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Eintausend Mark Belohnung!

Am Freitag, dem 29. September 1899, gegen Abend, hat sich ein junger Mensch von 18¼ Jahren aus der elterlichen Wohnung hierselbst entfernt und ist bisher noch nicht zurückgekehrt. Er ist von langer, schlanker Statur, hat braune Augen und dunkelblondes, kurzgeschnittenes, leicht gelocktes Haar. Auf der Straße pflegt er sehr rasch zu gehen und hat die Gewohnheit, dabei den Kopf etwas im Nacken zu tragen. Sprache Hochdeutsch, mit etwas Anklang an die Pfälzer Mundart, auch geläufig Französisch und Englisch. Bekleidet war er bei seinem Weggang mit modischem, hellgrauem Anzug, einem echten Panama- Strohhut mit blauem Band, gleichfarbiger Krawatte zum Selbstbinden und weißen Strandschuhen. Die sehr feine Leibwäsche ist mit W. W. gezeichnet. Da er sich nur im Besitz ganz geringer Geldmittel befindet, so wird vermutet, daß er sich noch nicht weit von der Stadt oder ihrer Umgebung entfernt haben kann. Wer über den Verbleib des Vermißten sachdienliche Angaben zu machen vermag, erhält sofort obige Belohnung im Privatkontor des Hauses Kaiser-Wilhelm-Straße 81, parterre rechts, ausgezahlt.«

Der Zettelankleber hatte den Anschlag an der Litfaßsäule befestigt und trottete mit Pinsel, Kleistertopf und einem Stoß weiterer Plakate um die Ecke. Sein Schritt hallte in dem sonnenwarmen Sonntagnachmittagschweigen durch die menschenleeren Gassen der Fabrikvorstadt. Blauer Himmel über schlafenden Höfen. Feiernde Schlote. Rastende Riemen hinter den verstaubten Scheiben. Die Räder standen still. Vor den Toren ruhten die Riegel. Auf den Kohlenbergen jenseit der Bretterzäune bröckelte es kaum hörbar vom Schleichtritt einer Katze. Verhuschte. Ein leises Wehen des Windes hinterher, über das ausgestorbene Pflaster, gleich einer mächtigen Stimme der Stille: Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebenten ruhen.

Das Volk der Arbeit war fern. Draußen im Grünen. Keine Menschenseele weit und breit. Erst nachdem der hinkende Zettelträger weit außer Sicht und Gehör war, trat der junge Mann hinter der andern Seite der Litfaßsäule, wo er sich vor jenem verborgen gehalten, hervor, legte die Arme auf den Rücken, den Kopf in den Nacken und studierte mit zusammengebissenen Zähnen seinen Steckbrief. Ein spöttisches Lächeln verzog seine kaum vom ersten dunklen Flaum beschatteten Lippen. Der echte Papa! Heute war man ihm schon wieder tausend Mark wert! Vorgestern um diese Zeit hatte er geschrien: »Jetzt hältst du endlich 's Maul, du Lausbub!« Und als man antwortete: »Ich hab' mein Abiturium hinter mir! Ich will werden, was ich will, und nicht, was du aus mir machst. Ich lass' mich nicht länger von dir kujonieren!« – – Ja, dann der Schlag ins Gesicht! Schluß! Ade, Elternhaus! Mich seht ihr nicht wieder! Mag Papa künftig seine Wut austoben, an wem er will.

Die Litfaßsäule stand dunkel wie ein warnender Schatten vor dem blaßblauen Himmel. Sie war die letzte hier draußen. Gleich davor begann schon das freie, flache Land, pfiff der Wind über die Stoppelfelder, ragten nur noch vereinzelte Fabrikschornsteine, schweifte der Blick weit über die kirchturmbesäte Ebene bis zu dem fernen Blau des Odenwaldes. Hinten, nach der andern Seite der Litfaßsäule, lag die große Industriestadt am Rhein. Jetzt ein stilles, steinernes Meer. Kirchhofsruhe in den Vororten. Erst in der Mitte der Stadt begann das Leben, wurden die Straßen volkreicher, immer feiner gen Westen, bis zur vornehmsten von allen. Dort, wo im immergrünen südländischen Zierpark das prunkende weiße Haus mit dem Säulenvorbau stand. Dort lauerte jetzt Papa mit dem braunen Lappen in der Hand. Er mochte lange warten! Und oben weinte die Mama .... Eine dumme Vorstellung .... Lieber nicht daran denken .... Was war da zu machen? Mama half einem ja auch nie. Sie hielt ja immer dem Vater die Stange.

Komisch, so vor dem Spiegel zu stehen und seine eigene Beschreibung zu lesen ... Einen Steckbrief ... Gerade, wie wenn man Geld unterschlagen hätte als einziger Sohn und Erbe von Millionen! So? Man hatte also die Gewohnheit, den Kopf im Nacken zu tragen? ... Na, Papa – wir werden ja noch sehen, wer von uns beiden das steifere Genick hat – ich oder du. Kein Geld? Ja, leider!... Mußte auch gerade in diesen Tagen der Abschiedskommers der Abiturienten gewesen sein: da hatte man sich vor den andern Muli nicht lumpen lassen können. Da waren die paar Kröten freilich draufgegangen. Rein durch Zufall noch dreißig Pfennig im Portemonnaie. ... Dafür gestern früh Brot beim Bäcker nach im Freien durchfrorener Nacht. Seitdem nichts mehr .... Kein eigentlicher Hunger. Dazu war die Aufregung zu groß. Aber so ein unheimliches, leeres Gefühl im Magen. Zuweilen schwarze Punkte vor den Augen .... Eine Schwäche.... Ein Schwindel ... jetzt bewegte sich die Litfaßsäule ganz deutlich, neigte sich nach vorn, breitete Arme aus wie ein Mensch, als wollte sie auf einen fallen und einen erdrücken. Man trat unwillkürlich zurück. Unsinn .... Sinnestäuschung .... Fäuste zusammen. ... Es mußte sich etwas für zwei Fäuste finden.... Zu dumm: Latein und Griechisch hatte man gebüffelt. Mit dem seligen Cicero stand man auf Du und Du. Das Sabinergütchen des Horaz kam einem schon zum Halse heraus. Aber wie ein gesunder junger Kerl sich irgendwie von seiner Hände Arbeit ernährt, das wußte man nicht. Und doch taten es ringsum alle Menschen. Alle Gebäude, die hier im Sonntagsschweigen um einen standen, waren Stätten der Arbeit.

›Modischer, hellgrauer Anzug!‹ ... Er mußte lachen. Der sah gut aus, jetzt, nach achtundvierzig Stunden Vagabundieren. Schon in der ersten Nacht, als man auf dem Holzplatz einen Unterschlupf suchte, die verfluchten Hunde! Einem der kalbgroßen Köter hatte man beim Retirieren über den Plankenzaun ein Stück Hosenbein in den Zähnen lassen müssen. Die nächste Nacht war es ja besser gegangen in der leeren Hütte der Laubenkolonie drüben vor den Toren. Aber des Morgens die handbreiten Erdflecken auf dem Rock.... Man kriegte sie nicht heraus.... In ein paar Tagen sah man aus wie ein Stromer..... Der erste beste Gendarm nahm einen unbesehen fest, führte einen am Kragen heim zu den Fleischtöpfen Ägyptens .... Nein .... Den Triumph sollte Papa nicht haben ... für seine tausend Mark. Der Steckbrief klebte jetzt an jeder Straßenecke. Jeder kannte einen drinnen in der Stadt. Jeder wollte das Geld verdienen! Und erst halb vier Uhr nachmittags .....Noch lange Zeit bis zur Dunkelheit! Herrgott ... wohin denn nur? Wohin?

Der junge Mann sah scheu um sich. Niemand da. Und trotzdem die Angst. Plötzlich lief er mit langen Schritten die Straße entlang, kopflos ins Freie hinaus, da, wo das Pflaster aufhörte, Stacheldraht leeres Bauland umspannte, verbeulte Ofenröhren, verrostete Eimer, aufgeschlitzte Konservenbüchsen den Grund abgebauter Kiesgruben füllten. Uff! ... Kein Atem mehr! Wieder der verwünschte Schwindel! ... Er setzte sich auf die Wurzeln eines Obstbaumes am Grabenrand nieder und stützte den Kopf auf die Hände. Über ihm wiegten sich herbstreif, rotbäckig die Äpfel im Westwind. Er erhob sich seufzend, langte sich die nächste Frucht, biß hinein....Brr .... Es ging nicht mehr! Schon seit heute früh nicht! Dem ausgehungerten Magen widerstand das saure Zeug. Am besten, man kroch, statt sich immer müßig herumzutreiben, jetzt gleich wie gestern in der leeren Hütte der Laubenkolonie unter. Da suchte einen keiner. Vor Tag und Tau marschierte man dann in einem Bogen um die Stadt herum nach dem Rhein. Wenn sie einen dort fanden, stand man mit dem Strom im Rücken, verhandelte von Macht zu Macht, sprang schlimmstenfalls ins Wasser. Papa sollte sich nur nicht einbilden, daß er seinen Willen durchsetzte! Bei allen übrigen Menschen ja! Vielleicht ließen die sich's gefallen, wenn er ihnen ins Gesicht schlug. Bei seinem Sohn fand er keine Gelegenheit mehr dazu ....

Wie schwer einen die Füße trugen. Staub unter den Stiefelsohlen. Heiße Sonne auf dem Panamahut. Drüben ließen Kinder einen Drachen steigen. Das bunte Ungetüm stand steil an bebänderter Schnur gegen den Wind. Ein paar kläffende Hunde. Ein vorbeiflitzender Radler. Der junge Mensch sah das wie im Traum. Er wanderte und wanderte. Er hatte nur Sehnsucht, sich irgendwo auszustrecken, zu schlafen. Gottlob: da drüben lag die Laubenkolonie. Er machte plötzlich halt und schirmte die Augen mit der Hand, in einer jähen Erkenntnis: Herrgott, in was für einer Welt wächst unsereiner auf! Was weiß man von den nächsten Dingen? Was hat man für einen dummstudierten Kopf! Auf die ganz einfache Idee, auf die jeder Bäckerjunge von selber kommen würde, daß heute am Sonntag nachmittag die ganze Laubenkolonie voll Leute ist, auf die bin ich nicht verfallen...

Vereinzelt standen da drüben in dem freien Feld schon die ersten Mietkasernen, die Vorposten der Großstadt, mit kahlen, fensterlosen, vier Stockwerke hohen Brandmauern, düster im hellen Sonnenschein, zwingburgartig und zwecklos. Weiter hinten schlossen sich die Häuserblocks schon in Reihen zusammen, umgürteten die Stadt mit einem neuen erstickenden Jahresring von Backsteinmassen, tilgten aus freudlosen Hinterhöfen das Grün der Erde, das Blau des Himmels, das Gold der Sonne, die sich verschwenderisch hier vorn noch über die flüchtige Bretterwelt der Laubenkolonie ergoß. Hunderte und Hunderte von Hütten wie die Zelte eines wandernden Volks der Wüste. Hier flammten noch blau, rot und weiß die Astern in kleinen Beeten, rankte sich in Scharlachblüten die Kapuzinerkresse, flatterten Schwärme bunter Wimpel im Herbstwind, waren Menschen.... Menschen überall,.. ein Gewimmel und Gewühl wie im Ameisenhaufen . . , Farbenflecke: die weißen Hemdärmel der Männer, die grellen Blusen und Hüte der Frauen, die weißen Kleidchen der Kleinen. ... Menschen, die, obwohl sie schon die ganze Woche schwer gearbeitet hatten, hier im Schweiße ihres Angesichts ihr bißchen Boden umschaufelten, an Zaunlatten hämmerten, Holzplanken mit saftig grüner Ölfarbe strichen, voll eines glücklichen Eifers, einmal etwas für sich zu tun und nicht für andere... Gelächter .., der blaue Rauch eines Feuers aus Kartoffelkraut ... Kindergeschrei .... Ein Leierkasten: »Herr Hauptmann, die Liebe – hat mich so weit gebracht.« ... Der junge Mann drüben dachte sich: Da kochen sie Kaffee, und ich hab' nichts!... Wollte weitergehen... ließ sich matt auf dem Meilenstein nieder, starrte vor sich hin .... Ja, was nun?

Ein Ziehen der Gedanken durchs Hirn wie die Wolken an einem stürmischen Märztag.... Ihm schien: das Feld der Budenstadt da drüben gehörte überhaupt Papa. Oder wollte er's haben? Irgend etwas war damit los. Es war neulich bei Tisch davon geredet worden mit dem Großpapa Stadtrat. Der Großpapa war eine Autorität in Bodenfragen. Wo da etwas zu verdienen war, da hatte er schon tags zuvor in aller Stille seine Hand darauf gelegt. Seit fünfzig Jahren und länger ... Egal! Wenn die nur da drüben nicht wären und einen fernhielten – die Laubenbewohner, am Sonntagnachmittag.... Was waren das wohl für Leute? ... Arbeiter natürlich ... was anderes gab's ja kaum in der Stadt.... Komisch: die Arbeiter hatte man sonst nur vom Fenster des früheren elterlichen Hauses im Morgendämmern kommen, im Abendgrauen gehen sehen, eine graue, flutende Masse. An jedem siebenten Morgen blieb die aus. Wo sie dann war, was sie dann trieb, wußte man nicht. Man sprach auch nicht davon. Seit vor ein paar Jahren Papas neue Villa in der Kaiser-Wilhelm-Straße fertiggeworden war, wohnte man eine halbe Stunde von der Fabrik, bekam überhaupt keinen Arbeiter mehr zu schauen. Erst hier. In den Lauben. Anders als sonst. Vergnügte Gesichter. Lachende Stimmen. Lebensfreude. Aber nur nicht mehr lange hierbleiben.... Wenn irgendeiner kam, der das Plakat schon gelesen hatte ... schnell ... hinüber an den Rhein.... Nur schnell. ... Mit aller Gewalt auf die Beine.... Wieder der Taumel in den einknickenden Knien... die Schwäche ... lieber Gott... da schauen sie schon zu einem herüber. ... Was hat denn nur der unglückselige Bub da drüben auf einen mit der Hand zu weisen?

In der Laube »Zur neuen Welt«, auf deren Dachfirst ein winziges rotes Fähnchen flatterte, streckte das Adämle, ein vier Käse hoher Knirps, immer noch seinen vom Kartoffelbuddeln schwärzlichen Zeigefinger aus und verkündete: »Babbe! Guck emol den Mann dort an der Schosseh!«

Und sein Bruder, der Schorschl, stellte fest: »Dem sei Hose sind aber arg zerrisse!«

Der »Babbe«, der Maschinenbauer Ortlieb, ein junger, blonder, schnurrbärtiger Mann, hielt seine beiden Töchterchen auf den Knien und ließ sie nach Paris reiten. Er wandte den Kopf nach seiner Frau: »Über den wunner ich mich auch schon die längst Zeit.« ...

Frau Ortlieb war zart und fein. Sie war vor ihrer Heirat in einem reichen Haus im Dienst gewesen. Sie hatte etwas von der gezierten Art badischer Bürgermädchen an sich. Sie kniete gerade vor ihren Geranientöpfen, die schon etwas unter der Herbstkühle gelitten hatten, und meinte über die Schulter: »Der hot zu viel gelade! Weiter nix!«

»Loßt ihn doch!« sagte ihr Bruder, der junge, erst neunzehnjährige Schlossergeselle Robert Kienast, der, eine Zigarette rauchend, bäuchlings im Gras lag, und lachte über sein breites, gutmütiges, sommersprossiges Gesicht. »Do steht er schon uff und trägt sei Rausch heim!«

»Abah! Er kommt wieder retour!«

Der Maurer Hildebrand, ein großer Mann mit mächtigem grauen Vollbart und breitrandigem Schlapphut, der wie ein Wotan der Sage aussah, trat aus dem beizenden Rauch des Kartoffelfeuers, an dem seine beiden Töchter, das Babettche und das Sannche, erhitzt herumstocherten. Sie gingen wochentags in die Gelatinefabrik. Sie kamen mit dem Kochen nicht zurecht. Die Flamme flackerte wild im Wind. Der Dampfziegeleikutscher Friese, ein junger, verwegener Kerl, der seine blaugelbe Dragonermütze schief auf dem Scheitel trug, nahm eine Schaufel zur Hand, warf einen Graben gegen die Windrichtung auf und belehrte sie: »So mächt man's im Biwak – verstanne?«

»Lern's norr, Sannche! Sonst darfst net heirate!« schrie von nebenan das Lutze-Käthche, die Tochter des Straßenbahnschaffners. Die andern lachten zu der zarten Anspielung. Hinter dem Gerank von Feuerbohnen, das das nächste winzige Gärtchen abgrenzte, drehte der Elektromonteur Zittelius seinen blassen, feingeschnittenen, an einen Privatdozenten erinnernden Kopf herüber. Er hatte mit Gewerkschaftsabrechnungen zu tun und benutzte den Sonntag, die vielstelligen Ziffern seiner Bücher nachzuprüfen.

»Kreischt doch net so!... Man wird ja ganz irr!«

Aber zugleich riefen noch viel mehr Stimmen, deuteten Hände nach dem jungen Mann drüben.

»Jesses! Jetzt fällt er hin!«

»Du liebe Zeit! ... Do liegt er« ...

»... wie wann er tot wär! Hebt ihn doch! ... Der Borsch kann doch net auf der Schosseh bleibe!«

Flinker als die andern war der Schlossergeselle Robert Kienast aufgesprungen. Sein Vater, der Nachtfabrikwächter vom Rand des Odenwaldes her, der mit ihm zum Besuch seiner Tochter, der Frau Ortlieb, über den Sonntag an den Rhein gekommen war, warnte ihn mit einem grämlichen Zug um die tiefliegenden Augen und den gefurchten, von einem schütteren Graubart umbuschten Mund: »Kümmer du dich doch net um andere Leut!« Aber der Sohn war schon drüben auf der Chaussee, packte den da regungslos im Staub Liegenden an den Schultern, schaute ihm in das wachsbleiche Gesicht mit den blutleeren, halbgeöffneten Lippen, schnupperte ... Nein – der hatte nichts getrunken ... »Wasser her, ihr Männer! ... Herrgottdunnerwetter! ... Steht doch net so rum ... kumme Sie mal bei ... Sie! ... Helfe Sie mal! So!«

Er und der Former Ott, ein junger Arbeiter, stellten gemeinsam den Erschöpften auf die Beine. Der Fremde war nicht ganz bewußtlos. Nur zu Tod erschöpft. Er gab nur willenlos, in einer geistesabwesenden Art Antwort.

»Was fehlt Ihne denn? Sind Sie krank?«

»Nein!«

»Ha, liege Sie denn zum Pläsier da rum?«

»Ich hab seit gestern früh nichts mehr gegessen!«

»Kumme Se!« sagte der vierschrötige blonde Robert in hilfsbereiter Kürze, faßte ihn unter dem Arm und führte ihn hinüber in die Laubenstadt. Seine Stimme scholl in voller Pfälzer Lungenstärke voraus: »Habt ihr euern Kaffee fertig, ihr Krotte?« Und als er sah, daß das Hildebrand-Babettche schon mit einer dampfenden Tasse in der Hand kam, kommandierte er weiter: »Und was zu futtere!«

Er bückte sich zu seinem kleinen Neffen, dem vierjährigen Ortlieb, nieder. »Gell, Schorschl, du gibst dei Wasserweck her! Du hoscht schon e Bäuchel wie e Trommel! So, jetzt setze Sie sich nur ungeniert dahin ...«

Es stand da eine roh gezimmerte, kleine Holzbank mit Rückenlehne vor der Hütte. Der Maschinenbauer Ortlieb, der Hausherr dieses Fleckchens Erde, ließ seine beiden Töchterchen auf den Boden gleiten, erhob sich und half, den Fremden vorsichtig niederzulassen. »Wer sind Sie denn eigentlich?« fragte er dabei mit einem Blick auf dessen weiße, wohlgepflegte Hände.

Der junge Mann vor ihm sah ihn verwirrt und halb erschrocken an und sammelte mit Mühe seine Gedanken zu einer Antwort.

»Kaufmann!« sagte er endlich gepreßt und halb zögernd.

»Und da sind Sie außer Stellung?«

»Ja, schon lange. Gestern früh hab ich mir für mein letztes Geld Brot gekauft!«

»Sell hab ich mir bei dem Bürschle gleich gedenkt!« meinte der kräftige Maschinenbauer zu dem andern. Der Maurer Hildebrand trat heran und legte stumm und ernst ein in Zeitungspapier gewickeltes Stück Lyoner Wurst auf die Bank und sein aufgeklapptes Taschenmesser daneben.

Und von drüben kam mit seiner weithin leuchtenden roten Nase der Dienstmann und Hundehändler Muck, der hier draußen, wo das Gebell keinen störte, sich einen kleinen Zwinger voll Köter eingerichtet hatte, und bot mit seinem tiefen Baß eine Flasche Zwetschgenwasser. »Trinke Sie norr! Ich hab's selbst vum Bauer uff'm Odenwald!«

»Loßt ihn jetzt bloß in Ruhe, ihr Leut!« sagte der Robert, und der bleiche junge Mann vor ihm saß und aß und trank, und es war ihm wie in einem Traum. Die Welt verkehrt. Fremde Menschen halfen ihm gegen den eigenen Vater und boten ihm Obdach, und ihn, den Jüngling aus reichem Haus, speisten die Armen ....

Ein wohltuendes Gefühl der Sättigung. Der Schläfrigkeit. Vorläufig war man geborgen, saß auf warmer Holzbank zurückgelehnt und ließ sich von der Sonne bescheinen. Die Hände im Schoß, die Lider halb geschlossen. Niemand kümmerte sich um einen. Störte einen. Man ruhte in einem Dämmern. Undeutlich nur, wie von fern, Licht und Laute ....

Hinter einem ein eintöniges Gemurmel einer weichen, gebildeten Männerstimme. Der Monteur Zittelius rechnete seine Gewerkschaftstabellen nach. Vierzigtausend Mark ... fünfundvierzigtausend Mark ... Komisch ... So viel Geld hier unter den armen Leuten ... Papa war immer wütend über die gespickten Streikkassen ... Einundfünfzigtausenddreihundertundsiebzehn Mark und dreizehn Pfennig ... Schluß ... Papa war oft wütend ... Ein Segen, daß ihm nicht immer alles nach seinem Willen ging. Daß andere Leute auch bockten. Nicht nur der Sohn.

Wenn man nur noch recht lange so dasitzen konnte, um einen Sonnenwärme, ein Geruch von frisch umgegrabener Erde, von Kaffee, von Blumen, von hier im Land gewachsenen und gewickelten Zigarren. Eine davon hielt der Maschinenbauer Ortlieb im Mund und hatte wieder seine beiden Töchterchen auf den Knien und strich ihnen zärtlich über die semmelblonden Scheitel: »Ei du mei Herzgebobbeltes« ... Er trug eine rote Nelke im Knopfloch. Überall, irgendwie waren rote Pünktchen, rote Schlipse, rote Federchen, wie Blutstropfen in dem fröhlichen Bild ....

»Ob'sch d' stillhältst, du Schote!« sprach drüben bedächtig der Dienstmann Muck und schor einem vor ihm auf dem Schemel stehenden, bildschönen, weißen Schnürpudel kunstgerecht vier Manschetten um die Pfoten. »Der Hund gehört uff Heidelberg, ihr Männer! ... Ich wollt, ich hätt's wie der!«

Daneben stand der Briefträger Adam Ringewald vor seiner Kaninchenhecke und erzählte dem Straßenbahnschaffner Lutz von den Umtrieben bei der vorwöchigen Kaninchenschau droben in Günzheim ... Das war halt wieder so e rechte Vetterlewirtschaft gewesen! Du liebe Zeit ... Wenn die Preisrichter so gar nix von französischen Widdern verstanden! ... Er zog erbost sein Prachtstück, den schwarzweiß gefleckten Zuchtrammler, an den Löffeln aus dem Kasten. »Gucke Sie sich norr mal den Borsch da an ... für den Behang hot er die höchsten Punkte gekriegt ... Für die Zeichnung ... fürs Gewicht ... bloß zu guter Letzt für den allgemeinen Eindruck net! ... Jetzt, ich bitt Ihne ... Hand uffs Herz: Kann denn e Stallhas e bessere Eindruck mache?«

Das Kaninchen saß stumpfsinnig da und schnupperte mit der hochgezogenen Schnauze. Der Briefträger fuhr ihm liebreich und voll gekränkten Ehrgeizes über das seidenweich gekämmte Fell. Der Lutz neben ihm lachte. Er war ein kleiner, rundlicher, pfiffiger Kerl, durch das Trinkgeldnehmen in der Straßenbahn an Leutseligkeit gewöhnt. Er setzte wieder seine Okkarina an die Lippen und blies aus der »Fatinitza«:

»Du bist verrückt, mein Kind!
Du mußt nach Berlin!«

Und die halbwüchsigen Mädchen, die schon erwartungsvoll um ihn standen, fingen gleich wieder an zu tanzen, daß die magern Beinchen und die Rattenschwänze von Zöpfen flogen, und sangen mit ihren scharfen, dünnen Kinderstimmen:

»Wo die Verrückten sind,
Da gehörst du hin« ...

Vom Kartoffelkrautfeuer drüben her ein Duft ... Die Erdäpfel waren in der Asche heiß gebacken ... »Vadder ... jetzt loß emol die Karte und kumm! ... Sonst werde sie kalt!« Der Pudel hatte sich freigemacht ... »Jesses, hebt doch den Hund!« Ein Geschrei und Gebell ... Der blasse junge Fabrikarbeiter, der neben dem Fremdling auf der Bank im Gras lag, stopfte sich die Zeigefinger in die Ohren und lernte an seinem Prolog für das nächste Stiftungsfest:

»Das ist der Arbeit Freudentag,
Nach all der Mühsal, all dem Ringen,
Nach Kümmernis und Sorgenschlag
Hebt sich der Geist auf freien Schwingen« ...

»Do gehört mehr Schwung hinei, Emil!« sagte Robert Kienast, der junge blauäugige Schlosser, der neben ihm kauerte, die Hände über den hochgezogenen Knien verschränkt, eine Zigarette schief im Mundwinkel. Er plänkelte die ganze Zeit mit den Blicken zu den Hildebrand-Mädchen hinüber. Die beiden gingen nur geringschätzig darauf ein. Der war noch zu jung. Kaum neunzehn. Und nicht einmal ein hiesiger. »Mache Sie net als so Aage!« sprach das Sannche achselzuckend. »Sonst sag ich's Ihrem Babbe!«

Der alte Kienast hörte nichts davon. Er saß gramvoll und still. Fabriknachtwächter? Nein: ein Erfinder, den die Welt verkannte. Millionen hatte man im Kopf, und es langte kaum zu einem Handkäs. Jetzt schrieb man 1899. Im nächsten Jahrhundert flog ein jeder. Das Fliegen war gar keine Kunst. Das wußte er, Sebastian Kienast! Er hatte seine Erfindung schon beinah fertig. Er hatte Zeit genug dazu in den langen, stillen Nachtstunden auf dem Fabrikhof. Nur das Geld ... das Geld ... Ein vernünftiger Mensch unter den Reichen, die nicht wußten, wohin mit ihrem Geld ... »Der is närrisch ... schon die längst Zeit«, sagte drüben das Lutze- Käthchen zu ihren Freundinnen. Der Alte rührte sich nicht. Er sah, in seinen Mantel gewickelt, unverwandt, in fanatischer Sehnsucht, hinauf in den unergründlich blauen Himmel, und unter ihm, am Boden, lernte der blasse, junge Fabrikarbeiter weiter an seinem Prolog:

»Aus unsers Alltags grauen Sphären
Reckt er die Flügel groß und weit,
Und rings um uns in Feierchören
Rauscht das gewalt'ge Lied der Zeit.«

Der junge Mann auf der Bank hörte es halb im Schlaf. Wo war man nur? Im Elternhaus nicht. Aber in seiner Nähe? Nein. Das war alles so fremd. So neu ... als hätte man das nie gesehen ... so nie gesehen .... Dann fuhr er auf. Es war eine Bewegung um ihn. Der Stadtrat und Zigarrenhändler Karl Mattrian, ein früherer Zigarrenwickler, war von der Landstraße her, wo er mit seiner vielköpfigen Familie einen Sonntagnachmittagsspaziergang machte, herangetreten. Er war ein vollbärtiger, stattlicher Mann in mittleren Jahren. Er hatte in Haltung und Erscheinung eine ruhige Würde. Man begegnete ihm mit Respekt. Er sprach erst halblaut kurze Zeit mit dem Monteur Zittelius über Parteiangelegenheiten. Dann wandte er sich an den Maschinenbauer Ortlieb: »Wie ist's denn: Ist das Terrain hier schon verkauft?« Ein Schweigen. Ein Achselzucken. Niemand wußte etwas davon. Er fuhr fort: »Ich hab' auf dem Rathaus was läuten hören! Die Pfälzer Bodenkreditbank will es losschlagen!«

Die Pfälzer Bodenkreditbank ... Darunter konnte man sich auch nichts Rechtes vorstellen. Nur ein großes, steinernes Gebäude mitten in der Stadt, in dem man nichts zu suchen hatte. Alle, die hier in der Laubenkolonie hausten, hatten ihre Pachtverträge mit dem Grundstücksverwalter Sturzacker abgeschlossen. Herr Sturzacker wohnte in der Nähe. Er hatte Vollmacht ... von irgendwem.

»Acht Täg Kündigung!« sagte der langbärtige Maurer Hildebrand. »Anners hot er's dies Jahr net getan!«

»Er hat aber versprochen: im Sommer wird's nicht verkauft!«

»Aber jetzt ist's Herbst!«

»Sie – Herr Knorsch, wisse Sie was?«

Der Schutzmann Knorsch vom nahen Polizeirevier, allgemein der grobe Knorsch genannt, verneinte. Er war ein gemütlicher Mann, kein Spielverderber. Man konnte oft seinen breiten, phlegmatischen Rücken mit den weiß behandschuhten, darauf gekreuzten Händen bewundern, wenn er etwas nicht sehen wollte, wie jetzt die ohne behördliche Erlaubnis flackernden Kartoffelfeuerchen. Er warf aber doch unwillkürlich im Vorbeigehen einen forschenden Blick auf den übernächtigen jungen Mann auf der Bank in seiner eleganten, beschmutzten und zerrissenen Kleidung. Als er fort war, setzte sich der verstört zurecht und schaute ihm nach, und der Schlossergeselle Robert fragte vom Boden her: »Wo wolle Sie denn hin?«

»Arbeit suchen!«

»Wann Sie doch keine finde!«

»Ich muß!«

Robert Kienast zerzupfte einen Grashalm zwischen den Zähnen.

»Jetzt auf den Herbst ist's bös! ... Wo Sie doch keine Profession gelernt hawwe« ...

»Dann klopf ich eben Steine! Mir ist alles gleich!«

»Ja – wann Sie auch ungelernte Arbeit annehme?« ...

»Auf der Stelle! Wissen Sie wo?«

»Bei mir daheim, da hot's doch das halbe Elektrizitätswerk runnergebrannt – das von Römer und Sohn ... Da stelle sie jeden ein, damit sie vor Winter wieder unter Dach kumme!«

»Wo ist denn das?«

»Da nauf zu, am Odenwald! Zu laufe sind's von hier drei Stunde! Warte Sie ... Ich kann's Ihne weise!«

Der Schlossergeselle war aufgestanden und zeigte mit der Hand nach den fern im Osten blauenden Höhenzügen, aus denen als rötliche Flecken die Sandsteinbrüche bei Heidelberg, als grelles Gelb die Porphyrwerke an der Bergstraße schimmerten. »Also: wann Sie links am Eppeler Kirchturm vorbeischaue ... als noch besser links ... was habe Sie denn? ... Sie werden ja ganz gelb im Gesicht ... hocke Sie sich nur hurtig wieder hin ...«

»Es ist so heiß hier draußen«, sagte der junge Mann und trocknete sich mit dem Tuch den kalten Schweiß von der Stirn. »Kann ich ... kann ich mich nicht da drinnen in der Hütte ein bißchen ausruhen?«

»Ungeniert! ... Da hot mei Schwager nix dawedder!«

Ein kleiner, aus Holzplanken gezimmerter Raum, Tisch und Stühle ins Freie hinausgetragen, nur am Boden noch eine Ruhegelegenheit, ein Haufen Strohmatten zum Zudecken der Blumenbeete. Wenn man auf denen lag, sah man über sich papierdünn zwischen den Fugen der Dachbretter durchschimmernde Linien von Himmelblau. An den Wänden Familienphotographien, darunter ein Gruppenbild: »Reserve hat Ruh« ... die alte Mannschaft der siebenten Kompagnie vor der Entlassung, in der Mitte der Hauptmann, gegenüber eine Lithographie mit den drei Köpfen von Liebknecht, Bebel, Auer ... Ein Schrank mit Kaffeetassen und Blechgerät ... nein ... der war zu klein, um sich darin zu verstecken ... aber da in der Ecke gab es Verteidigungswaffen ... eine Gießkanne, eine Schaufel, wenn es zum Schlimmsten kam ...

Er spähte, wieder aufgesprungen, atemlos mit zusammengebissenen Lippen durch das kleine Fenster. Hatte er am Ende eben falsch gesehen? ... Nein ... da draußen auf der Chaussee stand er leibhaftig ... der Großpapa Stadtrat ... lang, mager, vornübergebeugt, mit dem schlohweißen Kopf und dem kurzen, weißen Schnurrbart in dem gerunzelten, immer kläglichen Gesicht. Aber der neben ihm ... der Kleine, der viel Jüngere, Spitzbäuchige, Lebhafte, mit dem Zwicker vor den scharfen Augen, das war nicht Papa. ... Gottlob ... da galt der Besuch auch nicht ihm! ...

Drüben von der Straße her wies der Stadtrat Kobus mit seinem silbernen Krückstock auf das Terrain der Laubenkolonie und sagte mit seiner weinerlichen Stimme zu dem Syndikus der Pfälzer Bodenkreditbank:

»Bätzle, aus Ihnen kann man drei Räuber machen, und es bleibt noch ein Spitzbub übrig. Hand aufs Herz: der äußerste Preis!«

»Für Ihren Schwiegersohn – weil er's ist: fünfhundert Mille!«

Der alte Herr stieß einen schwachen Klagelaut aus.

Es klang wie das Weinen eines Kindes. Der Banksyndikus sagte kaltblütig, was er immer bei solchen Gelegenheiten sagte: »Meine Herren ... Sie denken tiefer ... aber ich denke klarer. Dafür bin ich Jurist. Kann ich dafür, daß die Geschäfte des Herrn Winterhalter so gut gehen?«

»Bätzle« ...

»... daß er seinen Umsatz in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat?«

»Bätzle« ...

»... daß er seinen alten Kasten von Fabrik da drinnen in der Stadt nicht mehr erweitern kann? Daß er hier heraus muß? ... Mit seinem Betrieb ... glatt muß

»Vierhundertfünfundsiebzig Mille, Bätzle!«

»Fünfhundert!«

Ein Schweigen. Die beiden Herren sahen tiefsinnig einen kleinen Köter an, der sein Hinterbeinchen am Meilenstein lüftete.

»Bätzle – ich geh jetzt wieder heim!«

»Ich geh mit!«

Von drüben aus dem Fenster der Hütte lugte Werner Winterhalter herüber, trat wieder zurück in den schon halbdämmerigen kleinen Raum, streckte sich mit klopfendem Herzen auf den Matten aus ... schloß die Augen ... um ihn ein einlullender Geruch von Staub, von altem Holz, von verwittertem Stroh ... eine Angst ... er schaute wieder auf ... geistesabwesend auf das Buntdruckbild neben ihm an der Wand ... »Der schlafende Riese«: ein Arbeitsmann bei der Mittagsrast, schlummernd am Rain. Um ihn bis weit in die Ferne, winzig wie Puppenspielzeug, Fabriken, Schlote, Schlackenhügel. Zwerge krochen und kletterten auf seinem Körper. Am Rand, mit Bleistift hingekritzelt:

»Wach auf, daß du den Unfug weißt,
Leicht kannst du ihn verjagen!
Ich weiß auch, wie der Riese heißt,
Noch darf ich es nicht sagen!«

Komischer Vers ... überhaupt ... ach, es war ja alles egal ... nur Ruhe ... Ruhe ... laßt mich ungeschoren ... ja? Sonst setzt's was! ... Den klapperbeinigen Großpapa – den renn ich gleich über den Haufen. Der Bätzle besieht was mit der Gießkanne auf seine Bombenglatze, daß er denkt, Ostern und Pfingsten fallen auf einen Tag! Kommt nur! Wenn nur Papa nicht kommt ... Ein Träumen ... die Gedanken wandern im Halbschlaf der Erschöpfung ... Nur noch schattenhaft ein Gefühl: man ballt die Faust ... Was macht ihr eigentlich da draußen? Was wollt ihr? ...

Und auf der Straße sah der Syndikus ungeduldig auf die Uhr.

»Ja, kommt Herr Winterhalter noch, oder kommt er nicht?«

»Versprochen hat er's! Aber wo er jetzt wieder den heillosen Ärger mit dem Bub erlebt ...«

»Mit Ihrem Enkel?«

»Ja. Vorgestern abend ist der Strick von daheim fort. Heut mittag war er noch nicht wieder da!«

»Ach, gehe Sie! Wo ist er denn hin?«

»Das weiß keiner!«

»Da wird Ihr Herr Schwiegersohn freilich nicht die Zeit haben ...«

»Wann man von ihm spricht, da kommt er!«

Leopold Winterhalter stand etwas atemlos vom schnellen Gehen vor den Herren. Er lachte. Ein starker Vierziger, aber noch kein graues Fädchen in dem dunklen, leicht gelockten Haar, dem südlich weichgekräuselten Vollbart. Ein schöner Mann, breitschultrig, etwas zur Fülle neigend, mit der gesund gebräunten Haut des leidenschaftlichen Jägers, lebenstrotzend, voll Saft und Kraft der heißen Sonne der Pfalz.

»Tag beisamme! ... Wie? Ein andermal, Bätzle? Wegen meinem Sohn? Da wär ich nicht in der Stimmung für Geschäfte? ... Da hätt ich viel zu tun, wann ich den ganzen Tag hinter dem Schlot herspringe wollt!« Er wandte sich mit einem jähen Ruck des Körpers an seinen Schwiegervater: »Also, hab der Amélie den Gefallen getan! Der Herr Filius steht an der Anschlagsäule ... Tausend Mark ... Ein Sündengeld ... Ich mein immer, die Heiner lachen schon hinter mir her ... No .... Reden wir von unsrer Sach!«

Seine Ruhe war gekünstelt. Die beiden andern merkten, wie es in ihm kochte – weniger aus Angst um den Sohn ... Unkraut verdirbt nicht – als aus verletztem Selbstgefühl ... dieser Anschlag an den Säulen ... dieses Eingeständnis vor der ganzen Stadt: Ich, Leopold Winterhalter, der Selfmademan, der Mann des Erfolges, vor dem die Konkurrenz zittert, dem tausend Arbeiter werken – ich werde mit einem grünen Bengel von achtzehn Jahren nicht fertig! Da könnt ihr's lesen, schwarz auf weiß!

»Von Geschäften soll man reden?« sagte der alte Stadtrat plötzlich hell und weinerlich in die allgemeine Stille. »Ja – wo einem der Bätzle gleich an die Gurgel springt! Leopold ... 's ist ein Kreuz mit dem Mann! Der holt einem die Seele aus dem Leib!«

»Ich schaff doch nicht für meine Tasche, sondern für unsere Aktionäre! Das ist meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit.«

»Alleweil hat der Bätzle recht!« sprach der Stadtrat trüb. Sein Schwiegersohn fragte kurz und herrisch: »Also wieviel?«

Der Syndikus malte stumm mit seinem Spazierstock vor sich fünf Nullen in den Staub und davor eine große Fünf. Leopold Winterhalter zuckte die Achseln. Er schritt bis an den Rand des Laubengeländes. Dort blieb er stehen und musterte die Fläche. Wie ein Feldherr das Schlachtfeld. Hinter sich hörte er die kühle, fachliche Stimme des Bankvertreters: »Herr Winterhalter: ein Mann wie Sie! ... Einer, der weiß, was er will! Sie sagen sich: Was die in Stuttgart und Mannheim und am Main können, das kann ich auch! ... Es ist doch ein offenes Geheimnis, daß Sie mit Lefueur in Paris für ganz Deutschland Ihr Motorpatent abgeschlossen haben ... Echt deutsch wieder! Otto und Daimler erfinden's, und wir müssen's erst wieder vom Ausland zurückkaufen. Na schön! ... Sie haben sich für die Konstruktion von Benzinmotoren entschieden. Andere für Elektrizität. Römer und Sohn bauen drüben am Odenwald wie besessen Tag und Nacht an ihrer neuen Anlage. Es gibt ein hitziges Rennen. Sie müssen in das Geschäft hinein, ehe die andern den Rahm abschöpfen.«

»Glauben Sie denn, daß ich das alles nicht selber weiß?«

»Ich sagt es Ihnen auch nur, damit Sie wissen, daß ich es weiß!«

Leopold Winterhalter wandte sich jäh um.

»Kann ich in vierzehn Tagen hier den ersten Spatenstich tun?«

»In acht!«

»Gut!«

»Und der Preis?«

»Leopold! Leopold!« schrie der Stadtrat weinerlich. Aber es war schon zu spät.

»In Gottes Namen: fünfhundert! Ich hab heute kein Pläsier am Kuhhandel!«

»Bätzle! Das haben Sie nur meinem Enkel zu danken! Wann der jetzt daheim auf seinem Hosenboden säß, da tät Ihne sein Vater was geigen mit Ihre Fünfhhh...«

»Abgemacht?«

»Hand drauf!«

»Uff! Jetzt komm ich doch noch zurecht zu meinem Skat ... He, Herr Sturzacker ... komme Sie mal flugs bei ... das Terrain hier ist verkauft! So wie es morgen verbrieft ist, wird alles geräumt! In acht Tagen seh ich hier nur noch eine Baufläche so kahl wie mein Schädel! Wir haften Herrn Winterhalter dafür! ... Na – kommen Sie mit, meine Herren? ... In die Stadt? ... Los!«

Im Laubenland hatte man die drei Männer nicht beachtet. Eine italienische Nacht war in Vorbereitung als Abschied vom diesjährigen Sommer. Bunte Papierlaternen schaukelten an Drähten, um bei Einbruch der Dunkelheit angezündet zu werden. Vor der Ortliebschen Hütte hielten die beiden flachsblonden kleinen Mädchen erwartungsvoll Stöcke mit aus zusammengedrehten Tüten gefertigten Lampions in der Hand, für den Kinderfestzug nachher. Der Straßenbahnschaffner Lutz blies auf seiner Okkarina: »Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen!« und blinzelte dabei aus seinen pfiffigen Äuglein auffordernd zum Sannche und Babettche hinüber, und die beiden und seine eigene Tochter, das Lutze-Käthche, fielen mit ihren dünnen, klagenden Fabrikmädchenstimmen ein: »Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!«

Und mitten hinein plötzlich ein tiefer Baß von irgendwoher: »Uffgepaßt, ihr Leut! Das Terrain is verkauft!«

Es lief wie ein Windstoß über den ganzen Platz. ... Ein Gewirr ... Ein Durcheinander von Stimmen ... Ein Gefrage: »Ha, wann denn? ... Ha, von wem denn? ... Ha, wer sächt's denn? ... Ha, der Sturzacker sächt's. O mei, der Sturzacker!« ... Und um den Grundstücksverwalter herum ein Gedränge und sein beschwichtigendes: »Norr Ruh, ihr Männer! ... Do kann ich doch nix mache! ... In acht Täg is Kehraus! Ha no! ... 's gibt ja noch mehr Terrains ... Nächst Jahr zieht m'r halt e Endche weiter ...«

»Aber die Erd da nehme wir mit, Mutter!« sagte der Monteur Ortlieb zornig und wies auf das Beet mit schönem, schwarzem Humus. »Die lasse wir ihne net! Springt mal, Schorschl und Adämle ... guckt, ob die Säck hinter der Hütt noch ganz sind ...«

Und nebenan zählte der Briefträger Ringewald kummervoll seine Kaninchen. »Ich muß halt mit 'm Hauswirt redde! Streng stinke tun sie ja freilich ... die Stallhase! Aber so ganz hinte im Hof e kleiner Verschlag ... vielleicht erlaubt er's doch ...«

Drüben bei Hildebrands buddelte der riesenhafte Maurer mit den Seinen in der Halbdämmerung eilig die letzten Kartoffeln aus dem Boden und schüttelte den Kopf, daß der Bart wehte. »Fuffzehn Mark hab ich dem Bauern das Frühjahr für die zwei Fuhre Mist gewwe. Und jetzt, wo der Bode gut is, heißt's weg! Herrgottdunnerschlagja!«

Um den fremden jungen Mann kümmerte sich in der Aufregung niemand. Nur der Robert neben ihm fragte: »No – wie ist's denn? Wolle Sie wirklich dort drübe Arbeit?«

»Und ob!« sagte Werner Winterhalter und lachte trotzig und hörte schon die ersten Hammerschläge, mit denen der angetrunkene dicke Hundescherer Muck im ersten Zorn seinen Verschlag abbrach, und dachte sich: Also das hier kommt auch wieder von Papa! Papa sitzt doch keine Minute still. Ewig ist er hinter andern Leuten her ...

Und wie ein Sinnbild dieser rastlosen Arbeit, wie ein Bote des nahenden zwanzigsten Jahrhunderts huschte drüben auf der Chaussee etwas vorbei, tutete, ließ Benzingestank in der Luft. Die Spaziergänger blieben stehen und schauten lachend dem komischen pferdelosen Fahrzeug nach, einer Art von ganz leichtem, zweisitzigem Break auf vier hohen Rädern, mit einer sonderbaren Wölbung hinten. Ihm folgte ein Knirps von Wagen wie ein hochlehniger Großvaterstuhl auf vier Gummireifen. Kein Vorspann, nichts! Und doch liefen die Dinger, Gott mochte wissen, wie. Blieben auch manchmal vor einem Hügel stehen und wurden unter dem Hallo der Straßenjugend von Kühen heimgezogen. Seit ein paar Jahren schon sah man manchmal die verrückten Wagen hier und in Mannheim und in Rüsselsheim, in Untertürkheim und in Dessau ...

»Kriegt die Kränk mit eure Stinkkaste!« schrie ein Droschkenkutscher hinter den Monteuren her. Die beiden Versuchsautomobile rollten weiter, hielten dann plötzlich auf einen Anruf seitlich vom Weg. Der Werkmeister oben am Steuerrad zog seine blaue Schirmkappe vor Leopold Winterhalter, dem Besitzer der Fabrik.

»Gut is heut gange, Herr Winterhalter! ... Wir sind bis Weinheim!«

»Wieviel Kilometer in der Stunde?«

»Streckenweis bis zu dreißig, Herr Winterhalter! ... Bis zu dreißig! ... Gell, da staune Sie? Man muß halt auch emal sei Lebe riskiere! Dodafür is man auf der Welt!«

»... 's ist recht!« sagte der Fabrikant und entließ die Wagen. »Mit der Glührohrzündung wird's nichts!« murmelte er in Gedanken. Und dann, in plötzlichem Jähzorn zum Schwiegervater an seiner Seite, mit dem Stock nach rückwärts auf den neugekauften Bauplatz deutend: »Das alles geschieht doch nur für den Bub! Dem kommt's doch mal zugut! Der erntet, was ich hier säe! ... Bloß reinzusetzen braucht er sich, wann ich mal die Augen zumach ... Und zum Dank läuft mir der Schlot auf und davon!«

»Was mußt du ihn auch jetzt gleich nach seinem Abiturium wieder nach England in die Maschinenfabrik stecken wollen? Der Bub will sich doch auch mal erst verschnaufen, sich besinnen, was aus ihm wird...«

»Ach was! Parieren soll er!«

»Du denkst immer, dir soll alle Welt parieren ... Lieber Leopold! Wenn deine Benzinwägele nicht mehr wollen und mitten auf der Chaussee bocken, da hast du Geduld wie ein Engel und hockst dich vor ihnen hin und schaust, wo's fehlt! So 'ner dummen Maschine haust du nicht gleich eins ins Gesicht, aber deinem Sohn wohl. Und das ist nicht so ein dummes Fuhrwerk, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut! Leopold .. Leopold .. das war nicht recht ..«

Der neben ihm biß sich finster auf die Lippen und schwieg. Der Stadtrat fuhr fort: »Wann der Bub jetzt in schlechte Gesellschaft kommt, bist du schuld! Der kann jetzt Schaden nehmen an Leib und Seel, und wir können's nicht mehr gutmachen hinterher. Dann bist du erst recht gestraft! Und wir andern mit! Nur durch dich! Ich hab's schon längst mit Angst gesehen, was mit dir und dem Werner wird! Aber natürlich: was so ein Großpapa daherbabbelt ...«

»Bist du jetzt still!« ...

Leopold Winterhalter stieg düster die Treppen seines Hauses in der Neustadt empor. Verfluchte Zucht überall ... Türen offen ... Unordnung ... aus einem Zimmer allgemeines Geflenne von Weiberstimmen. ... Ein lähmender Schrecken: Herrgott! ... Es war doch nichts passiert? Nichts Ernstliches ... mit dem unglückseligen Bub? Er trat wuchtig in den Salon. ... Alles drinnen weiß von Taschentüchern ... seine Frau hatte eins vor dem Gesicht ... seine Schwiegermutter ... seine Schwägerin ... noch ein paar Tanten und Basen ... draußen heulten die Dienstmädchen wie die Schloßhunde ... Eins von den Frauenzimmern steckte immer wieder die andern an. Seine Stimme war heiser: »Was Neues, Amalche?«

Die kleine, blasse Dame schüttelte stumm und verzweifelt den Kopf. Gott sei Dank! Ein Stein fiel ihm von der Seele. Die weichende Angst wandelte sich in neuen Zorn. Er faßte die Schwester seiner Frau, die Frau Gymnasialprofessor Neff, ziemlich unsanft an der Schulter.

»Jetzt endlich mal heraus mit der Sprache: der Werner ist drüben bei euch?«

»Nein! Wirklich und wahrhaftig nit!«

»Er war schon früher zweimal bei euch drüben, wenn's hier Krach gegeben hat, und ihr habt's mir die längste Zeit abgeschworen ...«

»Aber diesmal nit! ... Da tät's doch die Amélie wissen! Glaubst du denn, ich ließ die in ihrer Angst da sitze! Die Frau ist ja ganz auseinander ...«

Die kleine Frau Winterhalter war immer noch, im jäh steigenden Reichtum, trotz Equipage und Dienerschaft und Prunkvilla, die sorgenvolle deutsche Hausfrau mit Staubwedel und gehäkelten Sofaschonern geblieben, Fremden gegenüber verlegen, stets still, wenn ihr Mann im Zimmer war. Aber jetzt plötzlich fuhr sie auf, schrie, war ganz außer sich.

»Und wann der Werner jetzt in den Rhein gesprungen ist?«

»Um Gottes willen, beruf's nicht!«

»Amélie, hör auf!« ...

»Das kommt über dich, Leopold! Dann spring ich hinterher! ... Jawohl! Das tu ich! Was liegt an'ere dumme Person, wie mir! Aber den Bub sollst du mir nicht aus der Welt treiben ... Der Bub soll wieder bei! Der Bub soll bei!«

Sie schrie es in hysterischer Angst. Leopold Winterhalter trocknete sich die Stirn. Er war käseweiß geworden.

»Man möcht' meinen, man wär' im Narrenhaus!« sagte er.

Seine Schwiegermutter, die alte Frau Kobus, war aufgestanden. Die kleine, resolute, rundliche Pfälzer Madam mit rotem Gesicht und grauen Löckchen hatte noch am meisten den Kopf oben.

»Ich weiß, wer der ärgschte Narr im Zimmer is!« sprach sie. »Du hast nicht weit bis zum Spiegel, Leopold!«

»... wenn du dich noch drin sehen kannst«, ergänzte Frau Neff.

»Himmeldonnerwetter! Bei euch drüben im Schrank steckt er! Ich weiß es doch! Still! Ich weiß es. ... Ich lauf jetzt selber hin und red mal deutsch mit deinem Mann.«

In den Vorplatz ... den Hut vom Haken ... fort ... die Treppe hinunter ... Herrgott ... die Angst . . die Angst . . nur rasch hinüber! . . Zum Schwager! . . Der Gymnasialprofessor wohnte weit innen in der Stadt. Er hatte außer seinen eigenen Rangen noch ein halbes Dutzend Schulpensionäre im Haus. Mit denen saß er bei Lampenschein an einem langen Tisch und ging die Klassenaufgaben für morgen durch ... »Maierle! ... Du bischt e Simpel ... haud dubium est, quin.. quin...! Wann du die Konstruktion als noch nicht begreifst... Für dich hat der Cicero umsonst gelebt ... Das heißt man Latein vor die Säu ... Risum teneatis, ihr Bube ... Lache Sie net ... Ulrich ... Flenne möcht mer, wann mer euch so beisamme sieht ... Einer immer dümmer wie der andere! ... Guck emol, der Schwager!« ... Er stand auf und wurde plötzlich hochdeutsch statt der hemdärmeligen Pfälzer Mundart. »Hast du Nachricht, wo der Werner steckt?«

»Bei dir!«

»Ha ... schau doch nach! ... Bring wegen mir den Oberamtmann und die Polizei mit!«

Der Klassenordinarius verlor heute seinen sonstigen Respekt vor dem reichen Schwager-Fabrikanten, der das Geld in Scheffeln schaufelte. Er kümmerte sich nicht um die gespitzten Ohren der Jungen. Er wurde einfach grob.

»Bei uns auf dem Gymnasium hat der Werner gut getan! Da hat er als Dritter gesessen. Da hat er eine Eins im Betragen gehabt. Wenn er jetzt, kaum acht Tage später, schon Dummheiten macht, dann bist du schuld!«

Leopold Winterhalter stand unschlüssig, drehte ihm den Rücken, auf einmal selbst überzeugt, daß sein Sohn nicht hier sei, fand sich wieder auf der Straße ... lief weiter ... wußte nicht wohin ... durch die hereingesunkene Nacht ... bis vor die Stadt ... Speicher ... Lagerschuppen ... Kranen ... ein mahnendes Bild: eine mächtige, im Mondschein silbern glänzende Wasserfläche, die eilig ihren Wogenschwall gen Norden wälzte ... der Rhein ... Unruhiges Zittern der Uferlaternen über seinen Fluten ... In die fiel der gemauerte Kai lotrecht ab ... Kein Geländer davor ... ein Sprung ... Gottlob: der Werner war ein guter Schwimmer! Aber die schweren Stiefel, die Kleider ... Leopold Winterhalter konnte den Fluß nicht mehr sehen, mit dem Glucksen seiner Wellen, dem unheimlichen Hundegebell von den in der Mitte des Stromes verankerten Schleppzügen, der kalten, grellen Helle des Monds ... Er machte kehrt, eilte wieder durch die ganze Stadt, schaute den jungen Leuten, die ihm begegneten, unter die Hutkrempe, glaubte oft aus der Ferne den Werner zu erkennen, sah immer neu an den Anschlagsäulen das höhnische: »Tausend Mark Belohnung« ...

»Wohin denn, Herr Winterhalter ... wohin?«

Vor ihm stand Alfred Kühn, der Großindustrielle und Vorsitzende der Handelskammer, der reichste Mann der Stadt und weit hinaus im Land. Er kam mit seiner eleganten, noch jugendlichen Frau und seiner halbwüchsigen Tochter wie der erste beste Kleinbürger von einem Sonntagnachmittag-Spaziergang heim. Seine Grundsätze waren so streng wie der ganze Mann. Heute, am Feiertag, wurde in seinem schloßartigen Sitz am Rhein nur kalt gegessen, die Luxuspferde standen im Stall, er nahm die Dienste keines seiner Angestellten für sich in Anspruch und öffnete seine Ziergärten und Treibhäuser dem Publikum, während er selbst vor den Toren, zwischen Kartoffeläckern und Pappelreihen, mit den Seinen frische Luft schöpfte.

Leopold Winterhalter hatte vor dem vielgenannten Sozialpolitiker, der mit seinem herrischen, hageren Haupt und den forschenden grauen Augen all die andern hier nicht nur körperlich, sondern auch geistig weit überragte, immer etwas von der scheuen Achtung des Emporkömmlings. Der dort drüben war andere Klasse ... schon die vierte Generation gefestigten Reichtums, die Frau aus einer Kohlendynastie des Niederrheins, verwirrend glatt und liebenswürdig, berühmt durch ihre zu ihrer blonden Schönheit abgestimmten Pariser Toiletten, die Tochter der Mutter wie aus den Augen geschnitten, ein bildhübscher, vierzehnjähriger Backfisch in kurzem, weißem Kleid, offenes, kurzes Blondhaar um das schmale Gesicht.

Leopold Winterhalter beherrschte sich. Er tat, als sei nichts Besonderes vorgefallen.

»Ah ... guten Tag, Herr Geheimrat! Guten Tag, die Damen! ... Ich dachte, Sie wären noch drüben in Karlsruhe zur Sitzung der Ersten Kammer!«

»Nein. Der Tanz geht erst nächste Woche wieder los!« sagte der Geheime Kommerzienrat. Auf seinem rosigen, sein geäderten Gesicht lag der harte Eigenwille des pflichterfüllten, allmächtigen Arbeitgebers, der Gehorsam in seinem kleinen Königreich verlangte – da der Mann, dort die Masse. Hier die irdische Vorsehung, da die Unterwerfung unter deren Hand. Daran fehlte es. Ein ewiges Wetterleuchten zwischen dem Mann und der Menge ... Er wechselte einen Blick mit seiner Frau. Er wollte nicht aufdringlich erscheinen. Schließlich sagte er doch in einem absichtlich halb scherzenden Ton: »Na ... Sie sind wohl auf der Suche nach Winterhalter junior?«

»Uff ... Ja!«

»Vor kaum zehn Minuten haben wir den jungen Herrn noch gesehen.«

»Wa – was?«

»Das heißt ... ich nicht ... aber die Stefanie da« ... er wies auf seine Tochter »... die hat Luchsaugen. Die hat ihn deutlich erkannt! Erzähl doch mal!« ...

Das Kind schob sich eifrig vor und schüttelte sich die blonden Haare aus der Stirn.

»Wie wir draußen an der Laubenkolonie vorbeigegangen sind ...«

»... dem Bauterrain der Bodenkreditbank!« schaltete der Vater ein.

»Ja ... ja ... das hab ich eben gekauft! Nur weiter!«

»Da ist er grade von dort gekommen. Zusammen mit noch einem jungen Mann. Der war so alt wie er. Aber der hat mehr ausgeschaut wie ein Arbeiter. Da sind sie zusammen nach der Stadt zu!«

»War er's auch wirklich, Fräulein Stefanieche?«

»Ja, ganz gewiß!«

Der Großindustrielle lachte und gab seiner Kleinen einen Klaps auf die Schulter.

»Die Bälge da aus der Höheren Töchterschule – die werden die Herren Primaner nicht kennen!«

»Ich hab ihn im letzten Augenblick auch erkannt!« fügte Frau Alwine Kühn hinzu. »Und wie wir dann gleich darauf den Anschlag gelesen haben ...«

Leopold Winterhalter nahm sich kaum die Zeit, guten Abend zu sagen. Er stürmte davon, blindlings auf den Bauplatz draußen. Jetzt, wo er den Sohn sicher am Leben wußte, kam die Wut wieder. Da tauchte wieder im Zwielicht hinter den letzten Vorpostenriesen der Mietkasernen die sterbende Laubenkolonie vor ihm auf. Zum Teil schon still und verlassen wie an jedem Sonntagabend, aber dazwischen Leben, Lichter, Rufe, ein Räumen und Richten und Poltern und Packen, als rüste sich ein Nomadenstamm, nächtlings seine Zelte abzubrechen und weiterzuziehen. Eine Familie kam ihm entgegen ... der Maschinenbauer Ortlieb mit seiner Frau und seinen vier Kindern, jedes mit so viel Töpfen voll Blumenerde, als es nur irgend tragen konnte, auf dem Arm, um das bißchen eigenen Boden vor dem allgemeinen Zusammenbruch zu retten ... Sollte er die fragen? Oder andere? Die Leute waren alle so mit sich beschäftigt ... machten traurige, zornige, aufgeregte Gesichter oder sahen mit einem sonderbaren Ausdruck stumm und anscheinend teilnahmlos darein, andere wieder verbissen ... Von denen bekam er doch keine rechte Antwort ... zwei-, dreimal versuchte es der Fabrikant trotzdem ... ein unbestimmtes: ... Ja ... ja ... am Nachmittag war solch ein junger Bursch dagewesen ... aber wohin? ... »Du liebe Zeit ... Losse Sie mich aus ... Ich hob mehr im Kopp ... steige Sie mir den Buckel nuff!« ... Er trat auf die Straße zurück ... spähte da ... vermochte kaum mehr, in der Finsternis die Gestalten zu erkennen. Die verloren sich ... es wurden immer weniger ... schließlich ein Schweigen weit und breit ... eine Dunkelheit ... in ihr dort drüben die große Stadt, in die er langsam, mit gesenktem Kopf, zurückschritt. Irgendwo war in ihr der Sohn. Aber wo? Es war umsonst, heute noch weiter zu suchen. Werner Winterhalter war verschwunden.

 


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