August Strindberg
Am Meer
August Strindberg

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Neuntes Kapitel

Als der Inspektor acht Tage später nach einer gut durchschlafenen Nacht eines Morgens erwachte, war sein erster klarer Gedanke, daß er von der Insel fort müsse, hinaus, gleichviel wohin, um allein zu sein, sich zu sammeln, sich selbst wiederzufinden. Die Ankunft des Prädikanten hatte nämlich die gewünschte Wirkung nach der einen Richtung hin gehabt: »das Gesindel im Zaum zu halten«, so daß der Lärm und die Roheiten aufhörten, aber auf der andern Seite hatte der Inspektor den neuerworbenen Frieden nicht genießen können, denn der exaltierte Zustand, in dem seine Braut sich befand, zwang ihn, sie nie aus den Augen zu lassen. So war er denn beständig mit ihr zusammen gewesen, hatte sie vom Morgen bis zum Abend förmlich bewacht und durch endlose Gespräche mit ihr über religiöse Fragen versucht, sie der verführerischen Rede des Prädikanten fernzuhalten. Alles das, was er in seiner Jugend durchgekämpft hatte, mußte er nun wiederholen, und da seit jener Zeit neue Gegenbeweise erfunden waren, mußte er seine ganze Apologie umredigieren. Er improvisierte psychologische Erklärungen von Gott, dem Glauben, den Wundern, der Ewigkeit, dem Gebet, und bildete sich ein, daß Maria es verstand. Als er aber nach Verlauf von drei Tagen merkte, daß sie noch auf demselben Fleck stand, daß diese Gefühlssache nichts mit Vernunftschlüssen zu tun hatte, warf er das Ganze über Bord und suchte, indem er das Erotische weckte, mit einem neuen Gefühlselement das andere auszutreiben. Aber hier mußte er bald das Gewehr in den Graben werfen, denn das Reden über das, was gelebt werden sollte, erregte das Gefühlsleben des jungen Mädchens nur noch mehr, und er merkte bald, daß geheime Brücken zwischen der religiösen und der sensuellen Ekstase vorhanden waren. Von der Liebe zu Christus lief sie so schnell hinüber zu der Liebe zum Mann, auf der breiten Zugbrücke der Liebe zum Nächsten; von der Enthaltsamkeit trippelte man über die Hängebrücke »Entsagung« zu dem Nachbar »Kasteiung«; eine kleine Zänkerei rief das unangenehme Gefühl »Schuld« hervor, das in dem Lustgefühl »Versöhnung« aufgelöst werden mußte.

In dieser seiner Not mußte er zuerst die Brücken abbrechen, sie von Angesicht zu Angesicht den fleischlichen Lüsten gegenüberstellen, ihre Begierde nach dem Zeitlichen erwecken, das er in glühenden Farben schilderte. Aber wenn ihm dies dann gelang und er sich im letzten Augenblick zurückzog, entstand bei ihr eine Kälte der Enttäuschung, und wollte er dann versuchen, ihre Gefühle zu kultivieren, sie auf den Gedanken an die Nachkommenschaft und die Familie hinzulenken, so zog sie sich zurück und erklärte bestimmt, daß sie keine Kinder haben wolle. Sie konnte sogar Ausdrücke gebrauchen, die innerhalb einer gewissen Gruppe von Frauen in hohem Kurs stehen: daß sie ihm nicht die Gebärmutter sein wolle, die ihm fehle, nicht seine Erben tragen, die sie mit eigener Lebensgefahr für ihn zur Welt bringen solle.

Da fühlte er, daß die Natur etwas, das er noch nicht kannte, zwischen sie gestellt hatte, tröstete sich aber damit, daß dies nur die Furcht des Schmetterlings sei, Eier zu legen und zu sterben, der Verdacht der Blume, daß die Zeit der Blüte mit dem Ansetzen der Frucht vorbei sei.

Aber er hatte sich in diesen acht Tagen erschöpft; die feinen Räder seiner Gedanken hatten angefangen zu hacken, und die Feder im Uhrwerk war schlaff geworden.

Wollte er am Tage nach einer solchen Überanstrengung ein paar Stunden arbeiten, war sein Kopf von Nebensächlichem angefüllt. Kleine Worte hallten fast unhörbar vor seinen Ohren wider; Bewegungen und Mimen, die sie während der Unterhaltung gebraucht hatte, spiegelten sich ab, Vorschläge, wie er da und da hätte antworten sollen, wurden gemacht, und die Erinnerung an eine wohlgelungene Erwiderung, die er ihr gegenüber geäußert, spendete ihm für einen Augenblick Vergnügen. Mit einem Wort, sein Kopf war mit Kleinigkeiten angefüllt. Er merkte jetzt, daß er versucht hatte, Ordnung in ein Chaos zu bringen, daß er einen Schuljungen unterhalten hatte, statt Gedanken mit einer reifen Frau auszutauschen, daß er eine Menge Kraft weggegeben hatte, ohne etwas dafür wiederzubekommen, daß er einen trockenen Schwamm mitten in seine Seele hineingelegt, und daß dieser Schwamm alles an sich gesogen hatte, während er selbst ausgetrocknet war.

Er war des Ganzen überdrüssig, war müde, sehnte sich danach, wegzukommen, weg für eine Weile, denn für immer fliehen, das konnte er nicht.

Als er nun gegen fünf Uhr des Morgens einen Blick zum Fenster hinauswarf, sah er nur einen dichten Nebel, der sich unbeweglich hielt, trotz eines schwachen südlichen Windes. Aber statt ihn abzuschrecken, lockte diese helle, lichte, dicke Luft, die ihn verbergen konnte und absondern von dem kleinen Bruchstück der Erde, an das er sich jetzt gebunden fühlte.

Das Barometer und der Wetterhahn sagten ihm, daß späterhin am Tage Sonnenschein eintreten würde, weswegen er sich ohne weitere Ausrüstung in das Boot setzte, nur versehen mit Seekarte und Kompaß, die er jedoch nicht zu benutzen dachte, da er die Heulboje eine halbe Meile entfernt hören konnte, gerade in der Richtung, wohin er wollte, um Strandraub zu treiben.

Er setzte deswegen die Segel und befand sich bald im Nebel. Hier, wo das Auge von allen Eindrücken von Farbe und Form befreit war, empfand er erst den Genuß, von der bunten Außenwelt abgeschnitten zu sein. Er hatte gleichsam seine eigene Atmosphäre um sich, schwebte einsam dahin wie auf einem anderen Himmelskörper in einem Medium, das nicht Luft war, sondern Wasserdämpfe, angenehmer und erquickender einzuatmen, als die ausdörrende Luft mit ihren unnützen neunundsiebzig Prozent Stickstoff, die ohne ersichtlichen Zweck zurückgeblieben waren, als sich die Erdmaterie aus dem Chaos der Gase ausschied.

Es war kein dunkler, rauchfarbiger Nebel, sondern ein heller wie frischgekochtes Silber, durch den das Sonnenlicht drang. Warm wie Watte legte er sich heilend um sein müdes Ich, schützend gegen Stoß und Druck. Er genoß eine Weile diese wache Ruhe der Sinne durch die Abwesenheit von Lauten, Farben und Gerüchen, und er fühlte, wie sein Kopf sich abkühlte infolge dieser Sicherheit, nicht von denen anderer berührt zu werden. Er war sicher davor, gefragt zu werden, antworten zu müssen. Der Apparat stand einen Augenblick still, nachdem alle Leitungen abgebrochen waren. Dann begann er wieder, klar, wohlgeordnet über alles nachzudenken, was er erlebt hatte. Aber das, was er kürzlich durchgemacht, war so untergeordnet, so winzig, daß er erst die Eindrücke der letzten Zeit verschwinden lassen mußte, ehe er neue aufnahm.

Aus der Ferne hörte er jetzt die Heulboje mit einem Zwischenraum von vielen Minuten rufen und steuerte seinen Kurs, dem Laut folgend, gerade in den Nebel hinein.

Dann wurde es wieder still, und nur das Plätschern des Bootes vorn und die Perlen des Kielwassers hinten gaben ihm das Gefühl, daß er sich vorwärts bewegte. Aber kurz darauf hörte er eine Silbermöwe drinnen im Nebel schreien, und im selben Augenblick glaubte er achtern das Plätschern und Sausen um einen Bootsteven zu vernehmen, und als er, um der Gefahr zu entgehen, durch einen Zuruf warnte, erhielt er keine Antwort, sondern fing nur eine Bewegung im Wasser auf, wie wenn ein Boot abfällt.

Nachdem er eine kleine Weile gesegelt hatte, peilte er zu Luvard einen Mast mit Großsegel und Klüwer, aber weder der Rumpf noch der Steuermann waren sichtbar, da die hohe Dünung sie seinen Blicken entzog.

Dies Ereignis würde unter andern Verhältnissen seine Gedanken nicht gestört haben, aber jetzt machte es einen Eindruck wie etwas, das sich nicht sogleich erklären läßt und deswegen Furcht einflößt, von der nur ein Schritt den Gedanken auf Verfolgung hinleitet. Der eben erweckte Verdacht bekam Nahrung, als er gleich darauf das Gespensterboot abermals, gleichsam in den Nebel eingerahmt, in Lee an sich vorbeischießen sah, ohne daß er jedoch den Mann am Ruder, der von dem Segel verdeckt saß, erblicken konnte.

Jetzt rief er wieder, aber statt einer Antwort sah er nur das Boot weit genug abfallen, um bemerken zu können, daß der Sitz am Ruder leer war, und dann verschwand die Erscheinung in dem alles verschlingenden Nebel.

Gewohnt, sich von der Furcht vor dem Rätselhaften zu befreien, suchte er sich die Erscheinung sogleich zu erklären, blieb aber schließlich stehen vor der Frage: Warum versteckte der Bootführer sich? Denn daß da ein Mann in einem Segelboot, das nicht trieb, am Steuer sein mußte, darüber hegte er keinen Zweifel. Warum wollte der Steuermann ungesehen sein? Im allgemeinen wünscht man, ungesehen zu sein, wenn man auf verbotenen Wegen geht, in Ruhe sein oder jemand erschrecken will. Daß der Unbekannte nicht die Einsamkeit suchte, dafür sprach die Wahrscheinlichkeit, da er denselben Kurs hielt, und wollte er einen Mann erschrecken, der nicht bange oder abergläubisch war, so hätte er ein besseres Verfahren wählen können. Indessen hielt der Inspektor seinen Kurs auf die Boje zu, unverdrossen verfolgt von dem Gespensterboot in Lee, jedoch in einer solchen Entfernung, daß es nur wie verdichteter Nebel erschien.

Allmählich, während die Fahrt fortgesetzt wurde und der Wind auffrischte, schien der Nebel sich ein wenig zu lüften, und gleich einer langen Silberbarre lag der Sonnenschein, von dem Nebel versilbert, auf den Wellenrücken. Das Heulen der Boje nahm mit dem Wind zu, und nun steuerte Borg mitten in das Sonnenlicht hinein, wo die Nebeldecke verschwunden war, und lief mit starker Fahrt auf das Seezeichen zu. Dies lag da, auf den Wellen schaukelnd, zinnoberrot und glänzend feucht wie eine frisch herausgenommene Lunge. Die große, schwarze Luftröhre schräg in die Höhe ragend. Und als die Welle dann die Luft zusammenpreßte, stieß die Boje einen Schrei aus, als brülle das Meer der Sonne zu, die Grundkette rasselte, bis sie ausgelaufen war, und nun, als die Welle sank und wiederum die Luft einsog, stieg ein Geheul aus der Tiefe auf wie aus dem Riesenschnabel eines ertrinkenden Mastodons.

Das war der erste mächtige Eindruck, den er nach dem Gefasel und den Wortklaubereien eines ganzen Monats gehabt hatte.

Er bewunderte die Menschenlist, die dem tückischen Wolf, dem Meer, diese Schelle angelegt hatte, damit er selbst seine wehrlosen Opfer warnen sollte. Er beneidete diesen Einsiedler, der an eine Klippe im Meer gefesselt lag und Tag und Nacht um die Wette mit Wind und Wellen brüllen konnte, so daß es in einem Umkreis von vielen Meilen widerhallte, der der erste sein konnte, der die Fremden an Land willkommen hieß, der seinen Schmerz hinausstöhnen durfte und gehört wurde.

Dieser Anblick war schnell dahin, und das Halbdunkel umhüllte abermals das Boot, das nun auf die Schäre zuhielt, wo Borg ausruhen wollte. Eine halbe Stunde mochte er wohl über denselben Bord gelegen haben, bis er die Strandbrandung bullern hörte, da fiel er ab, um Lee zu suchen, und schoß bald in eine Bucht hinein, wo er landen konnte.

Es war dies die äußerste Schäre vor der Einfahrt zu dem Schärengürtel und bestand aus ein paar Tonnen Land aus rotem Gneis ohne andere Vegetation als einige Flechtenarten auf den Stellen, wo das Treibeis die Klippen nicht reingeschabt hatte. Nur die Möwen hatten hier ihren Ruheplatz und schlugen jetzt Lärm, während der Inspektor das Boot festmachte und auf den Scheitel der Schäre hinaufstieg. Er hüllte sich in seine Reisedecke und setzte sich in einen glattgeschliffenen Felsspalt, der einen bequemen Lehnstuhl bildete. Hier, ohne Zuhörer und Zeugen, ließ er seinen Gedanken freien Lauf, beichtete sich selbst, erforschte sein Inneres und hörte inwendig seine eigene Stimme. Nur zwei Monate Scheuern gegen andere Menschen, und er hatte durch das Adoptionsgesetz bereits den besten Teil seines Selbst verloren, hatte sich daran gewöhnt, einzulenken, um Streit zu entgehen, sich geübt, auszuweichen, um einen Bruch zu vermeiden, sich zu einem charakterlosen, geschmeidigen Gesellschaftsmenschen entwickelt. Er merkte, wie er, den Kopf voller Kleinkram und gezwungen, wie er war, sich in verkürzter, vereinfachter Form auszudrücken, die halben Töne in der Sprachskala eingebüßt hatte, daß seine Gedanken auf die alten, ausgeleierten Eisenbahnschienen, die zu dem Ladeplatz zurückführen, eingespurt waren. Alte, flaue Sophismen, den Glauben anderer zu achten, damit ein jeder durch seinen Nonsens selig werde, waren in ihn zurückgekrochen, und er war aus lauter Galanterie als Zauberer aufgetreten und hatte sich schließlich einen gefährlichen Konkurrenten auf den Hals geschafft, der jeden Augenblick drohte, ihm die einzige Menschenseele zu entreißen, die mit der seinen zu vereinen er gewillt war.

Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er daran dachte, daß er diejenigen überlistet hatte, die ihn überlistet zu haben glaubten, aber ein halblaut ausgesprochenes: Sie Esel! machte ihn zusammenfahren, aufgescheucht durch den Gedanken, daß jemand es hören könne.

Und dann fuhren die stummen Gedanken fort: Sie hatten sich eingebildet, seine Seele fangen zu können, und er hatte sie eingefangen! Sie hatten geglaubt, daß er Ihren Interessen traute, und Sie ahnten nicht, daß er Sie zur Gymnastik für seine Seele gebrauchte, und um einen Machtgenuß zu erzielen.

Aber diese Gedanken, die er soeben noch nicht als seine eigenen zu erkennen gewagt hatte, meldeten sich jetzt als Kinder seiner Seele, als große, gesunde Kinder. Und was hatte er denn anderes getan, als was die andern gewollt, aber nicht gekonnt hatten! Dies junge Mädchen, das glaubte, sich in ihm einen Leierkasten angeschafft zu haben, hegte nicht den leisesten Verdacht, daß sie ausersehen war, der Resonanzboden seiner Seele zu sein ...

Im selben Augenblick fuhr er in die Höhe, seinen gefährlichen Gedankengang unterbrechend, denn er hörte drinnen im Nebel deutliche Fußtritte auf dem Klippenabhang, und obwohl er anfänglich glaubte, daß das Geräusch eine Frucht seiner Einbildungskraft sei, hervorgerufen durch die Einsamkeit und die Furcht, überrascht zu werden, richtete er doch seine Schritte nach dem Boot hinab. Aber da er es in guter Ordnung vorfand, beschloß er, rund um die Schäre herum zu gehen, um das andere Boot aufzusuchen, denn da mußte ein anderes sein, da noch ein Mensch hier herausgekommen war. Er krabbelte zwischen den Steinen am Strande herum und fand bald auf der Leeseite der Insel eine Jolle mit einer ähnlichen Takelung, wie er sie draußen auf der See beobachtet hatte. So war es denn ganz klar, daß der Inhaber des Bootes sich auf der Schäre befinden mußte, und nun begann der Inspektor einen Streifzug im Nebel, in dem er sich beständig in der Nähe des Bootes hielt, um den Rückzug abschneiden zu können. Nachdem er mehrmals gerufen hatte, ohne Antwort zu bekommen, sah er schließlich ein, daß er die Boote verlassen mußte, wenn er den Geheimnisvollen fangen wollte. Er ging deswegen zu den Fahrzeugen hinab und nahm die Ruderpinnen weg, um jeden Fluchtversuch unmöglich zu machen, und dann begab er sich wieder in den Nebel hinaus. Gleich darauf hörte er Schritte vor sich, verfolgte die Spur nach dem Gehör, hatte aber bald den Laut auf der einen, bald auf der andern Seite. Müde von der Jagd und ärgerlich über die unnützen Anstrengungen, beschloß er, der Geschichte schnell ein Ende zu machen, da er keine Lust hatte zu warten, bis sich der Nebel lichtete.

»Ist hier jemand, so antworte er, sonst schieße ich!« rief er so laut er konnte.

»Herr Jesus! Schießen Sie nicht!« ertönte es aus dem Nebel heraus.

Der Inspektor meinte, diese Stimme schon früher gehört zu haben, aber vor sehr langer Zeit, vielleicht in seiner Jugend. Und da er sich jetzt der Stelle näherte, wo der Unbekannte stand, und dessen Silhouette sich grau gegen grau abheben sah, erwachten in ihm alte Erinnerungen an diese Menschenumrisse. Die nach innen gebogenen Knie, die zu langen Arme und die schiefe linke Schulter hatten ein Gegenstück in einem in der Erinnerung haftenden Bilde eines Schulkameraden aus der dritten Klasse. Aber als er den amerikanischen Bart des Kolporteurs aus dem Nebel auftauchen sah, paßte das Bild nicht länger zusammen; er sah nur den Mann auf der Klippe, der Johannes' Offenbarung der Luftspiegelung angepaßt hatte.

Die Mütze in der Hand und einen erschreckten Ausdruck im Gesicht, näherte er sich dem Inspektor, der sich diesem schleichenden Verfolger gegenüber nicht recht sicher fühlte, da er in Wirklichkeit keine Schußwaffe bei sich hatte. Um seine Unruhe zu verbergen, nahm er einen barschen Ton an, indem er sagte:

»Warum verstecken Sie sich vor mir?«

»Ich habe mich gar nicht versteckt; das hat der Nebel getan«, antwortete der Prädikant demütig und einschmeichelnd.

»Aber warum saßen Sie denn im Boot nicht am Ruder?«

»Ach, ich wußte nicht, daß man auf der Steuerbank sitzen müsse; ich hatte mich nach Luvard hinübergesetzt, um das Boot Vierkant zu legen. Die Sache ist die, daß ich ein Tau um die Ruderpinne geschlungen hatte, wie man es bei uns oben in Roslagen zu tun pflegt.«

Die Erklärung lautete wahrscheinlich, gab jedoch keine Antwort auf die Frage: warum er dem Inspektor hier hinaus gefolgt war. Und dieser war sich klar darüber, daß ein geistiger Zweikampf bevorstand, denn es war offenbar kein Zufall, daß sie hier zusammentrafen.

»Was suchen Sie so früh am Morgen hier draußen?« nahm der Inspektor den abgerissenen Faden wieder auf.

»Ja, was soll ich sagen; ich finde zuweilen, daß ich das Bedürfnis habe, mit mir selbst allein zu sein.«

Die Antwort fand ein gewisses Echo bei dem Frager, und ermuntert von der sympathischen Miene, die der Prädikant in Borgs Gesicht lesen konnte, fügte er hinzu:

»Ja, denn sehen Sie, wenn ich mich selbst in Betrachtung und Gebet suche und finde, so finde ich auch meinen Gott.«

Es lag ein naives Bekenntnis in diesen Worten; aber der Inspektor wollte nicht die unfreiwillige Ketzerei übersetzen und den Schluß ziehen: Gott ist folglich mein Selbst oder in meinem Selbst, weil ihn eine gewisse Achtung vor diesem Manne erfaßte, der mit einer Fiktion allein sein konnte, also gewissermaßen einsam.

Aber während der Inspektor das Gesicht des Prädikanten betrachtete, das mit einem langen, braunen Bart bedeckt war, ausgenommen über dem Munde, wahrscheinlich um bequemer sprechen zu können und doch einem Apostel ähnlich zu sein, war es ihm, als sähe er hinter diesem Gesicht ein anderes hervorlugen, und gepeinigt von der Arbeit, die sein Gedächtnis unbewußt zu unternehmen begann, fragte er geradeheraus:

»Haben wir einander nicht schon früher gesehen?«

»Ja, das haben wir allerdings,« antwortete der Prädikant, »und Sie, Herr Inspektor, haben, vielleicht ohne es zu wissen, so tief in mein Leben eingegriffen, daß man fast sagen könnte, Sie hätten meine Lebensarbeit bestimmt.«

»Nein, wirklich! Erzählen Sie wie, denn ich kann mich nicht des geringsten nach der Richtung hin entsinnen«, bat der Inspektor und setzte sich auf den Klippenabhang, indem er den andern aufforderte, neben ihm Platz zu nehmen.

»Ja–a, es mögen nun wohl fünfundzwanzig Jahre her sein, als wir zusammen in die dritte Klasse gingen ...«

»Wie hießen Sie damals?« unterbrach ihn der Inspektor.

»Da hieß ich Olsson und wurde Ochsen-Olsson genannt, weil mein Vater Bauer war und ich in eigengemachten Kleidern ging.«

»Olsson? Warten Sie mal. Sie konnten besser rechnen als wir andern alle? ...«

»Ja, ganz recht! Aber dann, eines Tages war der fünfzigste Geburtstag des Direktors. Wir hatten die Schule mit Laub und Blumen geschmückt, und nach der Stunde machte jemand den Vorschlag, daß wir in unserer Klasse die Blumensträuße sammeln und sie der Frau und der Tochter des Direktors bringen sollten. Ich entsinne mich noch, daß Sie das für überflüssig hielten, da die Damen des Direktors nichts mit der Schule zu tun hätten, sich aber häufig auf störende Weise in die Schulangelegenheiten mischten. Indessen, Sie gingen mit – und ich auch. Als ich nun die Treppe hinaufgehe, fällt Ihr Auge plötzlich auf meine eigengemachten Kleider, und wie ich vermute, bemerkten Sie ebenfalls, daß ich den schönsten Blumenstrauß trug, und da riefen Sie aus: Ist auch Saul unter den Propheten?«

»Das habe ich völlig vergessen«, sagte der Inspektor sehr kühl.

»Ich aber vergaß es nie!« wandte der Prädikant mit bebender Stimme ein. »Man hatte mir ins Gesicht geschleudert, daß ich das räudige Schaf sei, der Ausgestoßene, dessen Huldigung von einer Frau von Stand niemals ernsthaft genommen werden könne. Ich verließ die Schule, um in den Handelsstand überzugehen und dadurch schnell zu Geld und feinen Kleidern zu gelangen, gute Manieren und eine gebildete Sprache zu lernen. Aber ich bekam niemals einen guten Platz. Mein Äußeres, meine Aussprache, meine Art zu sein waren gegen mich. Darauf bemühte ich mich, die Einsamkeit zu suchen, und in der Einsamkeit fühlte ich Kräfte in mir wachsen, von denen ich bisher nie eine Ahnung gehabt hatte. Ich hatte früher daran gedacht, Geistlicher zu werden, aber jetzt war es zu spät. Die Einsamkeit flößte mir Furcht vor den Menschen ein, und die Menschenfurcht machte mich völlig einsam, so einsam, daß ich meine einzige Gesellschaft bei Gott suchen mußte und bei dem Erlöser der Unglücklichen, der Räudigen, der Gebrandmarkten, bei unserm Herrn Jesus Christus. Und das habe ich Ihnen zu verdanken.«

Die letzten Worte wurden mit einer gewissen Bitterkeit ausgesprochen, so daß der Inspektor es für das klügste hielt, die Karten auf den Tisch zu legen, indem er ausrief:

»Sie haben mich also fünfundzwanzig Jahre lang gehaßt?«

»Grenzenlos! Aber jetzt nicht mehr, nachdem ich die Rache Gott anheimgestellt habe.«

»Ach so! Sie haben also einen Gott, der rächt! Glauben Sie denn, daß er Sie zum Werkzeug erwählt, oder meinen Sie, daß er die Absicht hegt, seinen elektrischen Funken auf mich herabschlagen zu lassen, oder mein Boot zum Kentern zu bringen, oder mich mit Blattern zu behaften?«

»Die Wege des Herrn sind unerforschlich, aber die Wege der Ungerechten sind allen offenbar!«

»Sehen Sie denn etwas so Ungerechtes darin, wenn ein Junge Unsinn redet, daß ihn Gott deswegen ein ganzes Menschenalter hindurch verfolgen sollte? Ob nicht der rachsüchtige Gott in Ihrem eigenen Herzen sitzt, wo, wie Sie vorhin behaupteten, Sie Zusammenkünfte mit ihm haben?«

Als der Prädikant merkte, daß er mit seinen eigenen Worten geschlagen war, konnte er sich nicht länger beherrschen.

»Ja, spotten Sie nur! Jetzt kenne ich Sie! Aber der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Jetzt kenne ich des Satans ganze List. Sie bauen dem Herrn ein Haus – ein Hurenhaus, damit Sie einer Dirne opfern können! Sie spielen Zauberer und Magiker, damit das Volk vor Ihnen knien und den Gottesleugner anbeten soll. Aber der Herr sagt: Selig sind, die ihre Kleider waschen, auf daß sie Zutritt zu dem Baum des Lebens haben und durch die Tore in die Stadt gehen. Draußen bleiben Hunde und Zauberer und Hurenkerle und Mörder und Götzendiener und alle, welche die Lüge lieben!«

Die letzten Worte hatte er, ohne sie anderswo zu suchen als auf den Lippen, mit einer unglaublichen Übung und Begeisterung herausgeschleudert, und gleichsam eine Antwort fürchtend, die den Eindruck schwächen könnte, wandte er dem Gegner den Rücken und ging zu seinem Boot hinab.

Der Nebel hatte sich indessen gelichtet, und das Meer breitete sich blau und beruhigend und befreiend aus.

Der Inspektor blieb noch eine Weile in seinem Bergstuhl sitzen und grübelte darüber nach, daß die Seele denselben Gesetzen unterworfen sei wie die physischen Kräfte. Der Wind reißt unten bei Estland eine Welle los, die Welle bringt eine andere hervor, und die letzte, die die Bewegung nach der schwedischen Küste verpflanzt, setzt einen kleinen Kieselstein in Bewegung, der einen Klippenblock stützt; nach Verlauf eines Menschenalters würden sich die Folgen durch das Herabstürzen des Klippenblockes zeigen, was eine neue Unterminierung der entblößten Klippe zur Folge haben würde, da sie jetzt unbeschützt dalag.

Sein Gehirn hatte vor fünfundzwanzig Jahren ein für ihn bedeutungsloses Wort ausgeschleudert; das Wort war durch ein Ohr gedrungen und hatte ein Gehirn in eine so starke Bewegung versetzt, daß es noch jetzt bebte, nachdem es die Richtung für das ganze Leben eines Menschen bestimmt hatte. Und wer konnte wohl wissen, ob nicht dieser Innervationsstrom wieder verstärkt worden war durch Berührung oder Reibung, so daß er sich von neuem entladen, andere Gegenkräfte in Bewegung setzen, Erschütterungen und Störungen in dem Leben anderer hervorbringen würde!

Jetzt, wo das Boot des Prädikanten um das Vorgebirge schoß und auf Österskär zuhielt, überkam den Inspektor ein so bestimmtes Gefühl, daß ein Feind darin saß, der gegen seine Stellung anrückte, daß er sich erhob, um nach seinem Boot hinabzugehen und nach Hause zu segeln, um die Verteidigung vorzubereiten.


Als er erst nach dem Boot hinabgekommen war und sich beruhigt fühlte durch das leise Wiegen der Wellen, wandelte ihn eine unwiderstehliche Lust an, sich noch einige Stunden in völliger Einsamkeit auf dem Meer aufzuhalten, um die letzten unangenehmen Eindrücke verwehen zu lassen.

Weswegen sollte er auch den Einfluß dieses Mannes auf seine Braut fürchten, da eine Vereinigung mit ihr für das ganze Leben doch eine Unmöglichkeit sein würde, wenn sie zu dem Niveau der Ungebildeten zurücksank? Aber es ärgerte ihn trotzdem, daß er eine solche Furcht empfand. Es erinnerte ihn an das Benehmen der Männer, die in der Unruhe lebten, zu verlieren, was mit dem lächerlichen Namen Eifersucht gestempelt wurde. War es das Gefühl des Unvermögens, festzuhalten, das diese Schwäche bei ihm verriet? Oder war es nicht vielmehr eine Schwäche bei ihr, daß sie nicht sitzen bleiben konnte, wenn der Ballon in die Höhe steigen sollte, den Notanker der Religion loslassend und die Ballastsäcke des Gefühls über Bord werfend?

Er hatte gekreuzt und lag nun südöstlich von der Schäre, auf einer Seite, von der er sein Gefängnis bisher noch nicht betrachtet hatte. Hoch oben sah er das Skelett der unvollendeten Kapelle mit ihren Gerüsten, aber er sah nichts von den Arbeitern, obwohl der Morgen schon weit vorgerückt war. Er konnte auch kein Boot entdecken, das auf Fischfang aus war; es herrschte überhaupt die größte Stille auf der Schäre, nicht einmal beim Zollgebäude oder beim Ausguck des Lotsen sah er eine Spur von Menschen. Er ging über Stag, da er um die Schäre herum segeln wollte. Aber als er an die Außenseite kam, wurde die See höher, und er gewann nur wenig mit jedem Schlage, so daß es eine ganze Stunde währte, bis er nach dem Hafen hinabzulenzen vermochte. Jetzt konnte er das Haus sehen, in dem die Damen wohnten, und gleich darauf, als er an der Hafenspitze vorüberfuhr, bemerkte er, daß alle Bewohner der Insel um das Haus versammelt waren, auf dessen Veranda der Prädikant barhäuptig stand und redete.

Mit offenem Blick, daß ein Kampf in Aussicht stand, legte er an Land, strich die Segel und ging auf sein Zimmer.

Durch das geöffnete Fenster hörte er jetzt ein geistliches Lied.

Er hatte Lust, sich hinzusetzen und zu arbeiten, aber der Gedanke, daß er bald unterbrochen werden würde, hinderte ihn, anzufangen.

Es verging eine peinliche halbe Stunde, während der er, deutlicher denn je zuvor, fühlte, daß er nicht mehr sein eigener Herr war, nicht mehr über die paar Quadratmeter herrschte, auf die er sich einschließen konnte, um jeder Berührung mit Seelen zu entgehen, die sich so wie die Muscheln auf Meeresgrund festsogen, um schließlich durch ihre Schwere seine Fahrt zu mindern.

Die Tür tat sich jetzt nach einem schnellen Pochen auf, und vor ihm stand Fräulein Maria mit einem neuen Ausdruck im Gesicht, mit einer Mischung von schmerzlichem Vorwurf und überlegenem Mitleid.

Sie kam auch mit dem Gefühl, die Ansicht der Menge hinter sich zu haben, und fühlte sich daher dem Einsamen gegenüber stark.

Er ließ sie zuerst reden, um dadurch einen Ausgangspunkt zu gewinnen.

»Wo bist du gewesen?« begann sie mit einem Versuch, sich nicht allzu übermütig zu zeigen.

»Ich habe gesegelt.«

»Ohne zu fragen, ob ich mit wollte?«

»Ich glaubte nicht, daß du so strenge darauf hieltest.«

»Doch, das wußtest du sehr gut, aber du wolltest allein sein mit deinen finstern Gedanken.«

»Vielleicht!«

»Nein, ganz bestimmt! Meinst du, daß ich das nicht bemerkt habe? Glaubst du, daß ich nicht gesehen habe, wie du meiner überdrüssig geworden bist!«

»Ich bin deiner nicht überdrüssig geworden, weil ich, nachdem ich tagaus tagein um dich gewesen, mir gestattete, eines Morgens, zu einer Zeit, wo du noch zu schlafen pflegst, ein paar Stunden zu segeln. Aber du hast es wohl satt, die Fischerei zu erlernen, denn ich habe dich nicht ein einziges Mal mehr draußen auf See gesehen.«

»Es wird ja jetzt nicht mehr gefischt, das weißt du doch sehr gut!« erwiderte Fräulein Maria, fest überzeugt, jetzt die Wahrheit zu sprechen.

»Nein, ich sehe es!« wandte der Inspektor ein, entschlossen, sich der Mine zu nähern, selbst wenn sie zu explodieren drohte. »Ich sehe, wie die Bevölkerung es aufgegeben hat, zu arbeiten, um statt dessen Predigten zu hören ...«

Jetzt stand der Ausbruch vor der Tür.

»Wolltest du nicht eine Kirche hier heraus haben?«

»Ja, des Sonntags. Sechs Tage soll man arbeiten und am siebenten in die Kirche gehen. Aber jetzt wird hier keinen Tag gearbeitet, es wird nur gepredigt. Und statt sich und seiner Familie ein ordentliches Auskommen hier auf Erden zu schaffen, laufen alle um die Wette nach etwas so Unsicherem wie dem Himmel. Selbst die Leute bei der Kapelle sind von ihrer Arbeit gelaufen, so daß wir die Kirche nie unter Dach sehen werden, und ich erwarte, jede Stunde zu hören, daß die Bevölkerung in dem Grade verarmt ist, daß wir an Wohltätigkeit denken müssen ...«

»Davon wollte ich ja gerade sprechen,« unterbrach ihn Fräulein Maria, froh, nicht genötigt zu sein, das Thema aufzunehmen, jedoch ohne zu bemerken, daß es für den Inspektor bereits erschöpft war.

»Ich bin nicht hierher gekommen, um Wohltätigkeit zu üben, sondern um die Bevölkerung zu lehren, ohne solche fertig zu werden.«

»Du bist durch und durch ein herzloser Mensch, obwohl du dir das Aussehen gibst, das Entgegengesetzte zu sein.«

»Und du willst dein gutes Herz auf meine Kosten zeigen, ohne auch nur einen Zoll von den Plissees an deinem Kleide zu opfern.«

»Ich hasse dich! ich hasse dich!« rief sie mit einem häßlichen Ausdruck im Gesicht aus. »Ich weiß recht gut, wer du bist, ich weiß alles, alles!«

»Nun, warum verläßt du mich dann nicht?« fragte der Inspektor in einem stahlkalten Ton.

»Ich werde es tun, ich werde es tun!« rief sie und näherte sich der Tür, ohne jedoch hinauszugehen.

Der Inspektor, der sich an den Tisch gesetzt hatte, nahm eine Feder und begann zu schreiben, um nicht in Versuchung zu geraten, eine Unterhaltung wieder aufzunehmen, die abgeschlossen war, da alles, was gesagt werden konnte, gesagt worden war.

Er hörte wie im Traum das Schluchzen, die Tür, die geschlossen wurde, und Geräusch von Schritten, die die Treppe knarren machten.

Und als er erwachte und auf das Papier sah, über das seine Feder geflogen war, fand er, daß das Wort Pandora da so viele Male geschrieben stand, daß eine geraume Zeit vergangen sein mußte, ehe der Auftritt abgeschlossen war.

Aber dann fesselte ihn das Wort, und da seine Neugier in bezug auf die Bedeutung geweckt worden war, die er im Laufe der Jahre vergessen hatte, obwohl er aus der Mythologie eine schwache Erinnerung davon hatte, nahm er sein Handlexikon vom Tische, öffnete es und las:

»Pandora, die Eva der Antike, das erste Weib der Erde. Wurde, weil Prometheus das Feuer stahl, als Rache für die Menschen mit all dem Unglück, das bisher die Welt erfüllt hat, von den Göttern gesandt. Wird in der Poesie dargestellt in Gestalt des Guten, das ein in die Augen fallendes Übel ist, ein Geschöpf, auf Betrug und Überrumpelung angelegt.«

Dies war Mythologie so wie die Sage von Eva, die den Menschen aus dem Paradiese herausschaffte. Da aber die Sage von einem Zeitalter zum andern bestätigt wurde und er selbst erfahren hatte, wie die Anwesenheit einer Frau auf diesem kleinen Fleck Erde draußen im Meer schon Dämmerung hervorgerufen hatte, wo er Licht verbreiten wollte, so mußte der Bildersprache des griechischen wie auch des jüdischen Dichters doch ein Gedanke zugrunde gelegen haben.

Daß sie ihn haßte, das fühlte und sah er ein, da sie gemeinsame Sache mit dem Haufen da unten machte, aber an ihrer Liebe wollte er auch nicht zweifeln, selbst wenn diese Liebe nur in der Anziehungskraft bestand, die die Sonne auf die Löwenzahnblüte ausübt, die Lichtstrahlen zu einer schlechten Nachahmung ihrer gelben Scheibe entlehnt. Aber es war auch etwas Gemeines in dieser Liebe, etwas Boshaftes mit der Lust zu schaden, ein Kampf um die Macht, der unberechtigt war, da sein Ziel den Sieg über das Unvernünftige erstrebte. Ihr das zu sagen, ja, das war dasselbe wie das Verhältnis brechen, da dieses von seiner Unterwerfung abhängig war oder wenigstens von seinem Zugeständnis ihrer Überlegenheit, und das hieße ja, ein Leben auf einer Notlüge aufbauen, die Wurzel schlagen, heranwachsen und vielleicht jede Möglichkeit für ein ehrliches Zusammenleben ersticken würde. Die tiefste Ursache zu dem relativen Unglück aller Ehen lag gerade darin, daß der Mann den Bund mit einer oft bewußten Lüge einging, häufiger noch als Beute einer Sinnenverwirrung, indem er sein Ich in das Wesen hineindichtete, das er assimilieren wollte. Von diesem Sinnenbetrug, second sight, war Mill in dem Maße betört worden, daß er glaubte, alle seine scharfen Gedanken von der einfältigen Frau erhalten zu haben, die er zu sich emporgehoben hatte.

Es war der Liebe Preis aus alten Zeiten, daß der Mann verschweigen mußte, was die Frau war, und auf dies Schweigen hatten Jahrhunderte ein Chaos von Lügen aufgebaut, an denen die Wissenschaft nicht zu rütteln wagte, an denen die mutigsten Staatsmänner nicht zu rühren wagten, und die den Theologen dazu brachten, seinen Paulus zu verleugnen, wenn es sich um die Frau in der Versammlung handelte.

Aber seine Liebe hatte eben begonnen und war entflammt, als er sie in ihrem flehenden Blick zu sich hatte emporschauen sehen, und diese Liebe schwand, als sie mit dem Siegeslächeln der Dummheit kam, nachdem sie niedergetreten hatte, was er zu ihrem und zu vieler Glück hervorbringen wollte.

»Vorbei!« sagte er zu sich selbst, erhob sich und verschloß seine Tür.

Es war vorbei mit der Hoffnung seiner Jugend, die Frau zu finden, die er suchte: »Die Frau, die mit dem Verstand geboren war, die Unterlegenheit ihres Geschlechts unter das andere einzusehen.«

Freilich hatte er hin und wieder die eine oder die andere getroffen, die die Tatsache eingeräumt, schließlich jedoch gegenüber der Ursache zu dem Verhältnis stets Vorbehalt erhoben hatte, indem sie die Schuld auf eine nicht existierende Unterdrückung schob und erklärte, daß die Frau, wenn sie größere Freiheit erhielt, den Mann bald überholen würde; und dann war der Kampf im vollen Gange.

Er wollte seine Intelligenz nicht in einem ungleichen Kampf mit Mücken aufreiben, die er nicht mit dem Stock treffen konnte, weil sie zu klein und ihrer zu viele waren; deswegen sollte es nun auch ein Ende haben mit diesem unnützen Suchen nach dem nicht Existierenden. Er wollte alle seine Kräfte der Arbeit weihen, Familien-, Heimats- und Geschlechtstrieb hemmen und die Familienvermehrung andern »Reproduktionstieren« überlassen.

Das Gefühl, frei zu sein, spendete seiner Seele Ruhe; und es war ihm, als habe ein Sperrhaken den Griff in sein Gehirn gelöst, so daß es nun ohne Rücksichtnahme zu arbeiten begann. Der Gedanke, daß er sein Äußeres nicht mehr anziehend zu machen brauchte, veranlaßte ihn, einen Kragen abzunehmen, der ihn genierte, den aber seine Braut für schick erklärt hatte. Er ordnete sein Haar auf eine bequemere Art und merkte, wie dies seine Nerven beruhigte, die in einem beständigen Kampf mit der Frisur gewesen waren, die seiner Braut am besten gefiel. Die Tabakspfeife, die er wie einen alten Bekannten geliebt, die er aber hatte beiseite legen müssen, wurde wieder hervorgeholt; der Schlafrock und die Morgenschuhe, die zu benutzen er lange Zeit nicht gewagt hatte, brachten wieder diese Freiheit von Druck hervor, die an ein luftigeres Element erinnerte, in dem er frei atmen, ungehindert denken konnte.

Und jetzt, von all diesem Zwang befreit, merkte er erst, welcher Tyrannei, selbst in den kleinsten Einzelheiten, er unterworfen gewesen war. Er konnte in seinem Zimmer umhergehn, ohne Furcht, von einem Pochen an die Tür aufgeschreckt zu werden, konnte sich seinen Gedanken überlassen, ohne das Gefühl zu haben, falsch zu sein.

Er hatte nicht lange die eben erworbene Freiheit genossen, als es an die Tür pochte. Es zuckte durch seinen Körper, als hielten einige Vertäuungen ihn noch fest, und als er die Stimme der Kammerrätin hörte, traf der niederschmetternde Gedanke, daß es noch nicht vorbei sei, sondern daß er von vorne wieder anfangen müsse, ihn wie ein Keulenschlag.

Zuerst dachte er daran, nicht zu öffnen, aber das Anstandsgefühl, die Furcht, für feige gehalten zu werden, überredeten ihn, zu öffnen. Und als er die freundlichen, klugen Augen der alten Dame sah, als sie mit einem gutmütigen Lächeln und einem schelmischen Kopfschütteln eintrat, da schien es ihm, als sei der Auftritt der letzten halben Stunde nur ein Traum gewesen, aus dem er erwachte, froh, daß er überstanden war.

»Haben wir uns nun wieder einmal gezankt!« begann die Alte, das Unangenehme der Bemerkung mit dem vertraulichen Wir fortnehmend. »Ihr sollt heiraten, Kinderchen, ehe ihr die Verlobung aufhebt! Glaubt einer alten Frau und bildet euch nur nicht ein, daß ihr eure Herzen als Brautpaar prüft; denn je länger die Verlobung währt, um so ärger wird es!«

»Hinterher ist es aber zu spät, die Verlobung aufzuheben«, erwiderte der Inspektor. »Und wenn man schon jetzt eine solche Verschiedenheit in Gemüt und Ansichten entdeckt hat, so ...«

»Ansichten! Was für Ansichten sind das? Ihr habt wahrlich keine verschiedenen Ansichten. Das Mädel langweilte sich nur, während du fort warst, Axel, und deswegen lief sie zu dem Kolporteur. Und was das Gemüt anbetrifft, so geht es damit auf und nieder, je nachdem sich die Nerven befinden. Und du, Axel, der du ein so erfahrener Mann bist, solltest doch wissen, wie die Frauen sind!«

Er wollte ihr die Hand küssen in der ersten Begeisterung, einer Frau begegnet zu sein, die wirklich ihr Geschlecht kannte, aber dann fiel ihm ein, daß er diese Angriffe auf die Frauen jedesmal gehört hatte, wenn eine Frau ihn hatte gewinnen wollen, und daß es mehr Schmeichelei war als Zugeständnisse, denn wenn es ernst ward, wurden diese Äußerungen stets mit Zinsen zurückgenommen. Er beschränkte sich deswegen darauf, zu antworten:

»Wir müssen die Zeit ansehen, liebe Schwiegermutter! Hier draußen kann ich nicht heiraten, aber laß uns nur zum Herbst zur Stadt kommen ... vorausgesetzt, daß Maria mehr Sympathie für meine Arbeit zeigt und weniger Widerwillen gegen die Weise, wie ich die Welt betrachte und das Leben lebe.«

»Du bist so entsetzlich tiefsinnig, Axel, und wenn ein junges Mädchen nicht immer Schritt halten kann, so ist das nicht zu verwundern.«

»Ja, das ist sehr gut, kann sie mir aber nicht aufwärts folgen, so kann ich auf der andern Seite ihr nicht abwärts folgen; aber das letztere scheint ihr bestimmter Wille zu sein, so bestimmt, daß es mir heute vorkam, als liege ein versteckter Haß dahinter.«

»Haß? Das ist nur Liebe, mein Freund! Komm jetzt herunter und sage ein paar freundliche Worte, dann ist alles wieder gut.«

»Nie nach den Worten, die wir heute gewechselt haben! Denn entweder bedeuten sie etwas, und dann sind wir Feinde, oder sie bedeuten nichts, und dann ist wenigstens einer von beiden Teilen unzurechnungsfähig.«

»Ja, sie ist unzurechnungsfähig, aber du solltest doch wissen, Axel, daß eine Frau ein Kind ist, bis sie Mutter wird. Komm jetzt, mein Freund, und spiele mit dem Kinde, sonst sucht sie sich ein anderes Spielzeug, das gefährlich werden kann!«

»Ja, aber liebste Mutter, ich kann es nicht aushalten, den ganzen Tag zu spielen, ohne müde zu werden; und ich glaube auch nicht, daß es Maria belustigt, wie ein kleines Kind behandelt zu werden.«

»Freilich tut es das, wenn es nur nicht so aussieht. Ach, welch ein Kind du doch in diesen Dingen bist, Axel!«

Dies war wieder eine Artigkeit, die von jedem andern als von einer Schwiegermutter eine Beleidigung gewesen sein würde! Und als sie nun seine Hand ergriff, um ihn hinauszuführen, fühlte er allen Widerstand schwinden. Sie hatte, indem sie seine Beweisgründe unbeantwortet ließ, die Frage von allem Räsonnement fortgeleitet; sie war leicht über den heiklen Punkt hinweggeglitten, hatte seine Zweifel in Schlaf gelullt und die Unruhe weggestrichen, sowie ihn mit dem Einflusse, den die Frau durch ihr mütterliches Auftreten besitzt, dahin gebracht, sein Streben nach persönlicher Freiheit aufzugeben.

Und nachdem er einen andern Rock angezogen hatte, folgte er gehorsam, fast mit Wohlbehagen, der beständig plaudernden alten Dame die Treppe hinab, um das Spiel fortzusetzen und die Ketten wieder anzulegen.

Unten im Flur begegnete er indessen dem Laienprediger, der ihm einen Brief mit dem Stempel der Landwirtschaftlichen Akademie übergab.

Der Inspektor erbrach sofort das Siegel, durchlief den Inhalt und beeilte sich, froh, einen Unterhaltungsstoff, einen Blitzableiter bekommen zu haben, der Kammerrätin die Neuigkeit mitzuteilen.

»Wir bekommen Besuch!« sagte er. »Der Direktor schickt mir einen jungen Mann, der die Fischerei erlernen soll.«

»Nun, das ist ja schön, daß du ein wenig männliche Gesellschaft bekommst, Axel«, sagte die Alte mit aufrichtiger Anteilnahme.

Und dann ging der Inspektor leichten Schrittes hinab zu seiner harrenden Braut, sicher, mit Hilfe der Neuigkeit die Versöhnungsszene sogleich überspringen zu können.


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