August Strindberg<
Inferno
August Strindberg<

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Sylva Sylvarum

Einleitung

In der Mitte meines Lebensweges setzte ich mich nieder, um auszuruhen und nachzudenken. Das Kühnste, was ich gewünscht und geträumt, hatte ich gehabt. Der Schande wie der Ehre, des Genusses wie der Leiden satt, fragte ich mich: was nun?

Alles wiederholte sich in ertötender Eintönigkeit, alles glich sich, alles kam wieder. Die Alten hatten gesagt: die Welt hat keine Geheimnisse mehr; wir haben die Auflösung aller Rätsel gefunden, wir haben alle Probleme gelöst. Wir haben mit Hilfe des Spektroskops gesehen, daß die Sonne keinen Sauerstoff besitzt, was sie jedoch nicht hindert, so gut wie Antimon in Chlor oder Kupfer in Schwefel zu brennen.

Wir haben die Kanäle des Mars gezeichnet, welche in fataler Weise den Widmanstettenschen Figuren der kosmischen Meteorkörper gleichen, und dabei sind wir erst in allerjüngster Zeit über das Innere Afrikas aufgeklärt worden und kennen noch immer weder Borneo noch die Polarmeere.

Eine Generation, die den Mut gehabt hatte, Gott abzuschaffen, den Staat, die Kirche, die Gesellschaft, die Moral niederzureißen, beugte sich noch vor der Wissenschaft. Und da, in der Wissenschaft, wo jede Freiheit herrschen sollte, lautete nun die Parole: Glaube der Autorität oder stirb! Keine Julisäule war noch auf dem Platz der alten Sorbonne errichtet worden, und das Kreuz überragte noch das Pantheon und die Kuppel des Instituts.

Es gab also nichts mehr auf dieser Welt zu tun, und ich beschloß, als unnütz, vom Schauplatze abzutreten.

Schon brannte die Weingeistlampe unter der Retorte, und das aus Blut und Eisen destillierte Eisenzyankali, goldgelb und in seinem erhitzten Zustande vom Dufte des gelben Labkrauts, war bereit, die Schwefelsäure aufzunehmen, welche, konzentriert, den Tod herbeiführt und, verdünnt, durch Gärung das Leben schafft. Diesmal sollte sie verdünnt werden, um den Tod herbeizuführen. – Welch ein geringfügiger Unterschied? Und welch erhabener Gegensatz!

Der Kohlenstickstoff, der Erzeuger eines blauen Salzes, wie er von einem gelben herstammt, begann sich zu entwickeln, jene unschuldigste aller Kombinationen, wo die reine Kohle mit dem indifferenten Stickstoff eine schreckliche Verbindung eingegangen ist, ein Wunder von Verbindung, davor die Wissenschaft ihre Unwissenheit hat bekennen müssen.

Die Dämpfe entstiegen dem Rezipienten, und sofort schnürte sich mir wie von Diphtheritis oder sauerstofflosem Leichengift die Kehle zu. Die Lähmung der Armmuskeln begann, und ich bekam Stiche im Rückenmark.

Ich unterbrach die Operation, als ein Geruch wie von bitteren Mandeln sich zu verbreiten begann; mir war, als sähe ich an einem Gartenweg einen blühenden Mandelbaum und hörte die Stimme einer alten Frau.

Die Stimme aber sagte: »So glaube doch nicht daran, mein Kind!«

Und ich habe nicht mehr daran geglaubt, daß das Welt-Geheimnis entschleiert sei, sondern habe manchmal allein, manchmal mit andern angefangen, über die große Unordnung nachzudenken, um zuletzt in ihr einen unbegrenzten Zusammenhang zu entdecken.

Dieses Buch ist das Buch von der großen Unordnung und dem unendlichen Zusammenhang.

Folge mir, Wanderer, wenn dich dein Weg mir vorüberführt, und du wirst freier atmen; denn in meiner Welt herrscht die Unordnung, und das bedeutet da nichts anderes als die Freiheit.

Das Zyklamen, ein Beispiel der großen Unordnung und des unendlichen Zusammenhangs

Ich streifte an der Donau umher, wo so viele Rassen vor mir umhergestreift waren und manche Spur noch auf Attilas Züge zurückwies. An diesem ungeheuren Strome, der in Schwaben entspringt und im Orient mündet und nicht nur dem Lauf der Sonne, sondern seltsamerweise auch dem der Erde zuwider läuft, wuchsen die verschiedensten Blumen.

Gewohnt, auf dieser Welt alle Dinge sich ewig wiederholen zu sehen, empfand ich eine um so größere Freude, als ich eine Pflanze fand, die ich vorher noch nicht gesehen hatte, nämlich das Alpenveilchen, das Cyclamen Europaeum, von dem sich eine Zierart, das Persikum, seit zehn Jahren in allen Blumenhandlungen findet.

Ich wurde von meiner alten Liebhaberei, zu klassifizieren und zu ordnen, erfaßt, riß die Pflanze aus, schnitt ihre Blüte ab und zählte fünf Staubgefäße und einen Stempel.

Das brachte mich nicht viel weiter, denn dieser Klasse, dieser Kategorie gehören so verschiedene Arten an, wie die Winde, der Nachtschatten, die Braunwurz und das Speerkraut.

Der erste Eindruck war der eines Veilchens gewesen. Blätter, Blüten, Geruch, die Art und Weise dem Boden zu entsteigen, alles sprach für ein Veilchen, aber es war keines.

Die Wurzel mit ihrer runden Scheibe erinnerte in überraschender Weise an Aristolochia rotunda, aber das war es auch nicht.

Einen Augenblick war ich schon im Begriff, es unter die Orchideen mit ihrem zarten Äußeren und ihrer größeren an Schmetterlinge erinnernden Blüte einzuordnen.

Wenn ich aber die Haselwurz unter den Haselbüschen daneben ansah, war ich überzeugt, daß mein Zyklamen eine Haselwurz sei, um so mehr, als diese letztere zu derselben Familie wie die Aristolochia gehört und noch dazu dieselben Heilkräfte wie das Zyklamen besitzt; die Wurzel ist bei beiden abführend und Erbrechen erregend.

Es hatte sogar etwas von dem zähen Blatt der Lilie, die Einfachheit in der Anordnung und den Glanz der Farbe, dazu ahmte die Scheibe der Wurzel, von der die Blätter ausgingen, die Form einer Zwiebel nach.

Zu Hause legte ich die Pflanze in eine Untertasse, und was glaubte ich da auf der Oberfläche des Wassers schwimmen zu sehen? Das Blatt einer Seelilie! Erging es mir nicht wie dem Polonius, der alles das in den Wolken sah, was Hamlet wollte? Aber ich wüßte nicht, daß mich irgendeine bestimmte Absicht geleitet hätte, ich hatte einzig und allein ein großes Magazin von Pflanzenbildern im Kopfe zum Vergleiche bereitliegen und war auch wirklich jedesmal, sooft ich eine Ähnlichkeit fand, auf der richtigen Fährte.

Ich weiß wohl, daß die Psychologen ein garstiges griechisches Wort zur Bezeichnung der Neigung, überall Analogien zu sehen, erfunden haben, aber das soll mir nicht bange machen, denn ich weiß auch, daß es überall Ähnlichkeiten gibt: denn alles ist überall und in allem.

Daß mein Zyklamen mit dem Osterluzei, der Haselwurz und dem Veilchen Ähnlichkeiten haben sollte, mochte, streng genommen, hingehen, obwohl diejenigen, welche einen Unterschied zwischen äußerlich und innerlich, zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften machen, die von mir gefundenen Ähnlichkeiten für unwesentlich gehalten haben würden. Aber ein Botaniker würde schwerlich zugegeben haben, daß es an eine Lilie oder Orchidee erinnerte.

Das Zyklamen jedoch ist den Orchideen oder Lilien darin wesentlich ähnlich, daß es mit einem Samenlappen ausschlägt und einsamenlappig ist, obwohl es in den Floren unter den Primulazeen (welche zweisamenlappig sind) aufgeführt wird.

Zur Zeit Tourneforts hätte ich mein Zyklamen zu den Infundibuliformen mit einblättriger, regelrecht trichterförmiger Krone oder wohl auch zu den Anomalen mit vielblättriger, nicht schmetterlingsartiger Krone, wozu man Orchidee und Veilchen rechnet, zählen können. Das hätte sich zur Not vertragen, aber freilich auch nur zur Not, da das Zyklamen wohl einen Trichter und freiliegende Blätter besitzt, aber regelmäßig ist.

Hätte ich mich an das Jussieusche System gehalten, so wäre ich geradezu auf den Holzweg gekommen, denn ich hätte das Zyklamen dann unter den Dikotyledonen gesucht. De Candolle würde mich erst recht irregeführt haben.

Daß das Zyklamen einen Samenlappen hat, ist freilich nicht ganz exakt, aber was ist überhaupt exakt in der Natur?

Wenn ich ein Samenkorn des Zyklamen unter das Mikroskop lege, sehe ich inmitten von Eiweiß einen kleinen, geraden Keim, der dem einer Konifere ähnelt. Wenn ich das Korn treiben lasse, bläht es sich auf, und ein einziges Blatt, von gleichem Charakter wie das Pflanzenblatt selbst, wird sichtbar. Es ist also kein Samenlappen, nicht einmal ein Keimblättchen.

Das Zyklamen treibt also ohne Samenlappen, wie das ja auch bei der Walnuß der Fall ist, die sofort zwei vollständig ausgebildete und den Blättern des Baumes gleichende Blätter hervortreibt. Der Grund hierfür liegt unzweifelhaft darin, daß die zahlreichen Eiweißstoffe zur Ernährung unter der Erde oder als Samenlappen dienen.

Aber das Zyklamen hat noch mehr Geheimnisse, z. B. folgendes:

Wenn ich eine unreife Kapsel quer durchschneide, so gleicht der Querschnitt dem einer jungen Dolde derselben Pflanze.

Sollte die Kapsel nur eine Nachahmung und das Samenkorn nur eine kleine Knospenzwiebel oder gar noch ein kryptogamischer Vorkeim sein?

Eine gerechtfertigte Frage; denn man hat den Phanerogamen Gewalt angetan, als man entschied, sie pflanzten sich durch regelrechte Bebrütung fort; wie auch die großen Geister des vorigen Jahrhunderts, darunter Spallanzani, sie, wenn nicht überhaupt, so doch im einzelnen, für eine recht zweifelhafte Sache hielten.

Ich hatte die sonderbare Idee gehabt, daß es zwischen dem Zyklamen und der Seelilie etwas Gemeinsames geben müsse, war jedoch von nichts als einem flüchtigen äußeren Eindruck geleitet.

Aber meine Untersuchung zeigte mir, daß ich gar nicht so sinnlos gewesen war. Von der Seelilie haben die Botaniker lange geglaubt, sie stehe mit einem Fuße in den Monokotyledonen, obwohl sie dikotyledonisch ist, denn ihr Stiel ist nicht zentralzylindrisch und der Wurzelüberzug gleicht in seiner Anordnung demjenigen der Lilien und Orchideen. Aber es gibt noch außerdem eine absolute Übereinstimmung zwischen dem Zyklamen und der Seelilie, nämlich folgende:

Die Seelilie hebt ihren Stiel aus dem Wasser und zieht ihn nach der Befruchtung wieder auf den Grund des Gefäßes zurück. Ebenso das Zyklamen; denn es dreht seinen Stiel spiralförmig, um die Frucht unter die Erde zurückzuziehen.

Es ist nicht leicht, den Grund zu bestimmen, der das Zyklamen, diese Alpenpflanze, zu einer solchen Handlungsweise treiben mag, es sei denn, daß man angesichts des geheimnisvollen Charakters seiner Fortpflanzung annehme, sie bezwecke, die Frucht vor Kälte zu bewahren. Wir stehen da einem mehr als rein mechanischen Akt gegenüber, denn Stiele befruchteter Blumen, die ich einer kühlenden Mischung aussetzte, zeigten durchaus keine Neigung, sich spiralförmig zu drehen.

Als ich eines Tages die hochragenden Wälder der blauen Donau durchstreifte, wurde ich auf einen Efeuteppich aufmerksam, dessen Blätter sich nach der Sonne gewendet hatten, deren Strahlen nur mühsam das Laubwerk durchdrangen. Als ich den Efeu, eine niedere Art, wie sie überall im Walde wächst, eine Weile betrachtet hatte, sah ich plötzlich ein Zyklamen darunter. Bald sah ich noch eins und noch eins und endlich ebensoviele Zyklamen- wie Efeublätter. Ich hatte das Zyklamen vorher nicht entdeckt, weil das Blatt dieser Art, Cyclamen Europaeum, eine dunkelgrüne, von weißlichem Grau eingefaßte Zeichnung aufweist, davon der dunkelgrüne Teil die Form eines Efeublattes bildet. Sofort dachte ich an den Mimetismus, jene Fähigkeit gewisser Tiere, das Aussehen der sie umgebenden Dinge anzunehmen. Ich zweifelte noch, ob ich diese Theorie in Erwägung ziehen sollte – denn solange die Botaniker den Pflanzen ein Nervensystem und einen selbständigen Verstand absprechen, bin ich ja sie zu verwerfen berechtigt – als ich mich nach einer anderen, freieren Richtung gezogen fühlte.

Ich hatte bei meiner Beschäftigung mit dem Pflanzenreiche oft Gelegenheit gehabt, die Natur darin, wie sie etwas skizziert, bevor sie es ausführt, zu verfolgen. Nun bemerkte ich bei dem Zyklamen, daß das Rot der Blüte bereits im Blattstiel vorbereitet und auf der Palette des Blattes niedergelegt war, und fragte mich, ob die weiße, verschlungene Verzierung auf der oberen Oberfläche des Blattes nicht vielleicht der erste Entwurf einer neuen Form sei.

Wieder zu Hause, suchte ich das Zyklamen in allen Floren Europas und las in den italienischen Floren, daß im mittleren und südlichen Italien ein Zyklamen mit ausgerandeten und vielwinkeligen Blättern des Namens Cyclamen Repandum wachse. In der französischen Flora fand ich ein Cyclamen Hederaefolim, dessen Blätter denen des Efeu glichen.

Dessen Blätter denen des Efeu glichen!

Gab es also doch zwischen dem Efeublatt und der Zeichnung des Zyklamenblattes einen ursächlichen Zusammenhang?

Das Efeublatt hat eine von Diokles entdeckte mathematische Form, Zissoide genannt, zum Vorbild.

Die neuere Geometrie charakterisiert sie als eine Kurve, welche beständig den vom Scheitel einer Parabel auf deren Tangenten gefällten Senkrechten folgt, oder auch so: als eine Linie, welche, indem sie ihre Asymptote zu erreichen sucht, die Zeichnung eines Efeublattes bildet.

Die Form des Zyklamenblattes ist kaustisch. Diese Form entsteht bekanntlich, wenn Strahlen in einem Hohlspiegel gebrochen werden oder durch einen halbkugel-, kegel- oder zylinderförmigen Lichtfang gehen.

Wenn man in einer Veranda sitzt, in welche durch das dichte Laub der sie umgebenden Bäume Sonnenstrahlen fallen, so wird man auf dem Fußboden eine Anzahl Ellipsen sich zeichnen sehen, welche von das Laub durchdringenden und vom Fußboden geschnittenen Lichtkegeln herrühren, also Kegelschnitte sind.

Was kann sich nun also wohl im Walde unter dem dichten Laubwerk zutragen?

Es ist schwer zu bestimmen, aber man kann sich trotzdem im Geiste das Spiel der Linien vorstellen, die aus all den Kegelschnitten, denen sich Parabel und Hyperbel, in enger Verbindung mit den zissoidischen und kaustischen Linien, anschließen, entstehen müssen.Biot, Les surfaces catacaustiques, Paris 1841 oder, Hauy, Physique, Paris 1806.

Populärer und einfacher gesprochen: hat das Efeublatt dadurch, daß es das so lichtempfindliche Blattgrün des Zyklamenblattes bedeckte, ein bestimmtes Bild hervorgerufen?

Diese Frage darf der Anhänger der mechanischen Theorie stellen. Ein anderer würde sich mit Recht mit Bernardin de Saint-Pierre und Elias Fries fragen können: Hat sich das Zyklamen vielleicht am Efeu versehen, und davon gleich den schwangeren Frauen etwas wie einen Flecken oder ein weinrotes Muttermal behalten?

Die Sonne ist bekanntlich ein wunderbarer Photograph. Man sehe das Innere der Rose, das durch seine Hohlspiegel seine gelben Strahlen in kaustischen Figuren auf den Beutel der Staubgefäße projiziert. Man betrachte die Zeichnung der Kleeblätter und versuche einmal, ob man sie nicht elliptisch konstruieren kann. Man denke an den Rücken der Makrele, darauf die grünen Wellen des Meeres auf Silber photographiert sind.

Man staune endlich, und nicht am geringsten über die Winden, deren Blütenknospen die des Getreides, besonders die Deckblätter des Hafers, in einer so irreführenden Weise nachahmen, daß, wenn man sie beide zeichnet, der Unterschied gleich Null ist. Tausende von Jahren hindurch zusammen gesät, gewachsen und gemäht, können sie sehr wohl einen Eindruck voneinander empfangen haben.

Francis Bacon sagt folgendes: Allzustarkem Sonnenlicht ausgesetzt, verwandelt sich die Basilika in Thymus Serpyllum. Und außerdem: Man mische Portulaka- und Lattich-Samenkörner und sehe, ob sie nicht Geruch und Geschmack vertauschen.

De Candolle macht darauf aufmerksam, daß eine Rose stärker duftet, wenn eine Zwiebel daneben wächst, ein Vorgang, der sich durch die organische Chemie erklären läßt, indem das Propion [C3H4] der Zwiebel auf das Äthylen der Rose [C²H4] heruntergeht.

Wenn man jedoch mit Bernardin de Saint-Pierre glaubhaft machen will, daß die Sonnenblume die höchste Stufe der Pflanzenarten erreicht habe, weil sie das Bild der Sonne, mit ihrer Scheibe, ihren Strahlen und ihren Flecken, wiederzugeben vermöge, so ist das, bevor man es nicht physikalisch erklären kann, Mystizismus.

Das kleine Zyklamen hat also seine kleinen Geheimnisse; wieviel große Geheimnisse mag da das unendliche All nicht noch bergen.


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