Auguste Supper
Der Krug des Brenda
Auguste Supper

   

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Schluß.

Ist schon ein Jahrhundert kurz, was soll man dann von zwei oder drei Jahren sagen!

Und doch kann schon diese winzige Spanne viel bergen an Glück und Leid. So kann zum Beispiel Friede werden, wo seit Menschengedenken Krieg gewesen war. Der lange Druck auf verängstigte Herzen kann allmählich weichen.

An die Stelle von Verbitterung und Verelendung kann neuer Mut und neues Aufblühen treten.

Aber es können auch, wie böse Überbleibsel vom grausigen Fraß des Ungeheuers, noch pestartige Seuchen durch die Lande stürmen; ist es doch selten, daß nach den ganz schweren Unwettern der Himmel sofort wieder hell und rein wird.

In allerlei Ecken und Klüften können sich noch Nachwehen halten, von denen man oft nicht einmal recht weiß, woher sie stammen und wem man sie aufrechnen soll.

Doch über all dies hinüber leben die Menschen wieder auf, und dann zögert auch die Erde nicht mehr lange, ein gleiches zu tun. Sie, die gütigste aller Mütter, vergißt und vergibt so rasch und gern, was ihr angetan wurde.

Jonathan Ratgeb konnte davon erzählen. Ihn hatte die letzte Sturzwelle des Krieges dahin 294 zurückgeschleudert, von wo er einst den Sprung ins dunkle Abenteuer getan hatte.

Er hielt jetzt von neuem den Pflugsterz. Das Gespann, hinter dem er oft stumm und oft fluchend ausschritt, war nicht sonderlich ansehnlich.

Als Handgaul hatte er den halbblöden Andres, einen Nachbar von einstmals, der unter der Behütung, wie sie solchen Verkürzten oft gnädig zuteil wird, die Kriegsjahre in der verwüsteten Heimat überdauert hatte. Sattelgaul mußte ein großer zugelaufener Hund von unbekannter Rasse und Herkunft spielen, einer jener halbverwilderten Gesellen, von denen es hieß, ihre Vorfahren seien mit dem großen Schwedenkönig übers Meer gekommen, und keine Unbill des Daseins könne ihnen etwas anhaben.

Unter Ratgebs harter Hand hatte das zuerst ungebärdige Tier bald gelernt, seine draufgängerische Kraft in den ungewohnten Dienst zu stellen.

Beim Schreiten hinter dem Pflug soll keiner grübeln, weil sonst die Furchen leicht krumm werden. –

Ratgeb kannte die alte Regel. Aber was will man machen, wenn die Gedanken manchmal ausreißen wie eine Schar eingesperrter Tauben, wenn der Schlag aufgeht!

Sie schwirrten dann um den einsamen bärtigen Pflüger her, und er konnte sich nicht wehren, weil man den Pflugsterz nicht loslassen darf.

Das junge Dirnlein mit dem roten Kopftuch und den blonden Zöpfen streifte vorüber. Ich wäre ja gern deine Bäuerin geworden, wisperte sie, aber du hast ja 295 gemäht, als das Korn noch grün war, und ich habe sterben müssen. Der Bub vom Lerchenhof tauchte auf und seine hellen Augen sahen den Hund vor dem Pflug.

Du, sagten sie, was soll denn das heißen: ein Hund vor dem Pflug! – Wenn du schon keinen rechtschaffenen Gaul, oder einen schweren Ochsen, oder nur auch eine dürre Kuh hast, dann könntest du doch einen von deinem Blut nehmen, ein Jungknechtlein, ein wackeres, von dem der Schulmeister sagt, es müsse Bauer werden!

Ja, werde nur Bauer, Kleiner! Es ist das Erste und es ist das Letzte, du siehst's an mir. Und jedem hängt an, wo er herkommt; dir auch! Aber sonst – Büblein: das mit dem Jungknechtlein aus meinem Blut – das ist vertan! – –

Himmeldonnerwetter, jetzt ist die Furche aber krumm! Hast du denn keine Augen im Kopf, Andres? Drück doch den Hund ein wenig hist! Auf euch zwei soll der Teufel aufpassen!

*

Auch über Oberdingen und den Lerchenhof gingen drei Jahre hinweg.

Längst hatte der Schulmeister neue Krücken. In Dankbarkeit und oft in leiser Wehmut gedachte er der alten, die ferne, böse Tage mit ihm geteilt und sich als ernste, schweigsame Lehrmeister und unermüdliche Helfer erwiesen hatten.

Sie hätten wohl, so meinte er, ein besseres Los verdient gehabt, als zerschlagen zu werden von einem, der selbst so sehr allen Haltes ermangelte und so nötig feste Krücken hätte brauchen können. 296

Dann tauchte dem Lahmen wohl die Frage auf, ob sein junges Schwesterkind, dessen dunkles Leid er nun kannte, dem Entgleisten Halt geben und Krücke hätte sein können? –

Nein, nein, rief es abwehrend, fast entsetzt in ihm; zertreten hätte sein Taumelschritt die Gefährtin; ihre Liebe hätte seine Hemmungslosigkeit nicht eindämmen können, selbst wenn sie stark gewesen wäre wie der Tod.

*

Wenn der Schulmeister bis hierher gekommen war mit seinen nachsinnenden Gedanken, dann stieg das dämmerige Innere eines kleinen Kirchleins vor ihm empor.

Drunten im Maintal lag es, und es war ihm nur aus den Schilderungen Evas, der jungen Bäuerin vom Lerchenhof, bekannt.

Ein stiller Friedhof zog sich um die altersgrauen Mauern und hart neben der Kirchentüre lag Anna Margarete, die Annegret aus des Schulmeisters frühen Kindheitstagen.

Weil sie so dicht an der Tür lag, mußte die schöne stattliche Schwester mitangesehen haben, wie man zwei Särge an einem Tag an ihr vorüber ins Kirchlein trug.

Die zwei, die unter den Sargdeckeln lagen, waren gleichen Bluts gewesen, hatten sich gehaßt und geliebt, wie nur die sich hassen und lieben können, die sich selbst im andern sehen.

Man hatte die Särge später in große steinerne Sarkophage versenkt, aus denen das Wappen der Brenda mit Krug und Spruch eingemeißelt war. Mitten durch lief der Riß, der nie mehr heilt. 297

Am glühenden Sommerabend hatten Vater und Sohn noch miteinander in jener Schenke getrunken, die für jeden von ihnen Erinnerungen barg, und die ihr Pächter jetzt führte.

In der Nacht streifte die Seuche, die das Maintal durchraste, auch am Schloß der Brenda vorüber und riß Vater und Sohn in den Wirbel des Totentanzes. Liebe und Pest – greift in jedes Nest! hieß damals eine Rede.

Die Hofbäuerin hatte zuerst die Kunde aus der alten Heimat erfahren. Fast ein Vierteljahr war schon über das Böse dahingegangen.

Ein schmerzvoller Ernst lag auf dem jungen Gesicht, als Eva dem Lahmen erzählte, was geschehen war.

Mitten im Bericht wandte sie sich ab, legte den Kopf ans geschlossene Fensterlein, durch das der klare Spätherbsttag grüßte, und weinte fassungslos.

Der Lahme ließ sie gewähren. Auch ihm wurden, als letzter Gruß an den wilden Obristen aus Mähren, die Augen naß.

Endlich legte er die Hand auf die Schulter des jungen Weibes.

»Weine nur, Kind! Weine dir auch das letzte Quälende noch vom Herzen! Dann erst kannst du das Ungeborene mit hellen, starken, reinen Gedanken füttern, wie es sein muß!«

*

Seine neuen Krücken konnte der Mann nur loben. Sie waren unternehmend, um nicht zu sagen leichtsinnig. Selten rieten sie von einem Weg ab. Mit 298 Vorliebe trugen sie ihren Herrn dorthin, wo er die vergessene Bruderschaft mit aller Kreatur wieder aufnehmen, zerrissene Fäden aufs neue knüpfen konnte.

Zum Lerchenhof hinauszuschaukeln, hatten sie nicht mehr nötig. Hielt doch das stattliche Gespann von draußen oft genug in der Brunnengasse, sei es, um Gäste ins Schulmeisterhäuslein zu bringen, sei es um den Lahmen und Frau Jutta hinauszuholen.

Die geschickten Hände der Stickerin mühten sich jetzt an jenen Dingen, um die in scheuer Glückseligkeit ihre Gedanken vor Jahren gekreist, ehe dann Henkershände den kurzen Traum zerschlagen hatten.

Es kam ein Tag – wieder einmal war es österliche Zeit – da trat der Schulmeister rascher als sonst in die Stube und neben die Fleißige.

»Hab ich's nicht gesagt, Jutta, – es ist ein Knabe!«

Sie schaute erglühend auf. »Woher willst du's wissen? Vielleicht ist's doch ein Mägdlein.« –

Aber so bittend ihr Ton war, der Lahme schüttelte den Kopf in ernsthafter Verneinung.

Und schon polterte auch das Jungknechtlein vom Lerchenhof über die Stiege. Jonathan war gewachsen, aber immer noch das bewegliche, behende Bürschlein, das unverdrossen zwischen Oberdingen und dem Lerchenhof hin- und herpendelte.

Unter der Tür schon rief er: »Wendelin muß er heißen, sagt der Herr und die Base.«

So war denn dieser Punkt entschieden und mit einem feuchten Glanz in den Augen, die glücklich zum Schulmeister aufsahen, ergab sich Frau Jutta darein. 299

Auch die alte Merkerin mußte sich wohl oder übel darein ergeben. Lang schon hatte sie prophezeit, es werde nicht der Hoferbe, sondern ein Mägdlein erscheinen, sintemal der Roggen ausgewintert, die Gerste aber allzu mast aufgegangen sei.

Der Enkel verfehlte nicht, die Ahne auf den seherischen Mißgriff aufmerksam zu machen.

Sie blieb gleichmütig. Die Erfahrung sagte ihr, daß sie gegen Jonathan und die Macht der Tatsachen nicht aufkomme.

»Sei du still!« gebot sie, »ich habe doch nicht wissen können, daß ein Papist gesät hat.«

Hellauf lachte der Enkel. »Der Hofbauer sät doch selbst.«

»Dann ist's, weil heuer der Mars – –«

Das Weitere war nicht zu verstehen, weil die Alte aus der Tür ging.

*

Schön war der Sommer. Hoch und weit der Himmel und fast allabendlich mit Glanz und Glut übergossen.

Oben auf dem Riesengrab, wo das Haus für des Schulmeisters Eva hätte entstehen sollen, war aus den angesammelten Steinen wenigstens ein Bänkchen entstanden, breit oder schmal genug für zwei, die gewillt waren, sich eng und still zusammenzuschmiegen.

Nach der Arbeit der langen Tage saß der Hofbauer mit seinem jungen Weib oft dort oben.

Als wolle er Kraft und Frieden in sie hinüberleiten, hatte er die Rechte auf ihre vom Tagwerk müden Hände gelegt. 300

Zu reden hatten die beiden nicht viel. Sie wußten von einer nur ihnen gehörenden Stunde, da sie ihr Innerstes so voreinander aufgetan hatten, daß von da ab eins im andern lesen konnte, wie im eigenen Herzen.

Über die Arbeit des kommenden Tages sprach der Mann vielleicht ein paar Worte. Dann war es, als ob er der Weggenossin eine Strecke weit voranleuchten wolle, damit ihr Fuß sichere Schritte tue.

Wenn Eva das Schweigen brach, war das Thema zumeist der kleine Wendelin.

Dann hingen des Mannes Augen aufleuchtend an dem feingemeißelten Gesicht, dessen blasse Schönheit ihm immer wieder neu und kostbar war.

Daß ihm nun des Schulmeisters Eva gehörte, jenes fremde Mädchen, in dem etwas in ihm schon in der ersten Stunde die Gefährtin gewittert hatte, – das war ihm köstliches Wunder und doch auch letzte Selbstverständlichkeit.

Oft saßen die beiden noch, wenn über dem Wald und den Äckern, über dem uralten Grabhügel und den Dächern des Lerchenhofs längst die Sterne funkelten.

Sie tranken die unendliche Stille in sich hinein, die nur dann und wann ein Eulenschrei, ein Fröschequaken unterbrach, um sie hinterher desto tiefer erscheinen zu lassen.

Es mochte auch sein, daß in dem moorigen Gürtel, der sich vor den Waldsaum legte, einer der Tümpel aufblinkte, wenn Mond- oder Sternenschein das dunkle Wasser traf. 301

Dem Mann fiel dann der breite Goldreif ein, der irgendwo im nassen Grunde ruhte. Er sprach nicht davon. Es genügte ihm, zu wissen, daß er davon hätte sprechen dürfen, ohne der Liebsten schmerzhaft ans Innerste zu greifen.

Endgültig war er zerschmettert, der Krug des Brenda.

Der Spruch aber wehte durch die Sommernacht, wehte um zwei stille Menschen, wehte um den Hügel toter Riesen:

Alles um Liebe.