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Ein Teil dieser Nachrichten, bis dahin, wo die Geschichte der Konsistorialverfolgung anfängt, ist 1763 im persönlichen Umgang mit Rousseau von einem schweizerischen Gelehrten gesammelt und aus einem ungedruckten französischen Aufsatz einer schweizerischen Dame (Mademoiselle Bondeli) gezogen, den mir mein Freund Zimmermann mitgeteilt hat.
Rousseau war von mittlerer Größe, wohl und zierlich gebaut, leicht in seinem Gang, gefällig in seinem Anstand. Er behielt bis zum Anfang des Alters die Stärke und die blühende Farbe der Jugend, ob er gleich sein ganzes Leben hindurch mit schmerzhaften Steinkoliken geplagt war; sein Gesicht verkündigte Empfindung und Redlichkeit, und sein durchdringender Blick war durch eine offene Sanftmut gemildert, die Vertrauen zu seinen Sitten und zu seinem Herzen einflößte. Er war höflich ohne Zwang und in seiner Armut gastfrei; an seinem häuslichen Mahl herrschten Unschuld und Freude, wie in der alten unverdorbenen Welt. Er drückte sich auch im gewöhnlichen Umgang bestimmt und warm über jeden Gegenstand aus; alles floß aus der vollen Quelle; alles war empfunden, selbst gedacht, nicht mit erborgten Blumen geschmückt, nicht mit Gemeinsätzen durchwässert, und seine Wissenschaft und Erfahrung war ganz mit seinem Geiste durchwebt. Er verachtete Schmeichelei und Spott und hielt den literarischen Ruhm für ein so mittelmäßiges Verdienst, daß er den Bauer Kleinjogg im Ernste allen Schriftstellern vorzog. Wenn er auf seine Autorkriege kam, so war er übel mit sich zufrieden. »Ich hätte«, sprach er, »schweigen sollen; denn ich merkte, daß mein Herz bitter wurde und daß ich meine Ruhe verlor. Endlich ließ ich sie ruhig schimpfen und schreiben und befand mich besser dabei. Zufriedenheit ist ein größeres Gut als irgendein Triumph. Zwei Zänker endigen immer damit, daß jeder auf seiner Meinung beharrt; es schmeichelt der Eitelkeit, eine Lanze zu brechen, aber es nicht zu tun ist der Sieg der Vernunft. Die glücklichste Zeit meines Lebens war, als ich nur Bücher zum Zeitvertreib las und von meiner Handarbeit lebte.« Er schätzte den Menschen, den Schriftsteller, den Weisen nur, wenn er einen entschiedenen Charakter besaß, insofern er eigentümlich handelte und dachte; »denn«, sprach er, »nichts gedeiht, als was auf unserm Grunde hervorsproßt; alles Fremde kömmt nur ärmlich fort.« Er konnte darum die Völker nicht leiden, die sich ganz nach einem Muster bilden und einer Herde ähnlich sehen. Er zog ihnen die geringsten Freistaaten vor, wo sich's der Mensch herausnimmt, sich von seinem Nachbar zu unterscheiden. Auch in Kleinigkeiten war er nicht wie andere. Er wollte sich üben, es auch im Großen nicht zu sein; er kleidete sich wie ein Armenier, nicht sowohl aus Hang zur Seltsamkeit, als weil er diese Tracht bequemer als unsere steifen Moden fand. Niemand wußte mehr die Herzen zu gewinnen; die größten Männer schätzten ihn hoch, aber er nannte sie nicht in seinen Schriften. Er rühmte sich ihrer Bekanntschaft nicht; er zog dafür seinen würdigen Landsmann Abauzit aus seiner Dunkelheit hervor, dessen sanfte, durch Wissenschaften aufgeklärte Seele seine ganze Zärtlichkeit besaß. Immer sprach er mit Wohlgefallen von dem würdigen de Luc, diesem herzhaften Verteidiger der Freiheit seines Vaterlandes. »Er kann«, sprach er, »fehlen und irren; aber sein Herz ist rein wie die Unschuld.« Nichts war ihm heiliger als die Freundschaft; und er nannte den großen Bacon selten, ohne mit einem tiefen Seufzer anzumerken, daß er gegen seinen Freund und Wohltäter, den Grafen Essex, geschrieben habe. Er hat fast immer unter Franzosen gelebt, aber er liebte dieses Volk nicht. »Sie ertragen«, sprach er, »jedermann, solange man nicht an ihre Vergnügungen rührt. Ein System über die Gottesleugnung wird eher in Frankreich geduldet als eine Kritik über ihren Gesang. Man hat mich nicht ermorden wollen, weil ich den ›Emile‹ schrieb, sondern weil mir ihre Musik nicht gefiel.«
Ob ihn gleich sein Vaterland auswarf, so war es ihm doch immer teuer. Von allen Zügen der griechischen Tugend hat ihn keiner mehr als Plutarchs patriotische Handlung gerührt, der eine kleine Richterbedienung in seiner Vaterstadt Chäronea dem Amte eines kaiserlichen Statthalters, und zwar unter dem Trajan, vorzog.
Unter den Neuern gibt es wenige Menschen, die er höher als den weisen Fénelon schätzte wegen seiner heitern vernünftigen Tugend im Hofglück und im Leiden. »Ich möchte lieber«, sagte er oft, »so eines Mannes Kammerdiener als der erste Pair von Frankreich sein.«
Rousseau war ein aufrichtiger Gottesverehrer. Ein Atheist könnte nach seiner Meinung zwar einem ehrlichen Mann ähnlich werden, aber auf seine Tugend sei nichts zu rechnen; »und darum ließ ich«, setzte er hinzu, »Wolmarn bei der ersten Versuchung fallen. Freilich ist die Tugend«, fuhr er fort, »ein beständiger Kampf, ein angestrengter, unbehaglicher Zustand, aber dennoch gibt es auf der Erde für den Menschen keine andere Glückseligkeit. Physische Übel haben ihre Zwischenräume, die moralischen nicht; ein Lasterhafter wird unaufhörlich durch peinliche Vorwürfe gemartert. Wir sind im Grunde weder zum Guten noch zum Bösen geneigt. Die Zunge bebt in der Waage bei dem unverleiteten Menschen, aber das kleinste Gewicht reißt sie nieder, und ein unbedeutender Stoß entwickelt mächtige Leidenschaften.« Wenn man seiner erlittenen Verfolgungen erwähnte, so sprach er: »Man versicherte mich, daß wir in einer philosophischen Zeit voll Nachsicht und Verträglichkeit lebten; ich entdeckte bald zu meinem Unglück, daß Grausamkeit und Härte Hauptzüge unsers Jahrhunderts sind und daß die gepriesene Menschenliebe nur ein leichter Firnis der Sitten ist. Wer in einer goldenen Mittelmäßigkeit unbemerkt durch das Leben schleicht, begreift Rousseaus Menschenfeindschaft nicht oder findet sie übertrieben; aber lernt euer brüderliches Geschlecht an Höfen, lernt eure Nebenbuhler im Amt, im Verstand, im Glücke kennen, erhebt euch durch irgendein Verdienst und glaubt in der Unschuld eures Herzens, daß man euch liebt und schätzt, weil man euch umlächelt und umarmt. Wenn endlich unter euch der Boden wegsinkt, durch freundliche Mörder untergraben, dann seht, wie sich eure Freunde retten, als vergiftet ihr die Luft, wie eure Klienten euch für genossene Wohltaten anspein; ertragt der Glücklichen stolzes, niedertretendes, erwürgendes Mitleid, und liebt die Menschen, wenn ihr könnt. Niemand hat mehr Freunde besessen als ich; in der Verfolgung schwiegen sie alle, und ich wäre damals ohne Freund und ohne Verteidiger gestorben. Es kann sein, daß ich mich in meinen Schriften irrte. Ich wollte nicht lehren; ich wollte nur meine Meinung sagen. Aber das ertragen die Menschen nicht; sie glauben, daß man ihre Einsicht beschimpft, wenn man anders denkt als sie, und rächen sich dann durch Haß und Ungerechtigkeit.« Er übte sich in dem körperlichen Schmerz ohne Prahlerei zur Geduld und gestand, daß keine Weisheit das physische Gefühl vernichte. Als er einst ganz niedergebückt unter Steinschmerzen am Feuer saß und halberstickte Seufzer ausstieß, rief einer der Anwesenden: »Ist das nicht die leidende Tugend?« – »Nein«, gab er lächelnd zur Antwort, »es ist die leidende Natur. Schmerzen sind uns immer neu; man kann sich nicht daran gewöhnen. Jener ehrliche Mann wollte auf seinem Totbette unrecht erworbenes Gut wiedergeben, und sein Sohn, der gerne erben mochte, gab sich eine vergebliche Mühe, ihn durch die Versicherung zu beruhigen, daß es nur auf vierzehn Tage ankäme, um des Fegfeuers gewohnt zu werden.« Am grämlichsten ward Rousseau, wenn man ihn um seine Zeit brachte. »Ich werde«, rief er oft, »mich endlich in die Alpen retten. Man schreibt mir lange Briefe zu, denn ich liebe bekanntlich die Weitläufigkeit; man verlangt Empfehlungen an Große von mir, als ob ich zum Hofgesinde gehörte; andere bieten mir Geld an, als wenn ich von Almosen lebte; alle glauben, daß man ihnen ähnlich ist.« Er schildert sich selbst am treffendsten in folgendem Brief an den Herrn von Lamoignon, den er im Jahr 1763 einer Gesellschaft von Freunden vorlas.
»Im achten Jahr wußte ich den Plutarch auswendig; im zwölften hatte ich alle Romane durchlaufen. Daher kamen die Menge fremder Ideen, die sich nicht mit dem wirklichen Leben vertragen; daher die entzündete Einbildungskraft, der Zug nach großen Gegenständen. Weder Menschenfeindschaft noch Verdruß hat mich von den Menschen getrennt, sondern eine gewisse Liebe zur Ruhe, eine unbezwingliche Neigung zur Freiheit. Ich habe darum nur schwache Schritte gewagt, um irgendein Glück in der Welt zu machen, und der Versuch mußte mißlingen, weil ich mich links dabei nahm; so ward ich nach und nach der Gesellschaft und der Menschen überdrüssig. Ich versammelte einen Kreis chimärischer Wesen um mich her; ich schuf mir eine idealische Welt, die nichts mit der wirklichen gemein hatte. Ich erheiterte dadurch meine Einsamkeit; aber alles war noch verwirrt und unentwickelt in meiner Seele, bis ich im Jahr 1750 eine Reise nach Paris unternahm, um Diderot im Gefängnis zu Vincennes zu besuchen. Ich nahm ein Journal zum Zeitvertreib mit und fiel auf die Preisfrage von Dijon, ob die Wissenschaften nützlich oder schädlich seien. Da stellten sich mir auf einmal die mannigfaltigen Übel des gesellschaftlichen Lebens so fürchterlich und eindringlich dar, daß ich unter meiner Empfindung erlag. Ich warf mich neben einem Baum nieder, alles Elend der Menschen zog in schrecklichen Gestalten vorüber; hundert Anschläge und Entwürfe folgten, und das war mein Beruf zur Autorschaft; meine Hantierung als Notenabschreiber hat solchen nicht veranlassen können. Ich war nicht geübt, in der Gesellschaft zu reden. Ich verstand es nicht, durch Witz und Einfälle zu glänzen; und so stellte sich im Anfang der Ausdruck langsam dar. Es wäre mir unmöglich gewesen, einen Plan zum literarischen Ruhm vorsätzlich zu entwerfen; es war Drang, Nicht Drang und Sturm, das ist eine Kinderkrankheit. S. Rosenstein von Würmern. meine Ideen loszuwerden, der mich zum Schreiben nötigte; und wenn ich mit einiger Stärke schrieb, so war ich sie der Überzeugung von der Wahrheit meiner Sätze schuldig. In der Zerstreuung von Paris, im Zwang und Geräusche der großen Welt, wo mich manches zum Unwillen reizte, schlich sich Bitterkeit in meine Schriften; aber in Montmorency war ich frei und ganz mir selbst überlassen. Meine Seele war heiter, wie die Luft, die mich umgab, und breitete sich auf meinen einsamen Spaziergängen über die ganze Schöpfung aus. Ich verlor mich in Betrachtungen über die Welt; ich erhob mich bis zum höchsten Wesen; ich wurde von seiner Erhabenheit, von seiner Allgegenwart durchdrungen; ich empfand die ganze Wollust der Menschheit im Gefühl der Liebe gegen meine Brüder, im Genuß der unermeßlichen Natur; ich redete zum Menschen, zum Bürger, zu den Fürsten, zu den Priestern; ich sprach zu den Vätern, zu den Kindern; ich sprach zu meinen Landsleuten, zum Rat von Genf in der Zueignungsschrift meines Buches über die Ungleichheit der Stände, zum Volk in der Schrift über die Schauspiele: alle nahmen meine Freiheit übel, und das Ungewitter zog sich auf, bis es endlich zu gleicher Zeit in Paris und Genf auf mich stürmte. Ich kann dem Parlamente vergeben, weil man es hintergangen hat; aber der Rat von Genf wollte mich zum Fußschemel brauchen, um sich auf den Thron der unumschränkten Gewalt zu erheben.« Er unterbrach sich hier im Lesen und rief mit Heftigkeit: »Ich werde frei sterben, meine Freunde, und lieber in einem katholischen als in einem protestantischen Lande; denn die katholischen Geistlichen lehren die Intoleranz, und die protestantischen üben sie aus.« Er fuhr zu lesen fort.
»Was mich immer in meinem Leben am stärksten rührte, war Gewalt und Ungerechtigkeit. Wenn ich aus meinem Fenster sah, wie man die Unschuld kränkte, den Schwachen und den Armen quälte, war ich oft so aufgebracht, daß ich's kaum über mich gewinnen konnte, nicht hinzulaufen, zuzuschlagen und dem Unterdrückten beizustehn. Daher rührt mein unüberwindlicher Haß gegen alle Große und gegen den hohen Rang überhaupt, weil der Geist der Unterdrückung von diesem Stand nicht zu trennen ist. Außer wenn ihn der Geist des Wohltuns überwältigt. Dies ist eine von Rousseaus einseitigen Meinungen, welche, zum Glück der Erde, nur halb wahr sind. Ein gewisser Stolz, der mich immer trieb, den Menschen in dem Menschen aufzusuchen, machte, daß ich es nie lernen konnte, den Gedanken der Abhängigkeit zu ertragen. Der Herzog von Luxembourg und seine Gemahlin haben mich mit Freundschaft überhäuft; aber ich mußte mich zwingen, ihren Rang zu vergessen, sie nur als gute Menschen anzusehn, und endlich war es doch ihr Stand, der mich bewog, eine Wohnung in ihrem Hause auszuschlagen; denn ich merkte, daß mir jede Kette, auch die des Wohlstands und der Sitten, im Umgang mit Höhern unerträglich war. Ich habe darum den Genuß der Freiheit allem vorgezogen, und ich habe dieses Glück geschmeckt; denn ich riß mich von allen Verbindungen, von allen Fesseln der Gesellschaft los, und glücklicher war kein Sterblicher als ich in Montmorency, wenn ich, nach einem im Gefühl der Unschuld verflossenen Tag und einig mit der ganzen Schöpfung, des Abends mit meiner Haushälterin, meinem Hund und meiner Katze speisete.«
Als er den Brief gelesen hatte, sprach er lächelnd: »Ich rede selbstgefällig von mir, und das ziemt niemanden als Montaignen.« Und einem einzigen großen Mann, der, vielleicht um den Neid zu versöhnen, sich dadurch wieder zu den Sterblichen herabläßt. Man erwähnte des Unterschieds zwischen dem Weisen und dem Gelehrten. »Der erste«, sagte Rousseau, »ist nicht allein von dem wichtigsten Interesse der Menschheit unterrichtet, sondern auch entschlossen, nach seiner Einsicht zu handeln; und darin stehen die Neuern zurück. Die großen Leute unter den Alten führten aus, was sie lehrten; wir verstehen nur, darüber zu schwatzen.« Es wurde im Verfolg der Unterredung der widersprechenden Lehrgebäude in jeder Wissenschaft gedacht; hiebei merkte Rousseau an, daß ein aufrichtiger Wahrheitsforscher von Tatsachen und nie von einer Spekulation ausgehen müsse.
»Bacon«, fuhr er fort, »fand darum nur so viel zu erfinden und zu denken, weil er Erscheinungen miteinander verglich, und er würde noch in unserm Jahrhundert ein außerordentlicher Mann gewesen sein. Montesquieu hat sein vortreffliches Werk auf eigene Beobachtungen gegründet; aber da er in der großen Welt lebte und äußerst zerstreut war, so schrieb er nur stoßweise und vernachlässigte die Übergänge.«
Man bemerkte bei der Gelegenheit, daß im »Contrat social« eine herrliche Verbindung herrsche. »Das finden die Juristen nicht«, antwortete Rousseau. »Ihnen kömmt die Schrift verwirrt und dunkel vor; denn sie gehen lieber von ihrem Text als von der menschlichen Natur aus, und es ist wirklich schwer, einen moralischen Grundsatz aufzufinden, der nicht durch die Begriffe aus der gebildeten Gesellschaft verunstaltet ist. Wir fangen kaum an zu empfinden und zu denken, so sind wir schon fern von der Natur; darum muß der innere Menschensinn, auch nur in der einfachsten Beziehung, immer ungewiß und zweideutig sein.« Zu einer andern Zeit erzählte er, wie er zu arbeiten pflege: »Ich überdenke«, sprach er, »lange meinen Gegenstand, bis ich vertraut mit ihm werde, bis er mich an sich fesselt, mich entzündet. In meinen Spaziergängen werf ich dann meine Einfälle aufs Papier; nach einiger Zeit überseh ich alles, wähle, verwerfe und setze zusammen. Ich fange mit der Materie an und endige mit dem Plan. Ich begreife nicht, wie man es wagt, ein Buch ohne Stoff und Ideen zu schreiben, wie man seiner Sache gewiß ist, wenn man nur erst die Fächer geordnet, die Zellen gebaut hat, in die man dann ein wenig geraubten Honig trägt. Stoff und Begriffe sammelt man nur in einer sehr mannigfaltigen Welt. Ich habe mit Hofleuten, mit Leuten von Stande, mit schönen Geistern, mit Bürgern und Bauern gelebt. Ich begehrte nichts, ich wünschte nichts; man ertrug mich und verstellte sich nicht. Ich konnte also beobachten; aber ich hätte nicht vermutet, daß man diese Neugierde so übelnehmen würde. In der ›Heloise‹ habe ich dem Weltmenschen und dem Heiligen gepredigt, daß sie sich einander ertragen möchten, und beide fielen über mich her.« Man lenkte das Gespräch auf seinen »Emile«. »Er enthält«, sprach er, »den Plan einer negativen Erziehung für einen abgesonderten Menschen. Für einen Mann zu bürgerlichen Geschäften würden zwar die Grundsätze einerlei, aber die Anwendung müßte verschieden sein. In einer Nationalerziehung müßte man alle Hülfsmittel zum Guten benützen, die man in den Sitten und in der Verfassung einer jeden Gesellschaft findet, und die Liebe zum Ruhm nicht ausschließen. Man glaubt«, fuhr er fort, »an eine natürliche Ungleichheit der Menschen; aber wir sind nach unserm Geistesvermögen einander ähnlich genug; alles hängt von den äußern Umständen ab, welche dieses Vermögen entwickeln. Die Wilden sind darum am Körper und am Geiste gleich; da waltet die ungestörte Natur. In unsern Staaten teilt man die Menschen in Klassen, wie Geschöpfe von verschiedener Gattung, und richtet jede mühsam ab, nach hergebrachten Vorurteilen; endlich wird man die künstliche Trennung gewahr, man will alsdann wieder vereinigen, durch Nachahmung, Wohlstand, Höflichkeit und Formalität, aber das ist ein erzwungenes Band. In der Republik des Platon vereinigte die Tugend alles, Und blieb darum ein Traum. und nur das Laster zerriß. Es war ein herrlicher Einfall, daß er seine Menschen durch Musik und durch Gymnastik erzog; dadurch gab er ihnen Trotz und Kraft und stimmte sie wieder harmonisch zu sanften Gefühlen.«
Über die Musik sind Rousseaus Grundsätze bekannt. Unter den größten Komponisten verdient ihm Hasse einen erhabenen Rang; Händel ist der Lully der Deutschen; Rameau hat, den Generalbaß ausgenommen, sein ganzes System auf Sophismen gebaut, und die Franzosen werden nie in dieser Kunst etwas ausrichten. Indem er von Sophismen sprach, merkte er an, daß die metaphysischen Abstraktionen nur glänzende Chimären sind. Helvétius sagt richtig, sie schöpfen aus dem Brunnen der Wahrheit, mit dem Gefäß der Danaiden. Er führte zum Beispiel den Begriff vom Schönen und Gerechten des Platons an. Er kam auf das Glaubensbekenntnis des Vikars von Savoyen. »Wenn ich auch«, sprach er, »die Wahrheit verfehlte, so hat mich doch diese Lehre getröstet, und ich kann sie durchaus nicht entbehren. Man muß sich entweder für einen Manichäer erklären oder über das Rätsel der Freiheit die Augen zumachen.« Über die Religion sind folgende Ideen aus seinem Munde gesammelt: »Paulus zuerst und nachher Augustinus haben sich von der erhabenen Lehre ihres Meisters entfernt. Die Gleichnisse Christi und die Sprüchwörter Salomons sind vortreffliche Stücke der Schrift; aber der Verfasser des Hohenliedes würde sich wundern, wenn er wüßte, wie mystisch man ihn ausgelegt hat. Man könnte auf die nämliche Weise die Idyllen des Theokrits erklären. Der Grund, warum Predigten wenig fruchten, ist, weil weder ihr Ton noch ihre Sprache dem Begriff und der Bedürfnis der verschiedenen Stände angemessen sind. Die Jesuiten kannten das menschliche Herz besser und stifteten geistliche Kongregationen für alleverschiedene Klassen im Staat. Man will auf der Kanzel entweder überzeugen oder rühren. Massillon und Bourdaloue waren für die erste Methode; ihnen gelang es, den Verstand durch ihre Schlüsse zu überwältigen. Heutigestages ist zu Paris Fléchier das Predigerideal. Man will überreden, gefallen; es sind akademische Diskurse, voll edlen Ausdrucks und fein gesponnenen Witzes, der für den Haufen verlorengeht.«
Wenn Rousseau von der Geschichte sprach, so hat er oft wiederholt, daß nur die Geschichte der Freistaaten erzählt zu werden verdiene; »denn in einer Monarchie hängt immer eine Reihe großer Begebenheiten an einer Leidenschaft oder zufälligen Richtung des unbestimmten Charakters des Fürsten. Die Geschichte von Frankreich liefert uns nur Karl den Fünften, Franz den Ersten und Heinrich den Vierten von eigentümlichem Geist. Ludwig der Vierzehnte verdient die Vergötterung seiner Schmeichler nicht; aber er war ein Kenner großer Leute. Plutarch hat darum so herrliche Biographien geschrieben, weil er keine halbgroße Menschen wählte, wie es in ruhigen Staaten Tausende gibt, sondern große Tugendhafte und erhabene Verbrecher. In der neuen Geschichte gab es einen Mann, der seinen Pinsel verdient, und das ist der Graf von Fiesco, der eigentlich dazu erzogen wurde, um sein Vaterland von der Herrschaft der Doria zu befreien. Man zeigte ihm immer den Prinzen auf dem Throne von Genua; in seiner Seele war kein anderer Gedanke als der, den Usurpator zu stürzen. Tyrannen, die im Blutvergießen, im Menschenquälen Wollust finden, sind Traumgeschöpfe der Dichter. Selbst Könige ziehen die Natur nicht aus, so sehr sie auch ihre Macht berauscht und ihre Schmeichler verderben. Als Octavius unumschränkt regierte und keine Nebenbuhler mehr scheute, ward er gelind und gütig. Die Grausamkeit seiner Nachfolger war zum Teil eine Folge der Gärung der republikanischen Partei. So wie ihre Furcht dafür nachließ, ließ auch ihre Härte nach.« Rousseau urteilte mit gleichem Scharfsinn über die Philosophen aller Zeiten: »Die Characteristics des Shaftesbury sind ein prächtiges Gebäude ohne Grund, und Bolingbroke war ein witziger Sophist, aber er überredet niemand.« Er bewunderte die Betrachtungen des Antonius, nicht sowohl ihres innern Wertes wegen, weil sie wenig Neugedachtes enthalten, sondern weil ein Kaiser die reine Moral von seinem Throne lehrte. »Die Stoiker verdienen Ehrfurcht; ihr Ziel war die höchste Vollkommenheit. Sie gaben sich nicht, wie man irrig glaubt, für unumschränkte Beherrscher ihrer Empfindungen aus; sondern diese Kraft war in ihrem Ideal, das sie zu erreichen strebten. Je größer unsere Muster sind, je mehr erhebt sich unsere Tugend.
Richardson nimmt uns für seine Personen, als wären es unsere Blutsfreunde, ein; aber einige seiner Charaktere sind überladen und geziert. Grandison ist ihm durchaus mißlungen, weil er in einer Person den Weltgefälligen, Liebenswürdigen und den Biedermann vereinigen wollte. Es kann sein, daß zuweilen so eine Mischung der Natur gerät; aber wegen ihrer äußersten Seltenheit kann sie im Kunstwerk weder Interesse noch Täuschung wirken. Wenige haben Geßnern an edler Einfalt und Wahrheit des moralischen Gefühls übertroffen. Corneille hat in manchen Stücken die Seelengröße der Römer erreicht; die Neuern bleiben weit unter ihm. Sie empfinden nichts; sie sind nur große Maler erkünstelter Empfindungen; und Voltaire führt diese Gattung an, er, der immer von der Toleranz sprach und sie niemals ausgeübt hat.« Rousseau hielt alle Akademien für eine unnütze Erfindung unserer Zeit. »Sobald«, sprach er, »irgendein Gedanke einer allgemeinen Reform in einem französischen Kopfe keimt, so entsteht der Plan einer Akademie. Gesetze, Ackerbau und Handel, alles soll in diesen Schulen gelehrt werden, und nicht durch Männer vom Handwerk, sondern durch betitelte Dilettanti. Aber die Büchergelehrten haben noch nie eine richtige Theorie erfunden; noch weniger sind ihnen die Schwierigkeiten und Vorteile der Ausübung bekannt; und sobald eine Akademie daraus wird, so verliert sich endlich der Gegenstand im eitlen Gepränge der Formalität und im Geschwätze der Mitglieder. Jeder geschäftige Stand unter den Menschen sollte seine Lehrer und Gesetzgeber aus seiner eigenen Klasse nehmen. Eine vernünftige Mutter wird treffender als Locke und Fenelon von der Erziehung reden. Freilich erhebt sie' sich nicht zum Allgemeinen; sie entwirft keinen vollständigen Plan: aber in einzelen Fällen sind ihre Lehren vortrefflich.« Man wird in diesen Urteilen die scharfe Richtigkeit seiner Begriffe und den angemessenen Ausdruck erkennen. Keine Betrachtung hielt ihn jemals vom aufrichtigen Geständnis seiner Meinung zurück; er hing an keinem Systemen keiner Partei noch Sekte; er ging gerade auf seinen Endzweck los und ergriff die Wahrheit, wo er sie fand oder zu finden glaubte, mit einer Art von Leidenschaft. Er setzte alles in Handlung und wollte, daß sich jeder frage, nicht, was hast du gelehrt, sondern, was hast du getan und ist dir eine gute Tat gelungen? Was ist dir noch übrig zu tun? Er wiederholte oft den Spruch des Alten: Wenn du so viel Jahre verschwendest, um Weisheit zu lernen, wieviel Zeit bleibt dir denn zur Ausübung noch? »Ich möchte«, sprach er, »ein Mitglied einer Akademie sein; wo jeder getreulich aufschriebe, was er Gutes und Böses täte.« Man behauptete, daß es schwer sei, eigene Fehler zu erkennen. Aber Rousseau war nicht dieser Meinung; »denn sie drängen sich«, sprach er, »täglich um uns und werden uns wie unser Hausgesinde bekannt.« Einer seiner Freunde war auf einem Spaziergang gefallen und wandte sich um, den Ort zu besehen, wo der Fall geschehen war. »Ist das nicht der Mensch?« rief Rousseau. »Erst begehen wir den Fehler, und dann überlegen wir bedächtlich, wie es zugegangen sei. Wir fragen uns dann, wie es möglich ist, daß wir, daß so vernünftige Männer an dieser Stelle straucheln konnten.« Als zu einer andern Zeit von der Bosheit und dem moralischen Übel in der Welt gesprochen wurde, antwortete er: »Das Gleichgewicht erhält sich darum doch; denn was zehntausend Bösewichter verwüsten, können zehn gute Menschen wieder herstellen. Nichts verherrlicht den Weltregierer mehr, als daß der Mißbrauch unserer Freiheit den Wohlstand und den Zusammenklang im allgemeinen so wenig stört.« Bis hieher gehen die Nachrichten aus dem Manuskripte meines Freundes. Der übrige historische Teil ist aus Erzählungen, Briefen und zuverlässigen Memoiren genommen.
Rousseau war nach Motiers Travers geflüchtet, weil in Paris der Fanatismus den Stab über ihn brach. Sein »Emile« ward durch die Sorbonne zensiert, durch den Henker zerrissen und verbrannt und durch Hirtenbriefe verflucht. Man spielte das ganze Possenspiel durch, welches in jedem Lande ein Buch berühmt und seinen Verfasser unglücklich macht. Rousseau war mit Gefängnis und Strafen bedroht und wollte sich anfangs nicht retten; seine Freunde bewegten ihn mühsam dazu. Er sprach: »Ich werde ruhiger in der Bastille als unter den Menschen leben.« In der nämlichen Zeit wütete man auch in Genf gegen ihn, und der Senat beschloß, ihn einziehen zu lassen. »Ich«, sprach er, »ein Bürger einer Republik, schrieb, in einem Freistaat, gegen die monarchische Verfassung und die Fabeln des Papsttums, und das Pariser Parlament verurteilte mich, als ob es über alle Menschen und alle Meinungen herrschte. Ein Erzbischof stieg auf seinen Thron und schleuderte seinen Bann auf einen Ketzer herab, der an seine Flüche nicht glaubt. In Genf, wo man weder Eigengewalt noch Papsttum duldet, ahmte man das Parlament und den Erzbischof nach; man verfuhr wie in einer despotischen Regierung, um einen freien Bürger zu unterdrücken.« Er entsagte darum seinem Vaterlande und gab in folgendem Brief an den ersten Syndikus sein Bürgerrecht auf.
»Endlich habe ich mich von meinem Erstaunen über das Verfahren des Rats erholt, und ich fasse den Entschluß, den mir Vernunft und Ehre gebieten, ob er gleich mein Herz empfindlich kränkt. Erklären Sie dem Rat in meinem Namen, daß ich auf ewig meinem Bürgerrecht in der Stadt und dem Gebiet von Genf entsage. Ich glaube, nach meinen Kräften meine Bürgerpflichten erfüllt zu haben. Ich habe nie dafür einigen Vorteil genossen; also bin ich in keinem Rückstand gegen den Staat. Ich habe getrachtet, dem Namen eines Genfers Ehre zu machen. Ich habe meine Landsleute zärtlich geliebt, und ich wünschte von ihnen geliebt zu werden; aber keine Absicht ist mir übler gelungen. Auch ihrem Hasse will ich mich fügen. Das letzte Opfer in meinem Vermögen ist das Opfer eines Namens, der mir teuer war. Dennoch, mein Herr, mein Vaterland kann mir zwar fremd werden, aber es wird mir niemals gleichgültig sein. Ich bleibe mit ihm durch die zärtlichste Erinnerung verbunden, und ich vergesse nichts als seine Beleidigungen. Möge seine Wohlfahrt ferner gedeihn, möge es einen Überfluß an bessern Bürgern, und die glücklicher sind als ich, besitzen!«
Rousseau fand in dem einsamen Dorfe den Frieden nicht, den er suchte. Weder die Macht des Philosophen auf dem Thron noch die Freundschaft seines Statthalters Des würdigen Lord Marschalls. konnten ihn gegen Priestereifer schützen. Weil die Geschichte dieser Verfolgung merkwürdig ist, so will ich sie umständlich erzählen.
Als Rousseau daselbst ankam, drängte sich der Pastor nbsp;M... mit einer sanften Freundlichkeit an ihn. Er nahm, wie es schien, mit Rührung an seinem Schicksale teil; er beklagte den redlichen, leidenden Mann und wollte nicht mit dem Irrenden streiten; ja auf die allgemeine Erklärung, daß er sich zur reformierten Kirche bekenne, ließ er ihn zum Abendmahle zu; er versicherte laut, daß dieser Schritt seiner Gemeinde zur Ehre gereiche und die Gläubigen erbauen würde.
Rousseau freute sich des liebreichen Priesters. Er hatte nirgends so viel gutmütiges Wohlwollen erfahren; er war in der Kirche oft bis zu Tränen bewegt und glaubte, daß der echte Geist der christlichen Liebe auf dieser Gemeinde ruhe. Das bekannte Schreiben an den Erzbischof Beaumont erschien, ohne daß der Pastor nbsp;M... dadurch geärgert wurde; auch die »Briefe vom Berge« wurden bekannt; sie gefielen dem guten Seelenhirten. Er nahm mit Dank ein Exemplar davon an und las es mit Vergnügen durch; noch konnte Rousseau in seinem Betragen nicht die geringste Änderung merken. Nach und nach wurde freilich ihr Umgang seltener; aber nicht, weil der Pastor den Freigeist verabscheute, sondern weil unter Leuten, die wenig Kenntnisse miteinander gemein haben, endlich das Interesse der Unterhaltung abnimmt. M... verlangte Vertraulichkeit; er fragte vorwitzig nach den Geheimnissen Rousseaus, nach dem Inhalt aller seiner Briefe; er wollte sein ganzes Hauswesen führen. Dieses Einstürmen lenkte Rousseau mit einer kalten Höflichkeit ab. Zu der Zeit und als der Groll schon gärte, tat sich eine Gesellschaft zusammen, um Rousseaus Werke zu verlegen. Hierbei war eine gute Ausbeute zu hoffen; der orthodoxe M... wollte Teilnehmer sein, und Rousseau schlug es bloß darum ab, weil die Gesellschaft schon vollzählig war. Nun wurde sein Verderben beschlossen. Allgemach ward auf dem Predigtstuhl die Freigeisterei des Jahrhunderts, geschildert, über die Gefahr der Gläubigen geseufzt, Gottes Zorn den Frevlern angekündigt und der Abscheu rege gemacht, der jedes Frommen Pflicht ist. Unter dem erschlichenen Schutz der Macht, hieß es, dürfen sich die Gottlosen brüsten. Alles dies wurde bald im Trompetenklang und bald im Flötenton vorgetragen, damit es alle Gattungen rührte. Endlich erscholl die Hirtenstimme lauter und warnte vor dem Verworfenen, der unter Christi Herde herumschlich; es wurde eines brandigen Gliedes gedacht, das abgerissen werden müsse. Hierauf nahm der Priester die Maske ab und forderte Rousseau vor das Konsistorium seines Dorfs. In den französischen Gemeinden hat solches einige Aufsicht über die Sitten der Glieder. Es bestand in Motiers Travers aus dem Priester, seinem Diakonus und einigen Ältesten, zum Teil Handwerksgenossen, wie denn der Vertraute des Pastoren ein handfester Hufschmied war. Vor diesem ehrbaren Synodus sollte der Philosoph sich stellen, sollte wie ein Knabe verhört und (man hat es nicht geleugnet) öffentlich aus dem Schoß der Kirche geworfen werden. Rousseau war durch langes Leiden ermüdet. Er wollte lieber dem Sturm entfliehn und schrieb darüber einem seiner Freunde am 23. nbsp;März 1765: »Meine Partei ist unwiderruflich genommen; ich verlasse diesen Ort. Wer sich meiner mit Liebe erinnert, wird es nicht mißbilligen, daß ich ein Land des Friedens suche, um meine Gebeine niederzulegen. Wäre mir noch Kraft und Gesundheit übrig, so fehlt es mir am Mute nicht fürs allgemeine Beste, auch dieser Verfolgung die Stirne zu bieten; aber ich bin durch Krankheit, durch Unglück ohne Beispiel gebeugt, und ich kann keine Rolle mehr spielen. Man lasse mich irgendwo in Ruhe sterben. Dieser feste Entschluß wird, wie ich hoffe, alle fernere Anfälle hindern. Ich kann so geschwinde nicht reisen, ich muß meine Sachen in Ordnung bringen; bis dahin wird man mir doch nicht ärger begegnen als einem Türken, Juden oder Heiden, dem man auf wenige Wochen in jedem Land einen freien Aufenthalt erlaubt. Wollen aber die Herren durchaus ihr Konsistorium versammeln, so will ich versuchen, ob ich hinkriechen kann. Sie werden nach meiner Erklärung finden, daß es dieses Aufhebens nicht bedurfte; auch mögen sie ihren Bann aussprechen, wenn sie das so sehr belustigt.« Aber das war die Rechnung des Priesters nicht; er weidete sich schon an der Wollust, seinen Fuß auf den Kopf eines Philosophen zu setzen, und darum war es getan, wenn er ihm entwischen konnte. Er ließ ihn daher schon den Tag nach diesem Brief durch zwei Abgeordnete feierlich vorfordern. Rousseau gehorchte nicht, sondern entschuldigte sich durch folgenden Brief: »Auf Ihre Ladung, meine Herren, war ich willens, heute zu erscheinen, obgleich meine Gesundheit elend ist; aber ich finde, es wird mir unmöglich fallen, eine lange Sitzung auszuhalten, um über Glaubenssachen Red und Antwort zu geben, welches die Absicht Ihres Ansinnens ist. Ich werde mich darum schriftlich erklären, und ich hoffe, Ihr Eifer wird sich so weit mit der christlichen Liebe vereinigen lassen, um damit zufrieden zu sein, weil ich ohnehin mündlich nichts weiter hinzusetzen kann. Wenn Ihre Strenge gegen mich kein positives Gesetz vor sich hat (und man versichert mir das Gegenteil), so ist sie wahrlich neu, unerhört und dem Geiste des Evangeliums zuwider; denn, überlegen Sie, meine Herren, ich lebe schon lang in dem Schoß unserer Kirche; ich bin weder Priester noch Professor; ich gebe mich mit keinem Unterricht ab; ich bin also nur ein Privatmann und keinem Verhör über meinen Glauben unterworfen. Eine solche Inquisition würde den Grund der Reformation untergraben, die evangelische Freiheit und die christliche Liebe beleidigen, das Ansehen der Obrigkeit und die Gerechtsame der Untertanen kränken, man mag sie als Glieder der Kirche oder Bürger des Staats ansehn. Ich bin schuldig, meine Handlungen gegen Gesetze und Menschen zu verteidigen, aber meine Meinungen nicht. Wir erkennen in unserer Religion keine unfehlbare Kirche, keine, die ein Recht hätte, ihren Gliedern vorzuschreiben, was sie glauben sollen; darum bin ich, als Mitglied derselben, nur Gott allein Rechenschaft von meinem Glauben schuldig. Als ich vor drei Jahren aufgenommen ward, war der Herr nbsp;M... mit meiner Erklärung zufrieden; er forderte keine Erläuterung über das Dogma und versprach, sie nie zu begehren; ich halte mich an sein Wort. Wenn man damals mit mir zufrieden war, nachdem ich ein Buch geschrieben hatte, welches das Christentum heftig anzugreifen schien, so war es ein seltsamer Widersinn, mich jetzo wegen eines Buches zu verstoßen, worin ich freilich irren kann, weil ich ein Mensch bin, aber worin ich doch als ein Christ irre, weil ich mich, Schritt vor Schritt, aufs Evangelium berufe. Damals konnte man mich zurückweisen; jetzo sollte man mich wieder aufnehmen. Wenn Sie anders verfahren, meine Herren, so denken Sie an Ihr Gewissen; das meinige wird ruhig sein. Ich bin Ihnen gebührende Achtung schuldig; aber ich wünsche, daß man den Schutz nicht vergesse, womit mich der König beehrt, damit ich nicht genötiget werde, die Landesregierung um Hülfe anzurufen.« Der Priester wurde durch diesen Brief weder bestürzt noch gerührt; er wollte zufahren und verdammen; und weil er mit den Stimmen nicht reichte, so behauptete er, daß ihm zwei Zwei Stimmen, um zu verdammen? Als Alkibiades auf die Anklage des Thessalus als ein Entheiliger der Mysterien verurteilt wurde, willigte die Priesterin Theano nicht in diesen Schluß; »denn«, sprach sie, »mein Beruf ist zu segnen, nicht zu fluchen«. (Plutarch im »Alkibiades«) gebührten. Aber auf den schlichten Menschenverstand der zünftigen Beisitzer wirkte der Brief; sie fürchteten eine höhere Gewalt und fragten daher bei dem Staatsrat vor, ob sie berechtigt seien, ein Glied der Gemeinde über seinen Glauben zu befragen. Zumal (setzten sie treuherzig hinzu), da sie von der Theologie nichts verstünden. Ferner, ob im Konsistorium ihr Geistlicher zwei Stimmen habe. Beide Fragen wurden durch ein erleuchtetes Nein entschieden, dem Oberbeamten in Val Travers zugeschrieben, daß Rousseau unter dem unmittelbaren Schutz des Königs stehe, daß er nicht erscheinen solle und daß man das Konsistorium in seine Schranken zurückweisen müsse. Ja, der König selbst bezeigte in einem eigenen Reskript über diesen Vorfall seinen Verdruß und befahl, daß Rousseau durchaus in Ruhe gelassen werden solle. Der unruhige Priester kam aus Achtung für seine verdiente Verwandten mit einem herben Verweise davon. Aber er konnte sich dabei nicht beruhigen. Erst unternahm er, sein Verfahren schriftlich zu verteidigen, und hat, wie Rousseau sich ausdrückt, seine Feder in vergifteten Honig getaucht. Rousseau wandelte, wie er versichert, eine hypochondrische Furcht an; man hatte nicht die Absicht, ihn zu beschimpfen; man wollte sich brüderlich mit ihm besprechen; es sei die Pflicht eines treuen Predigers, einer gegebenen Ärgernis zu steuern; die »Briefe vom Berge« enthielten giftige Einwürfe gegen das Christentum; Rousseau habe versprochen, nie wieder zu schreiben; wenn ein alter Untertan, setzt er boshaft hinzu, Verfasser eines solchen Buches wäre, würde man nicht gegen ihn wüten? Warum verlangt denn der Fremdling Rousseau mehr Achtung und Rechte als die eingebornen Bürger des Staats? Rousseau wirft ihm in seiner Antwort sanftmütig vor, daß er gleichwohl gern an dem Verlag aller seiner Werke, also auch dieser schrecklichen Briefe, teilgenommen hätte und daß man den Giftmischer dulden müsse, wenn man mit dem Gifte handeln wolle; die andern Beschuldigungen weist er heftiger ab. »Als ich«, sagt er, »die ›Briefe vom Berge‹ schrieb, erfüllte ich eine der heiligsten Pflichten; meine Ehre war empfindlich gekränkt, und der Freiheit meiner Mitbürger drohte Gefahr. Ich erinnere mich des Versprechens nicht, das mir der Pastor nbsp;M... vorrückt. Es kann sein, daß ich, des Autorelends müde, bei meiner Ankunft beteuerte, nie wieder schreiben zu wollen; aber darum hab ich nicht versprochen stille zu halten, wenn man mich erwürgt. Meine Briefe sind eine Schutzschrift in einem Prozeß, wo es auf meine Ehre und das Wohl meiner Landsleute ankam.
Warum ärgerte sich denn M... nicht, als mein Brief an den Erzbischof Beaumont erschien? Ich habe darin die Geheimnisse und Wunder nicht glimpflicher als in den ›Briefen‹ behandelt. Darf die Tugend der Duldung sich widersprechen und den nämlichen Fehler in verschiedenen Zeiten einmal vergeben und das andere Mal strafen? Außerdem war es meine Absicht nicht, in den ›Briefen‹ das Christentum anzugreifen; ich wollte vielmehr in solchen beweisen, daß es auch mein Vorsatz nicht im ›Emile‹ gewesen sei. Es kann sein, daß der Beweis übel geführt ist und daß meine ganze Schrift aus einem Gewebe von Irrtümern besteht; nur erinnere man sich, der ›Emile‹ war vergeben; und wenn ein Verbrechen verziehen ist, so wird man darum nicht gestraft, weil man's hinterher übel entschuldigt. Aber ich habe Ärgernis gegeben? Diese Herren verfahren scharfsinnig genug: erst setzen sie ihre Kompetenz über die Ärgernisse fest; dann verstehen sie's, ein Ärgernis nach Belieben aufzufinden; hierauf werden sie Richter, entscheiden und strafen. Auf diese Weise könnten sie sich Gesetze, Länder und Fürsten unterwerfen. Das erinnert an die Geschichte des Wundarztes, dessen Bude zwei Ausgänge auf zwei verschiedene Straßen hatte; aus der einen schlich er sich des Nachts, um die Vorübergehenden wund zu prügeln, aus der andern, um sie zu verbinden; und dennoch heilte der Wundarzt noch, anstatt daß diese Herren ihren Patienten lieber den Garaus machten.«
Der Priester war gedemütigt, aber noch nicht entwaffnet. Der Pöbel war in seiner Hand, der nichts von Rousseaus Buch begriff, vielleicht nie sein Dasein erfahren hatte, und er sollte nun die Sache der Religion an dem Verfasser rächen.
Erst wurden in heimlichen Zusammenkünften die Vertrauten gestimmt, die Schwachen gestärkt und die Eiferer entzündet. Rousseau ward als ein Gottesleugner geschildert; auf der Kanzel kam die Betrachtung vor, daß, eines einzigen Verbrechers wegen, oft ein ganzes Volk vernichtet worden sei. Nun war das Zeichen zum Aufruhr gegeben. Wo Rousseau ging, da folgten ihm ein Haufen Weiber und Kinder und riefen ihm Flüche und Scheltworte nach. Am 1. nbsp;September 1765, nachdem sich die Gemeinde erst zu der verdienstlichen Tat durch das Abendmahl geheiligt hatte, warf man dem Philosophen die Fenster ein. Diese Anfälle wurden in den folgenden Nächten wiederholt; endlich in der Nacht vom 7. nbsp;September ward sein Haus wie die Höhle eines Räubers bestürmt, eine Tür aufgebrochen, die andere zerschmettert; alle Wände wurden durchlöchert; ein schwerer Stein fiel nahe vor Rousseaus Bette nieder; es fehlte nicht viel, so hätte man ihn aus Eifer für den Gott der Liebe ermordet. Nun war es Zeit zu entfliehn. Man kann unter Schwärmern und Toren wohnen und ihre Verblendung bedauern, aber unter keinem rasenden Haufen, der aus Christenpflicht nach Blute dürstet. Ich erzähle aus öffentlich gedruckten Memoiren. Ich verehre den geistlichen Stand und habe würdige Freunde darin. Bosheit entehrt den Zunftgenossen, aber niemals die Zunft. Rousseau rettete sich in den Kanton Bern. Daselbst wollte man ihn auch nicht dulden und schützte den Bund mit Genf vor. Rousseau erbot sich umsonst, in einem Gefängnis zu leben; er mußte in der rauhen Jahreszeit fort und ging nach Frankreich zurück. Er floh aus dem Lande der Freiheit, und ein despotischer Staat nahm ihn auf.
Die Franzosen zürnen nicht lange. Der Hirtenbrief und Rousseaus Buch waren beide vergessen.
Hume, der sich damals in Paris aufhielt, bewegte ihn, mit nach England zu gehn, wo er ein Jahrgehalt für ihn ausgewirkt hatte; aber diese zwei Philosophen vertrugen sich nicht.
Hume war zum kalten Spotte geneigt, der jeden Unglücklichen foltert; und Rousseau, den sein Schicksal nicht zum Vertrauen auf Menschenliebe stimmte, argwohnte nichts Geringers, als daß ihn sein Begleiter wie ein lächerliches Geschöpf herumzeigen wolle. Es fiel ihm ein, daß ihn der Jahrgehalt entehre, und er behauptete, man habe seinen Namen mißbraucht und Geld wider seinen Willen begehrt. Um diese Zeit erschien in den öffentlichen Blättern folgender an ihn gerichteter Brief im Namen eines großen Königs, der Horace Walpolen zum Urheber hatte.
»Sie haben Ihrem Vaterlande entsagt, Sie haben sich aus der Schweiz jagen lassen, die Sie so sehr in Ihren Schriften erheben; in Frankreich will man Sie festsetzen; kommen Sie also zu mir. Ich bewundere Ihre Gaben, und Ihre Seltsamkeit belustigt mich, ob sie gleich, unter uns gesagt, bereits zu lange dauert; denn endlich ist es einmal Zeit, vernünftig und glücklich zu werden. Einen wirklich großen Mann kleiden ewige Paradoxen nicht. Sie sind dadurch berühmt geworden, lassen Sie's dabei bewenden, und spielen Sie Ihren Feinden den Possen, zu zeigen, daß es Ihnen nicht am ordentlichen Menschenverstand fehlt. In meinen Staaten kann ich Ihnen eine ruhige Zuflucht anbieten, und ich will Ihnen gerne gut begegnen, wenn Sie's erlauben wollen; oder wenn es Ihrem Scharfsinn schmeichelt, überall ein Unglück aufzubieten, so wählen Sie nach Ihrem Geschmack; denn ich bin König und kann Ihnen Böses genug tun. Außerdem will ich Ihnen versprechen, was Sie von Ihren Feinden nicht hoffen dürfen: Ich will aufhören, Sie zu verfolgen, sobald Sie nicht mehr Ihren Ruhm darin setzen, verfolgt zu werden.«
Rousseau, durch diesen Spott äußerst gereizt, hatte Humen als Verfasser in Verdacht und verklagte ihn vor der ganzen Nation. Es entstand ein trauriger Federkrieg, der die Philosophie nicht verherrlichte.
Ich setze einen Brief hieher, den Rousseau um diese Zeit an einen Wundarzt in Lincoln schrieb und der seine grämliche Laune schildert. Der Mann hatte ihm lateinisch geschrieben, ihn unbescheiden gelobt und doch mitunter im Namen anderer bittre Einwürfe gegen seine Meinungen angebracht.
»Sie reden mich lateinisch an«, antwortete Rousseau, »als wenn ich ein Gelehrter wäre. Sie ersticken mich unter Ihrem Lob und wollen mich vielleicht durch diesen Weihrauch berauschen; aber Sie irren sich in beiden Punkten: denn ich bin kein Gelehrter mehr; ich war es zu meinem Unglück. Das große Lob hat mir immer mißfallen, und jetzo, da ich Trost und keinen Weihrauch bedarf, mißfällt es mir noch mehr. Es ist, als wenn Sie einen Verwundeten komplimentierten, anstatt ihn zu verbinden. Ich habe meine Schriften dem Urteil der Welt preisgegeben, und die Welt ist ihnen und mir sehr übel begegnet; es mag darum sein. Ich habe nie behauptet, recht zu haben; aber meine Absichten waren rein, und ich hätte mehr Nachsicht erwartet. Man hat mich entweder oft nicht verstanden oder nicht verstehen wollen und meine wirklichen Fehler durch andere, die man mir beimißt, vermehrt. Ich schweige vor den Menschen und überlasse meine Sache Gott, der mein Herz kennt. Ich antworte auf die Vorwürfe nicht, die Sie mir in anderer Namen machen, und auch nicht auf die Lobeserhebungen in Ihrem eigenen Namen; ich verdiene beide nicht, und ich gebe dergleichen nicht wieder zurück, denn ich bin aufrichtig und kenne Sie nicht. Sie nennen sich einen Wundarzt; hätten Sie mir von den Pflanzen Ihrer Gegend gesprochen, so hätten Sie mir ein Vergnügen gemacht; aber von meinen Büchern und von allen Büchern in der Welt werden Sie vergeblich mit mir reden; ich nehme keinen Teil mehr daran. Ich antworte nicht lateinisch; ich habe von dieser Sprache nur soviel behalten, als nötig ist, um den Linnäus zu verstehn.«
Um die nämliche Zeit lud ihn der Graf Orlow durch folgenden Brief nach Rußland ein. »Sie werden sich nicht wundern, daß ich Ihnen schreibe; jeder Mensch hat seine Seltsamkeiten, Sie die Ihrigen und ich meine; das ist alles ganz natürlich, so wie der Bewegungsgrund dieses Briefes. Ich sehe Sie schon lange von einem Ort zum andern ziehn, und so ist es mir eingefallen, Ihnen zu sagen, daß ich ein Landgut zehn Meilen von Petersburg besitze, wo die Luft gesund, das Wasser vortrefflich, die Gegend angenehm und recht zum Phantasieren gemacht ist. Meine Bauern verstehen weder Englisch noch Französisch, weder Griechisch noch Lateinisch; höchstens wissen sie ein Kreuz zu machen, und ihr Priester hat weder zu predigen noch zu disputieren gelernt. Wenn Ihnen dieser Ort gefällt oder irgendeinmal gefallen möchte, so steht es Ihnen frei, da zu wohnen. Es wird Ihnen an keiner Bequemlichkeit, an keiner Bedürfnis fehlen: allenfalls können Sie auch, wie der Mensch der Natur, von der Fischerei und der Jagd leben. Wenn Sie, um sich aufzumuntern, mit jemand reden wollen, so werden Sie Ihren Mann finden; aber überhaupt sollen Sie frei und ungebunden sein und niemandem einige Verbindlichkeit haben. Ihr Aufenthalt kann heimlich bleiben, zumal wenn Sie der Neugierde entgehn und Ihre Reise zu Schiffe machen wollen. Ich schreibe Ihnen dieses aus Dankbarkeit für das Gute, das mich Ihre Schriften lehrten, ob sie gleich nicht für mich geschrieben sind.« Rousseau antwortete wie folget: »Sie sagen mir, Herr Graf, daß Sie Ihre Seltsamkeiten haben; und freilich ist es seltsam genug, jemand, den man gar nicht kennt, ohne irgendeine Absicht zu verbinden. Ihr gütiges Erbieten, der Ton, womit Sie es tun, und die Beschreibung der Wohnung, die Sie mir bestimmen, würden mich zuverlässig reizen, wenn ich gesunder, beweglicher, jünger wäre und wenn Sie der Sonne näher wohnten. Ich würde außerdem befürchten, daß Ihr Entschluß Sie gereute. Sie erwarten vielleicht einen Gelehrten, einen angenehmen Redner, der durch Witz und schöne Worte Ihre Gastfreiheit vergelten soll. Dafür würden Sie einen guten einfältigen Mann finden, den sein Geschmack und sein Unglück äußerst einsam gemacht haben, der den ganzen Tag herumläuft, um Kräuter zu suchen, und der endlich unter den Pflanzen den Frieden fand, den ihm die Menschen versagten und der seinem Herzen so teuer ist. Ich werde also nicht kommen, um in Ihrem Hause zu wohnen; aber ich werde mich immer dankbar Ihres Erbietens erinnern und es zuweilen bedauern, daß es mein Schicksal nicht war, mit Ihnen zu leben und Ihrer Freundschaft zu genießen.«
Rousseau eilte nun wieder nach Frankreich. Er war im Sommer 1768 eine kurze Zeit in Lyon und wanderte, um Pflanzen zu suchen, in die Gebirge von Dauphiné. Er ging hierauf nach Paris und lebte äußerst eingezogen; er besuchte niemanden und nahm ungern Besuche an; er ward von Briefen ohne Zahl heimgesucht, aber er antwortete selten und nannte diese Zudringlichkeit den Fluch der Zelebrität.
Er trennte sich von Menschen und Büchern und schrieb um die Zeit an einen Freund: »Ich lebe mit der vegetierenden Natur und finde, daß sie mannigfaltig reizend und, was ich über alles schätze, verträglich ist.« Er besuchte zuweilen den »Café de la Régence« und sprach freundlich und gerne mit jedermann; aber wenn man seiner Schriften erwähnte, so brach er ab und ging davon. Er hatte sich mit seiner Haushälterin verheiratet, die weder Jugend noch Gestalt, noch seltene Geistesvorzüge besaß; außerdem war sie unverträglich gegen Fremde und hat ihm manchen Verdruß zugezogen. Aber sie war ihm unentbehrlich geworden; sie verstand's, sich in seine Launen zu schicken, und heiterte ihn durch ihre Munterkeit auf. Rousseau wäre reich geworden, wenn er nicht das Geld verachtet hätte. Er hat nur wenig von dem Verdienst seiner Schriften genossen; kein Sterblicher kann sich rühmen, ihn irgend beschenkt oder belohnt zu haben. Der Zug ist bekannt, daß die Marquisin von Pompadour ihm für kopierte Musik fünfzig Louisdor überschickte und er achtundvierzig davon zurücksandte. Nur für seine Frau haben seine Verleger eine Leibrente von tausendzweihundert Livres ausgemacht. Er nährte sich vom Notenschreiben; man bezahlte ihm mehr als gewöhnlich, aber dafür schrieb er auch in der größten Vollkommenheit ab. Seine kopierte Musik wird teuer gekauft; denn sie trägt außer ihrem äußern Wert auch den Stempel der innern Vortrefflichkeit, weil er nichts abschrieb, als was seinen Geschmack als Kenner befriedigte.
Im Jahr 1770 ward sein Drama »Pygmalion« bekannt. Es ist ganz mit Jugendfeuer durchglüht, voll glimmender, wachsender, wütender Leidenschaft, und scheint nicht das Werk eines alternden Philosophen zu sein. Es wurde erst 1775 auf der Pariser Bühne vorgestellt. La Rive machte den Pygmalion und Mamsell Raucourt die Bildsäule. Es wirkte, wie alles, was in Frankreich gefällt, wie eine Art von Zauberei; ganz Paris strömte trunken dahin. Rousseau hatte nicht in die Aufführung eingewilliget und schlug auch die Autorbelohnung aus.
Noch ist ein Werk von ihm in der Welt, gewiß das einzige in seiner Art, nämlich ein aufrichtiges Tagebuch seiner selbst. Freunde, denen er es vorlas, versichern, daß er alle Geheimnisse seines Herzens mit einer fürchterlichen Wahrheit entfaltet. Folgende Vorrede zu diesem außerordentlichen Werk ist bekannt geworden: »Ich unternehme etwas ohne Beispiel, und das gewiß nicht nachgeahmet wird: ich will einen Menschen nach der nackten, natürlichen Wahrheit zeichnen, und dieser Mensch bin ich. Ich allein kenne mein Herz, und ich habe die Menschen kennengelernt; ich bin nicht wie einer unter ihnen; ich bin vielleicht weder besser noch schlimmer, aber ich bin eine ganz eigene Gattung. Ob die Natur wohl oder übel getan hat, die Form zu zerschlagen, worin sie mich goß, darüber kann man urteilen, wenn man mich gelesen hat. Ich werde Gott, wenn er Rechenschaft fordert, mit diesem Buch entgegenkommen; ich werde sagen: so dachte ich, so handelte ich, ich habe nichts verschwiegen, nichts beschönigt, ich habe mich strafbar und niedrig dargestellt, wenn ich es war, ich habe mein Innerstes aufgedeckt, so wie es, Allwissender, vor deinen Augen offen lag! Laß die Menschen mein Bekenntnis hören, laß sie erröten über meine Schande, laß sie über mein Elend seufzen! Jeder entschleiere sein Herz vor deinem Thron; und wenn er darf, so sag er es kühn, daß er besser gewesen sei als ich!« Man hat ihm diese Schrift nicht entwendet, wie ein Gerücht versichern wollte, sondern es ist gewiß, daß sie bei einem Freunde verwahrt liegt und zu seiner Zeit erscheinen wird. Eine neue Nachricht von Paris versichert: er habe vor seinem Tode alle bittere Stellen gegen seine Feinde aus dieser Schrift gerissen und verbrannt. Der einzige Zug verherrlicht den Mann. Ob Diderot dabei nicht errötet, der sich auf Rousseaus Grab hinstellt und ihn für den schändlichsten Bösewicht erklärt? (Siehe »Essai sur la vie de Sénèque«)
Rousseau lebte in der letzten Zeit nicht weit von Paris, zu Ermenonville, einem Landsitz des Marquis von Gerardin, der in Frankreich durch die Anlegung seines reizenden Gartens berühmt geworden ist. Er hatte den Sohn dieses Herrn, einen hoffnungsvollen Knaben, so lieb gewonnen, daß er ihn erziehen wollte; er schien sich zu verjüngen und war schon entschlossen, wieder zu schreiben, als er nach einem Spaziergange vom Schlag gerührt ward. Er lebte nur wenige Stunden darnach, unter Augenblicken von Erinnerung und Gegenwart des Geistes; er befahl ernstlich, daß man ihn öffnen möchte, weil er sich fürchtete, lebendig begraben zu werden. Als seine Frau vor seinem Bett in Tränen zerfloß, bat er sie, ein Fenster aufzumachen: »Siehe«, sprach er, »dort den heitern Himmel! Tröste dich; ich komme dahin.« Dies war der Mann, den man eifrig gelesen und bewundert, verfolgt und lächerlich gemacht hat. Er war nicht von den Leuten, die man umräuchert und verachtet, sondern einer von den wenigen, die man hochschätzt und quält. Er wirkte unwiderstehlich auf alle Gattungen Geister. Er hat die Jugend entzündet, die Philosophen verwirrt, die Menschenfreunde gerührt und die Klerisei, wo er sich nur zeigte, zum Kriege gereizt. Er lenkte Herzen, fesselte den Verstand und trieb eine Menge Lehrgebäude wie Seifenblasen vor sich her. Aber er war, sagen seine Widersacher, ein Apostel der Paradoxie. Er baute auf den Trümmern des Menschenverstandes; er verlor sich in Widersprüchen und Träumen. Er wollte die Rechte der Menschheit aus einem eingebildeten Vertrag herleiten, wovon schon Jahrtausende lang kein Dokument mehr übrig ist; er kannte die blutige Völkergeschichte, die Landesväter und Helden und glaubte doch an die Möglichkeit eines ewigen Friedens; er fluchte den Wissenschaften und Künsten und schrieb über Wissenschaften und Künste; er nannte die Bühne eine Schule des Lasters und verfertigte Operetten und Dramen; er bezeugte, daß man ohne verdorbene Sitten keinen Roman lesen dürfe, und schrieb einen sittenverderbenden Roman; er setzte die Besserung der Welt in einer veränderten Erziehung, und sein Emile ist nicht für diese Welt erzogen. Er versprach, aufrichtig für die Wahrheit zu kämpfen, und verdunkelte die erkannte Wahrheit durch neue verwirrende Zweifel; er erhob die Vorzüge der christlichen Religion und bestürmte den Grund, worauf sie sich stützt. Vieles hiervon kann nicht geleugnet werden; auch trug es sich zu, daß er zuweilen einen Irrtum immer heftiger verteidigte, je mehr ihn der Spott seiner Gegner reizte; außerdem gibt es über alles, quae caliginosa nocte premit deus, auf jeder Seite Gründe genug. Alle, die ihn kannten, geben ihm das einmütige Zeugnis, daß er die Wahrheit ernstlich suchte, daß er von dem Satz, den er jedesmal lehrte, durchdrungen war, daß er nicht glänzen, sondern überzeugen, keine Sekte stiften, sondern bessern wollte.
Es ist ein auffallender Unterschied zwischen ihm und Voltairen, der untersucht zu werden verdient. Diesem war es nicht um Aufklärung, sondern um Witz, weniger um eine gute Tat als um den Ruhm derselben zu tun; er jagte nach Einfällen, nicht nach Belehrung, und hätte die Rätsel der Vernunft ihrer Auflösung vorgezogen, der Freude wegen, darüber zu spotten. Rousseau handelte nach seiner Einsicht; sein Leben stimmte mit seinen Grundsätzen überein; Voltaire hat immer Menschenliebe gepredigt und seine Brüder erwürgt. Rousseau entschied nicht, sondern untersuchte; Voltaire verbarg unter der Karnevalslarve der Unwissenheit den Stolz eines untrüglichen Weisen; jener gestand, daß er sich irren könne, dieser hat nie einen Zweifel an seiner Unfehlbarkeit verziehn. Voltaire verhöhnte und verleumdete Rousseau, dieser hat seine Lästerungen nie erwidert; alles, was er sich erlaubte, war ein gutmütiger Scherz. »Voltaire«, sprach er zuweilen lächelnd, »kleidet es gut, auf die Verfolgung der Philosophen zu schimpfen, ihn, den niemand als Fréron verfolgt und der hunderttausend Franken jährlich in einer wollüstigen Ruhe verzehrt.« Als man ihm eine Bildsäule setzen wollte, so sandte Rousseau zwei Louisdor dazu hin.
Ihr Schicksal war, wie ihr Charakter, verschieden. Voltaire hatte alle Religionen mißhandelt, über Könige und Nationen gespottet, unvertilgbare Lächerlichkeit über ehrwürdige Verfassungen ausgegossen und selbst den Staat, wo er lebte, verhöhnt; alles das ging ungerächt durch. Rousseau verehrte die Religion, spottete nicht, griff niemals an, als wenn er sich verteidigen mußte, und ward überall, wie ein Straßenräuber, über die Grenzen verjagt.
Ich kann die Sache nur dadurch erklären, daß wir niemals vergeben, wenn man uns mit einer ernsthaften Miene versichert, daß wir törig handeln und denken, wenn man mit Beweisen auf uns einstürmt und nicht wenigstens den Ausdruck mildert; aber mitten unter drolligen Schwänken nehmen wir bittere Schimpfreden hin; wir zürnen nicht der guten Laune oder lachen unsern Unmut weg. Voltaire, dieser einzige, glänzende Mann, hatte also doch die Yoricksmaske Ich darf wohl kaum anmerken, daß ich hier nicht Sterne, sondern the king's jester aus dem Shakespeare meine; noch weniger fällt es mir ein, wie unsere rohe deutsche Jugend, Voltairens Verdienste zu verkennen, dessen Liverei unser Jahrhundert trägt, ich rühme nur seine Klugheit. nötig, welche die weltklugen Weisen aller Zeiten in Schutz nimmt. Ein Lustigmacher ist unverletzlich und steht unter dem Schutze des Völkerrechts.
Aber war nicht Rousseau ein Träumer? Hat er seine Zeit, hat er die Menschen gekannt? Lebte und webte er nicht in einer idealischen Welt? Fordert er nicht zuviel von dem verdorbenen Geschlecht? Ist sein Vorbild der Tugend und Weisheit nicht aus der Halbgötter Zeit? Es kann sein; gleichwohl ist es ein ehrwürdiger Traum, uns Tätigkeit, Gefühl unsers Wohls und Trotz auf unsere Rechte zuzutrauen. Er wurde freilich getäuscht; er irrte zur Belohnung arm und vogelfrei auf der Erde herum; aber er gestand auch seinen Irrtum. »Ich unternahm es«, sprach er, »mit den Menschen über ihr wichtigstes Interesse zu reden. Sie wollten lieber singen hören; darum schrieb ich Noten für sie ab.« Man fragt ferner: Widersprach er sich nicht? Nahm er nicht oft Lehrsätze wieder zurück? Heil also der übereinstimmigen Mittelmäßigkeit, die immer auf ihrem geraden Weg im Gängelband der Schule taumelt und keine Meinung ändert, weil sie sich nie einer eigenen bewußt war! So zählt uns denn, fährt man fort im triumphierenden Ton, die Summe der Wahrheiten auf, die Rousseau gefunden oder bestätiget hat, oder gestehet vielmehr, daß er wieder einriß, was er baute, und daß er durch sein ewiges Für und Wider alle Gewißheit aus der Seele vernünftelte! Welches Lehrgebäude hat er befestigt? Welches neue gegründet? Irret er nicht in lauter Ruinen herum? Hat er nicht in alle Systeme tiefe schreckliche Lücken gerissen? Alles zugegeben, meine Herren; aber er fand diese Klüfte auf seinem einsamen Pfad und warnte getreulich den Wanderer dafür! Es war seine Schuld nicht, wenn er nicht so glücklich als andere war und irgend auf eine Notbrücke stieß. Unsre Kathedersysteme hängen besser zusammen; wir erklären die verborgensten Dinge; wir verhören die verschwiegene Natur; wir vereinigen Notwendigkeit und Freiheit und verteidigen mit kühnem Frevel Gott gegen seine Geschöpfe. Es gibt Herden von Universitätsphilosophen, die alles begreifen und beweisen, die nie ein Zweifel geängstigt hat. Nur ist zu beklagen, daß die weisesten unter den Menschen nach langem Grüblen immer fanden, daß sie nur wenig wußten. Unsere Jünglinge spotten über Zweifel, und der hundertjährige Theophrast starb darum ungern, weil er, wie er sagte, eben anfing ein wenig klug zu werden.
Es läßt verdächtig, wenn ein roher Mündling eben da die größte Klarheit entdeckt, wo die Bayle zweifeln und die Leibnize vermuten, wenn man da am trotzigsten entscheidet, wo die Rousseaue und die Locke ihre Unwissenheit gestehn. Die Grundbegriffe aller Dinge, das Wie in den Erscheinungen der Natur, das Warum in der moralischen Welt, die Ratschlüsse der Vorsicht, die widersprechenden Schicksale des Lasters und der Tugend sind Geheimnisse des Allmächtigen. Wir werden selbst in der bürgerlichen Weisheit nur einzele Beziehungen gewahr, wenn sie just in unserm Gesichtskreis liegen. Darum überläßt der Weise, wenn ihn keine Offenbarung erleuchtet, den Olymp den unsterblichen Göttern, erträgt oder genießt sein Los, ist nützlich, wenn er kann, und bildet an sich selbst. Wir sind auch ohne tiefes Forschen durch unsere Vernunft genug aufgeklärt, um uns zu lieben, zu ertragen, um gütig und gerecht zu sein. Wohltätigkeit und Menschenliebe sind älter als Systeme, älter als die goldenen Sprüche des Pythagoras, und es gab freundliche Erdensöhne, eh Plato über die Tugend schrieb, eh Sokrates dafür starb.
War es aber dein Schicksal, Freund der Wahrheit, in einer Religion erzogen zu werden, die bei ihrer Unerklärbarkeit doch für deine Einsicht und dein Gefühl unleugbare Spuren eines hohen Ursprungs trägt, so grüble weniger als Rousseau, hasche nicht so emsig nach Zweifeln, die dich weder klüger noch glücklicher machen; aber entscheide auch nicht so trotzig und kühn wie deine Orthodoxen, mäkle nicht zwischen Geheimnissen und Vernunft, vertrage dich nicht um die Hälfte, demonstriere den einen Teil nicht weg, um den andern metaphysisch zu erklären, sondern Dinge, die du weder verwerfen noch begreifen kannst, verehre mit bescheidenem Schweigen, und demütige dich vor dem alles erfüllenden Gott, der zu dir spricht im Herzen und im lauten Jubel der Natur, der wahrlich ist, weil alles ist, und vor dem allein die Wahrheit ohne Hülle erscheint.