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Nach Kolbenhart mußte der Marienhof seine Abgaben bezahlen. Dort waren auch die meisten Handwerker, die man hie und da brauchte, wenn die vielfältige Kunst des praktischen Hannes nicht ausreichte.
Auch der Krämer war dort, ein ehemaliger Schreiner, der die Reize des Handels größer fand als die seines schönen Handwerks, so daß er jetzt nur noch in besonders lohnenden oder besonders dringenden Fällen mit Hobel und Leimtopf hantierte. –
In einer schönen Morgenfrühe betrat Hannes den Kramladen. Er hatte den Rucksack dabei, um ihn füllen zu lassen. 84
Es war nicht zum erstenmal, daß er in dem schmalen, langgestreckten Raum stand, der nur von einem einzigen, mit allerlei Waren vollgestellten Fenster her sein Tageslicht bekam und sich gegen hinten in gelinde Dämmerung verlor.
Ein aus hunderterlei Bestandteilen gemischter Geruch, der echte Geruch des »Gemischtwarengeschäftes«, von dem das Schild vor der Tür redete, erfüllte den Raum.
Hannes hatte ihn nicht ungern, diesen Geruch. Eine Erinnerung lag für ihn darin. In irgendeiner Kantine im Feld hatte es auch ähnlich gerochen, und dort hatte man, von allerlei erreichbaren Genüssen umgeben, den ganzen Krieg für eine Weile vergessen.
Diese Unbekümmertheit und Sorglosigkeit, die jetzt so himmelfern war, guckte irgendwie durch die Ritzen, wenn Hannes den Gemischtwarenladengeruch einsog.
Sonst hatte eine blasse, schüchterne, wenig gesprächige Frau die Kunden bedient, heute sah Hannes zum erstenmal den Krämer und Schreiner selbst im Laden.
Der Mann hatte kein angenehmes Gesicht. Hannes glaubte plötzlich zu durchschauen, warum die Frau so blaß und so schüchtern war.
Eine ungute Schläue und die Spuren des Trinkens mischten sich in den schwammigen Zügen; die untersetzte Gestalt sah nach Derbheit, wenn nicht Roheit aus.
Hannes hatte Mühe, seine innerliche Ablehnung zu verbergen, als der Mann den neuen, ihm noch unbekannten Kunden auszufragen begann. 85
Allmählich aber, als der Krämer immer dreister und unbefangener und zuletzt ganz freundschaftlich wurde, machte die Sache Hannes fast Spaß.
Es war so anders als alles, was man von der Stadt her in diesem Stück gewohnt war.
Er ließ einen Teil seiner Zurückhaltung fahren und gab dem Ausfrager mehr Aufschluß über sich und seine Umstände, als er ursprünglich zu geben gewillt war.
Da blühte des Krämers Geschwätzigkeit üppig auf. Von Gott und Welt, von Vergangenheit und Gegenwart erzählte er Hannes, aber viel Gutes war nicht darunter, außer der Rolle, die der Erzähler selbst in all den Geschichten gespielt hatte oder spielte.
Halb gleichgültig, halb innerlich belustigt, hörte Hannes zu. Er dachte, welche Gerechtigkeit doch darin liege, daß solch ein bösartiger Schwätzer, ohne es zu wissen und zu merken, sein eigenes Bild am deutlichsten und häßlichsten zeichnen müsse.
Auf einmal fiel in irgendeinem Zusammenhang der Name: Schultheiß Roser.
Hannes schaute auf. Der Vater seines Freundes war ihm seither nichts gewesen als ein Wortschwall, der mit Bösem, mit Schrecklichem zusammenhing.
Jetzt war die halbe Ungeduld verflogen. Der seither widerwillig Lauschende, der innerlich Ablehnende, horchte aufmerksam.
Er, der schon der Tür zugestrebt hatte, setzte sich jetzt auf die Kiste, auf der seither sein Rucksack gelegen hatte.
Das war wie ein Signal für den Krämer, mit neuer Kraft loszulegen. 86
Aber Hannes ließ ihn jetzt nicht mehr, wie seither, seine wirren Pfade vom Hundertsten ins Tausendste wandern.
Ohne die ganze Anteilnahme für das Thema zu verraten, wußte er den Gesprächigen durch geschickte Lenkung beim Schultheißen festzuhalten.
Der Sohn aus der ersten Ehe Rosers sei schon früh in die Stadt gekommen zum Lernen – so bekam er zu hören –, denn vom Lernen habe der Schultheiß sündhaft viel gehalten.
Jawohl, sündhaft viel! So, als ob das Lernen alles sei auf der Welt. Der Roser selber habe einen überaus gescheiten und anschlägigen Kopf, und solche seien leicht der Meinung, mit dem Kopf könne man alles machen, und weiter brauche es nichts. Aber da habe dann auch wieder einmal der Herrgott einen Strich durch die falsche Rechnung gemacht.
Weil nämlich die Lernerei von dem Sohn in der Stadt unheimlich viel Geld gekostet habe, sei »etwas vorgekommen«.
Und weil etwas vorgekommen sei und der Vater sitzen mußte und kein Geld mehr schicken konnte zum Weiterlernen, habe sich der Sohn kurzerhand erschossen.
So gehe das, wenn man meine, die Söhne seien zu gut, um ein ehrliches Handwerk zu lernen. Die Schreinerei zum Beispiel – – –
In diesem Augenblick kam eine Kundin in den Laden. Es war ein schlankes, auffallend hübsches, städtisch gekleidetes Mädchen, dessen blondes Haar in kurzen Wellen wie Gold schimmerte. 87
Sie schien es sehr eilig zu haben. Ihre trippelnden Schritte in den zierlichen Schuhen waren hastig.
Und dann wußte sie doch nicht recht, was sie wollte
Ihr Blick glitt rasch über Hannes hin. Es war kein scheuer, kein allzu mädchenhafter Blick.
Dann verlangte sie mit unmotiviertem Lachen vom Krämer ein Fläschchen Tinte.
Der mußte, um das Gewünschte zu holen, an Hannes vorüber. Dabei zwinkerte er ihm zu, als wolle er sagen: Sieh dir diese genau an!
Mit einem nicht allzu feinen Scherzwort über ihre große Eile händigte der Krämer seiner Kundin die Tinte aus. Lachend ging das Mädchen davon, und die Schelle lärmte hinter ihr her.
Jetzt trat der Geschwätzige wieder zu Hannes. Das Ungute auf seinem Gesicht hatte sich vertieft.
»Haben Sie die gesehen?« fragte er, nach der Tür deutend. »Wenn er für die und ihre Mutter nicht die seidenen Strümpfe und die flotten Kleider hätte kaufen müssen, wäre dem Schultheißen der Streich vielleicht auch nicht passiert.«
»War das –?«
Hannes konnte seine Frage nicht zu Ende bringen.
»Das war die Melle, die Stieftochter«, fiel ihm der andere ins Wort und nickte, als sei da eine gewichtige Sache ausgesprochen. »Die ist von der siebenten Bitte und ihre Mutter erst recht. Was die zwei Weiber den Schultheißen Geld gekostet haben, möcht' ich nicht wissen.« 88
Es blieb eine Weile still. Der Krämer stand da wie in Kummer versunken.
In Hannes bohrte Widerwille. »Vorhin sagten Sie, das Lernen –«
»Ganz recht, das Lernen«, fiel wie auf ein Stichwort der andere wieder ein, »weil er nur auf sich und seinen anschlägigen Kopf vertraut hat! – Der Sommerberg hat müssen aufgeforstet werden, das hat einen großen Haufen Geld gekostet, und keiner von uns erlebt, daß es einmal Zinsen trägt. Dann die Straße nach Bittwangen! Die wär' lange recht gewesen; aber dem Roser war sie zu krumm. Meine Wiese hat er mir enteignen lassen um ein Spottgeld, nur weil es dort um den Umrang ging. Dann die Feldbereinigung! Und kaum war das geschafft, mußte anderes Wasser her. Reines Quellwasser. Als ob die Kolbenharter reines Quellwasser saufen würden, solang sie Most haben! Sehen Sie – so sind dem Roser eine Menge Pläne durch den Kopf und ein Haufen Geld durch die Finger gegangen. Lauter große Zahlen und lauter große Schulden. Und dann noch seine Weiber dazu –.« Er zuckte die Achseln und steckte die Hände in die Hosentaschen mit der Geste dessen, der alles vorausgesehen hat und auf den man nicht hören wollte.
Schweigend nahm Hannes seinen Rucksack auf. Es war ihm, als habe eben der Freund aus der Ferne her gesagt: Wie magst du nur mit diesem Kerl über meinen Vater reden! –
Der Krämer, mit der Instinktlosigkeit der niedrigen Naturen, merkte nicht, daß es für diesmal genug sei.
Seinen Ladentisch abwischend, fragte er jetzt, ob denn 89 der Herr Baldenius nicht gemerkt habe, daß die Melle nur wegen ihm hereingekommen sei?
Darauf habe er nicht geachtet, sagte Hannes unbehaglich.
Der andere lachte. Ja, so sei die nämlich. Immer keck und immer fürwitzig. Des Schultheißen Schande kümmere die wenig, obgleich sie mit daran schuldig sei.
Und dann, als Hannes der Tür zustrebte, ging er noch hinter ihm her und bemerkte: »Von was die Weiber jetzt leben, solang der Schultheiß brummen muß, das weiß auch keiner. Es wäre schon besser, sie gingen wieder in die Stadt. Dort können solche eher treiben, was sie wollen.«
Als Hannes schon auf der Straße war, rief ihm der Unermüdliche noch nach: »Dem Roser seine Zeit wird jetzt bald um sein. Es gibt Narren im Dorf, die täten ihn am liebsten wieder ins Amt. Aber dafür ist gesorgt –«
Hannes ging heimwärts.
Die Sonne lag in den sauberen, menschenleeren Gassen; vor den Haustüren streckten sich die Hunde oder kläfften der Form halber und ohne rechten Ernst nach dem Fremdling.
Aber so friedlich auch das Bild war, Hannes konnte seiner nicht froh werden. Er glaubte etwas Widerliches, Schleimiges zwischen den Häusern und in den stillen Winkeln kriechen zu sehen.
Etwas in ihm wußte: Der lieblose und gemeine Klatsch, wie er ihn eben gehört hatte, das waren bösartige, wuchernde Zellen, die sich auf heimlichen, nicht 90 mehr zu kontrollierenden und nicht mehr abzuschneidenden Wegen ins gesunde Gewebe fressen, bis die Geschwüre aufbrechend das Furchtbare entleeren, das Krieg heißt.
Ja, dem Uranfang, den winzigsten ersten Keimen des Kriegs war er eben auf der Spur gewesen. Hier war zu beginnen, hier das Messer anzusetzen, wenn man den Willen hatte, den Krieg aus der Welt zu schaffen.
Später, wenn er sich erst einmal zum Schicksalhaften, zum Übergroßen ausgewachsen hatte, gab's nichts mehr als zusammengebissene Zähne und Opferbereitschaft.
Welche Narrheit war es doch, die kleinen Keime zu hätscheln und das, was daraus wird, zu verfluchen! Die Wurzeln im Boden wuchern zu lassen und die Blüte ausrotten zu wollen! – –
Er schaute umdunkelten Blicks in die freundliche Gasse.
Seither waren sie ihm so herzlich verächtlich vorgekommen, die armseligen Tröpfe, die der Heimat gegenüber ihre Kriegstaten aufbliesen wie Schläuche, und die beständig den Preis für ihr »Kopfhinhalten« einforderten.
Aber in diesem Augenblick war ihm, als dürfe und müsse jeder Draußengewesene von den Daheimgebliebenen als Dank wenigstens das erwarten, daß sie ihre losen Mäuler und ihre bösartigen Herzen in größere Zucht nähmen, um auf diese einzig sichere und einzig mögliche Weise der Menschheitsgeißel entgegenzuarbeiten.
Als Hannes vors Dorf hinauskam, kühlte ihm der Höhenwind die heiße Stirn. Das berührte ihn gut wie 91 ein Bad. Es war eine Zufriedenheit in ihm, daß er in die Einsamkeit des Marienhofs zurückkehren durfte.
Er bekam den Blick wieder für die dunklen Waldränder, die grünenden Äcker, den hohen Himmel mit seinen ruhig segelnden Sommerwolken. Er hörte die Lerchen wieder, die überall schwirrten und sangen, als gehöre ihnen allein die lachende Welt.
Jetzt klang das Knirschen und Krächzen eines beladenen Handwagens hinter ihm auf dem Wege auf.
Er trat an den Ackerrand und sah sich um.
Ria kam mit einem Schubkarren daher und hatte einen vollen, offenbar schweren Sack aufgeladen.
Ihr junges Gesicht war gerötet von Anstrengung; unter dem weißen Tuch, das sie wie die Bäuerinnen um die Stirn gebunden hatte, kamen Strähnen ihres braunen Haares hervor und flimmerten in der Sonne.
Das Mädchen tat, als sei der Mann nicht da. Fest waren ihre Augen auf den staubigen, unebenen Weg gerichtet, die entblößten schlanken Arme strafften sich in höchster Kraftanstrengung.
Erst als sie dicht an Hannes vorüber mußte, grüßte sie den Grüßenden mit flüchtigem Aufblick.
Er schaute ihr nach. Etwas in ihm sagte plötzlich: Diese da klatscht nicht. –
Seine Augen konnten die schöne, gestraffte Gestalt nicht loslassen, die so sichtlich alle Kraft an ihr Tun dahingab. Es lag eine Würde, ein Adel über diesem Bild; irgendwo glaubte er es schon einmal gesehen zu haben.
Plötzlich fielen ihm ein paar Artilleriegäule ein, die er hatte Munition vorbringen sehen im feindlichen Feuer. 92
Das Herz fing ihm hart zu klopfen an.
Sei nicht beleidigt, feindselige Ria, wenn ich dich neben diese Gäule stelle!
Ich wüßte kaum etwas Höheres zu sagen zu deinem Lob.
Jene Rosse, die nicht nach eisernen Kreuzen oder Heimaturlaub ausschauten, taten ihre Pflicht in stummem, hohem Stolz. Wären wir alle bis zuletzt diesen Rossen gleich gewesen – –. Er fuhr sich über die Stirn.
Unwillkürlich beflügelte er den Schritt, um das Mädchen einzuholen. Er vergaß, er wollte vergessen, daß sie so ablehnend war. »Woher schon des Wegs, Ria?« fragte er.
Sie wendete den Kopf. Man sah das harte Klopfen ihres Herzens bis herauf zum Hals.
»Kartoffeln geholt«, sagte sie kurz.
Er erschrak. Es fiel ihm ein, was er fast vergessen gehabt hatte, daß in der Stadt der Hunger um leere Tische schlich und daß er sich und die Seinen vom Marienhof mitversorgen ließ um elende Papierscheine.
»Sind euch die Kartoffeln ausgegangen?« fragte er fast bang.
Sie stellte den Karren ab und trocknete sich die feuchte Stirn. Ein stummes Nicken war ihre ganze Antwort.
»Das ist wohl, weil wir mitessen?« meinte er tastend.
»Kann sein«, kam es einsilbig.
Sie standen eine Weile stumm, dann deutete Hannes auf den Sack.
»Woher stammen die?« 93
Ein leises, kurzes Lächeln lief über ihr Gesicht, durch ihre schönen braunen Augen.
So entspannt, so herzlich hatte sie damals ausgesehen, als sie den Volz von Bittwangen empfahl.
Schon meinte denn auch Hannes, dieser Name werde kommen, da sagte sie: »Von des Schultheißen Melle. Dort ißt einer zuwenig mit.«
Sie nahm den Karren wieder auf und schob an.
Hannes trat hinzu, um ihr die Last abzunehmen.
Da schaute sie ihn – wie er meinte, zum erstenmal – groß und voll an.
»Das braucht's nicht. Ich schaff's allein«, kam ihr Bescheid.
Noch nie war sich Hannes so gründlich zurückgewiesen, so hart aus dem Weg geschoben vorgekommen wie jetzt.
Er hätte vor Unmut mit dem Fuß aufstampfen mögen.
Wollte sie ihn klein machen? Ihm vorreiben, daß er eigentlich zu nichts da sei, als zu warten, bis sie mit ihrem Vater den Platz räume? –
Und die Kartoffeln, die man aß, das waren die, die Gottfrieds Vater im Gefängnis ersparte.
Ein paar Tage später war Hannes in der Küche, als Ria die Abendmilch brachte.
Er besserte den Küchenschrank aus und räumte ihn um. Daß ihn das Mädchen bei dieser Arbeit traf, ärgerte ihn. Nun konnte sie ja ihrer Freundin, dieser Allerweltsmelle, erzählen, welcher Art das Tagewerk des Pachtherrn sei. 94
Ria achtete sowenig auf den Mann und sein Tun wie dort der späte Sonnenstrahl, der den Küchentisch übergoldete.
Schweigend holte sie die Töpfe herbei, die heute noch nicht bereitgestellt waren, und entleerte die weiß schäumende Flut aus der Kanne.
Der Unmut in Hannes quoll aus unbekannten Gründen über. »Decken Sie die Töpfe auch zu«, sagte er barsch, »wir mögen keine Fliegen in der Milch.«
Er erschrak selbst über seinen Ton, aber er konnte ihn nicht mehr zurückholen.
Das Mädchen, das schon gegen die Tür gegangen war, schaute zurück. Ihr bräunliches Gesicht färbte sich dunkel, ihre Gestalt schien sich zu straffen.
Dann, nach einem kurzen, stummen Zögern, ging sie zum Bord, nahm die Deckel und legte sie auf die Töpfe.
Nun war sie wieder an der Tür. Ihre Augen gingen an Hannes vorbei. Wie ins Leere hinein sagte sie: »Es ist auch bald Jakobi.«
Er verstand nicht. »Wie, bitte?«
»Wegen der Schankgerechtigkeit«, sagte sie halblaut und ging.
Erst als ihre Schritte auf den Steinfliesen schon verklungen waren, fiel ihm ein, was sie gemeint hatte.
Am Jakobitag war seither immer die Schankgerechtigkeit, die von alters her auf dem Marienhof lag, ausgeübt worden.
An diesen Brauch wollte sie mahnen.
Hieß das: feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln?
Das Blut stieg ihm ins Gesicht. 95
Als Hannes bald nachher mit der Schwester über den Jakobitag sprach, war es, wie wenn ein Luftzug über verglimmendes Feuer streicht. Es gab ein frohes Knistern, ein Aufleben. Mit Begeisterung war Marie dafür, daß man die alte Gerechtigkeit nicht verfallen lasse.
Es würde ja weiter nichts kosten als den Spaß, einen Tag lang Wirt und Wirtin zu spielen. Eine lustige Abwechslung war das, die man sich nicht entgehen lassen durfte.
Hannes erschrak fast vor der jähen Belebtheit der Schwester. Er hatte nicht gedacht, daß sie so stark darbte in der Einsamkeit.
Plötzlich war der Argwohn da, die Ria habe der Marie schon einen Wink gegeben wegen Jakobi. Dieses Pächtermädchen sorgte sich wohl, ob ihr das alljährliche Vergnügen nicht entgehe.
Ja, so mußte es sein! Die beiden Marien hatten sich da zusammengefunden, Ria als die Schiebende, die Schwester als die unwissentlich, aber willig Geschobene, um zu einer ersehnten Abwechslung zu gelangen. Die Beschämung, die er kürzlich gefühlt, war wohl unnötig gewesen, denn das mit den feurigen Kohlen stimmte nicht.
Hannes versprach zwar der drängenden Marie, ihren Wunsch zu erfüllen; aber als er aus der Stube ging, schlug er die Tür unwirsch zu und brachte das Gefühl nicht los, an der Strippe der beiden Verschworenen zu gehen.
Es waren jetzt Vorbereitungen zu treffen auf das Jakobiereignis. 96
Hannes, der sonst so Zielbewußte und Gelassene, war unentschlossen und mißgestimmt.
Er hatte Marie gelegentlich gefragt, ob sie mit Ria schon über die Sache gesprochen habe; das hatte sie sehr unbefangen verneint. Aber befangene Ohren hören nirgends Unbefangenheit. Stärker als je war der Fragende überzeugt, daß die zwei betreffs des Jakobitages einig waren.
Und konnte man schließlich dieser Ria verdenken, wenn sie in ihr hartes, ihrer blühenden Jugend so gar nicht angemessenes Leben Abwechslung bringen wollte?
Es kam ihm jetzt erst zum Bewußtsein, daß er das Mädchen noch nie am Sonntag hatte fortgehen oder Besuche empfangen sehen. Höchstens streifte sie drüben im lichten, einsamen Wald umher.
Vielleicht aber, das kam ihm jetzt erst, traf sie dort drüben mit jenem Liebsten zusammen, von dem an dem Mondscheinabend Marie gesprochen hatte?
Nun, was ging das alles schließlich ihn, Hannes, an!
Aber wegen des Jakobitages mochte er Ria nicht fragen. Diesen Gefallen wollte er ihr doch nicht gerade tun.
Draußen am Waldsaum war der Werkmeister, den man reichlich selten mit der Sense erblickte. Er mähte, wie Hannes beim Näherschreiten ärgerlich erkannte, Farnkräuter.
Warum er das tue? fragte er mit schlecht verhehltem Unmut.
Der andere mähte weiter und sagte mit aufreizender Gleichgültigkeit, weil er das Reißen in den Beinen habe, 97 und dafür sei nichts besser, als auf Farnkräutern zu liegen.
Hannes schluckte seinen Ärger hinunter, blieb stehen und wartete, bis der Mäher die Sense sinken ließ.
Jetzt drehte der Werkmeister den Kopf und fragte höhnisch: »Sie passen wohl auf, daß ich Ihren Wald nicht abmähe –?«
Hannes bezwang sich. Es hatte keinen Sinn, mit diesem Menschen zu rechten.
Mit so viel Ruhe, als er aufbringen konnte, sagte er: »Ich wollte mich bei Ihnen erkundigen, wie Sie es am Jakobitag mit dem Ausschenken immer gehalten haben?«
Der andere wischte die Sense ab und tat, als sei der Fragende gar nicht da.
Grob sagte er dann: »Das kann man halten wie der auf dem Dach.«
Hannes kannte die Redensart und die Unart, die darin lag. Er ersparte sich alles weitere und schritt der Straße zu, in unwillige Gedanken verloren.
Als er nach einiger Zeit aufsah, stand er am Wegzeiger.
»Nach Bittwangen«, las er an einem der Flügel.
Meister Volz, der Maler und Gipser, würde die Bräuche hier oben wohl kennen!
Wie weggeblasen waren Unmut und Unentschlossenheit. Hannes betrat die Straße nach Bittwangen.
Schön war es hier zwischen den stillen Tannen, die rechts und links so ehrfürchtig Spalier bildeten, als werde ein hoher Herr erwartet. Hannes nahm die 98 Schultern zurück und machte Parademarsch. Ein Übermut war auf einmal in ihm, vielleicht als Rückschlag auf die Unfreiheit und den Ärger der letzten Stunde.
Leise pfiff er den Hohenfriedberger vor sich hin.
Auf einmal war er still.
Ging nicht einer neben ihm in gleichem Schritt und Tritt?
Floß nicht der Hall seines Marschierens zu einem Doppelklang auseinander? Ganz geheimnisvoll, ganz unhörbar und doch im Tiefsten überzeugend?
»Gottfried«, murmelte er und wußte es nicht.
Ein schweres Holzfuhrwerk knarrte einher und entriß ihn dem schönen Bann.
Aber auch jetzt kam er vom Freunde nicht los.
Ob der wohl auch diese Straße gewandert war? Ob er den Volz von Bittwangen gekannt hatte?
Und vielleicht auch die Ria? –
Sie hatten draußen manchmal, sogar oft, von Mädchen gesprochen.
Es schien ihm auf einmal, als sei der ganze Krieg, wenn man es bis aufs letzte ausdrücken wollte, um Mädchen, um Frauen gegangen.
Mehr als für alles andere war jeder für die Seine, für seine Liebste, seine Braut, sein Weib, seine Mutter, seine Schwester hinausgezogen. –
Ja, das war so, und nichts davon abzustreiten!
Was blieb denn noch an der Heimat, wenn man die Frauen daraus wegstrich?
Ein verlorenes Lächeln trat um den Mund des Wanderers. Heimat! Ach, alles, was in dem heiligen Wort 99 zusammenklingt, liegt und lag es nicht zu treuen Händen bei den Frauen?
Bei all der scheinbaren Nacktheit des Lebens draußen hatte jeder das Wissen um dieses Letzte schamhaft verhüllt; nur die Wertlosen, die Tröpfe, die, die gar nicht die echte schöne Wahrheit darüber wußten, hatten mit schmutzigen Händen daran herumgetastet.
Ja, glühend war sie draußen gewesen, die Sehnsucht nach dem Gegenpol von Krieg und Männlichkeit, die Sehnsucht nach der Frau, nach einer Frau.
Aber – und nun grübelte der Schreitende in seiner Erinnerung – der Name Ria war aus des Freundes Mund nie gefallen.
Doch was besagte das? Wurden nicht gerade die Namen verschwiegen, die das Herz in der Tiefe füllten! –
Allerdings: das Pächtermädchen war ja noch blutjung, war noch ein Schulmädchen gewesen damals. –
Von seiner Stiefschwester hatte Gottfried dann und wann gesprochen. Er hatte sie nicht Melle genannt, sondern immer »die Kleine«. Ein kleines Kind war Hannes dabei vorgeschwebt.
Die Kleine wird verzogen, die Kleine ist wild, die Kleine wird frech – das waren so Dinge, die damals laut wurden.
Nun, diese Kleine war jetzt hübsch gewachsen. Sie war wohl kaum viel jünger als die Ria! –
Hannes ärgerte sich und schritt rascher aus.
Die Straße trat jetzt aus dem Wald, der links weit zurückbog und rechts aufhörte.
In leichter Senkung tauchte der kleine Weiler auf. 100 Etwas abseits davon, als einzige, nicht ganz nahe Nachbarschaft des Kirchleins, das neue Haus des Meisters Volz.
Hannes war schon einmal hier und dabei auch im Hause Volz gewesen. Damals war er gekommen, um seine Rechnung zu bezahlen und vielleicht auch, um bei dieser Gelegenheit etwas über die Lebensumstände des Meisters zu erfahren.
Heute wußte er, daß der Mann ein kinderloser Witwer war und für sein neues, selbst erbautes Haus – ein Häuschen nur – die gleiche Leidenschaft hatte wie für seine Pfeife, seinen frisch angelegten, noch recht steinigen Garten und den Bienenstand darin.
Hannes blieb stehen und schaute nach des Meisters Heimwesen hinüber. Es lag schmuck in der Sonne, wenn auch seine Neuheit noch einen leichten Stich in jenes Unwohnliche hatte, das oft dort ist, wo die Frau fehlt.
Aber der Beschauer erinnerte sich von seinem ersten Besuch her, daß in den hellen kleinen Stuben große Sauberkeit geherrscht hatte, eine Sauberkeit, für die der Besitzer selbst verantwortlich zeichnete, weil er das Häuschen ganz allein und ohne weibliche Bedienung bewohnte.
Er war ja wohl ein wenig Sonderling, dieser Ritter des Eisernen Kreuzes. Sonst müßte er doch auf den Gedanken kommen, daß sein kleines Besitztum eine Herrin brauche, besonders, da sein Beruf ihn so viel auswärts führte, so lang von zu Hause fernhielt.
Er würde doch hoffentlich jetzt daheim sein!
Hannes spähte angestrengter hinüber. Die weit offenen Fenster befreiten ihn von seiner Sorge. 101
Auf einmal umdunkelte sich sein Blick.
War das nicht die Ria gewesen, das weibliche Wesen, das soeben ein Tuch aus dem Fenster geschüttelt hatte?
Da kam er ja recht ungeschickt und unwillkommen. Wenn Volz Besuch hatte, wollte er nicht stören.
Er blickte nach seinem Weg zurück. Sollte er umkehren? – Aber was gingen ihn schließlich des Meisters und des Pächtermädchens Angelegenheiten und Beziehungen an! Er konnte ja tun, als ahne er nichts – – gar nichts – –
Ganz kurz und bündig würde er den Volz fragen, wie man es seither auf dem Hof am Jakobitag gehalten habe?
Bekam er Bescheid, so war's gut. Bekam er keinen, so hatte er eben den Spaziergang umsonst gemacht. Er hatte ja sonst vorläufig nichts zu tun.
Er beschleunigte den Schritt, als eile es plötzlich.
Die Haustür stand offen, das sah er schon, als er den öden Garten durchquerte.
Beim Näherkommen hörte er aus einer Stube die bedächtige Sprechweise des Meisters.
Es zuckte wie Spott in ihm auf. Eignete sich dieses Organ, dieser Tonfall wohl zu einer Liebeserklärung? – Zur Liebeserklärung eines starken Vierzigers an eine Achtzehnjährige? –
Er trat härter auf. Die zwei da drinnen sollten seinen Schritt auf dem Gartenweg hören. Er hatte nicht im Sinn, sie etwa in einer heiklen Situation zu überraschen.
Die Stimme verstummte. Ria schaute durchs Fenster. 102
Ihre Augen weiteten sich, als sie den Besucher sah. War's in Erstaunen, in Unwillen? –
Sie grüßte nicht. Ein leises Wort sagte sie in die Stube zurück.
Als Hannes eintrat, war sie nicht da. Im Nebenraum hörte man leises Geräusch.
Nicht lang, nachdem die Männer sich begrüßt und an den Tisch gesetzt hatten, steckte sie den Kopf durch die Tür und sagte, den Blick auf den Hausherrn geheftet: »Also ich nehme den Honig fürs Forsthaus mit. Auf Wiedersehen.« Den Gast beachtete sie nicht.
Dann schritt sie, einen schweren Topf im Arm, durch den sonnigen Garten. Zwei Augenpaare folgten ihr.
Der Meister nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete damit nach der Entschwundenen. »Kein Mensch hat sie heißen, den Honig schleppen. Aber ein rechter Gaul zieht, eh man ihn antreibt.«
Dann, Hannes ins Gesicht schauend, langsam: »Das ist so: sie kommt von Zeit zu Zeit und guckt nach meinem Haushalt.«
»So«, sagte Hannes kurz und blickte weg.
Der andere tat ein paar Züge an seiner Pfeife. Dann fuhr er fort: »Dafür muß ich ihr vom Krieg erzählen.«
Hannes zog die Beine an. Er blickte überrascht, ungläubig. »Vom Krieg?« –
Der Hausherr schaute seinem Pfeifenrauch nach und nickte. »Vom Krieg.«
Es blieb eine Weile still. Keiner der Männer rührte sich.
Jetzt schlug der Meister langsam ein Bein über das 103 andere. Halblaut begann er: »Ich sag' immer: nur was nichts Rechtes ist, kann den Krieg nicht schnell genug vergessen.«
Er paffte wieder und fuhr dann fort: »Muß nicht einem Frontsoldaten das Speien ankommen, wenn man den Quatsch hört, den jetzt die Heimatkrieger über den Krieg reden?«
Verwundert schaute Hannes auf den Sprecher. Also auch in diesem Wortkargen gärte, was ihn so oft empörte!
»Ja, so ist's«, sagte er belebt, »wie einen neuen Kittel legt sich jetzt alles den Kriegsabscheu zu und stelzt auf seiner friedlichen Weltanschauung über die Wirklichkeit hinüber. Wir Frontsoldaten mit dem Schießprügel in der Faust sind aus der Mode.«
Sie schauten stumm durchs Fenster. Schon weit drüben am Walde tauchte das Pächtermädchen wieder aus der Senkung auf.
Der Meister deutete nochmals mit der Pfeife nach ihr: »Die dort ist ein Frontsoldat, so gut wie einer«, sagte er fest, als müsse er Widerspruch niederschlagen.
Aber Hannes widersprach nicht. Es war auch auf seinem hageren und gealterten Gesicht nicht zu lesen, was er etwa dachte.
Nach langer Zeit fragte er: »Was erzählen Sie ihr denn von draußen?«
Der andere schaute langsam her. Seine Nase schien auf einmal schmäler, seine gefurchte Stirn noch faltenreicher zu werden.
»Von Verdun«, sagte er knapp. 104
»Sie waren dort?« murmelte Hannes in die Stille hinein.
Der Meister nickte. »Ihre zwei Brüder, die Zwillinge, liegen auch dort im Massengrab, und des Schulzen Gottfried war auch dort dabei.«
Und ich – hätte Hannes sagen können; aber er sagte es nicht. Ihm graute davor, das hervorzuholen.
Tonlos kam seine Frage: »Haben Sie Gottfried Roser gekannt?«
Der andere schüttelte den Kopf. »Nur so, wie man einen kennt, der als Schulbub manchmal vor einem über die Gasse lief. Er war ja fast nie daheim, der Gottfried. Aber die Ria will halt von ihm wissen.«
Hannes spürte seinen Herzschlag. »Sind Sie ihm draußen begegnet?«
Wieder schüttelte der Meister den Kopf. »Wer weiß denn noch sicher, wem er dort begegnet ist? In der Höll', wenn der Teufel die Gabel voll nimmt, wird auch keiner wissen, wer neben ihm ist. So war's vor Verdun. –«
Ja, dachte Hannes, so war's vor Verdun. –
Nach langer Zeit fragte er: »Was können Sie ihr denn von ihm erzählen?«
Der Meister lächelte, als habe der andere etwas sehr Törichtes gesagt. Er kratzte sich ein wenig am Kopf und antwortete: »Ich sag' ihr halt das, was ich von mir selber weiß. So, wie mir, ging's damals jedem, und einer war wie der andere. Die Zwillinge und der Roser und der Volz – was gab's da Unterschied? –«
Sie starrten beide vor sich hin.
Auf einmal riß sich der Meister zusammen und klopfte 105 die Pfeife aus. Laut sagte er: »Daß es dort die Zwillinge gepackt hat, das war, meiner Seel', ein Stück, das der Herrgott der Ria zulieb zuließ. Die hat an ihrem Vater noch genug.«
Hannes blickte auf. »Klagt sie bei Ihnen?«
Der ander lachte und fing an, die Pfeife wieder zu stopfen.
»Klagen – die –?« sagte er gedehnt.
Als endlich der Tabak wieder brannte, kam's langsam und betont: »Es ist ihr eine Sorge, ob Sie die Schankgerechtigkeit nicht verfallen lassen.«
Hannes spürte, daß ihm das Blut in den Kopf stieg. Eine Erregtheit war in ihm, die dadurch nicht kleiner wurde, daß er sich über sie ärgerte.
»Was die für Sorgen hat!« rief er, gezwungen lachend, »der Hof geht sie jetzt doch nichts mehr an.«
Der Meister wiegte den Kopf. Einsilbig kam's: »Sie kennen die schlecht.«
In Hannes war ein seltsames, trotziges Widerstreben, jetzt mit seinem eigentlichen Anliegen herauszurücken.
Da fing plötzlich der andere von selbst an: »Holen Sie doch im ›Löwen‹ in Kolbenhart ein kleines Fäßchen Bier und legen Sie's an Jakobi auf. Mehr braucht's nicht. Die Ria kann ausschenken. Die hat das schon öfter gemacht.«
»Hat sie sich dazu angeboten?« fragte Hannes so rasch und mißtrauisch, daß er vor seiner eigenen Hitze erschrak.
Der Meister lachte laut neben der Pfeife hinaus. »Sie kennen die schlecht«, sagte er noch einmal.
Ein Gefühl des Unterlegenseins, ein dumpfer Unmut 106 schaffte in Hannes. Aus einer Stimmung heraus, die, in Worte gefaßt, etwa heißen konnte: ›Jetzt kommt es vollends nicht mehr darauf an‹, sagte er nach längerem Schweigen: »Meister, die Ria wäre eine Frau für Sie.«
Volz nahm die Pfeife aus dem Mund. Seine Stirne runzelte sich. Hart blickten seine Augen unter den buschigen Brauen. »Wer schwatzt solches Zeug?« fragte er streng, fast drohend.
Hannes fühlte sich geohrfeigt. Dieser Frontsoldat schob ihn hinüber zu der verachteten Schar derer, die, wie der Krämer, klatschen und lästern. Beschämt murmelte er: »Der Gedanke kam mir so.«
»Drum«, sagte kurz und abschließend der andere.
Als Hannes heimwärts schritt und den dämmernden Wald betrat, standen die Tannen nicht mehr Spalier, und kein festlicher Parademarsch lockte. Gewisper schien überall zu sein und heimliche Unruhe und aufreizendes Flüstern.
Ist doch der Wald auf eine unbegreifliche Weise immer der Spiegel für die Seele des darin Wandernden.