Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Der Verfasser gibt seinem Herrn, auf dessen Befehl, einen Bericht über den Zustand von England. Die Ursachen der Kriege unter den europäischen Fürsten. Der Verfasser beginnt mit Darstellung der englischen Staatsverfassung.

Leser, du mußt gütigst in Acht nehmen, daß der folgende Auszug vieler Gespräche, die ich mit meinem Herrn hielt, den Inbegriff der wesentlichsten Punkte enthält, die ungefähr zwei Jahre lang zu verschiedenen Malen besprochen wurden. Seine Gnaden verlangte nämlich häufig eine genügendere Auskunft, nachdem ich in der Hauyhnhnm-Sprache größere Fortschritte gemacht hatte.

Ich stellte meinem Herrn so gut wie möglich den ganzen Zustand von Europa dar; ich sprach von Handel und Manufakturen, von Künsten und Wissenschaften, und die Antworten, die ich ihm auf alle Fragen gab, die bei den verschiedenen Gegenständen sich darboten, lieferten unerschöpflichen Stoff zum Gespräche. Ich werde hier jedoch allein die Hauptsache von demjenigen niederschreiben, was mein Vaterland betrifft, indem ich es so gut wie möglich ordne, wobei ich jedoch auf Zeit und andere Umstände wenig Rücksicht nehme, und mich allein streng an die Wahrheit halte. Es thut mir leid, daß ich kaum im Stande seyn werde, der Beweisführung und der Ausdrucksweise meines Herrn Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Beide müssen durch meine geringere Auffassungsgabe, so wie durch die Uebersetzung in unser barbarisches Englisch nothwendig viel Nachtheil erleiden.

Um den Befehlen Seiner Gnaden zu gehorchen, erzählte ich Ihr deßhalb die Revolution unter dem Prinzen von Oranien, den langen Krieg mit Frankreich, welchen der genannte Fürst begann, und den seine Nachfolgerin, die gegenwärtige Königin Der spanische Erbfolgekrieg unter Königin Anna. erneuete. Wie alle großen Mächte der Christenheit daran Theil nahmen, und wie er jetzt noch fortgesetzt wird. Der Leser wird leicht bemerken, daß Swift seine Erzählung in die Zeit vor den Utrechter Frieden versetzt. Ich berechnete, auf seine Bitte, daß ungefähr eine Million Yähus im Verlauf desselben umgekommen seyen, ungefähr hundert Städte, oder eine noch größere Anzahl, sey eingenommen und fünfmal so viel Schiffe verbrannt oder versenkt worden.

Mein Herr fragte mich alsdann, welche Beweggründe dergleichen Kriege gewöhnlich bewirkten. Ich erwiderte, die Ursachen seyen unzählig; ich würde nur einige der hauptsächlichsten erwähnen. Bisweilen würden Kriege durch Fürsten bewirkt, welche niemals glaubten, daß sie Land und Leute genug zu beherrschen hätten; bisweilen auch durch die Verderbniß der Minister, welche ihren Herrn in einen Krieg verwickelten, um das Geschrei der Unterthanen über eine schlechte Regierung zu ersticken, oder demselben eine andere Richtung zu geben; Verschiedenheit der Meinungen habe mehrere Millionen Leben gekostet, ob Fleisch Brod, oder Brod Fleisch sey, ob der Saft einer gewissen Beere in Blut oder Wein bestehe; ob man das Pfeifen als Laster oder Tugend annehmen müsse; ob es besser sey, einen Pfahl zu küssen oder in das Feuer zu werfen; wie man sich am besten bekleiden müsse, schwarz, weiß, roth oder grau; ob der Rock lang oder kurz, eng oder weit, schmutzig oder reinlich seyn solle. Auch seyen keine Kriege so wüthend und blutig und dauerten so lange, wie diejenigen, welche durch Verschiedenheit der Meinungen erregt würden, besonders wenn die streitigen Gegenstände unbedeutend seyen.

Bisweilen entstehe der Zank zwischen zwei Fürsten, um zu entscheiden, wer von ihnen einen dritten außer Besitz, in Betreff seiner Länder, setzen solle, wo jedoch keiner auf ein Recht Anspruch machen dürfe; bisweilen zanke der eine Fürst mit dem andern, aus Besorgniß, dieser werde Zank mit ihm anfangen; bisweilen weil er zu schwach sey; bisweilen, fuhr ich fort, wollen unsere Nachbarn Etwas haben, was wir besitzen, oder sie besitzen die Dinge, die wir haben wollen, und dann kämpfen wir beide, bis sie unsere Dinge nehmen, oder wir die ihrigen haben. Es ist eine leicht zu rechtfertigende Ursache des Krieges, ein Land anzugreifen, wenn das Volk durch Hungersnoth geschwächt, durch Pest zerstört und durch bürgerlichen Parteikampf verwirrt ist. Es ist leicht zu rechtfertigen, wenn wir unseren nächsten Alliirten den Krieg erklären, sobald eine seiner Städte für uns sich eignet, oder wenn ein Landstrich eine solche Lage hat, daß er unsere Besitzthümer abgerundet und zusammenhängend macht. Wenn ein Fürst seine Streitkräfte einer Nation sendet, wo das Volk arm und unwissend ist, so darf er mit Recht die eine Hälfte tödten und die andere zu Sklaven machen, um sie zu civilisiren und sie von ihrer barbarischen Lebensweise abzubringen. Es ist ferner, im Fall ein Fürst die Hülfe eines andern nachsucht, um sich vor fremdem Angriff zu retten, ein königliches, ehrenvolles und häufiges Verfahren, daß der Bundesgenosse, wenn er den angreifenden Feind vertrieben hat, das Land für sich selbst in Besitz nimmt und den erretteten Fürsten tödtet, verhaftet oder verbannt. Verbindung durch Blutsverwandtschaft oder Ehe ist eine häufige Ursache zu Kriegen zwischen Fürsten, und je näher die Verwandtschaft ist, desto größer ist auch die Neigung zu Zwist. Arme Nationen sind hungrig, reiche sind stolz; Stolz und Hunger wird stets mit einander in Streit gerathen. Deßhalb wird das Handwerk eines Soldaten für das ehrenvollste von allen gehalten. Ein Soldat ist nämlich ein Yähu, der gemiethet wird, so viele Individuen seiner Gattung wie möglich, die ihn nie beleidigt haben, mit kaltem Blute zu tödten. Es gibt ferner eine Art bettelhafter Fürsten in Europa, welche nicht selbst im Stande sind, Kriege zu führen, und deßhalb ihre Truppen an reichere Nationen für einen bestimmten Sold vermiethen. Davon behalten sie drei Viertel für sich selbst, und dies ist das beste Einkommen für ihren Unterhalt. Dergleichen gibt es in mehreren Theilen Europas.

Mein Herr erwiderte: Was Ihr mir über den Krieg gesagt habt, zeigt wirklich auf bewunderungswürdige Weise, daß Ihr der Vernunft entbehrt, worauf Ihr dennoch Anspruch macht; es scheint jedoch ein glücklicher Umstand, daß die Scham größer als die Gefahr ist, und daß die Natur Euch so gebildet hat, daß Ihr nicht viel Unheil anrichten könnt. Da nämlich Euer Mund flach am Gesichte liegt, so könnt Ihr, ohne gegenseitige Einwilligung, einander nicht beißen. Eure Klauen ferner, an Euren Vorder- und Hinterpfoten, sind so kurz und weich, daß Einer unserer Yähus ein Dutzend der Euren vor sich hertreiben kann. Berechne ich deßhalb die Anzahl derjenigen, die Ihr anführtet, als in einer Schlacht getödtet, so muß ich glauben, daß Ihr etwas gesagt habt, was nicht existirt.

Ich konnte es nicht unterlassen, über seine Unwissenheit den Kopf zu schütteln und ein wenig zu lächeln. Da ich nun selbst mit der Kriegskunst nicht unbekannt war, gab ich ihm eine Beschreibung von Kanonen, Feldschlangen, Musketen, Karabinern, Kugeln, Pistolen, Pulver, Degen, Schlachten, Belagerungen, Rückzügen, Angriffen, Minen, Contreminen, Bombardements, Seeschlachten, Schiffen mit tausend Mann die untergingen, zwanzigtausend Mann, die auf beiden Seiten fielen, dem Wimmern der Sterbenden, Gliedern, die in die Luft aufflögen; von Rauch, Lärm, Verwirrung, wie Menschen durch Pferdehufe zertreten würden, von Flucht, Verfolgung, Sieg; wie die Felder alsdann mit Leichen besät seyen, welche als Futter für Wölfe, Hunde und Raubvögel liegen blieben; vom Plündern, Berauben, Nothzüchten, Verbrennen und Zerstören.

Um die Tapferkeit meiner theuern Landsleute darzulegen, fügte ich hinzu: ich habe gesehen, wie sie hundert Feinde bei einer Belagerung auf einmal in die Luft sprengten und dieselbe Zahl auf einem Schiffe; die todten Körper seyen stückweise von den Wolken, zur großen Ergötzung der Zuschauer, herabgefallen. Ich wollte noch mehr Einzelheiten hinzufügen, als mein Herr mir zu schweigen befahl. Er äußerte: Jeder, welcher mit der Natur der Yähus bekannt sey, werde bei einem so elenden Thiere Alles, was ich gesagt habe, für möglich halten, wenn Körperkraft und List ihrer Bosheit gleich kämen. Während nun aber mein Vortrag seinen Abscheu gegen das ganze Geschlecht vermehrt habe, sey dadurch zugleich in seiner Seele ein störendes Gefühl entstanden, das er bis jetzt durchaus nicht gekannt habe. Er glaube, seine Ohren möchten sich allmählig an so schändliche Worte gewöhnen, und sie dann auch mit geringerem Abscheu anhören; obgleich er die Yähus dieses Landes hasse, tadle er sie nicht mehr wegen ihrer Eigenschaften, als einen Gnnayh (einen Raubvogel) wegen seiner Grausamkeit, oder einen scharfen Stein, weil derselbe seinen Huf ritze. Wenn aber ein Geschöpf, welches Anspruch auf Vernunft mache, Fähigkeit zu solchen Scheußlichkeiten besitze, so besorge er, die Verderbniß dieser Eigenschaften werde noch schlimmer seyn, als die bloß thierische Rohheit. Er sey deßhalb vollkommen überzeugt, daß wir, anstatt der Vernunft, nur irgend eine Eigenschaft besäßen, welche sich dazu eigne, unsere natürlichen Laster zu vermehren, so wie der Wiederschein einer gestörten Wasserfläche, das Bild eines schlecht gebildeten Körpers nicht allein größer, sondern auch verdreht wiedergebe.

Er fügte hinzu: Sowohl in dieser, als in andern Unterredungen habe er schon zu viel über Krieg gehört. Jetzt könne er noch einen andern Punkt nicht recht begreifen. Ich habe ihm gesagt, einige Matrosen aus meiner Mannschaft hätten ihr Vaterland verlassen, weil sie durch das Recht ruinirt seyen. Ich habe ihm die Bedeutung des Wortes schon erklärt, er könne jedoch nicht begreifen, wie das Gesetz, welches man doch zur Erhaltung Aller bestimme, irgend Jemand zu Grunde richten könne. Deßhalb wünsche er, ich möge ihm eine weitere Erklärung von dem geben, was ich unter Recht, und unter Denjenigen verstehe, welche davon entbänden, und zwar nach dem gegenwärtigen Verfahren in meinem Vaterlande. Er glaube, Natur und Vernunft seyen vernünftigen Thieren genügende Führer, und wir machten ja auf Vernunft sehr viel Anspruch. Beide zeigten uns ja, was wir thun und vermeiden müßten.

Ich gab Seiner Gnaden die Versicherung, das Recht sey eine Wissenschaft, wovon ich nicht viel erlernt habe; ich habe nur bei manchen mir erwiesenen Ungerechtigkeiten Advokaten genommen, jedoch würde ich ihm alle mir mögliche Aufklärung geben.

Es gibt, fuhr ich fort, bei uns eine Gesellschaft Menschen, die von Jugend auf in der Kunst auferzogen werden, durch Worte, die man zu dem Zwecke vervielfacht, deutlich zu beweisen, Schwarz sey Weiß und Weiß sey Schwarz, natürlich im Verhältnis wie man bezahlt. Zum Beispiel, wenn mein Nachbar meine Kuh zu haben wünscht, so findet er auch einen Rechtsgelehrten, welcher beweisen will, er müsse meine Kuh von mir erhalten. Alsdann muß ich einen andern Rechtsgelehrten miethen, der mein Recht vertheidigt. Es widerstreitet nämlich allen Rechtsregeln, daß irgend Jemand für sich selbst sprechen darf. In diesem Fall bin ich, der rechtmäßige Eigenthümer, zwei großen Nachtheilen ausgesetzt; erstens ist mein Rechtsgelehrter, da er von der Wiege an gewöhnt war, Falschheiten zu vertheidigen, durchaus nicht in seinem Elemente, soll er als Advokat der Wahrheit auftreten. Dies ist nämlich ein unnatürlicher Dienst, den er mit großer Ungeschicklichkeit, wo nicht mit bösem Willen, leistet. Zweitens muß mein Advokat mit großer Vorsicht verfahren, sonst erhält er einen Verweis von den Richtern, und wird von den andern Advokaten als ein Mensch verabscheut, welcher die Rechtspraxis gern vermindern möchte. Deßhalb kann ich nur durch zwei Verfahrungsarten meine Kuh mir retten. Die erste besteht darin, daß ich den Rechtsgelehrten meines Gegners durch ein doppeltes Honorar für mich gewinne. Alsdann wird er seinen Clienten dadurch verrathen, daß er ihm zu verstehen gibt, ich habe das Recht auf meiner Seite. Die zweite Verfahrungsart besteht darin, daß mein Rechtsgelehrter meine Sache so ungünstig wie möglich darstellt, indem er zugibt, meine Kuh gehöre meinem Gegner; geschieht dies mit Geschicklichkeit, so wird dadurch die günstige Stimmung der Richter für mich gewonnen. Nun müssen Eure Gnaden wissen, daß diese Richter Personen sind, welche der Staat besoldet, um alle Fragen über Eigenthum zu entscheiden, so wie auch die Strafen der Criminalverbrecher. Man wählt sie aus den geschicktesten Rechtsgelehrten, welche alt und faul geworden sind. Da sie nun ihr ganzes Leben hindurch gegen Wahrheit und Billigkeit eingenommen wurden, sind sie der unglücklichen Nothwendigkeit unterworfen, daß sie Betrug, Meineid und Unterdrückung begünstigen. Einige habe ich gekannt, welche lieber eine große Bestechung von derjenigen Partei, die Recht hatte, ausschlugen, als daß sie den ganzen Stand dadurch beleidigt hätten, wenn sie eine der Natur ihres Amtes unwürdige Handlung begingen.

Es ist Grundsatz unter diesen Rechtsgelehrten, daß Alles, was früher geschehen ist, rechtmäßiger Weise wieder geschehen darf. Deßhalb notiren sie alle früheren Entscheidungen gegen Gerechtigkeit und den allgemeinen und gesunden Menschenverstand sorgfältig auf. Diese Urtheile heißen Präcedentien, und werden fortwährend als Autoritäten vorgebracht, um die unbilligsten Meinungen zu rechtfertigen, und die Richter unterlassen es nie, nach jenen Bestimmungen zu entscheiden.

Bei den Verhandlungen vermeiden die Advokaten und Richter sehr sorgfältig, auf die gute Seite ihres Processes einzugehen, sie werden laut, heftig und langweilig und verweilen bei allen Umständen, die nicht zum eigentlichen Zwecke führen. Zum Beispiel in dem oben erwähnten Falle wollen sie niemals wissen, welchen rechtlichen Anspruch mein Gegner auf meine Kuh besitzt, sondern ob er gesagt habe, die Kuh sey roth oder schwarz, mit langen oder kurzen Hörnern; ob das Feld, worauf sie grase rund oder viereckig sey; ob sie im Stall oder auf der Weide gemolken werde; an welchen Krankheiten sie leide u. s. w. Alsdann werden die Präcedentien um Rath gefragt, der Proceß wird von Zeit zu Zeit vertagt und nach zehn, zwölf, dreizehn Jahren endlich entschieden.

Ferner ist zu bemerken, daß diese Gesellschaft ein besonderes Rothwälsch oder einen Jargon besitzt, die kein anderer Mensch versteht, und worin alle Gesetze geschrieben sind. Mit besonderer Sorgfalt wird dasselbe vermehrt. Dadurch wird die wahre Essenz der Wahrheit und Falschheit des Rechtes und Unrechtes durch einander gemischt. Somit erfordert die Entscheidung, ob das Feld, welches von meinen Vorfahren durch sechs Generationen mir hinterlassen wurde, mir oder einem dreihundert Meilen weit entfernten Fremden gehört, die Zeit von dreißig Jahren. Nach dem englischen Recht gilt keine Verjährung in Hinsicht des Grundeigenthums. Ein Besitztitel ist ungültig, sobald irgend ein Fehler in der Urkunde sich vorfindet, und wird derselbe auch erst nach Jahrhunderten entdeckt.

In Processen der Personen, welche wegen eines Verbrechens gegen den Staat angeklagt wurden, ist die Verfahrungsart bei Weitem kürzer und empfehlenswerther. Der Richter sucht zuerst die Stimmung der Machthaber zu erforschen, und kann alsdann einen Verbrecher sehr leicht retten oder hängen lassen, indem er alle Rechtsformen mit der gehörigen Genauigkeit beobachtet.

Hier unterbrach mich mein Herr mit den Worten: Wie schade, daß Personen, welche nach meiner Beschreibung der Rechtsgelehrten so wunderbare Geistesfähigkeiten nothwendig besitzen müssen, nicht besser angestellt werden, um Andere in Weisheit und Kenntnissen zu unterrichten! Ich erwiderte, mit Ausnahme ihres eigenen Geschäftes seyen sie die unwissendsten, dümmsten Bewohner meines Vaterlandes, im gewöhnlichen Gespräch durchaus verächtlich, erklärte Feinde aller Wissenschaft und Gelehrsamkeit, überall geneigt, den gesunden Verstand auf den Kopf zu stellen, und jeden Gegenstand, worüber man spreche, in derselben Weise, wie in ihrem Geschäfte, zu verdrehen.


 << zurück weiter >>