Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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VI

»... Da kann man sich vorstellen, wie's zur Zeit der seligen Postkutsche bei uns ausgeschaut hat ... damals, als man noch zwischen Berlin und Danzig 'ne geschlagene Woche auf der Landstraße lag ... sieh doch mal hinunter, Elisabeth ... 's ist wirklich ganz hübsch ...«

Sie schlug langsam die Augen auf, während die Worte ihres Mannes nur halb verstanden an ihr Ohr klangen. Das stundenlange Rütteln des Mietwagens, die Sonnenglut und die Staubwolken, die unablässig auf der Fahrt durch das Haslital rechts und links den Blick verschleiert hielten – das alles hatte sie in einen Halbschlaf versetzt, in eine müde Träumerei, aus der sie jetzt erst erwachte.

Ihr Gesicht belebte sich. In der Tat ... das war ein interessanter Anblick: diese ungeheuren, rückwärts durch die blendenden, jäh abfallenden Massen des Rhonegletschers abgeschlossene und von vielverzweigten Strömen durchrieselte Steinmulde, die kahlen baum- und strauchlosen Höhen ringsum, von denen die drei Heerstraßen sich in endlosen Windungen zur Gletsch herabsenkten, das fröhliche Treiben auf diesen sicher an den Grenzen des ewigen Schnees vorbeiführenden Chausseen, die langen Züge der vier- und fünfspännigen Postwagen, die unter Peitschenknall, eine lange Staubfahne hinter sich her ziehend, in schlankem Trab die gefährlichsten Kurven passierten. – Und unten im Tal, in seltsamem Gegensatz zu der öden Gebirgswelt, das große moderne Hotel mit den endlosen sich anschließenden Stallungen, dem Gewirr der davor aufgefahrenen Wagen und dem Getümmel der zwischen Deichselstangen und Rädern mit ihren Pferden hantierenden Knechte und der durcheinanderhastenden Passagiere ...

Der Kutscher ließ die Gäule laufen. Sie fuhren am Hotel vor und erhielten nach kurzer Verhandlung, der die am Portal herumlungernden Angehörigen aller Nationen in gähnender Teilnahme folgten, ihr telegraphisch vorausbestelltes Zimmer angewiesen.

Es lag zur ebenen Erde. Während Elisabeth mechanisch ihre Abendtoilette zur Table d'hote vollendete, hörte sie dicht unter den Fenstern die Stimme ihres Gatten, der da draußen, auf und ab promenierend, seine Zigarette rauchte.

Er mußte Bekannte getroffen haben! Mehrere Stimmen klangen aufgeregt durcheinander, helles Mädchengelächter, das Lispeln einer älteren Dame und der Bierbaß eines bejahrten Herrn.

Diese tiefe, fettige Stimme mußte sie doch kennen! Sie blickte vorsichtig von der Seite durch die Scheiben. Richtig ... da stand ihr Verwandter und Gutsnachbar Herr von Endemer, von seiner zierlichen, mädchenhaft schlanken Frau und zwei halbwüchsigen Töchtern umgeben. Ein hünenhafter wohlbeleibter Greis, mit blaurotem, ewig schmunzelndem Gesicht, lustig blinkenden Augen und spärlichen Schnurrbarthaaren, die wie Katerborsten von den Lippen starrten, beantwortete er in geräuschvoller Fröhlichkeit die Fragen ihres Gatten.

Wo Endemers herkamen? Aus Zermatt: Tatsächlich brillante Gegend ... zwar überfüllt, aber interessante Gesellschaft ... bessere Stände ... Bergkletterer aus allen Ecken der Welt ... viel angenehme Engländer ... andre Sorten als die Cookschen Reiselümmel da unten im Schweizer Seegebiet, dabei Gegend prachtvoll ... würzige Luft ... treffliche Hotels ... »ich kann dir nur raten ...« schloß Herr von Endemer seinen Bericht, »geh auch hin ... wird dich nicht gereuen! ...«

Sie sah, wie ihr Gatte die Achseln zuckte. »Ich weiß nicht recht, wo ich meine Frau hinbringen soll«, sagte er und trat mit dem weitläufigen Onkel etwas zur Seite, »die Reise schlägt ihr gar nicht gut an. Ist es nun, weil wir Edith nicht mit haben ... aber wie können wir denn das Kindchen hier mitschleppen, und es ist ja auch vorzüglich aufgehoben ... oder was sonst ... jedenfalls ist sie schon die ganze letzte Zeit melancholisch und schweigsam ... weißt du ... die Stimmung, wo einen die Frauen den ganzen Tag mit einem seelenvollen Märtyrerblick anschauen, ohne daß man weiß, warum, bis man sich schließlich selber ganz dumm vorkommt ... dabei hat sie ganz abnorme Ideen ... will fortwährend ins Hochgebirge zurück, seit sie neulich gegen meinen Willen ...« »Aber das paßt ja vortrefflich!« schrie der joviale alte Herr, »in Zermatt hat sie ja die Auswahl ... da ist ein Berg höher wie der andre.«

»Du hast mich nicht ausreden lassen!« Sein Ton klang etwas gereizt. »Ich sage ... gegen meinen Willen ... ich habe es ihr direkt verboten, und darüber kann sie sich nicht beruhigen.«

Herr von Endemer schüttelte wehmütig lächelnd das graue Haupt.

»Kennste denn die Weiber noch nicht?« sagte er traurig, »denen muß man nie etwas verbieten! Dann heißt's bei ihnen: ›Nu gerade‹, wie bei den kleinen Kindern ... unvernünftig wie sie nu mal sind, waren und sein werden. Nein, mein Junge ... man muß immer so tun, als ob man auf alle ihre Lappalien einginge ... so tun ... verstehst du. Sowie sie dann glauben, daß sie ihren Willen glücklich durchgesetzt haben, beruhigen sie sich und lassen sich ein X für ein U machen. Bring du deine Frau ruhig nach Zermatt und steig mit ihr jeden Tag aufs Mettelhorn oder sonst einen ungefährlichen, nicht ganz ausgewachsenen Berg ... aber immer ordentlich über Geröll und steil bergan ... dann wirste sehen ... nach drei Tagen hat sie genug und bittet dich selbst, sie zu Hause zu lassen!«

»Aber es ist gefährlich!« »Da sieh mal meine Marjellen an.« – Der dicke Herr deutete auf seine beiden Töchter, die, verzweifelt das Lachen verbeißend, mit tiefem Interesse zusahen, wie eine unförmlich dicke, prustende Französin vermittelst einer Leiter von zwei kräftigen Männern auf das Bankett des Postwagens hinaufgehißt wurde, »die beiden Backfische da sind auf den Bergen 'rumgeklettert wie die Wiesel, natürlich mit einem guten Führer, und Vetter Edmund war auch dabei ... durch den Schnee sind sie gestapft ... und Edelweiß haben sie gepflückt ... in ganzen Büschen ... und es ist ihnen nichts passiert. Wo's ängstlich war, da durften sie natürlich nicht hin!«

Elisabeth trat rasch vom Fenster. Eine Wolke des Unmuts glitt über ihre schönen Züge. Es ärgerte sie, daß sie das Geschwätz mit anhören mußte, und sie eilte sich, mit ihrer Toilette fertig zu werden; aber während sie durch das Zimmer ging, hörte sie wieder die Stimme ihres Gatten.

»Eigentlich hast du recht!« sagte er in lachendem Tone, »das ließe sich hören.«

»Versuch's nur«, sprach der fette Baß dagegen.

»Ich will's versuchen! Und wenn Zermatt wirklich so hübsch ist ...«

Sie verließ das Zimmer und ging hinunter, die Gesellschaft zu begrüßen.

Vor der Table d'hote schlenderte man zusammen noch das Viertelstündchen hin bis zu dem Rhonegletscher, der, ein verirrter Riese, ganz einsam in dem sonst schnee- und eisfreien Felsenkessel schimmerte.

Es kam ihr wie ein Löwe im Käfig vor, dieses mächtig getürmte, rings von kahlen Felswänden eingeschlossene Eisgebirge. Vor ihm die müßige, zähnestochernde, im Bädeker betende Menschheit, schreiende Kinder, Photographiebuden, ein kleines Hotel, auf Steinwurfweite an den Gletscher hingebaut, vor ihm alte Damen mit Opernguckern und schmutzige, mit Bergkristall hausierende Jungen, weidende Kühe, Jodeln und Peitschenknall von der Chaussee ... sie wandte sich ab, ihr ekelte vor dieser Profanierung der Wunder der Hochwelt.

Aber sie würde diese Wunder ja wiedersehen! Sie konnte ja nun ziemlich sicher sein, daß ihr Mann ihr noch heute den Vorschlag machte, dem Tal der Rhone entlang, die hier als trüber Gletscherstrom entsprang, gegen Zermatt hinzufahren, und ihr Herz pochte bei diesem Gedanken. Ein heißes banges Verlangen, wie sie es noch nie in ihrem Leben empfunden, trieb sie den Toren der Alpenwelt entgegen, und schon die Erinnerung an die paar Tage, die sie dort verbracht, genügte, sie in eine unerklärliche Stimmung sehnsüchtiger Traurigkeit zu versetzen ...

Die Sonne war im Scheiden. Ein kühler Wind strich von den hochgelegenen Pässen und vom Gletscher herab. Man wandte sich zum Gehen. Von überallher pilgerten schwarze Punkte über die Geröllhalde dem hochragenden Hotel zu, in dem die Futterstunde näher und näher rückte. Endlich war auch die Table d'hote überstanden. Auf dem kahlen, halbdunklen Korridor drängten sich die Gäste, die da, langsam auf und ab schlendernd, den langen herbstlichen Abend totzuschlagen suchten. Draußen war es empfindlich kalt. Nur wenige wagten sich, den Mantel zuknöpfend, in die herbe Nachtluft hinaus. Andre suchten die Bierstube auf, in der das Münchener Bräu vom Fasse rann und durch die Tabakswolken das Klappern der Billardbälle tönte.

Das Gros der Gesellschaft aber sammelte sich im Vestibül. Hier loderte ein Kaminfeuer traulich durch die Dämmerung, und um sein mehr das Auge erquickendes als wärmendes Geflacker rekelte und dehnte sich Old England auf den Sesseln im Halbkreis. Der ganze Raum war gesteckt voll Menschen. Im unsteten Feuerschein tauchten die Köpfe und Gestalten der Briten aus dem Dunkel auf und sanken wieder darin nieder.

Davor ging eine Anzahl katholischer Priester auf und ab. Man hörte das sanfte, unablässige Rauschen ihrer Frauenröcke, dazwischen das leise Säbelklirren eines von Andermatt kommenden Schweizer Milizoffiziers, der, auf seinen Wagen wartend, müßig zwischen den Kofferhügeln im Vorplatz umherstrich.

Elisabeth ließ müde die Zeitung sinken und griff nach einer andern. Um das Lesen war es ihr nicht zu tun, aber sie wollte dem Gespräch entgehen, das daneben ihr Mann mit dem alten Endemer, dessen Familie sich bereits zurückgezogen, führte.

Antrag Kanitz ... Doppelwährung ... Identitätsnachweis ... sie begriff gar nicht, wie man hier in dieser fremden großen Welt von all den Dingen sprechen konnte, die ihr schon daheim, an den langen Winterabenden Thüringens, ein Greuel geworden waren. Und doch redeten die beiden schon eine Stunde über die fehlerhaften Maßnahmen der Reichsregierung und erhitzten sich immer mehr.

Und sprachen die andern Menschen herum denn etwas Besseres? Bei den Engländern am Kamin wurde geflirtet, was das Zeug hielt, daß die Misses lachend den Kopf zurückwarfen und ihren sich von hinten über ihren Stuhl beugenden Verehrern die tadellosen Gebisse zeigten, ein paar alte Yankees mit ausrasierter Oberlippe und fächerförmigem Vollbart rechneten stirnrunzelnd in ihren Notizbüchern, ein dicker, stark plattdeutsch sprechender Herr verbreitete sich ausführlich über die Grundsätze, nach welchen die Familie Seiler Küche und Keller ihres Hotels leite, eine merklich geschminkte Französin sandte glänzende Blicke nach allen einzeln vorüberschreitenden Gentlemen, ein alter vornehmer Russe fragte, von einem Stab von Kellnern und Hausdienern umringt, zum zwanzigstenmal nach seinen immer noch nicht eingetroffenen Koffern ... sie kam sich so fremd vor, so einsam unter diesem Touristenschwarm, der sich, der Mode, nicht dem eigenen Gefühle folgend, hier zusammengefunden hatte.

Unter den zahlreichen Kurlisten und Fremdenblättern, die vor ihr lagen, hatte sie sich halb instinktiv den Anzeiger von Zermatt ausgesucht und überflog zerstreut die Liste der Angekommenen.

Ihr Auge blieb an einem Namen hängen, und plötzlich fühlte sie etwas wie einen heftigen Schlag und merkte, daß ihr Herz blitzschnell zu hämmern begann.

Das Papier zitterte in ihrer Hand. Zum drittenmal las sie, im Geiste jede Silbe buchstabierend, die Tatsache, daß unter vielen andern Fremden auch der Baron von Gündlingen mit Bedienung im Hotel Mont-Cervin zu Zermatt abgestiegen war.

Sie starrte vor sich hin, und ein Schrecken überrieselte sie langsam und lähmend. Ein betäubender Schrecken vor sich selbst! In diesem Augenblick erst hatte sie an der Wirkung, die die paar Worte in der Fremdenliste da auf sie übten, erkannt, wie es um sie stand und was der Mann ihr war, den sie aus allen Kräften zu vergessen suchte und zu vergessen hoffte.

Und was im tiefsten Grunde ihres Herzens die träumende Sehnsucht nach den Bergen bedeutete ...

Sie atmete schwer. Da war die Versuchung, von der ihr wohl manchmal eine Freundin in der Dämmerstunde weinend gebeichtet und von der sie selbst noch nie etwas empfunden. Jetzt drohte jäh und herzbeklemmend die Gefahr und raubte ihr Ruhe und Überlegung.

Die Versuchung meiden! ... natürlich ... das war das beste.

Sie würde ihren Mann bitten, sie an den Genfer See zu führen oder ins Engadin. Er würde es tun und den Grund ihrer Bitte nicht ahnen.

Aber etwas regte sich in ihr dagegen, etwas wie ein Gefühl herben Stolzes. War es nicht feige, erniedrigte es nicht ihre Selbstachtung, wenn sie vor der Gefahr floh, statt ihr die Stirne zu bieten und zu siegen?

Und das wußte sie vor allem aus manchem, was sie gesehen und erlebt: Nicht immer tötet, wie die landläufige Weisheit sagt, die Entfernung die Liebe. Oft facht sie sie nur noch mehr an. Sie schafft im träumenden Sinnen ein Idealbild des geliebten Wesens, sie trägt geschäftig immer neue Züge des Schönen und Edlen herbei, und oft mochte es sich ereignen, was sie einmal bei Verwandten erlebt: daß zwei Menschen, die durch Feuer und Wasser den Weg zueinander gefunden, sich dann in kurzem fremd und enttäuscht gegenüberstanden und wieder schieden.

War es da nicht besser, einen Menschen, der nun einmal in flüchtiger Begegnung einen so tiefen Eindruck auf einen andern gemacht, in all seinen Fehlern und Schwächen aus der Nähe zu sehen und ernst zu prüfen?

Wenige Tage vielleicht nur, und die Enttäuschung war da! Und mit ihr die Ruhe und der Sieg. Und sie konnte selbst über die verblaßte Wundergestalt lächeln, die ihre erregten, zitternden Nerven in den Schrecken des Hochgebirges, in ungewohnten Entbehrungen und Anstrengungen, in der Todesgefahr sich geschaffen hatten.

Ihr Gatte berührte ihren Arm.

»Hör' mal, Elisabeth!« sagte er, »Endemer erzählte mir da vorhin wahre Wunderdinge von Zermatt und seinen Bergen! Damit du siehst, daß ich kein Unmensch bin ... wenn du willst, führe ich dich morgen hin! Und wir kraxeln da meinetwegen ein bißchen umher!«

Er ergriff gutmütig lachend ihre Hand. Sie schauderte leise zusammen. Ihr war, als habe sie ihn schon verraten. »Ich danke dir!« sagte sie leise. Ein kalter Glanz kam aus ihren Augen, und um ihre Lippen legte sich ein harter, kampfbereiter Zug.


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