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9

Kein Herbst mit Nebelgrau und Krähenkrächzen. Ein heißer, blaugoldener Himmel über Alt- Heidelberg. Im Tal Sonnenschein über der fröhlichen Pfalz. Silbern schimmern deine Wellen, du lieber Neckar, und du dort drüben, Vater Rhein ... Aber schon schwillt in den Rebstöcken am Hang des Philosophenwegs die grüne Traube. Buntes Herbstlaub raschelt am Boden unter dem Husch der Schwarzamsel. Der Fuß tritt auf die Stachelhülsen der Kastanien. Millionen roter Äpfel schimmern da hinten an der Bergstraße, die einst zur Frühlingszeit ein weißes Märchenmeer von Blüten war ... Die Zeit der Reife ist da ... Die Zeit des Segens ... Jeder erntet, was er gesät ... Und du ...?

»Donnerwetter – sind's Sie denn wirklich, mein lieber Dr. Winterhalter! Sieht man Sie mal wieder? ... Na – das ist ja famos ...« Ein Schlag von hinten an die Schulter. Ein frisches Lachen ... Werner Winterhalter wandte sich um. Er erkannte seinen einstigen Hochschullehrer.

»Nun erzählen Sie mal: was ist denn nun so eigentlich mit Ihnen geworden, seit wir Sie vor drei, vier Jahren mit solchem Glanz durch den Doktor gelotst haben? Eine Zeitlang – da hörte man viel von Ihnen ... da standen Sie ja, scheint's, mit beiden Beinen fest in der sozialen Frage ... Aber dann wurde es auf einmal so merkwürdig still um Sie ...«

»Ich war zwei Jahre im Ausland, Herr Professor!«

»Volkswirtschaftliche Studien?«

»Ich habe hauptsächlich den Motorbau studiert. Bei uns und auch in England und Frankreich und auch drüben in Amerika.«

»Also Praxis statt der Theorie?«

»Ja. Ich habe selbst mit Hand angelegt und an der Drehbank gestanden!«

»Und diese Wertstattkenntnisse wollen Sie nun verwerten?«

»Verwerten kann ich sie nicht. Man läßt mich nicht in die väterliche Fabrik. Aber ich erbe die mal. Ich muß wenigstens etwas von dem verstehen, was mir seinerzeit ziemlich unverdient in den Schoß fällt!«

»Und unterdessen – was haben Sie da vor?«

»Ich weiß es nicht!«

»Nanu?«

»Ich weiß es wirklich, nicht, Herr Professor.«

»So ... so ...« Der frische, lebhafte, noch jugendliche Gelehrte schaute seinem einstigen Schüler scharf ins Auge. »Na ... schade! Eigentlich ist's schad um Sie! ... Nehmen Sie mir's nicht übel! Sie sollten mehr aus sich machen ... Na, Sie sind ja ein freier Mann! ... Haben die Mittel, sich Zeit zu lassen. Unsereins ist ewig gehetzt ... Herrgott ja! Schon drei Viertel ... Ich muß ins Seminar! Lassen Sie sich doch mal bei uns sehen! Wir wohnen jetzt drüben in Neuenheim! Meine Frau wird sich riesig freuen! Adieu! Adieu!«

Er war davongestürmt mit flatternden Rockschößen, den Strohhut im Genick. Werner Winterhalter ging weiter, stieg langsam den Schlangenweg hinab zwischen düstern, mannshohen, der Sonne wehrenden Mauern, froh, wieder allein zu sein mit seinen Gedanken. Einst war man hier nicht allein gewesen, vor Jahren und Jahren ... Lang, lang ist's her ...

Ja, rausche du nur, du alter Neckar, in Strudeln zwischen den Sandsteinbogen. Throne du nur siegend auf der Brücke, du Göttin der Weisheit, du Schutzherrin der Musenstadt, Pallas Athene, mit Speer und Schild. Die Weisheit tut es nicht allein. Die Weisheit ist nicht der Schlüssel zur Welt. Und ihr, ihr engen, krummen Gassen, mit eurem Lärm und Geschrei. Mit euren Fahnen vor den Häusern, den müßigen Kötern, den offenen Kneipen, dem ewigen Festtag am Neckarstrand. Einst alles wie heut. .... Nur ich geh fremd durch die Fremde ... nur was einst war, ist so fern ... so fern ...

Bunte Mützen auf der Hauptstraße. Zerhauene junge Gesichter. Würdevolle Doggen. Die wohlbekannten Farben, die ich einst selbst trug. Die Burschen und Füchse drüben kennen mich nicht. Wie sollten sie auch! Das kommt und geht durch die Semester im Korpshaus wie im Taubenschlag. Doch einer von ihnen, ein alter Herr des Korps, im Vollbart, hebt den Arm, läuft über die Straße.

»Jesses, Werner! ... Lebste noch, Kerlchen? Das ist ja großartig, daß wir uns hier ... Ich bin nämlich eben mit meiner Frau auf der Durchreise nach Italien ... 'nen Tag hier Station ... Du bist noch nicht verheiratet? Nee? Dann schau mal zu ... Du rückst jetzt auch schon nahe an die Dreißig, mein alter Sohn! Was hast du denn da für ein komisches Ding an der Schlafe? ... Pistolengeschichte? Narbe von einem Schuß? Was?«

»Nee, Pips! ... Ein ganz kommuner Steinwurf ... schon zwei Jahre alt ... als Reserveleutnant im Volksgetümmel!«

»Der scheint aber nicht von Pappe gewesen zu sein ...«

»Drei Wochen war ich überhaupt im Tran. Und wie ich wieder bei mir war, lag ich noch ein Vierteljahr fest. Dann ging ich auf Reisen. Nun ist's wieder ganz gut!«

»Das ist ja noch ein Segen! Nun komm mal rüber zu den Leuten!«

»Ich kann jetzt wirklich nicht! Ich hab zu tun! Heute abend komm ich auf die Kneipe! Auf Wiedersehen!«

Du wirst mich umsonst heut abend auf der Kneipe erwarten, mein guter, alter Pips! Diesen ersten Abend wieder daheim in Deutschland seit Jahr und Tag. Aber wo werd' ich sein? Man geht und geht durch die alten Straßen ... und mit einem geht etwas ... heißt Erinnerung ... macht das Herz schwer ... singt und klingt ein fernes Lied aus Heidelbergs Frühlings- und Burschenzeit: »Da komm ich auch vor Liebchens Haus – ade!«

Das alte Haus in der Altstadt wie einst ... Das holperige Pflaster davor ... das Wehen des herbstroten wilden Weins um die klapprigen grünen Fensterläden da oben, an dem wohlbekannten offenen Fenster im zweiten Stock sitzt eine, ist jung und blond, lehnt den gescheitelten Kopf in die Hand, liest und lernt, halblaut die roten Lippen bewegend, in ihrem dicken Buch, wie einstmals die Eva ... Wird dereinst ins Leben hinausgehen wie du, Eva ... der Wind verweht die Spuren. Ich weiß nicht einmal, wo du geblieben bist ...

Ich suche, fast ohne zu wissen und zu wollen, deine Spuren! Jetzt schon weit vor die Stadt in den Abend hmausgegangen, die blutrot sinkende Sonne zur Rechten, um einen der Herbst. Weiße Fäden über den Stoppeln, der würzige Hauch frisch gepflügter Scholle, das Knarren der steinernen Mostpresse in den Bauerngärten, die Maisbündel in den Scheunenluken der Landwirte und drüben, langsam näherrückend, finster, schwarz und schweigsam qualmend, der Schornsteinwald von Sandbeuren.

Dieselben Schlote ... dasselbe unbestimmte Summen und Brummen in der Luft ... dieselben geschäftigen Gestalten hinter verstaubten Scheiben. Da, wo früher das Firmenschild der Römerschen Werke gewesen, eine mächtige Aufschrift: »Vereinigte Badewannenfabrik A.-G.« Ein betäubendes Pinkpank von Hammer auf Blech durch alle Stockwerke. Kaum hundert Schritte weiter die weiße Villa ... fremde Menschen auf der Veranda. Der Direktor des neuen Unternehmens mit seinen Damen. Und der Park daneben? Verschwunden. Nur noch ein Bild der Erinnerung. Stangengerüste im Boden, das Bauterrain tief ausgeschachtet. Eine neue Fabrik steigt da aus mächtigen Grundmauern wie ein Sinnbild des rastlos wachsenden Handels und Wandels im Deutschen Reich.

Herbst. Herbst ... Das rauchgeschwärzte Wagenrad mit Reisigkranz auf der Esse des Hufschmieds drüben im Dorf ist schon leer, die Störche gen Süden ... ja ... Herbst... Bunte Astern da vor den Fenstern des schmucken Häuschens zur Linken: eine kleine, zufriedene Familie, durch die Scheiben sichtbar, beim Abendbrot. Vater, Mutter, zwei Blondköpfe ... Sauermilch ... Kartoffeln ... für den Hausherrn ein Stück Fleisch. Jetzt steckt er sich befriedigt seine Zigarre an und greift zum Blättchen, das Büble auf dem Schoß. Was hast du dich herausgemacht, Robert Kienast! Kein simpler Schlossergeselle mehr. Ein Werkmeister schon, seit Jahr und Tag. Und als Zeichen deiner Würde einen kurzen, krausen, rötlichblonden Vollbart um das breitknochige, gutmütige Gesicht mit den blauen Augen. Gottlob, die sehn mich nicht. Ich kann weiter auf den Wegen von einst, durch das Fluten der Erinnerung. Nun schon spät abends, in den Straßen meiner Vaterstadt. Sie ist dieselbe wie vor zwei Jahren. So altbekannt und fremd in der nüchternen Nützlichkeit ihrer Zinskasernenfronten, in den graugetürmten Massen ihrer Fabriken. Fabriken überall, jetzt in Stille und Schlaf. Am Seiteneingang zu einem mächtigen Viereck von Neubauten ein grober Nachtaufseher, den Fanghund an der Seite.

»He – was wolle Sie denn hier? Ausspioniere, gelle Se? Awwer sell leg ich Ihne ...«

Merkwürdig, wie wütend bewachen doch die Menschen ihr Geld. Und nicht einmal ihr eigenes, sondern diese nächtlich ragenden Steinmassen, die sich bei Tag in dünne, bedruckte Aktienbogen verwandeln, samt Menschen und Maschinen in den Börsestunden von Hand zu Hand gehen ... Nein ... alle nicht ... dazu ist Papa zu schlau. Er hat einundfünfzig Prozent des Aktienkapitals in seinem Tresor. Er behält das Heft in der Hand. Er ist der Herr. Anders kann er sich die Welt nicht denken. Er kontrolliert alles. Sieht alles. Hört alles. Steckt auch jetzt schon, durch den Lärm aufmerksam geworden, den graubuschigen Kopf aus seinem trotz der späten Stunde noch lampenhellen Privatkontor im ersten Stock.

»Wer spektakelt denn da unten? Was? Du bist's, Werner? Wieder da? ... Komm herauf!«

Oben, zwischen Tabellen, Maschinenrissen, sitzt der Vater, immer noch stiernackig, heißblütig, hitzäugig, ein Mann im vollsten Saft und Kraft, die geballten Hände unruhig auf den Knien, als könne er's nicht erwarten, irgendeine neue Aufgabe anzupacken ...

»Wie mir's geht, Werner? Gut! Unberufen ... Wir sind vollauf beschäftigt ...«

Er kam gar nicht auf den Gedanken, daß es sich um sein persönliches Wohlbefinden handeln könne.

»Wir haben Aufträge bis ins halbe nächste Jahr hinein. Das Auslandsgeschäft wächst auch seit der Neuorganisation. Wenn die Hochkonjunktur anhält ...«

»Und du selbst, Papa?«

»Achtzehn Prozent Dividende voriges Jahr, das macht das elende Streikjahr wett! Ich denk, der Friede hält jetzt. Der neue Lohntarif bewährt sich ...«

Während Leopold Winterhalter sprach, liebäugelte sein abschweifender Blick schon wieder mit den Stößen von Korrespondenzen auf dem Schreibtisch. Die Arbeit brannte auf den Nägeln. Vorwärts! In Mannheim und Untertürkheim und Rüsselsheim und Frankfurt schlief man auch nicht.

»Bleibst du jetzt hier im Land, Werner?«

»Ich denke.«

»Und was treibst du hier?«

»Ich weiß noch nicht!«

»Es ist mir auch gleich! Bloß draußen bei uns in der Fabrik gib gefälligst Ruh! Die Direktoren haben da schon eine Heidenangst vor deiner Rückkehr. Den Aktionären graust's! Der alte Kühn kriegt einen roten Kopf, wann er bloß deinen Namen hört!«

»Zu viel Ehre!«

»Kurz und gut: wir haben das schon neulich in oer Aufsichtsratssitzung diskutiert. Ich hab dir einstimmig die dringende Bitte auszusprechen, daß du uns nicht wieder die Leute aufhetzt. Sonst kannst du was von uns erleben. Es hat auch gar keinen Sinn. Du kommst doch bloß zwischen uns und die wie so ein Bursch nach dem blauen Montag in die Treibriemen und hast allein den Schaden!«

Der Fabrikant stand auf.

»Werner, ich hab jetzt zu schaffen! Grüß die Mama zu Haus. Sag ihr, ich käm heut erst spät heim! ... Sie, Kraus, geben Sie mir doch hurtig die Offerte von Blankertz und Sohn ... Jesses, was stellen Sie sich wieder tappig an ... E bißche fix ... e bißche fix! Gute Nacht, Werner! Stenographieren Sie weiter, Kraus: ›Und haben wir zu unserem Bedauern mit der Kreditgewährung an dortigem Platz so schlechte Erfahrung gemacht, daß wir Verkäufe gegen Dreimonatsakzept nicht mehr zu betätigen in der Lage sind ...‹«

Wieder daheim bei Muttern ... ach ja, es tut schon wohl, die Augen zu schließen, die zärtliche Hand auf dem Scheitel zu fühlen, sich in die Zeiten zurückzuträumen, da man noch ein Bub war, den Kopf voll Trotz und dummen Streichen, verstockt gegen den strengen Vater. Nur dem Mamale in weichen Augenblicken zugänglich. Damals waren die Eltern noch nicht so reich gewesen. Man konnte sich noch mit seinen Spielgefährten als Räuber und Gendarm durch alle Zimmer kugeln, ohne echte Perserteppiche und Marmorstatuen zu beschädigen. Der Luxus jetzt paßte nicht recht zu der kleinen, stillen Mama, die ihr Leben lang neben dem gewalttätigen Vater verblaßt war. Sie kam auch nun, nach den ersten Freudentränen des Wiedersehens, während sie die Hand des Sohnes in der ihren hielt, bald ins Klagen. War erschöpft. Es lag halt zu viel auf einem, bald sollt man da hinspringen, bald dort!

»Ich hab immer schon Angst, wenn's wieder auf den Winter zugeht, Wernerchen! Mir dreht sich schon mein alter Kopf vor dem Basar nächste Woch! Da machen sie einem 'ne Wirtschaft ... Ich muß ins Komitee ... der Papa ist doch Kommerzienrat ... Alles geht hin ... Gelt, Werner, du kommst auch?«

Ihr Sohn mußte lachen.

»Basar, Mama! Das ist doch der höhere Schwindel!«

Dann, nach einer Pause, plötzlich: »Du, Mama, weißt du vielleicht zufällig, was aus den Römers geworden ist?«

»Der Römer? Ach du liebe Zeit . . der ist doch tot. Er ist vor einem halben Jahr in Heidelberg in der Klinik gestorben. Seine Witwe wohnt bei den verheirateten Töchtern.«

»Und die Jüngste, Mama?«

»Die Eva? Ja, wart einmal ... wie ist mir denn? ... Irgendwo ist sie angestellt ... Besser unten am Rhein ... ach, mein Kopf ist schon gar nichts mehr nutz ... Erst neulich haben die Herren geschimpft, daß jetzt auch noch die Frauenzimmer ihre Nas' in die Fabriken stecken! Man hätt von den Beamten schon grad genug ...«

Aber dann wußte sie es auf einmal doch und nannte den Namen der Stadt. Es war gar nicht sehr weit von hier. Nur ein paar Stunden den Rhein entlang. Werner Winterhalter beugte den dunkelgelockten Kopf und küßte der Mutter die Hand.

»Krieg ich wieder mein altes Zimmer? Ja? Dann gute Nacht, Mama, auf morgen!«

Am nächsten Morgen, in den folgenden Tagen, ein bleierner, stiller Herbsthimmel über der Stadt, den Menschen, die, ihren Geschäften nachgehend, wimmelnd die Straße füllen. Jeder hat sein Ziel, sein bißchen Zweck und Sinn. Nur du stehst daneben, und der Großpapa Kobus begegnet dir, uralt, vertrocknet wie eine Mumie und hebt den Stock und klagt weinerlich: »Werner ... Werner ... Was mache wir nur aus dir? Du bischt und bleibscht e Kapital ohne Zinse!«

Oder der Onkel Gymnasiallehrer, der mit Botanisiertrommel und Brille die Jungen, die bei ihm in Pension sind, lüftet, tippt einem mit dem Parapluie in die Rippen. »Was geischterst denn du da am Rhein herum, Werner, und guckst zu, wie sich die Jockele in die Hand spucke? Werner, du bist närrisch! Du mußt heirate oder ins Wasser springe! 's ist eins wie's andere ... Marsch, ihr Bube!«

»Wissen Se! Es muß auch Kunden geben wie Sie und mich!« sagte der dicke junge Schweikardt zu einem. Man hat sich wirklich in seiner willenlosen Stimmung von dem gräßlichen Kerl zum Frühstück in die Weinstube schleppen lassen. Die einzigen menschenwürdigen Austern in der ganzen Stadt. Da sitzt er mit seiner spiegelnden Glatze, schlürft und redet: »Das Leben ist 'ne Kunst, wissen Se! Hauptsache: guter Magen! ... Na prost! Was ... Sie wollen schon wieder gehen? Geschäfte? Menschenskind ... reden Sie keine Schwachheiten! ... Sie und Geschäfte ... das ist ja spaßhaft!«

Und draußen auf der Straße, da kommt wieder einer. Rennt, was ihn die Beine tragen, seine Aktenmappe unterm Arm.

»Tag, Moritz! Brennt's?«

»Nee – Aufsichtsratssitzung ... Gott, du bist's, Werner! ... Wieder zurück? Famos! ... Ich hab jetzt keine Zeit! Auf Wiedersehen! Adieu!«

Kühn der Jüngere läuft weiter. Fort! Um die Ecke! Niemand hat Zeit, hier in der rastlosen Stadt der Arbeit. Der kleine dicke Dr. Bätzle sieht überhaupt nicht unter seinem Regenschirm auf, geht vorbei, liest begeistert seinen Begleitern aus dem Kurszettel vor: »Fest, meine Herren! Wir liegen richtig! Gelsenkirchen ... Luise-Tiefbau ... Phönix ... Harpener ... Alles klettert wie 'n Laubfrosch an der Leiter! Die Hochkonjunktur hält an. Der alte Kühn behält wieder einmal glänzend recht!«

Der Geheime Kommerzienrat Kühn hatte immer recht. Er war der große Mann der Stadt. Wenn er um die Mittagsstunde von seinem Kontor zu Fuß nach Hause schritt, lang und hager, bedächtig, etwas vornübergebeugt, grüßte alle Welt. Er war es gewohnt wie ein regierender Fürst. Werner Winterhalter wäre ihm am liebsten ausgewichen. Aber zu seinem Erstaunen redete ihn jener an, haltmachend und mit beiden Händen auf seinen Stock gestützt. Sonderbar forschend ruhten die nüchternen, großen, blauen Augen auf dem jungen Mann.

»Nun, Herr Doktor Winterhalter, gibt's wieder Krieg zwischen uns?«

»Fürchten Sie sich davor, Herr Geheimrat?«

Der alte Industriekapitän machte eine verneinende Kopfbewegung. Er lächelte beinah väterlich.

»Sie sind ungefährlich, lieber Doktor! Sie tragen keine Scheuklappen!«

»Ist das ein Fehler?«

»Scheuklappen heißt Organisation! Organisation heißt Masse! Masse heißt Macht! Gott sei Dank, sind Sie ein zu gescheiter Mensch! Das ist mein Trost!«

»Für mich nicht!«

»Lieber Doktor: heutzutage steht man in Deutschland in Reih und Glied und schaut nicht rechts und nicht links. Sie sehen viel zu viel. Sie werden immer ein General ohne Heer sein! Nun Gott befohlen!« Der Geheimrat Kühn war weitaus der Klügste unter den Großen der Stadt. Er überragte turmhoch sein industrielles Gefolge, so wie jetzt mit seinem hageren graublonden Haupt die Menge, durch die er nach kühlem Gruß weiterging. Werner Winterhalter sah hinter dem alten Menschenkenner her. Dessen Wort klang in ihm nach. Weißt du das auch schon von mir: die Schauer der Einsamkeit um einen? Die Leere des Lebens? Die Nebel der Zukunft!? Die Ungeduld des Nichtstuns? Eine Sehnsucht in einem. ... Ein leidenschaftlicher Drang. Ein Stoßgebet: Wann finde ich den Menschen, der zu mir gehört ... der mich ergänzt, durch den ich werde, was ich bin – den Menschen, der mich und meinen Widerspruch versteht? Es gab nur einen. Oder vielmehr: es gab nur eine ...

Ein Locken. Vielleicht gehst du an deinem Glück vorbei. Es wohnt nicht weit von hier, am Rhein ... Du brauchst ja Eva Römer nicht zu sprechen ... nicht zu sehen ... nur die gleiche Luft mit ihr zu atmen ... in jener Stadt ... dich in ihrer Nähe zu wissen .... Er ging zum Bahnhof, stieg in den nächsten Zug, fuhr rheinaufwärts, kam im Abenddämmern an. Der große Industrieort, in dessen Laternenhelle und Menschengewimmel und Straßenbahngeklingel er hinaustrat, glich aufs Haar seiner Vaterstadt. Er kannte ihn, durchschritt ihn bis an das Weichbild, wo die Häuser älter, die Gassen unregelmäßiger wurden und das mächtige alte Rathaus seine Türme zum Nachthimmel hob. Eva Römer war in städtischem Dienst. Sie hatte sicher ständig auf dem Rathaus zu tun, wahrscheinlich dort auch ihr Amtszimmer. Auf einmal merkte er, daß das ja die geheime Hoffnung war, die ihn hierher getrieben.

Er trat unter eins der Portale. Es war da dunkel. ... Viele Leute kamen die Steintreppen herab. Der Dienst in den Schreibstuben war zu Ende. Diätare, Supernumerare, Sekretäre, Aktuare, Registraturen – alte und junge, dicke und dünne, große und kleine. Der Ausdruck strenger, pedantischer deutscher Pflichterfüllung auf allen Gesichtern. Und sonderbar: zwischen diesen auf den Fliesen widerhallenden Tritten, dem Hüsteln, den tiefen Männerstimmen ein helles Lachen. Die blauen Bänder eines Damenhuts unter der gleichförmigen Welle von dunklen Filzen, ein blonder, rotwangiger, leicht verschleierter Kopf ... Eva Römer stieg flüchtig und leichtfüßig, ebenso wie die andern ihre Aktenmappe unter dem Arm, die Treppe hinunter. Sie lachte aus vollem Hals und schaute dabei ihren Begleiter an. Das war ein junger, großer, gut angezogener Mann. Schmisse auf der Backe. Ein Referendar oder so etwas. Die beiden schienen alte Freunde. Sie schwatzten kameradschaftlich miteinander, platzten wieder heraus ... Es mußte irgend etwas furchtbar Komisches oben in den geheiligten Amtsräumen der Stadtväter passiert sein. Eva drehte sich um, blickte noch einmal mit unterdrückter Heiterkeit in das erste Stockwerk hinauf und sagte: »Na – so was!« Sie sah aus wie das Leben selbst. Sie schritt unbekümmert durch die Torbogen und bemerkte gar nicht den, der seitlings an der Wand stand, der beinah von ihrem karrierten, schottischen Wettermäntelchen gestreift wurde, ihr schweigend nachsah: Nein. Du hast dich getröstet. Dir darf man nicht in den Weg treten. Du gehst deinen Weg. Ein anderer neben dir, immer noch in die Stadt hinein. Wer er ist – was da wird ... ich weiß es nicht ... ich brauch es nicht zu wissen ... Es geht mich nichts an. Ich weiß genug ... Du vermißt mich nicht! Ich bin dir nichts mehr ... nur fort ... fort ... Wieder reißt einen das Rasseln der Räder durch die Nacht heimwärts ... Funkensprühen der Lokomotive vor den Fenstern ... Das Geschwätz der Mitreisenden um einen halbverloren im Ohr ... Nebenan die Stimme eines Herrn: »... Nee, unberufen, unsere Geschäfte gehen glänzend ...« Und nach einer Pause noch einmal nachdrücklich: ».... glän... zend ...« Im Korridor treffen sich zwei, schütteln sich die Hand. »Also ... ich komm gerad aus Karlsruhe, Herr Generaldirektor: ... ich hab's durchgesetzt ... wir kriegen den Bahnanschluß ...« Ein paar Damen, vertraulich im Winkel des Abteils: »Aber sie hat doch Geld! Das Hermännle macht eine gute Partie!« Und in einem ein plötzlicher Zorn. Warum glückt denn euch alles, ihr Unbekannten ... mit euren Spekulationen und euren Plänen und euren Hochzeiten? ... Warum greife ich immer mit beiden Händen ins Leere ... ich, dem das Schicksal alles gab? ... Du pfiffiger kleiner Kerl da drüben mit deinem Notizbuch, in dem du rechnest, ein verstecktes Lächeln um die fetten Lippen ... du hast sicher heute wieder deine Mitmenschen gründlich übers Ohr gehauen, und ich hier in der Ecke – ich bin ewig der Geschlagene.

Er reckte, in seinem Wohnzimmer im Elternhaus stehend, fiebernd die Arme, in einer zerrissenen, unsteten, kampflustigen Stimmung. In einem zornigen Willen, aus sich herauszukommen, über sich hinauszukommen, über alles, was war. Und ewig um einen die große Stille ... das Dunkel vor den Scheiben ... das Schweigen im Hause ... der Vater natürlich drüben in der Fabrik – er und der Sohn sahen sich fast nie – auch die Mutter weg ... unten, durch den Mund des Dieners, eine Botschaft von ihr: Ein schöner Gruß, und es tät der Frau Kommerzienrat so arg leid, daß der Herr Doktor nicht beikäm, und er hätt's doch versprochen gehabt ...

»Was ist denn los?«

»Heut ist doch der große Baatzar im Saalbau, Herr Doktor!«

Mama nannte den Basar auch immer den ›Baatzar‹. Es war das erste gesellschaftliche Ereignis des beginnenden Winters. Die ganze Stadt dort. Unzählige Menschen. Warum sollte man nicht auch hingehen? Es war ja ganz gleich, was man tat und ließ ... man machte Mama damit Freude. War und blieb ein müßiger Zuschauer in der Komödie des Lebens: da und dort ... überall ... »Also geben Sie schon in Gottes Namen den Frack her, Karl! Wie? Die Frau Kommerzienrat hat eben noch einmal telephoniert und läßt schön bitten? Ja doch, ja! Ich komme!...«

Menschen in Hülle und Fülle ... ein Gewimmel in allen Sälen. Zigeunergefiedel... Hitze ... Geschrei ... Durcheinander wie im Affenhaus. Er ging durch das Gedränge. Sagte der Mutter guten Tag, die sich plötzlich als oberbayerische Wirtin verkleidet hatte, um sich einen Stab junger Mädel in Dirndltracht, davor einige Jünglinge, den Maßkrug zwischen den Glacés, in gezwungener Almstimmung ... Nun nestelt einem im Weitergehen ein sinniges Kind eine Gardenie ins Knopfloch und hat kein Kleingeld auf zwanzig Mark, ein anderes Schaf, das als Carmen frisiert ist, packt einen an der Hand und weissagt aus der Lebenslinie: »Sie stehen vor einer großen Wendung in Ihrem Dasein, mein Herr!« Kostenpunkt: wieder zwanzig Mark ... Kinder, ihr seid ja blödsinnig ... Jetzt soll man wieder den Haupttreffer in der Lotterie kaufen. Aber nur unter der Bedingung, daß ich nichts von dem Kram gewinne ... Werner Winterhalter zerriß das Los, ging weiter, vor ihm war es etwas freier ... alles drängte sich seitwärts um einen Verkaufsstand ... nur Herren. Er wollte vorbei. Da schrie von dort eine kräftige, helle Mädchenstimme aus voller Kehle: »Herr Winterhalter! Herr Winterhalter!«

Es klang befehlsgewohnt. Er blieb belustigt stehen.

»Herr Winterhalter! ... Kommen Sie nur hierher! Sie wissen ja doch nicht, was Sie mit Ihrem vielen Geld anfangen sollen!«

»Sehr richtig!« sagte Werner Winterhalter. »Das erste vernünftige Wort, das ich heute höre! Wer hat es denn ausgesprochen?«

»Ich!«

»Wer ist denn das ›ich‹?«

Die Herren versperrten ihm immer noch den Weg. Er schob sich seitlings mit den Schultern durch die Lebejünglinge und meinte dann gelassen: »Ach so ... Sie sind es!«

Stefanie Kühn stand ihm gerade gegenüber, hinter einem Schenktisch voll perlender Champagnerkelche. Sie fand keine Zeit, selbst einzuschenken. Das besorgten ihre Freundinnen hinter ihr. Sie hatte alle Hände voll zu tun, um nur die vollen Gläser hinzureichen und das Geld einzukassieren, so groß war der Andrang. Sie überging ein paar Herren, um Werner Winterhalter zuerst zu bedienen. Er bemerkte es. Er leerte den Kelch auf einen Zug. Es war ein sehr anständiger Sekt! Der alte Kühn, der Krösus, ließ sich nicht lumpen, wenn seine Tochter nun einmal schon hier die Büfettmamsell spielte. Es stand ihr ganz und gar nicht. Sie war dazu viel zu hoch und schlank gewachsen, länger als die meisten Herren vor ihr. Eigentlich eine königliche Erscheinung. Ihre weißen Schultern und Arme hoben sich aus einem meergrünen Kleid, ihr aschblondes Haar war auf der Stirn zurückgewellt. Sie sah der Männerschar vor ihr kühl ins Auge. Sie hatte die raschen Bewegungen des Sports im gewandten Hinreichen und Wegnehmen der Gläser, eine dreiste Sicherheit in der Art, wie sie immer wieder Bekannte heranrief, ihre Blicke forschend nach neuen Opfern durch den Saal schweifen ließ. Werner Winterhalter dachte sich: Ganz jung kann sie doch nicht mehr sein. Doch schon nah an die Mitte der Zwangig. Es fiel ihm ein, daß er sie vor fast zwei Jahren, kurz vor dem Steinwurf an seine Schläfe, zuletzt gesehen. Plötzlich wurde die alte Feindseligkeit in ihm wieder wach. Er sagte: »Das wußt ich gar nicht, daß Sie auch solchen Humbug mitmachen!«

»Sie sind doch auch hier!«

»Ich dachte, was nicht Tennis oder derlei ist, wäre unter Ihrer Würde!«

»... wenn alles dabei ist? Ich bin nicht so, daß ich immer etwas extra haben muß, wie Sie!«

Der Vorsitzende der Handelskammer, ein weißbärtiger, wohlwollender Greis, war herangetreten. Dem goß sie eigenhändig ein und lächelte bescheiden und liebenswürdig, anders als sonst in ihrem ungebundenen Verkehr mit den jungen Herren. Werner Winterhalter beobachtete sie gereizt. Er fragte, als jener fort war: »Zu wessen Gunsten ist denn nun eigentlich der Klimbim hier?«

»Für die Fürsorge.«

»An wem?«

»Ja ... an den Heimstätten ...«

»Was für Heimstätten?«

Stefanie Kühn lachte, schüttelte den Kopf und sagte ehrlich: »Gewußt hab ich's! Aber im Augenblick komm ich ums Totschlagen nicht mehr darauf ...«

Er wurde zornig.

»Das sieht euch allen hier doch so ähnlich. Warum sammelt ihr denn eigentlich Geld, wenn ihr nicht wißt, wofür?«

»Ich nehme jedenfalls mehr ein als alle andern!« sagte Stefanie Kühn triumphierend und wandte ungeduldig den schönen Kopf rückwärts nach frisch gefüllten Kelchen. Nun mußte er lachen. Natürlich: der Rekord! Der Sport auf andere Art! So war das Frauenzimmer nun einmal! So hat er sie auch von jeher in Erinnerung. Er legte sein Gesicht in ernste Falten und versetzte strafend: »Also hören Sie mal ... das ist eine Schande, daß Sie nicht wissen, wozu Sie hier stehen! ... Ich geh jetzt fort und komm in einer Viertelstunde wieder! Wenn Sie mir's dann sagen können, deponiere ich hier noch extra hundert Mark!«

Im Weinzimmer drüben saßen jüngere Herren beisammen, streckten die Beine, gähnten, rauchten. Werner Winterhalter unter ihnen, nach dem Hallo der ersten Begrüßung. Wie die Zeit verging ... mit den jungen Fabrikanten und Großkaufleuten um einen war man einst Schulbub gewesen. Man hatte gemeinsam auf den Bänken der Sexta bis zur Prima den Hosenboden blank gewetzt und sich auf der Gasse mit den Heimern herumgeprügelt. Nun waren das alles schon Leute in Amt und Würden. Ein paar schon Konsuln kleinerer Staaten. Alle gesetzt. Alle respektabel ... Die Zeit, da man sich die Hörner ablief, heimlich zwischen Samstag nachmittag und Montag früh nach Paris spritzte, lag hinter einem. Die meisten waren schon verheiratet. Sprachen von den Landtagswahlen, vom Hochschutzzoll in Amerika, von neuen chemischen Schlagern in Ludwigshafen, und höchst nützliche, tugendsam langweilige Leute waren aus den dummen Jungen geworden. Und in Werner Winterhalter erwachte zum erstenmal in seinem Leben der Gedanke: Nutze die Zeit! Sie rollt. Du bist nah an dreißig!

Moritz Kühn, der neben ihm saß, war auch frischgebackener Ehemann. Eine niedliche Mannheimerin. Aus großem Weizenhaus. Sie hatte drüben im Saal eine Schokoladenstube. Man sah sie nicht. Wenn man von hier in das Menschengewimmel und Kerzengeflimmer blickte, bemerkte man durch den Türausschnitt wie in einem Rahmen einen einzigen, fernen, blendend schönen, blonden Kopf. Der war gleich dem Licht im Raum, um das die Motten schwirrten. Ein ständiges Gedränge der Herren vor Stefanie Kühn. Von hinten sah dieser Halbkreis schwarzer Schwalbenschwänze geradezu lächerlich aus. Werner Winterhalter ärgerte sich darüber und runzelte die Stirn. Er wußte selbst nicht, warum. Er schaute weg. Da war neben ihm wieder ihr Bruder. Der trug immer noch das Einglas im glattrasierten Gesicht, markierte den modernen Sportcharakter. Aber er war doch ernster geworden, ein Mann, auf dem die Verantwortung des Lebens in und außer dem Hause lastete. Dabei sehr stolz auf seine Frau.

»Sie hat mich weggeschickt!« erklärte er. »Sie hat gesagt: ›Solange du natürlich als Othello daneben stehst, mache ich keine Geschäfte!‹ Na, schön!«

Er trug seine halbstündige Strohwitwerschaft mit einer gewissen Würde. Er machte, halb unbewußt, einen Unterschied zwischen sich und solch einem planlosen Junggesellen wie dem Werner Winterhalter an seiner Seite. Der hatte nur halb zugehört und fragte jetzt unvermittelt: »Du ... sag mal, warum heiratet denn eigentlich deine Schwester nicht?«

Moritz Kühn lachte. Er zuckte die Achseln, nahm die Zigarre aus dem Mund und beschrieb mit ihr einen Halbreis um die Herumsitzenden.

»Da schau das Leichenfeld! Da ist kaum einer von den Kunden hier, der sich nicht schon von ihr bei Gelegenheit 'nen Korb geholt hat! Ach, redet doch nicht, Leute, ich weiß es doch! Und das sind doch die Edelsten der Stadt! Es war mir als Bruder oft schon direkt peinlich ...«

»Moritz – schwätz nicht aus der Schule!«

»Ich versichere dich, Werner! Wenn jetzt der Winter kommt und meine Alten ihre Diners geben ... es wird nachgerade eine Preisfrage, wer die Stefanie zu Tisch führen soll! Man kann doch nicht ewig Leute neben sie setzen, denen sie vorher schon mal abgewunken hat ...«

»Aber auf wen wartet sie denn eigentlich?«

»Vielleicht auf den Kaiser von China! Ich weiß es nicht!«

Die Herren umher hatten das Gespräch halb gehört, halb erraten. Einer rief: »Auf Schweikardt wartet sie!«

Allgemeine Heiterkeit. Der dicke, junge Sybarit machte eine abwehrende Handbewegung und wurde dabei rot bis unter seine Glatze und hustete, um das zu verbergen. Und der von vorhin meinte: »Das ist nämlich der Unverdrossenste! Der kommt immer wieder!«

»Nee, danke! Ich hab genug!«

»Ja, und wenn es nur wir schlichte Bürger hier wären!« sagte Moritz Kühn. »Aber die Ulanen sind genau so abgeblitzt. Die sieben- und neunzackigsten Leute, mit denen sie auf dem Tennisplatz herumläuft ... Alles ... rein verrückt!«

»Und der Grund?«

»Größenwahn!« sprach der dicke Schweikardt, und es schien, als bisse er die Spitze eines Spazierstocks ab, so lang war seine Havanna. »Ich wünsche bloß, Moritz, deine Schwester käme schließlich an den Richtigen, der sie zur Strafe gehörig zwiebelt ...«

»Kinder ... die Sache ist furchtbar einfach!« sagte Moritz Kühn nachlässig. »Ihr imponiert ihr eben nicht. Das ist es! Das muß ein ganz anderer Kerl sein!«

»Na, Winterhalter?«

Irgend jemand von den Herren hatte es aufmunternd gerufen. Die andern lachten. Einer meinte: »Das wär was, alle Achtung!«

»Los, Winterhalter! ... Warum sollen Sie was vor den andern voraushaben?«

»Sie macht's ganz schmerzlos! Kolossale Übung!«

»Meine Herren ... ich bitte etwas mehr Ernst«, sagte Moritz Kühn plötzlich bestimmt. »Sie sprechen doch schließlich von meiner Schwester.«

Die Munterkeit ebbte. Die jungen Geldmänner legten sich wieder in den Stühlen zurück. Etwas von Klubstumpfsinn verbreitete sich über die Gruppe. Kühn der Jüngere stand auf.

»Na ... ich muß nun mal nach meiner teuren Gattin schauen! Kommst du mit, Werner?«

»Ja. Gern.«

Die kleine Frau war sehr niedlich als Schokoladenmädchen in weißer Haube und weißer Schürze. Werner Winterhalter küßte ihre Hand, sprach ein paar Worte. Dann empfahl er sich. Er unterdrückte ein Gähnen.

»Ich hab die Kinderei hier dick!« sagte er. »Ich geh heim! Gute Nacht, Moritz!«

Zerstreut, unruhig schritt er quer durch den großen Saal, dem Ausgang zu. Da, wieder wie vorhin, die helle, wie kaltes Metall klingende Stimme: »He! Herr Winterhalter! Hundert Mark! So entwischen Sie mir nicht!«

Er blieb stehen, trat, ohne zu begreifen, näher. Jetzt sah ihm Stefanie Kühn mit unverhohlenem Ärger fest in die Augen.

»Das ist mir doch noch nicht vorgekommen!« sagte sie. »Also, ich geb mir wirklich die Mühe und lerne unsern ganzen wohltätigen Zweck auswendig ... und Sie ...«

»Ach so ... ja... das hab ich vergessen ... Hier!«

Sie warf die Banknote ohne Dank mit zwei Fingerspitzen in das Körbchen neben sich und sagte auf: »Es ist zum Besten der Volkslungenheilstätten, zu einem Kräftigungsheim für beginnende Tuberkulose, im Schrwarzwald ... Uff!«

Werner Winterhalter legte die Arme auf die Schenkplatte, beugte sich vor und sagte ihr halblaut und ruhig in das junge, heitere, oberflächliche Gesicht: »Wissen Sie, was das heißt: beginnende Tuberkulose in einer Arbeiterfamilie? Der erste Husten bei einem Mann von dreißig, fünfunddreißig? ... Stube und Küche im Hinterhaus ... Frau und ein paar Kinder ... das tägliche Brot ... trotz Husten jeden Tag in die Fabrik ... bis das Blutspucken anfängt ...«

»Um Gotteswillen ... hören Sie doch auf ...«

»Die Krankenkasse ... nun gut ... die Frau geht auch in die Fabrik ... schlägt sich durch ... bis der Mann wieder an die Arbeit geht ... bis es bald wieder anfängt und mit einem Blutsturz endet ...«

»Herr Winterhalter ... das sind doch keine Gespräche!«

»Von da ab Siechtum ... Not ... Ansteckung ... das ist das Schicksal von Millionen! Ich möchte nur wissen, wie Sie das fertigbringen, sich daraus ein Fest zu machen, sich da in Samt und Seide hinzustellen und Sekt zu verkaufen ...«

Stefanie Kühn antwortete nicht mehr. Sie schüttelte nur den Kopf. Er fuhr fort: »Dort drüben tanzen sie gar! Und singen in einem Kabarett Couplets! Es sollte mal wirklich ein Prophet kommen und euch alle aus dem Tempel jagen! Es ist ja toll ...«

Während er noch sprach, ging es ihm durch den Kopf: Warum sag ich ihr eigentlich das? Es ist doch nicht der Ort dazu. Und nicht die Zeit. ... Und warum gerade ihr? Warum wirkt sie so herausfordernd ... reizt einen so ... bringt einen zum Widerspruch ... zur Auflehnung gegen diese gedankenlose Selbstsucht? ... Dabei sah er mit einer sonderbaren Befriedigung, daß sie etwas blaß geworden war. So, als ob sie sich vor ihm fürchtete. Oder tat sie nur so? ... Es war etwas Verstecktes um ihre Mundwinkel. Wie eine belustigte Ratlosigkeit gegenüber dem verdrehten Menschen vor ihr. Das erbitterte ihn noch mehr. Und zugleich fiel ihm ein: Nun sehen sie drüben im Rauchzimmer, daß ich mit ihr spreche, machen ihre faulen Witze, weil ich so rasch den guten Rat von vorhin befolge ... der Schweikardt ... sein Gesicht jetzt kann ich mir denken ... nein ... nur fort ...

Stefanie Kühn hatte ihre Ruhe nicht verloren. Ihre lange, schmale, weiße Hand zitterte nicht und verschüttete keinen Tropfen, während sie einem Käufer ein neues Kelchglas reichte. Dabei sagte sie, mit ihrem Tun beschäftigt und ohne Werner Winterhalter anzuschauen: »Sie sind doch noch viel komischer, als ich mir vorgestellt hab! Papa hat ganz recht ..«

»Worin?«

»Wenn Papa jetzt zwei Sommer hintereinander hat nach Karlsbad müssen wegen seiner Leber – die haben Sie ihm angeärgert in den anderthalb Jahren, wo Sie mit im Geschäft waren! Immer hat er zu Hause geklagt, er wollte lieber Steine karren, als mit Ihnen auskommen ...«

»Ich umgekehrt auch ...«

»Und nun seh ich's selbst: Sie sind der geborene Spielverderber! ... Ich wunder mich nicht, daß Sie keine Freunde haben! Aber ich lasse mich nicht so ins Bockshorn jagen! Ich hab überhaupt jetzt zu tun! ... Guten Abend!«

Sie nickte ihm flüchtig und hochmütig zu und beachtete ihn weiter nicht.

Draußen war ein Hundewetter. Er stiefelte, den Zylinder in der Stirn, die Hände in den Taschen, mit langen Schritten in Sturm und Nacht und wachsenden Ärger hinein, ließ sich naßregnen und fühlte bei der Kälte draußen innerlich einen heißen Haß gegen diese Stefanie Kühn in sich kochen. Unnützes Frauenzimmer! Ein Segen, daß man ihr mal tüchtig die Wahrheit gesagt hatte. Es hätte noch viel gründlicher kommen müssen! Dabei mußte er ohne Grund lachen. Er dachte sich: Eigentlich war ich ja grob genug ... Gottlob ...

Vor ihm tanzte im Dunkel ein blonder Mädchenkopf mit großen, kalten, neugierigen, blauen Augen, wich vor ihm zurück, je schneller er ging, und verschwamm doch nicht, sondern hing lachend in der Luft, die Nacht als dunklen Rahmen. Er schloß die Augen. Das half aber nichts. Im Gegenteil. Jetzt wurden die schönen Züge nur noch deutlicher. Als er daheim im Korridor stand, fragte er sich: Was hast du Esel denn auf dem Basar zu suchen gehabt? ... Zu töricht, straßenweit in Frack und weißer Binde zu laufen, um ein einziges Glas Sekt mit einem Hundertmarkschein zu bezahlen! Ihm war zumut, als hätte er eine ganze Flasche getrunken! ... Genau solch ein stürmischer Tatendrang ... eine lachende Kauflust ... Wenn man dachte, welch trübseliger Geselle man noch gestern um diese Zeit gewesen ... wie man heute noch den halben Tag ziellos unter grauem Himmel herumgelaufen, mit der Eisenbahn über Land gefahren war, nur um noch einmal ein Mädchen zu beaugenscheinigen, das einem schon vor Jahren den Laufpaß gegeben ... Pah! ... Das passierte einem nicht wieder ... Er fing an zu pfeifen, durchmaß die Zimmer und wiederholte sich, in plötzlichem nachdenklichen Ernst: Nein! ... Nicht wieder!

Da kam Mama von dem Wohltätigkeitszauber zurück. Müde, aber guter Dinge. Sie hatte sich recht amüsiert, nachdem sie ihre gewohnte erste Scheu überwunden. Rote Backen und vergnügte Augen. Drollig sah sie aus in der fremdartigen, behäbigen Bauerntracht. Viel jünger. Ihr Sohn mußte lachen, als er sie musterte. Sie setzte sich erschöpft, strich sich mit einer komischen, verschämten kleinen Handbewegung ihre schwarze Schürze glatt und lächelte befangen, wie um anzudeuten, daß solcher Tand sich für eine alte Frau wie sie freilich nicht mehr gehöre.

»Famos schaust du aus, Mama!«

»Ach geh, du dummer Bub!«

Aber ein bißchen geschmeichelt, lachte sie doch und fuhr fort: »'s war arg lieb von dir, Wernerchen, daß du gekommen bist... hast du dich denn sehr gelangweilt? ...«

»Na, furchtbar, Mama! Aber man muß unter Menschen! ... Es gibt doch nun mal nichts anderes! ... Komisch sind sie ja. Schließlich ist man's selber vielleicht auch ....«

»Warum bist du denn so aufgeregt. Wernerchen?«

»Ich? ... Ich bin doch die Ruhe selbst!... Hast du gute Geschäfte gemacht, Mama?«

»Ach du liebe Zeit: Mei Mäderche zahle jetzt noch das viele Gold und Silber nach. Es hat doch hübsche Mädchen auf dem Baaßar gehabt ... gelt?«

»Sehr, Mama! ... Nur die Stefanie Kühn – die find ich gräßlich! ... Ich möcht nur wissen, was die sich eigentlich denkt! ... Eine verwünscht dreiste Person! Schon wie sie einen anschaut... mit einem spricht ... Mich wundert, daß sich alle von ihr den Ton gefallen lassen ...«

Die kleine Kommerzienrätin stand auf und unterdrückte ein Gähnen.

»Ja... die ...« sprach sie. »Ich hab's ihr letzthin erst gesagt: ›Steffche ... sei nicht so arg stolz! 's kommt kein Prinz sechsspännig um die Ecke! Weißt, wie's mit dir geht: Schließlich bleibst als alte Jungfer auf deinem Geldsack hocken‹«

»Und was hat sie denn da geantwortet?«

»Ja, der Schote! ... Gelacht hat sie und ist Tennis spielen gegangen! ... Gute Nacht, Wernerchen!«

 


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