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Der Reiter

Erstes Kapitel

Entgegen seiner Herkunft aus priesterlichem Stamm, dessen Namen er führte, lebte Natan Hakohen abgeschieden von der Gemeinde und ihrem Dienst. Als Knabe schon im väterlichen Handel tätig, war er mit Lea, einem schmalen, lieblichen und scheuen Wesen aus befreundeter Sippe, vermählt worden. Sie zog ins Haus von Natans Eltern, die wenige Jahre darauf bald nacheinander verstarben. Natan, bis dahin von dem kränklichen und cholerischen Vater knapp und strenge gehalten, breitete sogleich eine laute und gewaltsame Herrschaft über das gesindereiche Haus und Geschäft aus. Die erfahrenen Diener des Vaters störte er mit unbedachten, herrischen Anweisungen aus der Ordnung ihres Tuns, ohne eine neue Ordnung erfinden zu können, und während er auf solche Art das Geschäft in Verwirrung hinein regierte, geriet der jungen Frau, deren ursprüngliche Schüchternheit sein wildes Gebaren zur Lahmheit des Wesens und Willens hatte verstocken lassen, auf andere Art der Haushalt in nicht geringere Wirrnis. Sie ließ die Mägde schalten, die, den Verfall witternd, aus dem untergehenden Vermögen noch alle nur mögliche Bereicherung sich zu gewinnen wußten. Je weniger nun der Mann die eigene Sache gedeihlich zu führen vermochte, desto grimmiger richtend eiferte er gegen die Frau. Leas Fremdheit gegen ihn wurde Abneigung, die ihre durchsichtigen Züge nicht verbargen. Daran aber entflammte sich in ihm zwar nicht Liebe, doch eine trübe, heftige Leidenschaft, die sie duldend wie alles andere hinnahm. Er umstellte sie mit Verdächtigungen unsinniger Eifersucht und so geriet er in Gewalttat gegen einen ihr knabenhaft ergebenen jungen Verwandten, die er mit schwerer Buße an Geld, schwererer am ererbten Ansehen und Vertrauen zahlen mußte.

Zu jener Zeit kam über das ukrainische Städtchen die Kunde von Sabbatai Zwi, der als der verheißene Erlöser Israels zwischen Abendland und Orient aufgestanden war. Auch Besonnene entrückte der Taumel der übermächtigen Hoffnung dem sicheren Gang ihres Lebens. Natan log sein Wanken in solchen Taumel um. Wohl wissend, daß er Geschäft und Haus nicht lange mehr halten könnte, und unfähig, den ihm verfeindeten Juden seines Kreises die Niederlage zuzugeben, war er froh, sich denen gesellen zu können, die alle unbewegliche oder lästige Habe verkauften, nichts als Geld und nötige Vorräte behielten und in Zelten vor der Stadt leichte Wohnung nahmen, gewärtig alle Tage des Rufes zur Fahrt ins gelobte Land. Wie Jene ihn aber aufnahmen, als wäre das Vergangene ausgelöscht, herzlich brüderlich, befiel ihn das Glück des Neubeginns. Er ward gläubig, und mit der grünen Schärpe, dem Wahrzeichen des erstandenen Messias, gegürtet, predigte er und rief auf in den Straßen. Lea indessen, hoffnungslos und unkräftig, in den Verlust der noch so bitteren Heimstatt und das rauhe Warteleben sich zu finden, konnte ihre erste und schwere Schwangerschaft nicht zu Ende tragen. So gebar sie im Zeltlager den Sohn Naftali, der im siebenten Monat, größer als eine ausgereifte Frucht, ob auch ohne Nagel und Haar, den Schoß der ohnmächtigen Mutter brach.

Wie nun mit den Hoffnungen das Lager einschrumpfte, Zelt um Zelt abgebrochen ward, dieser mit herbem Schaden das aufgegebene Gut wieder erwerben, jener in der alten, selig überflügelten Weise neu anheben mußte, auch die Brüderlichkeit schwand und der Gescheiterte und Mißachtete wiederum gescheitert und mißachtet war, zog Natan unter den Letzten aus dem Lager, pachtete mit dem Rest seines Vermögens ein Stück kargen Bodens nahe der Stadt, richtete das schlechte Haus, das lange verlassen daraufstand, notdürftig her und bezog es mit Frau und Kind. Er war schweigsamer und gegen die Seinen duldsamer geworden, wider alle Nachricht von Fall und Schmach Sabbatais verbissen und wortlos seinen Glauben panzernd. Da er mit zorniger Macht arbeitete, auch die Frau nach der Geburt des Kindes unvermutet zu einiger Kraft und Umsicht gelangt war, brachten sie das geringe Anwesen hoch. Das Haus ward sauber und fest, die Stallung erweiterte sich und eine wachsende Herde kleiner schwarzglänzender Rinder graste auf der freien Steppe um den Hof.

Das Kind Naftali wuchs ohne Gefährten auf. Früh hielt ihn der Vater zur Arbeit in Stall und Haus an, und als Achtjähriger trieb er die Rinder zur Weide in die meerhafte Ebene und zur Schwemme in die Untiefen des Stroms, keck mit Zuruf, Schleuder und Stab, unangefochten von der eigenen Winzigkeit, die mächtigen, dumpfen Leiber regierend. Der Weg zur Stadt war ihm vom Vater verboten, aber heimlich mit Briefen und Grüßen sandte die Mutter ihn hin zu ihren Verwandten, mit denen Natan heillos zerfallen war. Da gewann der Traum ihm Gehalt, der namenlos und unfaßbar ihn gepeinigt hatte, wenn er auf dem Rücken liegend in der Steppe ziehenden Wolken den ungenügsamen Sinn zufliegen oder ihn hatte tanzen lassen mit dem wagrecht geschleuderten flachen Stein über die wandernde Fläche des Stroms. Er sah die fein gewandeten Vettern, die den bäurischen Jungen spöttisch maßen und nach seinem Lernen befragten. Sein Wissen um Acker und Vieh schien ihm nichts gegen die Weisheit Jener, der Gleichaltrigen, die Abschnitt um Abschnitt der heiligen Schriften lasen und, wie er meinte, hinter den schmalen, bleichen Stirnen eingerollt die Pergamente trugen, mit den allbeschreibenden Zeichen bedeckt, die er nicht verstand, und gar der Älteren, die in der Deutung unterwiesen waren und das Geheimnis gültiger Entscheidungen und mächtiger Gebete eingebannt trugen in die glühende Nacht ihrer Blicke. Die schmächtigen Knaben mit der schnellen und eifrigen Regung sprechender Glieder wurden ihm Bilder aller Vollendung. Beugte sich dann wieder draußen der Hirt über die seichte Flut, sein Bild zu beschauen, sah die hohe Stirn und die groß geöffneten, aber grauen und weichen Augen der Mutter in dem breiten Gesicht über breiten Gliedern des Vaters, und über dieser Stirn des Vaters brandrotes Haar, und wo an den Schläfen der Vettern die kohlschwarzen, zartgeschwungenen Locken sich hinabzogen, die eigenen wirren Strähnen und die rauhe, rötliche Haut an Antlitz und Händen, so trieb ihn der Zorn, mit stampfendem Fuß und schlagender Faust gegen den ungefälligen Spiegel sich zu werfen, daß im wirbelnden Sand des Grundes und im spritzenden Gestrudel der Fläche das Bild zerstob. Zuhause lag er der Mutter mit Bitten an, sie möge beim Vater erwirken, daß der ihn in die Stadt schicke, mit den Andern zu lernen. Die Mutter jedoch hielt ihm Mund und Augen mit weichen Händen zu, er fühlte sie schüttern und in sein Haar niederweinen, und als sie wieder ihrer Stimme mächtig war, beschwor sie ihn, nie zu dem Vater von solchen Wünschen zu reden, ja selber sie auszutilgen aus dem Herzen, und von da an sandte sie ihn nicht mehr zur Stadt. Aber Naftali, so fest er nun schwieg, vergaß nicht und hegte im Innern den zehrenden Brand seines Traumes fort.

Eines Tages, als das sinkende Gestirn die Steppe in grünes, fließendes Gold wandelte und der Knabe, seine Wünsche in den Schein dichtend, auf den Untergang zu die Rinder heimtrieb, fiel ein Schwarm räuberischer Kosaken, auf niedrigen, wirrmähnigen Pferdchen anfliegend, über Herde und Hof. Naftali wurde ergriffen und gefesselt im Tor des Gehöfts, als er seinen Vater aus dem qualmenden Haus treten sah in der Gestalt, in der er fortan seinem Gedächtnis eingezwungen blieb: die grüne Schärpe des falschen Messias um die gewaltigen Hüften, das fleischige, fast augenlose Gesicht über und über gerötet, den Mund aus dem Feuerbart zu schallendem Lobgesang aufgetan, die Rechte mit blankem Beil gegen den Feind geschwungen. Naftali sah den Schlag nicht mehr, er wurde herumgerissen und draußen auf den vom Ritt noch dampfenden Rücken eines angepflockten Gauls gefesselt, lag vom Stampfen des Tieres geschüttelt eine Weile in rasendem Bäumen und Zerren wider die sichern Stricke, dann jagte er mitten im Schwarm davon, den Flackerschein der vergehenden Heimat in den Augen.

 

Zweites Kapitel

Ein Pferd gleicher Art, wie es den Geraubten fortgetragen hatte, brachte Jahre später den Entwichenen zurück. In der äußersten Gasse des Städtchens, als der Reiter die Zügel fester nahm, um das nur wie durchstürmtes Element besinnungslos jagende Tier in langsamen Gang zu zwingen, brach es unter ihm hin und verendete schäumend am Boden. Hinkend vom Sturz, hohläugig und schweißtriefend, in verschmutzter, abgerissener Kleidung, kam der Jüngling vor den Oheim.

Machte die Spur der bestandenen Flucht seinen Anblick erschreckend, so wäre er auch ohne sie nicht gewinnend erschienen. Lang war Naftali und mager um das breite Skelett, Hände und Füße unmäßig groß, die Haltung, da er nicht zu Pferde saß, lässig und wank, alle Glieder wie zufällig aneinandergefügt, ohne Einstimmen in Regung und Richtung. Das sommersprossige Gesicht, mit knolliger Nase, tiefen Gruben zwischen dem starken Mund und den abstehenden Ohren, war von rotem, wolligem Gekräusel umrahmt, aus dem die Wucht des Kinns noch deutlich schien. Steil und faltig über den schwachen Brauen hob die Stirne sich zu dem drahtigen, feuerfarbenen Haar. Nur wie dem Steigenden zwischen Felsen unvermutet ein himmelspiegelnder See aufgeht, lagen in der wilden Öde dieses Gesichts die weiten, tiefgrauen Augen.

Der Oheim, rund und kurzbeinig, ein kritisch blickender, behäbiger Mann, war mehr erstaunt als erfreut, den Sohn der Schwester in solcher Gestalt lebendig und frei vor sich zu sehen. Doch nahm er ihn, die Hand etwas mühsam auf die Schulter des ragenden Burschen gelegt, in sein bestes Zimmer, und als beide saßen und sein Auge in gleicher Höhe zu dem Naftalis hinübersah, wurde er herzlich und mitleidig. Er teilte dem Neffen mit, Vater und Mutter seien bei jenem Überfall umgekommen, was Naftali wohl gedacht, ja vom Vater gewißlich geglaubt hatte. Die Mutter lebendig zu hoffen, war freilich schön gewesen. In den Jahren der Knechtschaft, auf der Weide wie daheim, vom gleichen Antlitz der Erde wie daheim angeschaut, Strom und Steppe, hatte er oft bei der abendlichen Rückkehr mit den Rindern, von denen mehr als eines aus der heimischen Herde war, hinter einer Bodenwelle sich das Haus erbaut und die Mutter gebildet, drinnen auf ihn zu warten mit aller Kraft der lösenden Güte, die ihm nicht mehr ward. Aber im Schwarme der Fremden auf ihren Raubfahrten hinreitend hatte er zu wissen gemeint, daß auch sie verloren war.

Der Oheim sah mit Zufriedenheit, daß den Knaben der Tod der Mutter inniger als der des Vaters bewegte. Das ließ ihn beschließen, den Flüchtling aufzunehmen. Was er denn zu tun gedenke, fragte er und erwartete wohl eine Gegenfrage, aber ohne Zaudern kam das fertige Wort, all die Jahre ungesprochen im Innern bewahrt und zu brünstiger Kraft genährt, über Naftalis Lippen: »Lernen«. Der Oheim zog die Brauen hoch und führte die Augen mit wehmütigem Lächeln über die Züge des Jungen, die eher eines Hirten, der er gewesen war, eines Fuhrmanns, auch noch eines Lastträgers Züge sein konnten als eines Gelehrten.

Noch erstaunter war der Oheim, als er nächsten Tags dem sauber und anständig hergerichteten Gast eine schriftliche Arbeit für sein Geschäft auftrug und dieser mit zuckenden Lippen und ersticktem Laut gestand, daß er Lesens und Schreibens nicht mächtig sei. Nach wohl verrichteter Arbeit habe er heute abend mit ihm lernen wollen, sagte der Alte, worauf der Junge nun in polterndem Sturz der Worte ihm antrug, ihm die Rösser zu warten, den Stall zu fegen, Fuhren zu fahren, Wagen zu laden und zu räumen und die schadhaften zu richten, Wäsche zu waschen, das Dach zu flicken und alle Kunst, die er irgend vermochte: »Aber lern am Abend mit mir!« Dergleichen Dienste seinem Neffen aufzugeben, schien dem Alten unter der Würde des Hauses; aber soviel Inbrunst nach Wissen bei soviel Unwissenheit erweckte mit seinem Anteil seine Neugier. Er stahl dem Handel eine Stunde und sagte Naftali das Alphabet vor, einmal ums andere, bis der Junge es ihm nachsagte. Dann schrieb er groß die Buchstaben auf eine Tafel und überließ Naftali sich selber. Bei Tische schaute alles auf den Gast, Frau und Kinder des Hausherrn, die nie fehlenden Armen und tagweis von Haus zu Haus speisenden Schüler, das zahlreiche Gesinde. Sie fragten ihn von dort und hier nach den Leiden seiner Gefangenschaft und den Bräuchen der Räuber. Er aber gab karge, stockende Antwort, es war zu sehen, daß er dieser Geschicke sich schämte, und achselzuckend ließen sie von ihm ab, mit spöttisch mitleidigen Blicken und dem Handwurf leichten Verzichts untereinander sich einigend.

Am Abend fand der Oheim den Naftali mit abgeworfenem Kittel im durchschwitzten Hemd, die Haare in klebenden Strähnen, das Gesicht zusammengezogen von schmerzlicher Anstrengung, vor der Tafel. Er wußte alle Buchstaben zu schreiben und zu lesen, langsam zwar und plump und ohne ihren Zusammenhang mit den Wörtern zu verstehen. Als der Lehrer ihn lobte, löste er sich aus der gewaltsamen Spannung und brach in ein Weinen aus, das spät erst zu dämmen war und mit Stößen von Schluchzen bis in den Schlaf nachzuckte.

Nach dieser Probe erhoffte der Oheim Großes von dem späten Anfänger, verbarg jedoch Überraschung und Erwartung vor Naftali mit Sorgfalt. Er gab ihm fortan keine andere Arbeit als die des Lernens, die aber lenkte er mit Härte und Strenge, denn es dünkte ihn schmachvoll, daß ein Schüler von solchen Gaben und Trieben soweit zurück hielt, und er brannte vor Ungeduld, den Neffen bald mit Ehren zeigen zu können. Naftali lebte, wenn er nicht beim Essen war oder im Bethaus, einzig in seiner engen Stube. Überfiel ihn die Lust nach der Weite, nach Steppe und Himmel, so sprach er laut wie Beschwörung die Worte des Buchs, an denen er eben hielt, und verflammte in sie die Sehnsucht, die ihm verboten schien. Schmerzte ihn der Kopf vom unablässigen Bemühen und begehrte sein Leib auszuruhn in der stillen Arbeit an Vieh und Gerät, so malte er mit wachsender Kunst die Buchstaben hin, wandelnd den Umriß der Dinge, der ihm versagten Frieden barg, in die Form der Zeichen, die das Unfaßbare bedeuteten. Hockte er neben dem Oheim, Neues lernend, unzufrieden mit sich, daß er es noch nicht meisterte, so geriet ihm in das Wiegen der Glieder, das die Gedanken vorwärts schaukelte, wie ers dem Lehrer absah, ein jäher, heftiger Schwung; er warf sich auf den Rücken des Worts wie in den Sattel, saß mit gespreizten, gespannten Schenkeln und zügelnder Hand, und wie im Wettreiten steigerten sich wechselseitig Eifer des Schülers und Forderung des Lehrers.

Als endlich Naftali reif befunden war für die hohe Schule des Talmuds, ging er auch dort nicht ruhigeren Weg. Jüngere fand er da, die nach zeitigem Beginn ihrer Schulung ihm weit voraus waren. Das Rennen ging fort, nun mit den Kameraden um die Wette und nach wenig Jahren nicht mehr nur mit der Forderung des Lehrers, sondern mit dem Lehrer selbst, welchen er denn an Wissen und Verstehen übereilte, wie er Jene übereilt hatte.

Wenig mehr als zwanzig Jahre alt, hielt er selber öfters im Bethaus deutende Predigt. Mit kräftigem Bart, die Augen fest, strenge und dunkler geworden, Antlitz und Glieder mäßig gerundet, sah er männlich und würdig aus weit über sein Alter und wußte mit Anstand den Ruf seiner hohen Gelehrsamkeit zu bestehen, der weit über das Städtchen hinaus erscholl. Deckte er mit der immer noch rauhen, doch schon geschmeidigten Stimme verborgene Ordnungen der Lehre auf, schied das Benachbarte, band überraschend das Ferne, so sah er wohl innen frohlockend die Hörer mit Augen aufleuchten, einen Finger heben, nicken und die Bärte sich streichen, hörte mit Behagen ihr »ah« und »hm«, allein sein Gesicht blieb ernst und fern über dem heimlichen Genuß seiner Ehre. Wonne aus Augen, Wangen und Lippen strahlend aber kostete der Oheim den Ruhm des Schülers, der endlich seinem Hause zur wünschenswertesten Verbindung half. Der Rabbi der Hauptstadt Polens verlobte seine Tochter dem jungen Gelehrten, und im Geleit der Sippe, die ihn wie einen Bettler einst aufgenommen hatte, nun ihr Stolz, reiste Naftali nach dem neuen Wohnort.

 

Drittes Kapitel

Unterwegs hatte Naftali mehr an künftige Tätigkeit und Ehre gedacht als an die Braut, die er nicht einmal im Bilde gesehen hatte. Streifte sie aber sein Gedanke, so erschien sie der immer zarten und gebrechlichen Mutter ähnlich. Als er sie dann völlig anders sah, ein tüchtig blühendes, heiteres Geschöpf, nahm er sie ohne tiefern Anteil als die ihm zugewiesene Gefährtin hin. Er stillte in Scheu an ihr sein Blut, dessen Wallung er vordem strenge niedergehalten hatte, er achtete sie und dankte ihr, daß sie ihm Kinder gebar. Gespräch geschah wenig zwischen ihnen, wie er auch sonst in Worten karg blieb, die nicht Worte der Lehre waren.

Er sammelte Schüler um sich, die ihn bewunderten. Er breitete durch Rede und Schrift seinen Ruhm aus. Alle um ihn, auch den Vater der Frau, überragte er hoch an Geist wie an Körper. Ging er durch die Straßen, so beugte sich das Volk ehrfürchtig grüßend, und er, in sammetnen Mantel und Pelzmütze immer sorgsam gekleidet, nickend mit kühler, ernster Freundlichkeit, maß die Schritte, die noch oftmals ihm allzu schnell und weit geraten wollten.

Daheim grub er in Schriften und Gedanken, die ihm wenig Widerstand mehr boten, Gänge der Erkenntnis; sie kreuzten sich, mündeten ineinander, schienen endlich alle in einen unentwirrbaren Zauberkreis geschlossen, in dem der Suchende immer wieder die eigene Spur fand. Er wußte, daß er weiter steigen würde an Macht und Geltung, aber das gab ihm keine Ruhe noch auch mehr den Antrieb, der ihn bisher durch Mühsal um Mühsal zur Höhe gehetzt hatte. Manchmal erschien ihm der zuckende Leib des Tiers, das ihn auf seiner Flucht getragen hatte, wie es bei den ersten ruhigeren Tritten zusammengebrochen war, und er fühlte: die eigenen keuchenden Glieder wollten so versagen. In wachsender Angst suchte er zauberische Macht zu erwerben, um sich zu retten wider den Zauber, von dem er sich umstellt fühlte. Aber die Formeln, aus verborgenen Schriften gelesen und aus offenen erdeutet, rannen machtlos von den zitternden Lippen, und wenn die Hand, um den Kiel gepreßt, die magischen Zeichen aufs Pergament gezogen hatte, begab sich nichts als der gewohnte Ablauf des Tags. Horchte dann Naftali auf und gewahrte, wie die Uhr in der Stube forttickte, ein Schritt auf der Stiege ging, draußen ein Wagen rollte, so drängte es seinen Arm, mit Gewalttat den Gang der Begebenheiten aufzuhalten, der ihn verhöhnte. So oft bissen seine Lippen sich aufeinander, daß ihre Fülle nach innen sich verschob und der Mund schmal und gespannt erschien. Manchmal gönnte er seiner Unruhe einen langen Ritt durch Ebene und Wald, aber was früher, so sehr er zur Stadt drängte, dunkel Stillendes aus Land und Himmel ihn angekommen war, verhielt sich nun vor ihm, und starr wechselten durch seinen Blick die gesichtlosen Dinge. Das Volk gab ihm den Namen, der ihm von nun an blieb und der, wie er gesprochen wurde, alles Fremde, Herrische und Rastlose an Naftali einfing: der Reiter.

Naftali hatte mehr als einmal von einem Manne sagen hören, der unter dem Namen Abraham der Maggid – das ist: der wandernde Prediger – im Volke Verehrung und Liebe genoß. Niemand wußte neue Lehre oder überraschende Deutung aus seiner Rede zu berichten, doch hieß es, er sehe das Ferne, meistere das Geschick, wende das Wetter und heile Kranke; uralte geheime Schrift sei in seinem Besitz, die er immer mit sich führe und aus der seine Macht ihm werde. Selten komme er in die Hauptstadt, meide Ehre und Glanz und nehme an Gaben nur, was er fürs Nächste brauche. Naftali, der von den wandernden Predigern nicht hoch dachte, wendete von solchem Gespräch das Haupt ab; es kam aber ein Tag, da jene Worte in das Unbewehrte seines Innern trafen, sich mit Widerhaken festhielten und nicht mehr auszureißen waren. Träumend sah er sich im räuberischen Schwarm, in dem er einst geritten war, hinter dem Alten herjagen, die Kraft seines Zaubers überwinden, ihn fangen und die Schrift ihm entreißen, die dem Geringen nicht zukam. Aber die Zeichen gingen flammig hin und wider vor seinen Augen und gaben keinen Sinn. Stöhnend schrak er auf und sah seine Hände leer. Aus dem Traum her höhnte ihm die Gestalt Abrahams nach, groß im Winde, die Schriftrolle schwingend über dem Gesicht, welches, ins Teuflische erwachsen, das Gesicht eines der Vettern war, die in der Kindheit ihn verlacht hatten.

Am Vortage des Sabbat war Naftali, allein und unter fremdem Namen, in der kleinen Stadt, die den Maggid erwartete. Er stand vor Einbruch des Abends im Bethaus unter den Männern der Gemeinde, deren Gespräch nicht von der Nähe des Ruhetages allein ihm festlich schien. Er hörte, auch wo sie nicht von dem Kommenden redeten, frohe Gewißheit ihre Stimmen heben, sah ihre Gesichter und Gebärden einträchtig zueinander und zu einem Andern, das ihm feindliches Geheimnis war. In der Ungeduld des Wartens wurde ihm, als stehe er seit vielen Jahren so unter den Offenen und Lebendigen, nur er verschlossen, nur er starr und tot.

Abraham erschien, und Naftalis Traumbild von ihm zerstob, ohne daß er es nur bemerkte. Der Maggid war ein kleiner, langbärtiger Mann, stämmig, doch zierlich gebaut, rüstigen Schritts, ausgiebig in Gebärden, die eine regelfreie Anmut immer würdig und zu bewegter Ruhe gerundet hielt. Während an Naftalis hochaufgerichtetem Leib jede Muskel sich spannte und regungslos er abseits verharrte, sah sein brennendes Auge den Maggid, ganz Gruß und Lächeln, zwischen den Vielen sich rühren und schnell im Gespräch sich vergessen. Horchte er, so sank sein Gesicht auf die Brust und ging fast unter im Weißen von Haar und Bart; zur Antwort erhob es sich leuchtend und brachte einen Blick mit empor, als sei es eben hinabgetaucht gewesen zum Grunde der Welt und habe in ewige Augen geschaut. Später dann, als die Wellen murmelnden, rufenden, singenden Gebets im Raum stiegen und sanken, hörte Naftali wieder und wieder die eine hohe Greisenstimme herausklingen, die doch nicht laut war, aber von einer in des Lauschers Gemüt schmerzlich einschneidenden Innigkeit.

Lange schlaflos auf seinem Lager haderte der Reiter mit Abraham. Er schalt ihn unernst und würdelos, den kleinen, redseligen, zappligen Mann, allein es gelang nicht, ihn zu verachten und Ruhe daran zu finden. Hinabgehn, das Pferd aus dem Stall ziehn und davonjagen, wäre Glück gewesen, aber das verbot der Sabbat, der ihm nun wie Gefängnis war, in die quälende Nähe ihn festbannend. Beim Frühgebet, den dumpfen und wehen Kopf wiegend zu den gewohnten Sätzen, meinte Naftali die Stimme des Alten zu hören, Wort für Wort ihm vortönend, und die eigene Stimme hallte nach, öde und schal. Schwerfüßig, mit grauem Antlitz brachte er sich zum Bethaus, wo er den Tag über verblieb. Er hörte nun auch die Rede des Alten; kein Gedanke war darin, den er nicht selber schon weiter gedacht hätte, aber als wären sie vorher blind gewesen, sahen nun die Gedanken mit Blicken ihn an und bewegten sein widerwilliges Herz. Nach Sabbatausgang vermochte er das Städtchen nicht zu lassen, bevor er den Maggid hatte abreisen sehn. Er stand gelehnt an die Hauswand der schweigenden Straße, hörte Geroll auf dem Pflaster, sah das einfache Gefährt nahen, die Laterne schwankend zwischen den Rädern, und an der Wand gegenüber drehten im wehenden Schein die Schatten der Speichen wie geisterhafte Flügel einer riesigen Mühle.

 

Viertes Kapitel

An einem der nächsten Tage saß Naftali in seinem Arbeitszimmer, von aufgeschlagenen Büchern und entrollten Blättern umgeben, eine gelehrte Schrift unter den Händen, der wenig zur Vollendung fehlte; dies Wenige selbst war in Gedanken fertig und wartete des Worts, das er sonst schnell und entschlossen aufs Papier setzte. Es geschah aber, während er dem bündigsten Ausdruck nachsann, daß er sich verlor wie als Knabe auf der Weide liegend in ein dumpfes und zähes Sinnen über Nichts, plötzlich seine Hand, die mit der Feder spielte, wahrnahm, mit Schrecken seiner selbst und seines Werks sich erinnerte, aber nicht Kraft hatte, sich in Besitz zu nehmen. Der Schatten, der von der Krümmung eines Blattkopfes auf die zierliche Schrift fiel, ließ sein Auge nicht los; der Winkel, in dem ein Foliant an den andern gelehnt stand und die staubige Höhle darunter bannten seinen Geist in ein blindes Tasten nach unfaßbarer Erinnerung. Alle Gegenstände um ihn waren in ein gespenstisches eigenes Leben entzogen, das irgend im Traum einmal begriffen zu haben eine flüsternde Stimme in ihm meinte. Er spürte in der Nase die schwach modrige Luft des Zimmers und suchte nach dem Geruch, an den sie ihn mahnte, als hinge sein Heil daran, ihn nennen zu können. Ergrimmt sammelte er sich, von vielen sinnlosen Worten das Ohr umzischt, auf das, was zu sagen er sich aufgegeben hatte, aber die Sätze, die er hinschrieb, waren falsch und matt. Je mehr ihm endlich gelang, sich zu wecken, desto körperlicher sah er Abrahams Antlitz vor Augen, auf die Brust gesunken wie im Gespräch. Naftali aber fürchtete den Blick, den das deutliche Gesicht gegen ihn heben würde, und er flüchtete in das Rinnen des grauen Geträumes zurück wie in Sicherheit.

So verloren hörte er den Schritt seines Weibes draußen, ging unbewußt zur Tür, griff die Hand der Vorbeischreitenden und zog sie zurück, ins Zimmer, auf den Sessel, der dem seinen gegenüberstand. Er ließ sich nieder, nun erst ganz wach und über das eigene Tun erstaunt, und sah das gewohnte, doch unvertraute Gesicht über Tisch und Bücher weg in verwunderter Frage blicken. Worte stiegen aus seiner verschwiegenen Qual in ihm auf, aber keines wurde laut auf den Lippen, die sich suchend bewegten. Da gewahrte er, wie alle diese Worte nur ihn selber und seine Macht meinten, keines zwischen ihm und einem Menschen oder zwischen ihm und Gott in gemeinsamer Luft tönen konnte; gesprochen wären sie alle nur Ohnmacht und Scham geworden, die schon in Gedanken ihn heiß und rot werden ließ. Rund in sich beschlossen verharrte das Gesicht ihm gegenüber und wie feste Steine die braunen Augen darin unter dem straffen Scheitel. Er stand auf, strich mit der Hand über den Kopf der Frau hin, ohne ihn zu berühren, ging zur Tür, wo er einen Augenblick zögerte, und verließ sodann eiligen, harten Schrittes die Stube. Die Frau hörte ihn hinabgehen, schaute unverstehend und dunkel enttäuscht im Zimmer umher, trat ans Fenster und sah ihn im Hof das Pferd zum Ausritt satteln und zäumen. Dann ging sie zu ihren beiden Knaben, in deren Gesichtern sie dem eigenen Blick begegnete; keiner trug Züge des Vaters. –

Der Reiter sandte Nachricht an Abraham, den Maggid, Rabbi Naftali Hakohen in Warschau fordere ihn auf, zu ihm zu kommen, wichtiger Unterredung halber. Wie es die herrische Botschaft erwarten ließ, lautete der Bescheid abweisend. Abraham danke für die Ehre der Einladung, seine Geschäfte hielten ihn jedoch ab, ihr zu folgen. Führe sein Weg ihn wieder zur Hauptstadt, so werde er nicht verfehlen, Naftali aufzusuchen. Indessen ließ er ihn wissen, wo er in nächster Zeit anzutreffen sei. Selber zu Abraham hinzureisen, das freilich konnte Naftali seinem Stolz, dem er mit der Botschaft schon viel vergeben zu haben meinte, nicht abringen.

Mühsam hielt er indessen Gang des Tagwerks und Haltung des Leibes ein, verrichtete Gebet und Dienst, lehrte und sprach, wie es seine Übung war. Niemand wußte, daß er mit seinen Worten wie mit eines Fremden Rede zerfallen war, vor seinem Gebet schauderte, an seine Schrift keinen Satz mehr zu fügen vermochte. Nur die Frau, aufgeschreckt von jener wunderlichen Begegnung, sah mit Sorge das Irren seiner Augen und das Zucken seines Mundes.

Während sie um die Gesundheit des Mannes bangte, erkrankte ihr der älteste Knabe, der vierjährige Natan. Wenige Tage, an denen er morgens blaß und gleichgültig lag, abends die giftige Fieberblüte auf seinen Wangen ausschlug und er unaufhörlich redete, jammerte, lachte, eins im andern, ließen ihn so verfallen, daß er ernstlich bedroht erschien. Als die Kunst des Arztes nichts fruchtete, wurde ein zweiter hinzugezogen und endlich ein dritter von hohem Ruhm, der den Eltern eröffnete, das hinlöschende Leben des Sohns sei durch menschliche Kraft nicht wieder zu entfachen. Als er Vater und Mutter allein gelassen hatte unter dem Todesschatten dieses Bescheids, die Frau gesenkten Haupts mit bebenden Schultern stand, der Mann mit ruhlosem Schritt das Zimmer hin und wider maß, warf endlich Naftali im Vorbeigehen hin, Jemand habe ihm geraten, Abrahams, des Maggids, wunderbare Heilkunst anzurufen; er freilich halte nichts davon. Die Frau, sogleich zu hoffen bereit und verstehend, was der Mann von ihr wünsche, schlug vor, Abraham holen zu lassen, und verharrte gegen Naftalis verächtlichen Widerspruch solange darauf, bis er ihr, da ja nichts mehr schaden könne, freigab, zu tun, was ihr Weiberverstand für recht halte.

Der erneuten Einladung weigerte der Maggid sich nicht, und schon zur Mitte des nächsten Tages sah Naftali den wohlbekannten Wagen in seinen Hof einfahren. Er ging hinab, den Ankömmling zu begrüßen, der nun stiller und mit großem Ernst erschien, war erleichtert, kein Zeichen des Wiedererkennens an ihm zu bemerken, und führte ihn in die Stube neben seinem Arbeitszimmer, die er bewohnen sollte.

Als wenig später der kranke Knabe wahrnahm, daß ein fremder Mann mit den Eltern bei ihm eintrat, kehrte er sich mit heftigem Schluchzen der Wand zu, durch die wechselnden Erscheinungen der Ärzte, die ihn gegriffen und behorcht und bittere Tränke ihm eingeflößt hatten, gegen jede neue Person widerwillig gemacht. Der Alte ließ sich, ohne ihn anzureden, neben dem Bette nieder und fragte die Eltern aus nach der Meinung der Ärzte und dem Gang der Krankheit. Die gedämpfte Lebhaftigkeit seiner Stimme, die wie ein Hauch freundlicher Kraft wieder und wieder den Raum durchlief, zog den Knaben mählich aus seiner Abkehr herum. Erst als er mit Schluchzen geendet hatte und den Blick aus dem tränenbeströmten Gesichtchen mit wohliger Neugier auf der Erscheinung des Alten wandern ließ, begegnete ihm dessen voller Blick und lächelnder Gruß. Der Maggid unterbrach das Gespräch nicht, er hieß die Anordnungen des letzten Arztes weiter befolgen, und nach einer Weile erst nahm er die Hand des Knaben, die sich gerne gab, in seine Hände.

Als Naftali am Nachmittag wieder die Krankenstube betrat, fand er Abraham am Bett, wie er dem Kind erzählte, das bleich und ernst, aber in großem Frieden ihm horchte. Naftali, dem der Alte weitersprechend zunickte, blieb nahe der Tür stehen, gebannt von der reinen Stille, welche die beiden einschloß, und mit einem unwillkürlichen Lächeln, das er aber sogleich auslöschte, da ein feiner Stich des Neides ihm ins Herz fuhr. Nach einer Weile wurden die Augen des Knaben kleiner, die Wangen röter, die Atemzüge heftiger; wie alle Tage um diese Zeit hob sich das Fieber. Abraham hörte auf zu reden, legte die Hand auf die Stirn des Kindes und winkte dem Vater zu gehen. Naftali, ohne zu zögern, gehorchte und nahm es erst wahr, als er wieder an seinem Tisch vor den Büchern saß. In verspätetem Trotz verbot er sich nun, noch einmal nach dem Kranken zu schauen.

Am Abend kam die Mutter mit strahlenden Augen zu ihm und berichtete, wie das Fieber nicht nur unter der Höhe der Vortage geblieben sei, wie es auch der ruhenden und streichenden Hand des Alten nicht standgehalten habe und der Knabe in gesundem Schlaf liege. Sie nötigte den Mann in den Nebenraum, dem Helfer zu danken, der lächelnd abwehrte. Solch einem Kind gesund werden helfen, meinte er, sei Freude mehr als Arbeit, da die weichen und beweglichen Kräfte von selber auf den Weg der Genesung sich zögen, wenn er nur eröffnet sei. Er kenne schwerere Hülfe, daran er oft verzage, wenn der Kranke in sein Übel mit den verhärteten Kräften des Erwachsenen verklemmt sei und selber der Heilung grollend sich weigere. Da möge denn zwischen dem ersten heilsamen Berühren und der Genesung Fremdheit, Kampf und ein Lauf unheilvoller Jahre sich hinziehen und gar, wenn es doch komme, für Menschenaugen das Heil nicht mehr sichtbar sein unter der Verwüstung.

 

Fünftes Kapitel

Zwei Tage vergingen, an denen morgens das Gebet des Alten durch die dünne Wand hin Frieden und Licht in Naftalis Halbschlaf, dunkle Schauer in sein Erwachen goß. Als am Mittag des zweiten das Kind, ohne Fieber und klaren Blickes, wieder kräftige Nahrung begehrte, sagte Abraham seine Abreise für den kommenden Morgen an. Naftali wanderte einsam in seinem Zimmer und grübelte, was nun zu tun sei, hundert Pläne entwerfend und verwerfend, da verlangten zwei Fremde zu ihm, die überraschende Kunde brachten. Der Rabbi der großen, fernen Gemeinde Frankfurt am Main war verstorben, und die Vorsteher der Gemeinde wünschten Naftali Hakohen zu seinem Nachfolger zu machen. Ehe der öffentliche Ruf an ihn erging, ließen sie nun seine Meinung erfragen. Die war in Naftalis ehrfrohem Sinne sogleich entschieden, und nur, um sich nicht allzu wohlfeil zu zeigen, lud er die Boten, einige Tage, bis er alles wohl erwogen habe, seine Gäste zu sein.

Eilig teilte er der Frau die gute Nachricht mit und malte sich nun, zwischen Gesprächen oder allein, die neue Würde und Arbeit in behaglicher Erregung aus, bis in den Schlaf der Nacht. Aber als in der Frühe die betende Stimme ihn weckte, da griff ihm ein jäher Schrecken vor unersetzlichem Verlust würgend an die Kehle. Ausgetrunken und einverleibt werden mußte das Heil aus jenem tönenden Gefäß, ehe es ins Ferne entrückt war und vielleicht in der Entrückung zerbrach und der kostbare Trank in die fühllose Erde verlief. In irrer Hast warf der Reiter die Kleider sich an und stand bei den letzten Worten des Gebets vor dem unbekümmert aussingenden Gaste.

Dessen stilles Endigen seines Dienstes machte den Wirt scheuer und gehaltener, so daß, was erst als Forderung aus seinen Lippen stürzen wollte, als Bitte hervorkam: Abraham möge noch bleiben; da er nun so viel für Naftali getan habe, möge er ihm, der nun bald das Land verlassen werde, auch die Kunst geben, wenn der Helfer nicht mehr erreichbar sei, selber sich und Andern zu helfen; er möge ihn seine Macht, zu heilen, möge ihn allen Zauber, dessen er kundig sei, lehren; einen würdiger vorbereiteten Schüler werde er nicht leicht finden, und was sei all sein Können endlich nütze, wenn ers nicht Einem überliefere, der nach ihm es fortübe. Der Alte hatte in seiner versunkenen Art zugehört, nun hob er aus langer Stille beide Arme in der Bewegung schmerzlichen Bedauerns und einen Blick innigen Mitleidens gegen den Bittenden. Sehr leise, die Hände, als beschwöre er auch den Andern leise zu sein, flach und mit Zittern senkend, brachte er ein vielfaches »nicht, nicht« hervor, schüttelte den weißen Kopf, sah von nahe in Naftalis Augen und wiederholte nur »nicht, nicht«. Dann wandte er sich zum Fenster und schien mit Anstrengung da draußen etwas erspähen zu wollen. Naftali ergriff eine dunkle Starrheit wie einmal als Knaben, da er eins seiner Tiere, das abseits ging, hart mit dem Steine getroffen hatte und ein unergründlicher Blick aus dem Rinderhaupt ihn angekommen war; als der Blick Abrahams von ihm ließ, war das Auge jenes Tieres auf ihm und ließ sein Inneres in Angst erkalten.

Mit Trotz aber richtete er sich nun auf, drehte den Schlüssel in der Türe um und sprach zu dem abgewandten Alten, er möge nun wollen oder nicht, hier komme er nicht fort, er gäbe denn zuvor sein Geheimnis her. Nicht dazu habe er, Naftali, Jahre in Qualen geforscht und bis an die Grenze menschlicher Kraft sich gemüht, um nun, da das immer noch fehlende, krönende Wissen des Wissens ihm greifbar nahe sei, es den Händen willig entgleiten zu lassen. Da drehte der Gast sich um und sagte mit spottlosem Ernst, Naftali könne ruhig offen lassen; er gebe sich also gefangen und verspreche, zu bleiben, solange der Dränger ihn halten wolle. Der Gewalt widerstrebe er nicht, aber sie werde auch nichts an ihm gewinnen. »Was ich weiß,« fuhr er fort, »mögt Ihr alles hören, aber Ihr wißt mehr, und was frommt Euch mein Weniges? Was ich kann, hat mich keiner gelehrt, wers denn nach mir können soll, dem wird es gegeben werden wie mir.« Und fast zärtlich schloß er: »Vergeßt es, Freund, vergeßt einmal alles, was Ihr wollt. Ihr bedrängt nicht mich allein, den Herrn der Gabe aber, wenn er kommt, wenn er scheidet, fangen Tür und Riegel nicht.«

Von all dieser Rede hatte Naftali nur vernommen, daß seine Forderung erfüllt werde; in der Lust daran versank ihm das Weitere. Um so größer war denn bald die Enttäuschung. Wo der Fehler liege, der die alten Weisungen zu magischer Kunst in Naftalis Hand und Mund unwirksam hatte bleiben lassen, wußte auch der Maggid nicht zu zeigen, noch schien er überhaupt tieferes Studium an sie gewandt zu haben. Lasen die beiden miteinander, so versuchte wohl der Jüngere durch eine plötzliche, wie selbstverständlich getane Frage nach geheimer Bedeutung des Worts dem Alten ein verstecktes Wissen zu entlocken. Der konnte dann mit dem Stuhl weit fortrücken, listig blinzeln aus dem in Fältchen zergangenen Gesicht, mit dem Finger drohen und lachen, aber rasch wieder ernst, ja traurig werden, den Jüngeren mißbilligend aus zurückfahrendem Kopf unter strengen Brauen anschauen, mit einem kurzen »ä« und einem Handstrich übern Tisch den Versuch wegwischen und befehlend mit dem Zeigefinger aufs folgende Wort pochen. Befragt, auf welche Art er heile und Fieber herabdrücke, setzte er wohl mit nachdenklichem Gesicht und einem Anheben des Arms ins Ungefähre zur Rede an, schüttelte aber bald den Kopf und meinte, das müsse man in den Fingern haben und nur recht dabei sein. Ob er denn von Zauberworten und -zeichen nichts halte? Das wolle er nicht sagen, ein Anderer möge sich damit helfen oder schaden können; er verstehe sich darauf nicht.

Dies ganze Wesen hielt Naftali für schlaue Verstellung und er machte sich fest im Glauben und Willen, dem Alten die Wahrheit herauszulocken oder zu -zwingen. Wenn die Gäste erst fort wären, er allein mit Abraham und unabgelenkt, müsse es gelingen, so beredete er sich. Aber die Gäste hatten, mit Naftalis Ja, die Heimkehr angetreten, und weiter wie bisher lief Tag um Tag in vergeblichem Lernen und Sprechen leer aus.

Eines Morgens, als der Alte, wie er gerne tat, mit den Kindern war, stand Naftali, laut klopfenden Herzens, Schweiß auf der Stirn und tiefe Übelkeit im Magen, am Tisch des Gastes und wühlte mit fahrigen Händen in dessen Büchern und Briefen. Da fand er, und brach fast in die Knie vor Schreck des Triumphs, ein kleines Pergament mit verblichener Schrift, das wie ein Lesezeichen aus einem wohlbekannten Buche ragte. Naftali begann zu entziffern, mühsam den Tränenschleier der Augen durchdringend: es war, von Urväterhand geschrieben, die Anweisung, den Lichtgeist höchster Erkenntnis in offenbarende Erscheinung herabzubeschwören.

Der Reiter nahm das Blatt an sich, und als am Nachmittage der geduldige Gast neben ihm saß vor aufgeschlagenem Buch, legte er auf die neuere Schrift die mächtige alte, mit richterlichem Blick das Auge ihres Besitzers suchend. Der Maggid sah ruhig, ohne Vorwurf und Überraschung, doch nicht ohne Schwermut ihn an. Das Blatt sei ihm vom Vater überkommen, der ihn geheißen habe, es mit sich zu führen, doch nicht danach zu verfahren. Der solches, vor ungemessener Zeit, versucht habe, solle tot vor dem Pergament gefunden worden sein, und die Sage gehe in seinem Haus, wer diesen Zauber recht übe, der müsse dran sterben, wer aber ihn verfehle, großes Unheil über Israel bringen. Auf Naftalis erregte Bitte, ihm das Blatt zu lassen, da Abraham es doch nicht nütze, schüttelte der mit gebietendem Blick den Kopf: dies Erbe sei nicht feil. So wolle ers abschreiben, sagte Naftali, und dann zurückgeben, und kein Mahnen und Bitten des Alten vermochte ihn davon abzuwenden. Er kopierte getreulich die Schrift und was an Zeichen nicht mehr sicher zu lesen war, ergänzte er aus Erwägungen, die, wie er meinte, nicht fehlen konnten. Freilich, als dann neben der flüsternd blassen, schicksalvollen Urschrift die Abschrift lag, blank schwarz und spielend zu lesen, schien das neue Blatt dem Schreiber seltsam eitel und leer, und als Abraham mit langem schwerem Blicke, sein Eigentum zurücknehmend, ihn ansah, vermochte er nicht der verwirrenden Scham zu wehren, die seine Augen zu Boden neigte.

Mit Dank, Ehre und Gabe, die reichlicher geboten als genommen ward, entließ er den Gast. Bald darauf begannen die Vorbereitungen zur Übersiedlung in die Stadt des neuen Amtes, und zwischen viel notwendiger Arbeit und Begegnung flog nur selten ein fiebernder Gedanke, ein hungriger Blick des Reiters zu dem erzwungenen Kleinod.

 

Sechstes Kapitel

An Naftalis erstem Jahre in Frankfurt blieb von dem Herbstabend seiner Ankunft ein Schimmer haften. Ehe noch die Stadt sichtbar geworden, war sein kleiner Reisezug, die Wagen mit Frau und Kindern und den Treuesten aus Schülern und Gesind auf einen festlichen Zug getroffen. In geschmückten Wagen oder auf schön gezäumten Rossen holten die Vornehmsten der Gemeinde den neuen Rabbi ein. Die sinkende Sonne goß freigebig ihr Licht auf die bunten Staatsgewänder, die blanken Gefährte und Tiere der heiter lärmenden Willkommbringer; es strömte an Stoffen und blitzte an Metallen, und noch das Erdgewölk um Räder und Hufe schien stäubendes Gold. Wie einem Fürsten rief dann in den Gassen der Judenstadt das gedrängte Volk sein »Segen dem Kommenden« Naftali zu. Der gewaltige Mann, der, was Anmutendes ihm fehlte, durch Kraft und Hoheit vergessen ließ, hatte sogleich die Menge gewonnen. Er spürte, daß sie mit seinem Ruhm sich schmeichelte und, je mehr er sich erhöhen werde, sich selber würde erhöht fühlen. So waltete er denn nach Fürstenart und wandte die Pracht einer kleinen Hofhaltung auf. In der Zeit der Übergangs hatte sich viel unentschiedener Streit angehäuft, und Naftalis rasches, entschlossenes Richten oder unwidersprechliches Schlichten bekräftigte sein Ansehen. Seine Auslegungen des Gebots erzählte man sich von Haus zu Haus als Muster gewisser Kenntnis, scharfer Unterscheidung, überraschender Einsicht. Bald dachte Der und Jener sich schwierige Fragen nach Erlaubt und Verboten aus; er trug sie zum Rabbi, um eine der köstlichen Antworten zu erbeuten und vor Nachbarn und Freunden damit zu prunken. Daß Naftali geheimer Künste Meister sei, war ausgemacht in der Gemeinde, und flüsterndes Gespräch ging darüber um, das, weil keiner Genaues wußte, nur geheimnisvoller und triftiger klang. Tausendfach sah sich der Reiter gespiegelt und kostete den Glanz der Bilder und ward seiner selbst sicher daran. Die Anfechtungen des Vorjahrs schienen ihm hohle Narrheit, deren er nicht mehr denken mochte.

Als aber das Jahr um war, der zweite Herbst das Land kühlte, waren die Spiegel wie blind und die Bilder schattenhaft geworden, das erregte Getriebe ruhiger und gewohnt, und der Unrast im Blute des Reiters erwiderte nichts im behaglichen Gang des Lebens umher. Naftali setzte sich vor, die Schrift, die er in Warschau unvollendet hatte liegen lassen, zu Ende zu bringen. Während der Arbeit wurden die Stunden der sinnlosen Angst und Lähmung ihm wieder gegenwärtig, in denen er einst von ihr gelassen hatte. Er zwang sich, zu vergessen und vorwärts zu schauen, trieb Geist und Hand zu blinder Eile; Wettlauf wie die des Schülers ward wieder die Arbeit, aber Wettlauf jetzt mit Schatten der Verzweiflung, die im Rücken und zu Seiten ihn jagten. Noch einmal gewann er das Ziel, aber keine Lust war mehr im Sieg, und über der fertigen Schrift brach er in Schluchzen hin wie damals nach dem ersten Tage des Lernens.

Im Schlummer des folgenden Morgens träumte ihm, daß er von Abrahams Gebet erwache, aber er wehrte sich nun nicht mehr gegen den Frieden, und die Wand zum Nebenraum verging; er erhob sich und stand neben dem Alten, und mit dessen Stimme einte die eigene sich, und ein Paar von weißen Vögeln zog gegen Osten. In dieses Gesicht traf mit schneidender Qual das wirkliche Erwachen. Eisern fest war der fremde Raum in Fremde gebaut, und Naftali entsann sich jener Augenblicke des Aufwachens unter der Stimme Abrahams, ehe noch der Trotz ihn entrückt hatte, als seien sie die einzig glücklichen in seinem Leben gewesen. Er stand auf und suchte das Blatt hervor, das die Zauberweisung enthielt; die Schrift, als sei es nicht mehr seine eigene, zog ihn mit dunkler Macht an. Alle die Monate, in denen er dem Gedanken an sie und an Abraham ausgewichen war, schienen nun Flucht und Irre. Die Gestalt des Traumes zwar, wie sie lebendig vor ihm erstand, wollte mit mahnender Gebärde wie einst ihn wegscheuchen vom Verhängnis. Er aber griff das Blatt und drückte es an seine heiße Stirn.

Von nun an lebte er heimlich mit dem Bilde des Maggids, nicht zwar im Frieden jenes Traums, aber in innigem Streit ihm verbunden. Er beharrte darauf und redete in sein leeres Zimmer hinein halblaut kunstvolle Beweise, daß er der Berufene sei, die Beschwörung zu vollziehen. Und möge er auch sterben, so habe er doch einmal die lösende Wahrheit geschaut und am äußersten Ziele gestanden. In solchen Stunden des Schattengesprächs fühlte er sich noch stark. War er im Dienst seines Amtes, so zog ihn Müdigkeit nieder, und nicht mehr wie in Warschau noch lag er in hellem Kampfe mit ihr, sondern sie glitt mit geigender Lust durch seine Gelenke, er sehnte sich mit allen Gliedern, ihr nachzusinken in Schlaf, und seine Wehr war matt und unlustig. Oft sah man ihn zerstreut und säumig, sein Geist war langsam, und nur das Gewohnte geriet ihm wie früher, die überraschenden Blitze der Einsicht und Kraft sprangen nicht mehr aus dem erloschenen Gewölk hervor. Oft lockerte sich die ehedem stets bewachte Spannung seines Gesichts, er stand, die Arme schlaff hängend, mit vorgesunkenem Kopf auf schrägem Nacken, mit vorquellenden Lippen und starren Augen, und das Ungefüge seiner Gestalt war bloß. Noch galt sein altes Ansehen, aber Zweifel und Enttäuschung wurden hier und dort gegen ihn laut. Er nahm nichts davon wahr, alle Macht seines Wesens hatte er eingerafft in die heimliche Bereitung zur letzten Tat.

Nur in ihr war er ganz sein Herr und führte die alten scharfen Waffen gegen Mattheit und Schwäche. Er wachte, fastete und betete, wie auf dem Blatte vorgeschrieben stand, aber immer noch war ihm die Wucht der Seele nicht mächtig genug gesammelt in solches Tun, und er übte sich zäh, nichts als das Eine zu denken: die kommende Beschwörung. Als der Sommer anbrach, dünkte er sich, den strengsten Blick auf sich selber gerichtet, bereit und würdig.

Es kam, nach Tagen völliger Entzogenheit, die Nacht, die Naftali der Beschwörung bestimmt hatte. Er kleidete sich festlich, er löschte die Lampe, stand in Finsternis, die ihm schwärzer schien als jede frühere Nacht und sprach, vor der eigenen Stimme erschauernd, in das Schweigen der Welt hinaus laut Wort um Wort den bannenden Spruch. Dann harrte er des Lichtgeists, regungslos im gespenstischen Nachhall der Laute. Eine Weile geschah nichts, und das Schweigen schien zu wachsen, nur das Blut sauste und pochte ihm in den Ohren.

Dann kam, mit einem feinen Metallton der springenden Klinke, ein Seufzen aus der Tür; schon stand sie offen, und mächtiger Schein quoll mit weißen Schwaden ins Zimmer. Einen Augenblick lang wollte Naftalis Wesen jubelnd einströmen in die Helligkeit – einen Augenblick nur, bis Rauch ihm scharf in Nase und Kehle sich schlug und er zurücktaumelnd erkannte: Brand.

Mit gellendem Schrei sprang er auf den Flur zu ebener Erde, wo sein Zimmer lag. Zugleich rannten die jammernden Mägde aus der Gesindestube hervor. »Die Frau, die Kinder!« schrie Naftali und lief die Treppe an, deren Bretter hier und da schon glimmend sich aufbogen. In seinen wirren Sinn blitzte Erinnerung an das brennende Heimathaus, und der Vater erschien ihm im Qualm, singend, das Beil in der Rechten. Da warf sich ihm laut weinend der älteste Knabe von oben entgegen, er fing ihn, reichte ihn hinab, »die Mutter?« rufend, und wollte nach oben. Aber die Mägde hingen sich ihm an Rock und Beine, während das Kind aus dem Weinen »Mutter holts Brüderchen« hervorwürgte. Bis aber Naftali mit Fausthieben sich befreit hatte, krachte schon oben der erste Balkensturz, ein Flammenschwall drang treppab, die Glut, von der Bart und Haar ihm knisterte, stieß ihn, augenblendend und erstickend, zurück unter das flüchtende Gesinde, das den Besinnungslosen ins Freie schleifte.

Naftali wurde um Mittag in einem fremden Hause wach. Als er sich aus den Kissen, in die er sorgsam gebettet war, aufrichtete, um in der freundlichen, kleinen Stube sich zurechtzufinden, sah er an der Wand gegenüber den Kruzifixus hängen. Er griff sich an die Stirn, laut sich zur Besinnung rufend, weil er zu träumen glaubte. Da trat ein Bürger ins Zimmer, der mit ernstem Kopfneigen ihn grüßte und ihm anriet, sich zurückzulegen, er brenne noch von Fieber. Ihm folgte die Hausfrau, die den kleinen Natan auf Armen trug. Naftali sah die Füße des bleichen, wimmernden Kindes verbunden und wußte mit einemmal wieder, was geschehen war. Nun zwangen ihn Schwäche und Schwindel in die Kissen zurück, aus denen er mühsam nach der Frau und dem jüngern Sohn fragte. Keine Antwort kam, und während Naftali nur ein kurzes Stöhnen hervorrang, brach das Kind in lautes, bitteres Weinen aus, am Hals der mütterlichen Fremden sein Gesicht bergend. Nach einer stummen Weile, als das Weinen mählich verzuckte, sagte Naftali Dank für Aufnahme und Pflege und, das fremde Heiligtum mit dem Blick streifend, ob denn kein jüdisches Haus ihn und sein Kind habe bergen wollen. Die Judenstadt, berichtete ihm der Hausherr, stehe überall in Brand, wo die Flammen sie nicht schon verzehrt hätten. Vom Hause des Rabbis habe der frische Wind das Feuer über die Dächer geblasen. Menschen zwar seien außer den beiden, die der Rabbi beklage, nicht zu Schaden gekommen, aber unschätzbares Gut. Bürger und Juden seien einträchtig beim Löschen und Bergen, ohne aber bisher des Elements Herr geworden zu sein.

Naftali hatte sich, die Augen groß vor Entsetzen, während der Erzählung wieder aufgerichtet. Er müsse, sagte er, an die Stätte des Unheils und helfen, soviel in seinen Kräften sei. Keine Einrede hinderte ihn, wankend sich zu erheben, die Hausfrau ging, der Hausherr half ihm in die Kleider und redete ihm immer noch ab, mit vielen verlegenen Wendungen, als habe die Warnung außer der Krankheit des Rabbis noch einen Grund, den er nicht nennen mochte. Die Älteste der Mägde erschien, den Knaben zu warten; sie kam aus der Judenstadt und redete nicht anders als der Bürger um ein Ungesagtes herum. Sie händigte Naftali eine Summe Geldes ein, die ihr aus dem brennenden Hause noch zu bergen gelungen war. Er nahm mit Dank das Geld an sich und fragte, sie scharf anblickend, was denn noch zu berichten sei; heftig errötend rief sie »nichts, nichts« und flehte nur dringlich den Rabbi an, nicht im Fieber zu gehen.

Was sie zu sagen nicht übers Herz gebracht hatte, wurde Naftali deutlich, als er vor dem Tore der Judenstadt in das Gedräng der Menschen tauchte, die Hügel geretteten Hausrats auf dem Platze gehäuft hatten, dazutrugen und ordneten oder jammernd, redend, rufend in Gruppen umherstanden. Viele bekannte Gesichter sah er, aber wo er nahte, verstummte Rede und Lärm. Alle wandten sich ab oder machten am Gerät sich zu schaffen, kein Blick, kein Gruß kam aus der drohenden Stille, die mit ihm wanderte. Er durchschritt die Gassen, wo Jubel seinem Einzug und unlängst noch freudig ehrfürchtiger Gruß seinem Erscheinen geantwortet hatte. Wellen von Glut trieben in der Luft und nahmen ihm den Atem, Trümmer sperrten den Weg, aus denen es glomm und rauchte, schwarze Mauerreste standen zu Seiten mit leeren Fenstern, da und dort saß in einem Winkel noch die Maske des vertriebenen Lebens: ein Stück farbiger Tapete, ein Leuchter an der Wand, auf einem hoch aus der Mauer ragenden Bodenrest ein Tisch und Stuhl. Menschen stöberten im erkaltenden Schutt nach ihrem Gut; sie wandten sich ab von ihm wie die ersten. Andere trugen Möbel und Kisten durch die verengten Gassen; er mußte sich an die rußigen Mauern pressen, daß sie ihn mit ihren Lasten nicht stießen. Vor der Stätte seines Hauses, das bis zum Boden niedergebrannt war, stand ein Kreis flüsternder Männer; einer, mit spitzem Bart und stechenden Augen, kehrte sich gegen Naftali und spie ihm vor die Füße. »Er hat Feiertag« hörte der Weiterschreitende hinter sich kreischen, sah an sich herab und sah das prächtige Gewand, das als einziges ihm geblieben war. Schon erblickte er die noch brennenden Häuser und die Scharen, die mit Schläuchen und Eimern sich mühten, zu löschen. Aber er versuchte nicht erst, sich ihnen zu gesellen, er wich aus der Straße und hastig, um sich spähend, oftmals stolpernd, suchte er sich einsamen Weg durch zerstörte Höfe, zusammengebrochene Mauern, leere Gassen, bis er die unausweichliche Bahn durchs Tor und die feindliche Menge noch einmal, langsam und aufrecht, ging.

In seinem Quartier angelangt, befahl er der Magd mit dem Rest von Gewalt, der noch in ihm lebte, zu berichten, was die Gemeinde von ihm rede. Stockend und angstzitternd brachte sie hervor, es heiße, der Rabbi habe den Geist des zehrenden Feuers beschworen, ihm dienstbar zu sein, den Erschienenen aber nicht botmäßig halten können oder wollen, und so habe der Dämon von des Rabbis Hause her die Stadt erbeutet. Mit mildem Wort hieß Naftali die Erzählerin gehen.

Auf dem Lager sitzend, glühend von Fieber und Gedanken, rief Naftali die Bilder seiner Toten auf und klagte sich an, daß er die Lebenden zu lieben versäumt habe, aber das Antlitz der Frau und das ähnliche des Kindes blieben ihm jetzt wie ehe verschlossen. Nur das rastlose Pochen der Schuld ließ seinen Sinn um sie kreisen. Aber war denn er schuld? Wie Antwort erschien ihm da die uralte Mahnung, die Abraham ihm überliefert und deren Beginn allein er gewogen hatte: daß er selber sterben könne, wenn er die Beschwörung recht vollziehe; das Ende, daß er Unheil über Andere bringe, wenn er sie falsch übe, hatte sein Hochmut nie bedacht. Das volle Maß seiner Schuld goß sich ihm wie Feuer über den stolzen Bau seines Lebens und verzehrte die Macht, verzehrte das Wissen, verzehrte den Ruhm, bis alle Pracht in rauchende Trümmer gewandelt lag, der Stadt gleich, die er übel gehütet hatte. Als er so in seine wahre Armut eingekehrt war, kam wider seinen Willen eine Linderung in ihn, als wolle das Fieber sich kühlen. Er aber nahm die Milde nicht an, er saß aufrecht und peinigte seine Seele, bis er vor Schwäche entschlief.

 

Siebentes Kapitel

Naftali hatte in Frankfurt am Morgen nach jenem Tage seine dringendsten Angelegenheiten geordnet, den Wirt bezahlt, sich Alltagskleider verschafft, und, allein mit dem Sohn, dessen Verletzungen sich als leicht und harmlos erwiesen, die Reise nach dem Osten angetreten. Warschau und das Haus seines Schwiegervaters mied er; in dem Städtchen, wo Abraham, der Maggid, seinen Sitz hatte, kehrte er ein. Natan, den er bisher von Wagen zu Bett und von Bett zu Wagen hatte tragen müssen, bestand darauf, selber in den kleinen Gasthof zu gehen, brachte es, vorsichtig auftretend an der Hand des Vaters, zustande und sah stolz mit dem ersten Lächeln seit der Unglücksnacht zu Naftali auf.

Am Morgen des Tages, an dessen Mittag Naftali eintraf, war der Maggid abgereist. Seinen Hausstand, der eher karg als reich doch alle, die darin lebten, wohl gedeihen ließ, fand Naftali unter der Leitung des Weibes, einer schönen, frischen Greisin. Ein Sohn und seine Frau und ihre erwachsenden Kinder füllten das Haus. Da Abraham in einem nahgelegenen Ort verweilen und übernachten wollte, ehe er weiterfuhr, konnte Naftali ihn gut am nächsten Tage einholen. Er fragte die Frauen, ob wohl, während er die dringliche Reise zum Maggid tue, der Knabe in ihrer Pflege bleiben könne. Das wurde gerne gewährt, Naftali besorgte sich ein Roß und am nächsten Morgen mit dem Frühesten ritt er aus.

Das Fieber, das während der Reise nicht ausgesetzt und in dem zu leben Naftali sich gewöhnt hatte, war in der Nacht noch einmal zu wilder Lohe aufgegangen. Naftali schwindelte das Haupt, als er im Sattel saß, aber die Morgenluft ernüchterte und kräftigte ihn, die lange nicht mehr gekostete Lust des frischen Trabes gab ein Licht in sein nächtiges Herz. Er querte nach wenigen Stunden das Dorf, das den Maggid beherbergt hatte, und, die Nähe des Heilenden mit Ungeduld spürend, ritt er eine Strecke scharfen Galopp, bis ferne vor ihm der offene Wagen erschien. Fast erschrocken, das Ziel so sicher zu haben, mäßigte er den Ritt. Neben der geraden Straße lief in Krümmen durch den Laubwald ein Pfad wie ein Kind neben der Mutter, bald nur durch wenige Stämme, bald durch breiten Busch von ihr getrennt, ohne sie je ganz zu verlieren; zu ihm wechselte der Reiter hinüber und unbemerkt nahte er sich dem Gefährt. Bald hörte er durch den Räderlärm lebhafte Stimmen, dann sah er im Gespräch mit den drei Getreuen, die ihn begleiteten, den Alten sitzen, unverändert im Weißhaar das Gesicht, nur die Wangen gerötet von der morgendlichen Fahrt. Manchmal führte der Pfad Naftali weiter ab ins Grüne, verhüllte das Bild und ließ den Klang verhallen, aber immer kehrten die Stimmen zurück und immer die Gestalten.

Noch lange wohl wäre Naftali so in Schauen und Horchen geritten. Aber mit einem weiten Bogen des Pfades zurückkehrend horchte er vergeblich nach dem Radgeräusch aus und mit unklarem Bangen lenkte er zur Straße hinüber. Da sah er eine Strecke zurück den Wagen stehn, schief nach vorne geneigt, die Reisenden draußen die Pferde ausspannen und unter das Gefährt spähen. Die Vorderachse mußte gebrochen sein, und dies erkennend fühlte Naftali ein vergessenes Wissen in den Armen wach werden. Er ritt zu der Gruppe hin, stieg ab, ergriff die stumm gebotene Hand des Maggids, neigte sich vor den Begleitern, klappte sodann den Kasten in der Wagenbank auf und fand darin, was er brauchte: Beil und Säge, Hammer und Zange, Schrauben und Nägel. Er gab Anweisung, wie der Wagen seitlich zu wenden, die Vorderräder zu lösen und die zersplitterte Achse zu entfernen seien. Während das geschah, schritt er prüfend durch den Busch, erspähte einen jungen Eschenstamm von der rechten Größe, fällte ihn und hieb ihn zurecht. Nach mehrstündiger Arbeit unter Naftalis Leitung, der Maggid sah ihr mit Nicken und lobenden Rufen zu, war das Gefährt fürs Erste haltbar gerichtet. Die Männer stiegen ein. »Reist Ihr mit?« fragte der Maggid den Reiter. »Ja, wenn Ihr's erlaubt.« »So kommt in den Wagen.« »Dank, ich will neben Euch reiten.«

Als aber Naftali aufsteigen wollte, kam er nicht in den Sattel, so schwach war ihm plötzlich unterm senkrechten Sonnenlicht. Während er noch, einen Fuß im Bügel, mit den Händen nach Halt tastete, sprangen zwei der Männer ihm bei und stützten ihn in den Wagen. Der dritte bestieg das Roß, und Naftali ward neben den Maggid gesetzt. Die Gäule zogen an, Naftali wankte im Sitz, da bettete ihn der Alte in seinen Schoß und gab seine Hand auf die Stirn des Fiebernden. Der fühlte die quälenden Flammen langsam aus seinem Blute schwinden. Wenn er die Augen aufschlug, sah er das heilige Antlitz über sich weg in die Ferne gerichtet, in die der Wagen rollte. Die Hände indessen lagen hülfreich um seinen Kopf, er aber, hinlöschend, spürte, daß die Genesung, die sie ihm brachten, Milde des Todes war, und er wehrte sich nicht, als die letzten rauschenden Schmerzen in seine Brust kamen.

Der Knabe Natan wuchs auf in der Hut Abrahams.

 

Ende

 


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