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Damals ging noch nicht die Eisenbahn über den Berninapaß nach Italien. Nur die verschneite Poststraße führte in tiefer Wintereinsamkeit zwischen schweigenden, weiß überschütteten Lärchenwäldern vorbei an stillen, gefrorenen Seen, nahe den letzten Gletscherbrücken hinauf zur Höhe. Anfangs noch Menschennähe. Ein Gehöft. Heißer, würziger Nebel aus dem Kuhstall. Die Herde, gehüllt in die eigenen Dampfwolken, trottend zur Tränke – dem zwischen Eiszapfen sprudelnden Brunnen. Die Post aus Welschland. Zottig trabende Gäulchen. Reisende, wie die Bären in Pelzen, in dem langen, klingelnden Gänsemarsch kleiner offener Schlitten. Vierspännig Lasten von Kohle und Wein auf kreischenden Kufen.

Dann Stille – die große Stille. Das heilige Schweigen der weißen Wildnis. Die heiße Sonne – heißer um Mittag, je höher ich, mit meinem Grimm und Gram im Herzen, die Windungen des Wegs abkürzend, vor den Menschen zum Morteratschgletscher floh. An ihm vorüber. Weiter. Immer weiter. Der scheu kreisende Flug neugieriger Alpendohlen mein einziges Geleit. Stunden um Stunden. Wie gehetzt bergauf. Hinter mir die Furien der Eifersucht, die mich jagten und trieben.

Über die Eifersucht meiner Braut hatte ich gelächelt. Über die Eifersucht meiner Braut hatte ich von hoher Warte aus wie ein Halbgott hinweggesehen. Die Eifersucht meiner Braut hatte mir nicht wehegetan. Jetzt wußte ich erst, was ich ihr zugemutet hatte und was Eifersucht war ...

Im Schnee waren von Zeit zu Zeit große Purpurflecken. Es war nicht Blut. Der Spund an einem Faß roten Veltliner Weins auf einem Schlitten mochte nicht ganz dicht gewesen sein. Aber mich dünkte es, als sei das mein eigenes Herzblut. Mein Herz war wund. Mein Herz wollte nicht mehr. Nicht aus Erschöpfung – was waren für einen Gletschermann die fünf, sechs Stunden Anstieg auf dem festen Schnee der Hochstraße – sondern aus bitterem Schmerz. Nun empfand ich zum erstenmal Reue – tiefe Reue –

In Reue der Verzweiflung wandelte sich meine Eifersucht. Ich warf mich lang hin in den kalten, übersonnten Schnee. Ich ballte die Fäuste in den Schnee. Ich vergrub mein verstörtes Gesicht in den Schnee. Ich sprang wieder auf und stürzte weiter. Und blieb wieder stehen und starrte vor mich hin in das Zittern der Luft über dem Firn – ohne mich zu rühren – eine halbe Stunde und länger – und mir schien alles wieder wie ein Traum. Und es war keiner, und ich schleppte mich matt und müde weiter. Endlich am Nachmittag erreichte ich das Bernina-Hospiz. Ich stieg noch die paar Minuten bis zur Paßhöhe empor.

Die Täler Italiens und der Schweiz verdämmerten schon im Abendgrau. Darüber glühten in langen Reihen, weißgezackt, die Firngipfel vor dem unheimlich blutig auflohenden Himmel. Eisströme wälzten sich viele Stunden weit von ihren schroffen Flanken. Die Gletscher funkelten jetzt nicht blaugrün geschuppt wie im Sommer. Sie schliefen unter dem Schnee. Keine Lawine stäubte und krachte. Alles war so winterstill, daß man die Stille förmlich hörte.

Kehr' um! schrie diese Stimme im Rauschen des erhitzten Blutes in meinem Ohr. Kehr' um! Gib nicht matt verloren, was noch nicht verloren ist! Sei ein Mann! Zwinge deine Braut, sich nicht vor dir zu verschließen – sie täte es nicht, wenn sie ihr Herz nicht immer noch schwach dir gegenüber fühlte –, sondern dir Rede und Antwort zu stehen! Tritt deinem Nebenbuhler gegenüber! Mache deine älteren Rechte geltend! Eile! Eile! Jede Minute ist kostbar!

Aber für heute war es zu spät zur Heimkehr. Ich verbrachte eine endlose, schlaflose Winternacht in dem weltfernen, in einsamem Hochtal verlorenen Berggasthof. Am anderen Morgen ließ ich, sobald das verschlafene Haus wach wurde, anspannen. Bergab ging es rasch. Noch am Vormittag klingelten die Glöckchen meines Schlittens durch das Dorf. Die dampfenden Pferde hielten vor dem Hotel.

Es entsprach meiner Stimmung, daß ich, so wie ich war, in Nagelschuhen, die Mütze in der Hand, unangemeldet, fast ohne das »Herein!« auf mein Anklopfen abzuwarten, in den Salon oben trat, in der Absicht, so eine Aussprache mit Mutter und Tochter zu erzwingen. Aber nur die Mutter war da. Sie empfing mich ohne Überraschung, eisig, höflich. Ich fragte rauh: »Wo ist Mara?«

»Spazieren.«

»Allein?«

»Nein!«

Ich zuckte zusammen. Ich wußte, was das hieß. Ich las es auch in dem kühl abwehrenden Blick von drüben. In den vierundzwanzig Stunden meiner Flucht war das Verhängnis nur weiter seinen Weg gegangen.

Ich sank auf einen Stuhl. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich verlor die letzte Fähigkeit, klar zu denken und zu urteilen. Ich war betäubt. Das alles war wie ein Blitz aus diesem ewig blauen Himmel über uns auf mich herniedergefahren. Das alles sah meiner Braut, meiner sanften, weichen, zärtlichen Braut so wenig ähnlich. Ich sprang wieder auf.

»Ist Mara denn verhext?« knirschte ich.

Wäre ich nicht so maßlos aufgeregt gewesen, so wäre mir vielleicht in dieser Stunde die Wahrheit aufgedämmert. Ich hätte begriffen: Ja! Verhext von dieser grauen, weltkundigen Dame mir gegenüber. Mara stand viel zu sehr unter dem Einfluß ihrer Mutter. Das war, während unseres ganzen Brautstandes schon, meine einzige schwarze Wolke an unserem Himmel voller Geigen und meine Sorge für unsere Ehe gewesen.

Der Morteratschgletscher konnte nicht eisiger sein, als Maras Mutter mich anblickte.

»Man könnte dasselbe von Ihnen sagen!«

»Nicht mehr ... Es ist vorbei ... ganz vorbei ...«

»Warum wundert Sie das bei einem anderen Menschen, was Ihnen selbst vor einigen Tagen widerfahren ist?«

»Das ist etwas anderes!«

»Ja – allerdings ist es etwas anderes! Denn Ihnen hatte Mara niemals den geringsten Anlaß zu Ihrem Wankelmut gegeben! Um so gründlicher aber Sie jetzt ihr ...«

Die alte Dame hatte die mitleidlose Schicksalsruhe einer Norne.

Sie fuhr fort: »Sie haben sich Ihr Los selbst bereitet. Ich begreife nicht, wie Sie jetzt darüber klagen können! Sie haben sich Maras Herz entfremdet ...«

»Ich will ja alles tun, um meinen Fehler gutzumachen!«

»Es ist zu spät. Sie haben sie verloren. – Ich muß es Ihnen jetzt offen sagen. Tragen Sie es in Fassung!«

Ich zitterte in allen Fibern und Fasern meiner Seele. Ich ging im Zimmer umher. Ich stieß an die Möbel wie ein Trunkener. Ich ballte die Fäuste. Ich rang nach Atem. Ich stöhnte verzweifelt hervor: »Wenn ich sie verloren habe – kann ich sie doch wiedergewinnen ...«

»... wenn ihr Herz noch frei wäre. Aber das ist es nicht mehr!«

Ich brachte kein Wort mehr heraus. Ich hörte nur die leidenschaftslosen Worte drüben.

»Es ging schnell. Vielleicht – wahrscheinlich sogar – war die bittere Enttäuschung, die Sie ihr bereitet haben, mit der Grund. Mara war völlig gebrochen. Sie fand in dieser wehen Hilflosigkeit einen Menschen, an dem sie sich aufrichtete. In den ersten Tagen mochte es nur Dankbarkeit gewesen sein. Dann Freundschaft. Aber jetzt ist es mehr – scheint es mir – oder weit mehr – vielleicht heute schon – oder morgen – vielleicht eben jetzt ...«

»Und ich ...?«

»Was Sie zu tun haben, das muß Ihnen Ihr eigenes Gefühl eingeben: ... Nichts weiter mehr, als schweigend zurückzutreten und sich zu sagen, daß Sie sich durch eigene Schuld Ihr Lebensglück verscherzt haben! Am besten ist es, Sie reisen bald ab!« schloß die alte Dame. Sie entließ mich mit der Kopfbewegung oder eigentlich nur einem Nicken des Kinns wie eine regierende Fürstin.

Die Hände zitterten mir in meinem Hotelzimmer über dem Krimskrams meines Gepäcks. Ich wollte es in den Koffer legen. Ich wollte im Fahrplan nachsehen, wann ein Zug ginge. Die Zahlen und Zeichen tanzten mir vor den Augen. Ich setzte mich hin. Ich war nicht imstande, den Entschluß zur Abreise zu fassen. Ich mußte bleiben. Ich starrte aus fieberheißen, trockenen Augen vor mich auf den abgetretenen Hotelteppich. Ein Gedanke bohrte sich mir ins Gehirn: Das alles, was du jetzt leidest, das hat Mara schon vorher gelitten – durch deine Schuld. Alles, was du jetzt leidest, ist die Vergeltung. Mara trägt keine Schuld. Sie ist ja nur meine gelehrige Schülerin in der Kunst des Lebens – oder mein armes Opfer. Ich kann ihr keine Vorwürfe machen. Aber er – er – der andere – der sie mir nahm – die Welt stand um mich in Flammen der Eifersucht. Der Himmel glühte mir rot vor Eifersucht – der Schnee vor den Fenstern brannte blutig vor Eifersucht.

Und dabei warten müssen ... warten ... Die beiden waren ja noch unterwegs – sich in Geduld fassen –! Ich! – Ich mußte lachen ... ich ... in diesem roten Rausch von Grimm, Verzweiflung, Eifersucht, in dem ich imstande gewesen wäre ... Ich wagte nicht weiterzudenken! Ich fürchtete mich vor mir selber! Ich schien mir wie ein fremder Mensch, mit dem dunkle Schicksalsmächte spielen.

Draußen auf dem Platz vor dem Hotel, auf den ich geistesabwesend, unfähig, es länger in der Einsamkeit meiner vier Wände auszuhalten, trat – draußen stand dies Schicksal. Lachend, jung, schön, mit glänzenden Augen und geröteten Wangen, ganz in Sportweiß, wie eine weiße Frau, aus dem toten Schnee umher zu Wärme und Leben erwacht. Konstanze schüttelte mir unbefangen die Hand, so, als hätten wir uns gestern abend getrennt und seien nicht drei Tage lang unter demselben Dach voneinander ferngewesen. Sie glaubte an meine Unpäßlichkeit oder tat wenigstens so – zufrieden, daß sie ihre Beute wiederhatte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte sie. »Sie sehen noch bleich aus. Die frische Luft wird Ihnen gut tun. Kommen Sie! Es ist keine Zeit zu verlieren. Die Gymkhana auf dem See fängt gleich an. Ich muß auf allgemeinen Wunsch die Preise verteilen!«

Ich ging mit ihr. Willenlos. So wie Mara mit jenem anderen ging. Das war mein einziger klarer Gedanke. Sonst war mir alles wie ein Nebel. In diesem sonnigen Nebel war ein Umtrieb vieler Menschen. Eine kleine Holztribüne ragte, auf der sie saßen, Konstanze als Königin des Festes in der Mitte. Ein Wandelbild wechselnder wollener Männer und Frauen, Schlitten, Pferde. Musik. Gelächter. Beifallsrufe. Händeklatschen. Neugierige Blicke dazwischen, die sich auf Konstanze und mich richteten. Ich fühlte, daß wir in aller Leute Mund waren und daß ihr das recht war, mich öffentlich, vor aller Augen, neben sich zu zeigen. Ich saß an ihrer Seite. Ich? – Nein. Nur der körperliche Mensch, der ich war. Meine Seele schweifte weit weg, suchte zwei andere Menschen auf ihrer freundschaftlichen Wanderung, womöglich Arm in Arm schon, an den durchsonnten, von gebahnten Wegen überzogenen Schneehalden über dem Dorf. Ich hatte plötzlich die unerklärliche, unbestimmte und doch zwingende Ahnung, daß jetzt eben dort etwas Entscheidendes sich ereignete – daß eine Wandlung in meinem Schicksal und dem der anderen in diesem Augenblick eintrat. Welcher Art – das sagte mir mein Vorgefühl nicht. Aber es litt mich nicht länger hier bei dem Mummenschanz. Ich erhob mich brüsk. Ich verabschiedete mich jäh, vor aller Augen, von meiner Nachbarin. Es war eine öffentliche Absage. Jeder mußte es merken. Sie lächelte und gab mir sitzend die Hand. In ihrem Blick von unten zu mir empor leuchtete etwas auf – grünlich wie bei einer Katze – ein Funkeln. Ich wußte, daß ich, nach dieser öffentlichen Trennung, eine Todfeindin im Leben hatte. Und wieder kam es über mich wie eine Erinnerung aus weiter, endloser Ferne, daß sie nicht zum erstenmal meine Todfeindin war – daß sie mir das schon oft gewesen war – in vielen Leben – und immer mein Schicksal und mein Verhängnis.

Ich hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich eilte blindlings, mit Siebenmeilenstiefeln, in das Dorf zurück, als ob ich da zu irgend etwas zurechtkommen müßte. Und ich kam auch gerade vor das Hotel, als Morris heraustrat. Er mußte inzwischen mit Mara zurückgekommen sein. Seine ernsten, bartlosen Gesichtszüge schienen mir gegen sonst irgendwie verändert. Aber ich konnte mir ihren Ausdruck nicht deuten. Er war fertig zu einer winterlichen Hochtour ausgerüstet, in dicker Kleidung, das Gletscherseil um die Brust gerollt, den prall gefüllten Rucksack über den Schultern. Etwas Brennholz ragte aus dessen verschnürtem Bund, ein Zeichen, daß er in einer winterlichen Klubhütte hoch da oben übernachten wollte. Er gab, in das Haus gewandt, noch irgendeine Weisung – wegen seiner Koffer – ich achtete nicht darauf. Ich stand und wartete auf ihn. Ich war erstaunt, wie unheimlich ruhig, kalt in mir gesammelt, ich, nach der bisherigen Glut und Wut der Eifersucht, plötzlich war.

»Wohin?« fragte ich mit heiserer Kehle.

Er deutete mit der Hand aufwärts in der Richtung gegen Süden in das schneeige Zackengewimmel vom Piz Palü über dem Piz Roseg zum Piz Glüschaint und dem Chapütschin; dort in der wildesten Gletschereinsamkeit ungeheurer, zerrissener Eislabyrinthe rings um die Abstürze des Berninastocks führten schon im Sommer schwierige Hochpässe hinüber nach Italien. Es waren nur ein oder zwei Tagemärsche. Vollmondnächte. Das Wandern jetzt manchmal vielleicht leichter auf dem beinhartgefrorenen Schnee. Die Gletscherspalten überbrückt. Aber es war Januar. Hand in Hand warteten da oben Winter und Tod auf den Wanderer. Man mußte ein Gletschermann sein wie er – oder auch wie ich –, um sich in das Reich des weißen Schreckens zu wagen.

»Das Wetter ist gut. Der Firn ist fest!« sagte er. »Die Nächte sind klar. Besser kann man es nicht treffen! Ich gehe!«

»Sie versprachen doch, mich mitzunehmen!«

»Ich dachte, es sei Ihnen leid geworden!«

»Ich pflege meine Entschlüsse nicht zu ändern!«

»Es hieß auch, Sie seien krank!«

»Sie sehen: Ich bin es nicht mehr!«

Ein langer, seltsamer Blick aus dem braungebrannten, unergründlich verschlossenen Gesicht mir gegenüber.

»Wir Bergsteiger kennen einander. Sie sind nicht in Form. Ich kann es nicht verantworten!«

»Anderthalb Mann sind dort oben immer noch mehr als einer!«

»Nein. Ein halber Mann ist kein Mann!«

Wieder der sonderbare Blick. Er setzte halblaut hinzu: »Bleiben Sie doch hier unten! Es ist für Sie besser!«

Ich begriff nicht, warum er – gerade er – mir das sagte. Ich begriff überhaupt nichts mehr. Ich hatte nur noch mein Ziel vor Augen, mit ihm in die Berge zu gehen – fern von anderen Menschen. Ich versetzte hartnäckig: »Ich halte Sie bei Ihrem Wort!«

»Erlassen Sie es mir! Der Tag ist auch schon vorgerückt. Bis Sie sich fertigmachen ...«

»Ich bin schon soweit ...«

Ja. Ich war zu einem Winterspaziergang auf das Bernina-Hospiz gerüstet. Aber nicht zu einem Kampf auf Tod und Leben mit dem Bernina-Gletscher.

Er schaute mich prüfend an und meinte: »So wie Sie jetzt sind, können Sie nur ein paar Stunden weit in die Berge eindringen. Für die Gletscherpässe reicht es nicht. Dann müssen Sie umkehren!«

Er hatte völlig recht. Das wußte ich. Ich überlegte. Viele Neugierige standen um uns herum und hörten jedes Wort. Schließlich: Was er mir da vorschlug, das genügte mir! Ich nickte: »Gut!« sagte ich. »Ich begleite Sie also nur ein Stück bis auf die unteren Gletscher und trenne mich dann von Ihnen und kehre hierher zurück!«

Er schaute mich unschlüssig an. Es schien ihm nicht recht. Es war, als ob er etwas sagen wollte. Er kämpfte mit sich. Er schob seinen Rucksack zurecht. In dem bewegte sich etwas. Darin hatte er wieder seinen geliebten kleinen Teckel, von dem er sich nicht trennte. Endlich wiederholte er mit einer merkwürdigen Betonung: »Sie sollten jetzt die Berge sein lassen und an anderes denken!«

»Mich treibt es in die Berge!«

»Mich auch!« Wieder lag etwas auf seinen Lippen, das er unterdrückte. Plötzlich wurde er ganz ruhig. »Gut denn! Kommen Sie!«

Und während wir uns auf den Weg machten, sagte er: »Aber wundern Sie sich nicht, wenn ich heute ein sehr schweigsamer und in sich gekehrter Weggefährte bin!«

Und so war es. Er war ja immer wortkarg. Aber diesmal sprach er keine Silbe. Wir waren gegen Mittag aufgebrochen. Stunden um Stunden klang nur das gleichförmige Aufsetzen unserer Eispickel, das Knirschen des Schnees unter unseren Schuhnägeln durch die unendliche weiße Stille. Längst hatten wir die letzten tief im Schnee vergrabenen, jetzt im Winter fast von der Welt abgeschnittenen Häuser hinter uns gelassen und stiegen durch einsame Hochtäler empor. An verlassenen Alpen vorbei. Die Lärchenwälder lichteten sich. Schwanden. Riesenhaft ruhte in seinem Bergkessel der Gletscher. Überstufte sich, steil aufsteigend, in wilden Katarakten von Eisbrüchen. Floß dann wieder feierlich als breiter, sanft geneigter Strom dahin, unter der Schneedecke kaum zu erkennen. Im Sommer wäre dies Spaltengewirr voll fürchterlichster Gefahren gewesen. Jetzt hatte Winterfrost die Schlünde überwölbt. Diese Schneebrücken trugen die Menschenlast. Nur selten einmal, wo unter der weißen Decke allzu breite schwarze Risse in der Unterwelt gähnten, war das wachsame Auge des Bergsteigers vonnöten. Sonst ging es sich hier auf dem körnigen Firn besser als sonst im Sommer in dem Schnee der Bergflanke zur Rechten. Die Eiskruste unter unseren Füßen war jetzt, wo die Dämmerung kam und die Kälte jäh von Minute zu Minute wuchs, so hart, daß Nagelschuh und Bergpickel nicht den geringsten Eindruck auf ihr hinterließen.

»Sie sollten jetzt umkehren!« sagte Morris stehenbleibend.

Es waren die ersten Worte, die er sprach.

Er wollte mich loswerden. Schon die ganze Zeit. Der Vollmond stieg über einem vergoldeten, weißen Schneekamm auf und überblaute das Gletschertal, während die letzten Gipfel hoch am grauenden Himmel noch purpurn verlohten.

Die Welt wurde geisterhaft. Furchtbar in ihrer Einsamkeit, von der ich wußte, daß kein Mensch auf Stunden weit sie mit uns teilte. Ich stellte mich breitbeinig hin. Ich stieß meinen Pickel in das Eis. Es hallte in der Totenstille. Ich sagte aus den Dampfwolken meines Atems heraus, während wir uns, vermummt wie zwei Nordpolfahrer, durch das Gletscherseil miteinander verbunden, gegenüberstanden: »Ich kehre um, wenn ich das Ziel erreicht habe, wegen dessen ich mit Ihnen hier hinaufgestiegen bin.«

Er blieb ganz ruhig. Er stützte sich auf seine Eisaxt. Er fragte: »Die Hütte da oben? Das ist zu weit!«

»Ich will nicht die Hütte erreichen, sondern ein Versprechen von Ihnen erhalten. Nein: einen Schwur.«

»Welchen?«

»... Daß Sie meine Braut heute zum letztenmal für immer in diesem Leben gesehen haben! ... Daß Sie ihr auch nicht schreiben werden! Ihr keine Nachricht je auch durch Dritte geben! Nichts!«

Das Seil verband uns wie zwei Holmkämpfer der nordischen Reckenzeit der Umkreis der Insel. Es berührte den Boden. Denn ich war dicht vor den anderen hingetreten. Ich wußte nicht mehr, was ich tat, was ich sprach. Leidenschaftlich allen Eindrücken des Augenblicks hingegeben, wie ich als Künstler immer gewesen, heißblütig, hitzköpfig, von Glück und Erfolg verwöhnt, war ich jetzt nicht ein Mann wie andere, sondern ein Mensch im Fieber, ein Mensch, der seinen Verstand verloren, ein Mensch, der mit offenen Augen auf diesem Mondscheingletscher hin nachtwandelte. Und so fuhr ich in meiner seelischen Verwirrung fort: »Wenn Sie mir nicht schwören, daß Sie meine Braut heute zum letztenmal gesehen haben ...«

»Dann?«

»... Dann haben Sie sie heute zum letztenmal gesehen!«

»Soll das heißen, daß Sie mich töten wollen?« fragte er innerlich ruhig.

»Wehren Sie sich!« rief ich wild und schwang meinen Eispickel. Die lange, wuchtige Axt mit der breiten Stahlschneide und der scharfen Stahlspitze war eine furchtbare Waffe in der Hand so kräftiger Männer wie wir, die durch das Seil auf Sein und Nichtsein hier inmitten des Spaltengewirrs des Todes aneinandergeknüpft waren. Aber da klirrte seine Eisaxt im Boden. Er hatte sie weggeworfen. Er stand wehrlos vor mir.

»Meinetwegen töten Sie mich,« sagte er gleichgültig, »mir liegt nichts am Leben!«

Alles andere hatte ich eher erwartet, als das. Ich starrte ihn an. Er wiederholte: »Gerade heute liegt mir noch weniger am Leben als sonst! Schlagen Sie zu, wenn Sie nicht anders können!«

Ich schwieg. Er fuhr fort: »Werfen Sie meinen Leichnam in eine Spalte! Sie haben Ort und Zeit gut gewählt! Der Gletscher schweigt.«

Der Pickel in meiner halb erhobenen Hand wurde bleischwer. Ich konnte ihn kaum mehr halten.

»Sie sollen sich wehren!« sagte ich zwischen den Zähnen. Ein Kopfschütteln drüben. Müde. Mir ein Rätsel. Ich knirschte: »Dann sprechen Sie wenigstens ...«

Wieder das Kopfschütteln. Seltsame, bleiche, hoffnungslose Schatten im Mondschein auf seinen Zügen.

»Ich kann nicht ...«

Einen Wehrlosen morden – einen Menschen, der freiwillig seinen Kopf dem Todesstreich hinhielt – mir sank der Arm mit dem Pickel schlaff am Körper nieder. Es war ein schweres Schweigen.

»Kehren Sie jetzt um«, sagte mein Todfeind endlich ruhig. »Kehren Sie in das Tal zurück. Es ist das beste für Sie. Besser, als Sie glauben!«

Er schaute um sich. Wir waren gerade inmitten eines wildgerissenen Gletscherbruchs. Eismänner und Eisjungfrauen glotzten von ihrer Höhe als phantastische Riesensäulen auf uns herab. Morris deutete nach der nahen Bergflanke.

»Es ist zu gefährlich – für Sie, der Sie am Leben hängen – sich hier loszubinden!« sagte er. »Kommen Sie bis dorthin, wo Sie festen Schnee unter den Füßen haben! Der Heimweg ist dort für Sie beschwerlicher, aber sicherer!«

Er stieg, ohne meine Antwort abzuwarten, schräg über die Gletscherwildnis dem Talhang zu. Das Seil straffte sich. Ich folgte ihm. In einer dumpfen Betäubung, aus der allmählich eine neue, kalte, verzweifelte Wut erwuchs. Dieser Mann vor mir hatte mich wiederum geschlagen! Dieser Mann stahl mir meine Braut! Dieser Mann entwaffnete mich. Und ich hatte nicht die Kraft, das Todeswerkzeug in meiner Hand zu erheben und ihn anzuspringen ... von hinten ... nein ... nein ...

Er wandte den Kopf nicht nach mir um. Aber ich merkte, daß er, trotz seiner äußeren Ruhe, nicht minder erregt war als ich. Ich sah es an seinem unregelmäßigen Atem – der sich in der Luft kräuselte. Ich erkannte es daran, daß er, im Bann dieser Stunde, die gewohnte Vorsicht des Bergsteigers außer acht ließ. Er wählte nicht mehr den Weg. Er erzwang ihn sich, geradeaus, wie es kam.


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