Wagen aus eigener Kraft dahinfahren würde. Auch brauchte man dem Fuhrmann keinen Lohn zu zahlen, man mußte ihm nur ab und zu seinen Becher wieder mit Wein füllen. Und dann würden wir das Ziel unsrer Hoffnungen in irgendeinem unmöglichen Paradies erreichen.

Mein Gatte war nicht ganz teilnahmslos, aber während wir uns begeisterten, schien er immer trauriger zu werden. Es war, als suche er eine Vision hinter der wogenden Gegenwart.

Ich erinnere mich, wie er eines Tages bei einer der Auseinandersetzungen, die er beständig mit Sandip hatte, sagte: »Das Glück ist an unsre Tür gekommen und klopft an, nur um uns zu zeigen, daß wir nicht in der Lage sind, es aufzunehmen, – daß wir nicht alles bereit gehalten haben, um es in unser Haus bitten zu können.«

»Nein«, war Sandips Antwort. »Du redest wie ein Atheist, weil du nicht an unsre Götter glaubst. Uns ist es ganz deutlich offenbar geworden, daß die Göttin mit ihrer Gabe gekommen ist, doch du mißtraust den augenfälligen Zeichen ihrer Gegenwart.«

»Gerade weil ich so fest an meinen Gott glaube,« sagte mein Gatte, »bin ich so gewiß, daß wir noch nicht zu seinem Dienst bereit sind. Gott hat die Kraft, uns seine Gabe zu geben, aber wir müssen die Kraft haben, sie anzunehmen.«

Solche Reden meines Gatten verdrossen mich nur. Ich konnte mich nicht enthalten, mich einzumischen: »Du meinst, daß diese Begeisterung nur ein Rausch ist, aber gibt solch ein Rausch nicht in gewisser Weise Kraft?« »Ja«, erwiderte mein Gatte. »Er gibt vielleicht Kraft, aber keine Waffen.«

»Kraft aber ist eine Gabe Gottes«, fuhr ich fort. »Waffen können von bloßen Handwerkern beschafft werden.« Mein Gatte lächelte. »Die Handwerker werden ihren Lohn fordern, bevor sie die Waffen liefern«, sagte er.

Sandip warf sich in die Brust, als er erwiderte: »Sorge dich nur darum nicht! Sie sollen ihren Lohn schon haben.«

»Ich werde die Festmusik bestellen, wenn sie ihre Bezahlung haben, nicht vorher«, antwortete mein Gatte.

»Du brauchst dir nicht einzubilden, daß wir auf deine Freigebigkeit dafür angewiesen sind«, sagte Sandip spöttisch. »Unser Fest hängt nicht von Geldzahlungen ab.«

Und er begann mit rauher Stimme zu singen:

Mein Geliebter, der verschwenderisch seine Liebe ausschüttet und nach Lohn nicht fragt,
Spielt die einfache kleine Flöte, die er für ein Nichts kaufte,
Und mein Herz lauscht den Klängen, bis es sich ganz darin verliert.

Dann wandte er sich lächelnd zu mir und sagte: »Wenn ich singe, Bienenkönigin, so will ich damit nur beweisen, daß, wenn unser Leben voll Musik ist, wir eine schöne Stimme entbehren können. Wenn wir nur singen, weil wir musikalisch sind, so hat das Lied nicht viel Wert. Nun, da ein voller Strom von Musik über unser Land dahinflutet, lassen Sie Nikhil seine Tonleiter üben, während wir mit unsern rauhen Stimmen das Land aufrütteln:

Mein Haus ruft mir zu: Warum willst du hinaus und willst draußen dein Alles verlieren?
Doch mein Leben sagt: Nimm deine ganze Habe und gib sie den Winden preis!
Ich folge dem Ruf des Lebens, was gilt mir das Gut, das doch entflieht?
Muß ich den Untergang freien, so sei es lächelnd getan!
Denn nur das Eine begehr' ich: den Todestrank der Unsterblichkeit.

Du mußt begreifen, Nikhil, daß wir alle unser Herz verloren haben. Niemand kann uns länger in den Grenzen des leicht Möglichen festhalten bei unsrer Jagd nach dem hoffnungslos Unmöglichen.

Halten wollt ihr uns,
Toren, die ihr nicht die unbändige Lust der Verwegenheit kennt,
Die ihr den Ruf nicht hörtet, der uns kam vom Ziel des verschlungenen Pfades!
Alles, was brav ist, gerade und glatt,
Kopfüber damit in den Staub!«

Ich glaubte, mein Gatte wollte die Diskussion fortsetzen, aber er stand schweigend auf und ließ uns allein.

Was mich innerlich aufwühlte, war nur das Widerspiel der stürmischen Leidenschaft draußen, die über das Land hinfegte, von einem Ende zum andern. Ich fühlte, wie der Herr meines Schicksals auf seinem Siegeswagen schnell heranbrauste, und das Rollen der Räder fand einen Widerhall in mir. Ich hatte beständig das Gefühl, daß jeden Augenblick etwas Außerordentliches geschehen könnte, für das mich jedoch keine Verantwortung träfe. War ich nicht in eine Sphäre gerückt, wo nach Recht und Unrecht und den Gefühlen anderer nicht mehr gefragt wird? Hatte ich dies je gewollt – hatte ich je so etwas erhofft oder erwartet? Wer könnte, wenn er mein ganzes bisheriges Leben ansieht, sagen, daß mich irgendwelche Schuld träfe?

Mein ganzes Leben lang hatte ich getreulich am Altar meine Opfer dargebracht, – aber als endlich die göttliche Gnade sich offenbaren sollte, erschien ein andrer Gott als der, dem ich zu dienen glaubte. Und gleichwie das erwachte Land von dem Jubelruf Bande Mataram erzittert, mit dem es den plötzlich vor ihm aufgetauchten Zukunftstraum begrüßt, so schlagen alle Pulse dem plötzlich erschienenen, unbekannten, ungestümen Fremden entgegen.

Eines Nachts verließ ich mein Bett und schlüpfte aus meinem Zimmer auf die Terrasse draußen. Hinter unsrer Gartenmauer sind reifende Reisfelder. Nach Norden zu sieht man durch die Bäume des Dorfes den Fluß schimmern. Die ganze Landschaft lag in der Dunkelheit da wie der noch schlummernde Keim einer neuen Zukunft.

In jener Zukunft sah ich mein Vaterland, ein Weib gleich mir, dastehen und voll Erwartung ausspähen. Der plötzliche Ruf eines unbekannten Etwas hat sie aus der Enge ihres Hauses herausgetrieben. Sie hat keine Zeit gehabt zu warten und zu überlegen, oder sich eine Fackel anzuzünden, sondern ist ohne Besinnen in das Dunkel hinausgestürzt. Ich weiß wohl, wie ihre innerste Seele auf die fernen Flötenklänge, die sie rufen, antwortet; wie ihre Brust wogt; wie sie fühlt, daß sie diesem Unbekannten immer näher kommt, es schon erreicht hat, so daß sie sich blind hineinstürzen kann. Sie ist nicht Mutter. Sie hört nicht auf den Ruf ihrer hungrigen Kinder, vergeblich wartet am Abend das dunkle Heim auf ihre Lampe. Sie eilt zu ihrem Stelldichein, denn dies ist das Land der Wischnu-Dichter. Sie hat ihr Heim verlassen, ihre häuslichen Pflichten vergessen; sie fühlt nichts als ein unermeßliches Sehnen, das sie vorwärts treibt, – auf welcher Straße, zu welchem Ziel, das gilt ihr gleich.

Auch ich bin erfaßt von solchem Sehnen. Auch ich habe mein Heim verloren und bin verirrt. Ziel und Weg liegen gleichdunkel vor mir. Ich fühle nur, wie mich die Sehnsucht immer weiter treibt. Ach, du unseliger Wanderer durch die Nacht; wenn der Morgen dämmert, wirst du keine Spur eines Weges sehen, auf dem du zurückkehren könntest. Aber warum zurückkehren? Der Tod ist ebensogut. Wenn das Dunkel mit seiner Flöte mich zum Abgrund lockt, was kümmert mich das Hernach? Wenn seine Finsternis mich verschlungen hat, so werde ich nicht mehr sein, und mit mir sind Gut und Böse, Lachen und Tränen dahin.

 

XII

Da die Maschine der Zeit in Bengalen plötzlich mit Hochdruck arbeitete, wurde, was schwer schien, leicht und die Ereignisse folgten einander Schlag auf Schlag. Nichts ließ sich mehr zurückhalten, selbst in unserm entlegenen Winkel. Anfangs war unser Distrikt zurück, denn mein Gatte wollte keinen Zwang auf die Leute ausüben. »Die ihrem Vaterlande Opfer bringen, sind in Wahrheit seine Diener,« sagte er oft, »aber die, welche andere dazu zwingen, sind seine Feinde. Sie möchten die Freiheit an der Wurzel abhauen, um sie am Gipfel zu erfassen.«

Aber als Sandip kam und sich hier niederließ und seine Anhänger anfingen, im Lande umherzureisen und in Dörfern und Marktflecken ihre Reden zu halten, da schlugen die Wellen der Erregung auch an unser Ufer. Eine Schar junger Burschen aus dem Ort schlossen sich ihm an, darunter sogar einige, die als ein Schandfleck für das Dorf bekannt waren. Aber die Glut ihrer echten Begeisterung verklärte sie äußerlich und innerlich. Es zeigte sich, wie aller Schmutz und Moder in einem Lande plötzlich weggefegt wird, sobald die reine Brise einer großen Freude und Hoffnung darüber hinfährt. Es ist in der Tat schwer für die Menschen, offen und gerade und gesund zu sein, wenn ihr Vaterland geknechtet am Boden liegt.

Nun richteten sich alle Blicke auf meinen Gatten, von dessen Gütern allein ausländische Waren wie Zucker und Salz und Kleidungsstoffe nicht verbannt waren. Selbst die Gutsbeamten wurden am Ende darüber verlegen und beschämt. Und doch hatten noch vor einiger Zeit, als er anfing, einheimische Artikel in unserm Dorfe einzuführen, jung und alt ihn heimlich und öffentlich wegen seiner Torheit getadelt und verspottet. Als es noch nicht ein Ruhm war, zur Swadeschi-Bewegung zu gehören, hatten wir sie von ganzem Herzen verachtet.

Mein Gatte schärft noch immer seine indischen Bleistifte mit seinem indischen Messer, schreibt mit Rohrfedern, trinkt Wasser aus einem Zinngefäß und arbeitet des Abends beim Licht einer altmodischen Öllampe. Aber solch langweiliger Zuckerwasser-Patriotismus sprach uns nicht an. Wir schämten uns vielmehr immer der einfachen und unmodernen Einrichtung seines Empfangszimmers, besonders wenn hohe Beamte oder andere Europäer bei ihm zu Gaste waren.

Mein Gatte hörte meine Vorstellungen lächelnd an. »Warum regst du dich über solche Kleinigkeiten auf?« pflegte er zu sagen.

»Sie werden uns für Barbaren halten oder jedenfalls finden, daß es uns an feiner Lebensart fehlt.«

»Wenn sie das tun, so vergelte ich es ihnen dadurch, daß ich denke, ihre Feinheit geht nicht tiefer als ihre weiße Haut.«

Mein Gatte hatte auf seinem Schreibtisch einen gewöhnlichen Messingtopf, den er als Blumenvase benutzte. Oft, wenn ich hörte, daß er einen europäischen Gast erwartete, schlich ich mich in sein Zimmer und setzte an seine Stelle eine Kristallvase von europäischer Arbeit.

»Sieh einmal, Bimala,« wehrte er endlich, »jener Messingtopf weiß so wenig von sich wie jene Blumen; aber dies Ding hier macht seinen Zweck so laut bekannt, es paßt nur für künstliche Blumen.«

Nur die Bara Rani schmeichelt den Launen meines Gatten. Einmal kommt sie ganz außer Atem an: »O, Bruder, hast du es schon gehört? Sie haben jetzt im Dorf prachtvolle indische Seife! Ich bin zwar über die Jahre hinaus, wo man sich jeden Luxus leistet, aber wenn sie keine tierischen Fette enthält, möchte ich sie doch versuchen.«

Mein Gatte strahlt, wie er das hört, und nun wird das ganze Haus mit indischen Seifen und Wohlgerüchen überschwemmt. Fürwahr eine schöne Seife! Sie ist vielmehr eine Art scharfen Sodas. Und als ob ich nicht ganz gut wüßte, daß meine Schwägerin für sich die alte europäische Seife weiter gebraucht und diese den Mädchen zum Zeugwaschen gibt!

Ein andermal heißt es: »Ach lieber Bruder, besorge mir doch ein paar von diesen neuen indischen Federhaltern!«

Ihr »Bruder« ist wieder glückstrahlend, und das Zimmer meiner Schwägerin wird mit allen Arten von scheußlichen kleinen Stöcken garniert, die sich Swadeschi-Federhalter nennen. Nicht, daß das irgendwelche Bedeutung für sie hätte, denn Lesen und Schreiben ist nicht ihre Sache. Doch liegt auf ihrem Schreibzeug noch immer derselbe elfenbeinerne Federhalter, der einzige, den sie je benutzt hat.

In Wahrheit war dies alles nur gegen mich gerichtet, weil ich die Schrullen meines Gatten nicht mitmachen wollte.

Es hatte keinen Sinn, daß ich versuchte, ihm die Unaufrichtigkeit meiner Schwägerin zu beweisen; sein Gesicht wurde strenge, sobald ich nur daran rührte. Man schafft sich nur Ärger, wenn man versucht, solchen Menschen die Augen zu öffnen.

Die Bara Rani näht sehr gern. Eines Tages konnte ich nicht umhin herauszuplatzen: »Was für eine Komödiantin du doch bist, Schwester! Wenn dein ›Bruder‹ da ist, so bist du Feuer und Flamme für die Swadeschi-Scheren, aber bei deiner Arbeit gebrauchst du jedesmal die englischen.«

»Was schadet das?« erwiderte sie. »Siehst du denn nicht, wie es ihm Freude macht? Wir sind hier zusammen im Hause aufgewachsen, und ich kenne ihn von seiner Kindheit an. Ich kann es einfach nicht ertragen, wie du, wenn er nicht mehr lächelt. Der Ärmste, er hat kein anderes Vergnügen als das Kaufladenspiel. Du bist die Einzige, die ihn froh machen könnte, und doch wirst du ihn zugrunde richten.«

»Was du auch sagst, es ist nicht recht zu heucheln«, erwiderte ich.

Meine Schwägerin lachte mir ins Gesicht. »Ach, du unschuldige kleine Tschota Rani! Du bist so gerade wie der Rohrstock eines Schulmeisters, nicht wahr? Aber eine rechte Frau ist nicht so geschaffen. Sie ist weich und biegsam, so daß sie sich beugen kann, ohne krumm zu werden.«

Ich konnte die Worte nicht vergessen: »Du bist die Einzige, die ihn froh machen könnte, und doch wirst du ihn zugrunde richten.«

 

XIII

Suksar, das auf unserm Gebiete liegt, ist eins der größten Handelszentren im ganzen Distrikt. An der einen Seite eines Wassers wird täglich Markt abgehalten, an der andern Seite findet einmal in der Woche ein größerer Markt statt. In der Regenzeit, wenn der See mit dem Fluß Verbindung hat und die Schiffe hinaufkommen können, werden große Mengen Baumwollgarn und Stoffe für den Winter zum Verkauf dorthin gebracht.

Als unsre Begeisterung ihren Höhepunkt erreicht hatte, erklärte Sandip, daß alle ausländischen Artikel samt dem Teufel der Ausländerei aus unserm Gebiet vertrieben werden müßten.

»Selbstverständlich«, antwortete ich kampfbereit.

»Ich habe mit Nikhil deswegen gesprochen«, sagte Sandip. »Er sagt mir, wir können Reden halten, soviel wir wollen, aber Zwang will er nicht dulden.«

»Da lassen Sie mich nur machen«, sagte ich im stolzen Gefühl meiner Macht. Ich wußte, wie tief die Liebe meines Gatten zu mir war. Wäre ich bei Sinnen gewesen, so hätte ich mich eher in Stücke reißen lassen, als daß ich in solchem Moment mein Recht darauf geltend gemacht hätte. Aber Sandip sollte die ganze Macht seiner Gottheit kennen lernen.

Sandip hatte mir in seiner unwiderstehlichen Art klargemacht, wie die Weltkraft sich jedem Einzelnen in Gestalt einer besonderen Wahlverwandtschaft offenbart. »Die Philosophie der Wischnu-Verehrer«, sagte er, »spricht von der Schakti der Freude, die im Herzen der Schöpfung wohnt und das Herz der ewigen Liebe immer anzieht. Die Menschen haben ein immerwährendes Verlangen, diese Schakti aus den verborgenen Tiefen ihrer eignen Natur hervorzubringen, und die unter uns, denen es gelingt, verstehen sogleich deutlich die Sprache der Musik, die aus dem Dunkel zu uns hertönt.« Und sang:

Meine Flöte, die von Liedern quoll, ist verstummt,
Jetzt wo ich Antlitz in Antlitz dir gegenüberstehe.
Mein Ruf suchte dich unter allen Himmeln, als du verborgen lagst;
Nun findet all meine Sehnsucht Erfüllung im Lächeln deines Auges, Geliebte.

Während ich seinen Allegorien zuhörte, hatte ich vergessen, daß ich nur ganz einfach Bimala war. Ich fühlte mich als Schakti, als Verkörperung der Weltfreude. Nichts konnte mich hemmen, nichts war mir unmöglich; was ich berührte, gewann neues Leben. Die Welt um mich her war durch mich neu geschaffen; denn hatte nicht erst der antwortende Ruf meines Herzens all dies Gold über den Herbsthimmel ausgegossen? Und diesen Helden, diesen treuen Diener des Vaterlandes, der mir so ergeben war, – diesen feurigen Geist, diese brennende Kraft, diesen leuchtenden Genius, – ihn auch schuf ich jeden Augenblick neu. Habe ich nicht gesehen, wie meine Gegenwart ihm immer wieder neues Leben einflößt?

Neulich bat mich Sandip, ich möchte Amulja, einen jungen Burschen und eifrigen Anhänger von ihm, empfangen. Ich sah, wie sogleich ein neues Licht in den Augen des Knaben aufflammte, und wußte, daß auch er die Schakti-Kraft an mir gespürt und daß sie in seinem Blut zu wirken begonnen hatte. »Was für eine Zauberin Sie doch sind!« rief Sandip am nächsten Tage aus. »Amulja ist plötzlich kein Knabe mehr, die Fackel seines Lebens brennt lichterloh. Wie kann sich Ihr Feuer unter dem Dach Ihres Hauses verbergen? Früher oder später werden sie alle davon berührt, und wenn alle Lampen brennen, welch einen Dewali-Karneval Dewali (eig. dîpâli »Reihe von Lampen«), Name verschiedener Götterfeste, die mit nächtlichen Illuminationen gefeiert werden. (Übers.) werden wir dann hier im Lande feiern!«

Vom Glanz meines eignen Nimbus geblendet, beschloß ich, meinem getreuen Priester diese Gabe zu gewähren. Ich vermeinte in meiner stolzen Überhebung, daß niemand mich in dem hindern könnte, was ich wirklich wollte. Als ich nach diesem Gespräch mit Sandip in mein Zimmer zurückkehrte, machte ich mein Haar los und band es wieder hoch. Miß Gilby hatte mir gezeigt, wie man es von hinten hochbürstet und in einem Knoten hochsteckt. Diese Frisur liebte mein Gatte ganz besonders. »Es ist schade,« sagte er einmal, »daß die Vorsehung einem armen Alltagsmenschen wie mir statt dem Dichter Kalidasa all die Wunder eines Frauennackens offenbart hat. Der Dichter würde ihn vielleicht mit einem Blumenstengel verglichen haben; aber ich empfinde ihn als eine Fackel, die die schwarze Flamme deines Haares hochhält.« Und dabei – – – Aber warum, ach, warum muß ich an all das denken?

Ich ließ meinen Gatten rufen. Früher konnte ich hundert Vorwände jeder Art ersinnen, um ihn zu veranlassen, zu mir zu kommen. Jetzt, da alles das längst vorbei war, verstand ich diese Kunst nicht mehr.

 

Nikhils Erzählung

 

VI

Pantschus Frau ist eben an der Schwindsucht gestorben. Pantschu muß sich einer feierlichen Zeremonie unterziehen, um sich von Sünde zu reinigen und die Gemeinde zu versöhnen. Die Gemeinde hat berechnet und ihm mitgeteilt, daß es 123 Rupien Silbermünze von ungefähr 2 Mk. Wert. kosten wird.

»Welch ein Unsinn!« rief ich empört. »Laß dich darauf nicht ein, Pantschu! Was können sie dir tun?«

Indem er seine geduldigen Augen zu mir erhob wie ein todmüdes Lasttier, sagte er: »Ach Herr, meine älteste Tochter muß ja doch verheiratet werden. Und meine arme Frau muß ihre Totenfeier haben.«

»Selbst wenn irgendwelche Schuld dich träfe, Pantschu,« überlegte ich laut, »so hast du sicher schon genug dafür gelitten.«

»Das ist wahr, Herr«, gab er treuherzig zu. »Ich mußte einen Teil meines Landes verkaufen und den Rest verpfänden, um die Doktorrechnung zu bezahlen. Aber um die Opfergebühren an die Brahmanen komme ich nicht herum.«

Was ließ sich dagegen einwenden? »Wann wird die Zeit kommen,« so fragte ich mich, »wo die Brahmanen selbst sich entsühnen müssen, weil sie solche Opfer angenommen haben?«

Der arme Pantschu hatte die ganze Zeit gegen den Hunger kämpfen müssen, jetzt nach dem Tode und Begräbnis seiner Frau gab er den Kampf auf. In der Verzweiflung nach irgendeinem Trost suchend, fand er ihn zu den Füßen eines wandernden Asketen, und es gelang ihm, soweit in der Philosophie zu kommen, daß er seine hungernden Kinder vergaß. Er lebte eine Zeitlang ganz in der Idee, daß alles eitel sei und daß, wenn es keine Freuden hienieden gäbe, der Schmerz ebenso wenig wirklich sei. Und eines Nachts verließ er seine Kleinen in ihrer baufälligen Hütte und machte sich auf die Wanderung.

Ich erfuhr damals nichts davon, denn ich war in einer furchtbaren Krisis, wo Götter und Teufel sich um meine Seele stritten. Mein Lehrer sagte mir auch gar nicht, daß er die verlassenen Kleinen Pantschus unter sein Dach genommen hatte und für sie sorgte, obgleich er allein im Hause war und den ganzen Tag seine Schule hatte.

Nach einem Monat kam Pantschu zurück; sein asketischer Eifer war beträchtlich abgekühlt. Seine beiden Ältesten, ein Junge und ein Mädchen, schmiegten sich an ihn und fragten: »Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Vater?« Sein Jüngster saß auf seinem Schoß; sein kleinstes Mädchen war von hinten an ihm heraufgeklettert und hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen, und sie weinten alle zusammen. »Ach Herr«, schluchzte Pantschu endlich und wandte sich an meinen Lehrer. »Ich kann diesen Kleinen nicht genug zu essen verschaffen, und ich kann es auch nicht übers Herz bringen, fortzugehen und sie im Stich zu lassen. Was für eine Sünde habe ich denn nur getan, daß ich so an Händen und Füßen gebunden und gemartert werde?«

Inzwischen war der Faden von Pantschus kleinen Handelsbeziehungen zerrissen, und er sah, daß er sie nicht wieder aufnehmen konnte. Er klammerte sich an den Schutz, den mein Lehrer ihm bei seiner Heimkehr unter seinem Dach geboten hatte, und sagte kein Wort von Nachhausegehen. Mein Lehrer mußte endlich davon anfangen. »Hör' einmal, Pantschu,« sagte er, »wenn du dich gar nicht um deine Hütte kümmerst, wird sie ganz und gar einfallen. Ich will dir etwas Geld leihen, daß du wieder etwas hausieren kannst, und dann kannst du es mir nach und nach zurückzahlen.«

Pantschu war nicht sehr erbaut davon, – gab es denn gar nicht so etwas wie Barmherzigkeit auf Erden? Und als mein Lehrer ihn bat, ihm einen Schuldschein für das Geld auszustellen, da hatte er das Gefühl, daß ihm an einer Unterstützung, die er zurückzahlen sollte, nicht viel gelegen sein konnte. Mein Lehrer jedoch wollte ihn sich nicht gern durch ein äußeres Almosen innerlich verpflichten. »Wer die Selbstachtung eines Menschen zerstört, nimmt ihm seine Kaste«, meinte er.

Nachdem Pantschu den Schuldschein unterschrieben hatte, war sein Gruß lange nicht mehr so ehrerbietig, auch die ehrfurchtsvolle Fußberührung unterließ er ganz. Mein Lehrer lächelte darüber; ihm war nichts lieber, als daß Pantschu weniger Unterwürfigkeit zeigte. »Es ist schon recht, daß ein Mensch dem andern die schuldige Achtung erzeigt,« pflegte er zu sagen, »aber was darüber hinausgeht, ist vom Übel.«

Pantschu begann, Stoffe auf dem Markt zu kaufen und im Dorf damit zu hausieren. Er bekam zwar nicht viel bares Geld dafür, aber was er an Waren erübrigen konnte, in Gestalt von Reis, Flachs und andern Erzeugnissen des Feldes, verwandte er auf die Abzahlung seiner Schuld. Nach zwei Monaten konnte er die erste Rate abzahlen, und dementsprechend zog er auch von seinem Gruß etwas an Ehrerbietung ab. Ihm mußte das Gefühl gekommen sein, daß der, den er als einen Heiligen verehrt hatte, ein bloßer Mensch und nicht einmal über die Lockungen des Gewinnes erhaben war.

Während Pantschu mit diesen Dingen beschäftigt war, drang plötzlich die Sturmflut der Swadeschi-Bewegung auf ihn ein.

 

VII

Es war Ferienzeit, und viel junge Leute aus unserm Dorf und der Nachbarschaft waren von ihren Schulen und Universitäten nach Hause gekommen. Sie schlössen sich mit Begeisterung der Gefolgschaft Sandips an, und einige gaben in ihrem Übereifer ihre Studien ganz auf. Viele von ihnen waren Freischüler meiner Schule hier, einige erhielten Stipendien von mir für ihr Studium in Kalkutta. Sie kamen geschlossen zu mir und forderten, ich solle die fremden Waren von meinem Markt in Suksar verbannen.

Ich sagte ihnen, ich könne das nicht tun.

Sie wurden sarkastisch: »Wie Maharadscha, würden Sie zuviel dabei verlieren?«

Ich beachtete das Beleidigende in ihrem Ton nicht und wollte gerade antworten, daß nicht ich, sondern die armen Händler und ihre Kunden den Verlust haben würden, als mein Lehrer, der dabei war, sich einmischte.

»Ja, den Verlust wird er haben, nicht ihr, das ist klar«, sagte er.

»Aber fürs Vaterland–...«

»Nicht der Boden ist das Vaterland, sondern die Menschen darauf«, unterbrach sie mein Lehrer. »Habt ihr ihrem Schicksal sonst auch nur einen Blick gegönnt? Aber jetzt wollt ihr ihnen vorschreiben, was für Salz sie essen und was für Kleider sie tragen sollen. Warum sollten sie sich solcher Tyrannei beugen, und warum sollten wir dazu helfen?«

»Aber wir selbst essen auch nur indisches Salz und Zucker und tragen indische Stoffe.«

»Ihr könnt tun, was ihr wollt, um euren Zorn zu kühlen und euren Fanatismus zu befriedigen. Ihr habt die Mittel und braucht nicht danach zu fragen, was es kostet. Die Armen wollen euch auch nicht daran hindern, aber ihr wollt durchaus, daß sie sich eurem Zwang unterwerfen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist jeder Augenblick für sie ein verzweifelter Kampf um die bloße Existenz; ihr könnt euch nicht einmal vorstellen, wieviel ein paar Pennys für sie ausmachen, – so wenig habt ihr mit ihnen gemein. Ihr habt euer ganzes bisheriges Leben in einem bessern und bequemern Abteil zugebracht, und jetzt kommt ihr plötzlich her und wollt sie zu Werkzeugen eurer Wut machen. Das nenne ich feige.«

Es waren alles alte Schüler meines Lehrers, daher wagten sie nicht, unehrerbietig zu werden, obgleich sie vor Zorn bebten. Sie wandten sich zu mir: »Wollen Sie denn der Einzige sein, Maharadscha, der dem Vaterlande in seinem Bestreben Hindernisse in den Weg legt?«

»Wer bin ich, daß ich so etwas wagen sollte? Würde ich denn nicht lieber mein Leben hingeben, um ihm zu helfen?«

Der Wortführer lächelte hämisch, als er fragte: »Dürfen wir fragen, was Sie denn Positives tun, um zu helfen?«

»Ich habe indisches Garn aufgekauft und es auf meinem Markt in Suksar feilgehalten, und ich habe auch ganze Ballen davon auf die Märkte der benachbarten Zemindars geschickt.«

»Aber wir sind auf Ihrem Markt gewesen, Maharadscha,« rief derselbe Student aus, »und haben gefunden, daß niemand dies Garn kauft.«

»Das ist weder meine Schuld, noch die meines Marktes. Es zeigt nur, daß nicht das ganze Land euer Gelübde abgelegt hat.«

»Es zeigt noch mehr«, nahm mein Lehrer das Wort. »Es zeigt, daß, was ihr euch gelobt habt, nur dazu dient, andre zu plagen. Denn andre, die das Gelübde nicht abgelegt haben, sollen erst alles für euch tun, damit ihr das eure halten könnt. Ihr braucht Händler, die das Garn kaufen, Weber, die es verarbeiten, und Kunden, denen es aufgenötigt wird. Und eure Methode? Ihr macht Lärm, und der Zemindar zwingt die Leute mit Gewalt. Und was kommt dabei heraus? Ihr wollt die Ehre davon haben, und die andern sollen die Opfer bringen.«

»Und dürfen wir uns erlauben, zu fragen, was für Opfer Sie gebracht haben?« fragte ein Naturwissenschaftler weiter.

»Wollt ihr das wissen?« rief mein Lehrer. »Nikhil selbst ist es, der das indische Garn aufkaufen muß; er mußte eine Webschule gründen, damit es gewebt wurde, und nach seinen bisherigen glänzenden Geschäftserfolgen ist zu erwarten, daß seine Baumwollenstoffe, wenn sie so weit sind, daß sie vom Webstuhl kommen, ihn ungefähr soviel kosten, als wenn sie von Gold wären; daher werden sie vielleicht nur als Vorhänge in seinem Gesellschaftszimmer Verwendung finden, obgleich sie auch für diesen Zweck eigentlich zu dünn und durchsichtig sind. Wenn ihr einmal eures Gelübdes überdrüssig seid, so werdet ihr es sein, die am lautesten über ihre künstlerische Wirkung lachen. Und wenn die Kunstfertigkeit ihres Gewebes je einmal richtig gewürdigt wird, so wird dies von Ausländern geschehen.«

Ich kenne meinen Lehrer, solange ich lebe, aber nie habe ich ihn so erregt gesehen. Ich konnte sehen, daß der Schmerz sich schon eine Zeitlang still in seinem Herzen angehäuft hatte, weil er mich so über alles liebt, und daß seine gewohnte Selbstbeherrschung schon lange heimlich untergraben war und er nur noch mit Mühe an sich hielt.

»Sie sind soviel älter als wir«, sagte ein Student der Medizin. »Es würde unziemlich sein, wollten wir mit Ihnen streiten. Aber, bitte, sagen Sie uns endgültig, sind Sie entschlossen, die fremden Waren nicht von Ihrem Markt zu entfernen?«

»Ich werde es nicht tun,« sagte ich, »weil sie nicht mir gehören.«

»Weil Sie dadurch Verluste erleiden würden«, lächelte der erste Sprecher.

»Weil der, der den Verlust haben würde, auch die Entscheidung haben muß«, erwiderte mein Lehrer.

Mit dem Ruf »Bande Mataram« verließen sie uns.


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