Bernardin de Saint-Pierre
Paul und Virginie
Bernardin de Saint-Pierre

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Mittlerweile hatte sich auf der Insel das Gerücht verbreitet, das Glück habe auf diesen Felsen eingekehrt, und man sah Kaufleute aller Art dieselben hinanklimmen. Sie kramten in diesen armseligen Hütten die reichsten Stoffe Indiens aus: prächtige Basins von Goudelour, Tücher von Paliakata und Mazulipatan, Mousseline von Daca, glatte, gestreifte, gestickte, dann wieder so durchsichtige, wie der Tag; Schärpen aus Surate, die so schön weiß sind, Zitzen von allen und den seltensten Farben. Sie entrollten prachtvolle seidene Stoffe aus China, glänzende Lampas, Damaste von weißem Atlas, wieder andere von grasgrüner und noch andere von blendend rother Farbe; ferner rosarothe Tafte, weiße und gelbe Nankin, selbst Negerschürzen aus Madagascar durften nicht fehlen.

Mit mädchenhafter Neugierde betrachtete Virginie diese seltenen Schätze, und Frau von Latour ließ ihre Tochter Alles kaufen, was ihr gefiel; sie sah nur auf die Güte der Waaren und sorgte dafür, daß die Kaufleute nicht zu viel forderten. Virginie wählte Alles, von dem sie glaubte, daß es ihrer Mutter, Margarethen und ihrem Sohne gefalle. »Dieß hier,« sagte sie, »wäre für Möbel gut, dieß für Marie und Domingo.« Kurz, der Beutel mit den Piastern war geleert, ehe sie noch für ihre eigenen Bedürfnisse gesorgt hatte. Sie mußte einen Theil von den Geschenken, die sie für die Gesellschaft bestimmt hatte, für sich behalten.

P aul, der arme Paul wollte beim Anblick dieser Gaben des Glücks, die ihm Virginiens Abreise verkündeten, verzweifeln. Einige Tage nachher kam er zu mir. »Meine Schwester verläßt uns,« sagte er in schmerzhaftem Tone; »schon trifft sie alle Anstalten zur Abreise. Ich bitte Sie, kommen Sie zu uns: Wenden Sie Ihren Einfluß auf ihre und meine Mutter dahin an, daß sie bei uns bleibt.« Ich folgte ihm auf seine Bitten, obschon ich im Voraus überzeugt war, daß meine Vorstellungen nichts fruchten würden.

Schon in ihrem einfachen Kleide von blauer bengalischer Leinwand, mit einem rothen Tuch um den Kopf, hatte mir Virginie sehr schön geschienen; wie viel mehr jetzt, da ich sie nach der Sitte der Damen des Landes aufgeputzt sah! Sie war in weißen Mousselin und rosarothen Taft gekleidet. Ihre schlanke Taille zeigte sich ausnehmend schön unter der knappen Schnürbrust, und ihre in doppelte Flechten geschlungenen blonden Haare umkränzten auf's lieblichste das jungfräuliche Gesicht. Ihre schönen blauen Augen waren voll Melancholie, und die Unruhe ihres Herzens, das seine Leidenschaft schlecht bekämpfte, gab ihren Wangen ein höheres Roth und ihrer Stimme eine Weichheit, der man nicht widerstehen konnte. Der Contrast ihres eleganten Putzes, den sie nur wider Willen zu tragen schien, machte ihre ganze Erscheinung nur um so ergreifender. Man konnte sie nicht sehen oder hören, ohne im Innersten bewegt zu werden. Paul wurde immer trauriger; Margarethe, die bei diesem Anblick nicht länger an sich halten konnte, nahm ihn bei Seite und sagte zu ihm: »Warum, mein Sohn! willst du dich mit falschen Hoffnungen nähren, welche die Entbehrungen nur noch bitterer machen? Es ist Zeit, daß ich dir das Geheimniß deines und meines Lebens entdecke. Fräulein von Latour hat durch ihre Mutter eine reiche und vornehme Verwandte; du bist nur der Sohn einer armen Bäurin und, was noch schlimmer ist, ein Bastard.«

Das Wort Bastard machte Paul staunen. Er hatte es nie gehöre und bat daher seine Mutter um eine Erklärung. Sie antwortete ihm: »Du hast keinen gesetzmäßigen Vater gehabt. Als Mädchen hat mich die Liebe zu einem Fehltritte verleitet, dessen Folge Du warst. Mein Vergehen hat Dich deiner väterlichen Familie beraubt und meine Reue deiner mütterlichen. Unglücklicher! Du hast auf der ganzen weiten Welt keine Verwandten, als mich allein!« Dabei fing sie an in Thränen auszubrechen; Paul schloß sie in seine Arme und sagte: »O meine Mutter, da ich keine andern Verwandten habe, als Dich, so will ich Dich um so mehr lieben. Aber was für ein Geheimniß hast Du mir so eben entdeckt! Jetzt sehe ich erst, warum Fräulein von Latour sich seit zwei Monaten so von mir entfernt, und was sie jetzt bestimmt, uns zu verlassen. Ach, ohne Zweifel verachtet sie mich.«

Da inzwischen die Stunde zum Abendessen gekommen war, setzte sich die Familie zu Tisch, aber es wurde wenig gegessen und nichts gesprochen; denn Alle waren von den verschiedensten Leidenschaften zu sehr bewegt. Virginie ging zuerst aus der Hütte und setzte sich auf den Platz, wo wir gegenwärtig sind. Paul folgte ihr bald nach und ließ sich neben ihr nieder. Eine Zeit lang beobachteten Beide tiefes Stillschweigen. Es war eine jener köstlichen Nächte, die in den Ländern der heißen Zone so häufig sind, und deren Schönheit der geschickteste Pinsel nicht wieder zu geben vermag. Der Mond zog am Firmament herauf, in einen Schleier von Wolken gehüllt, die seine Strahlen allmählig zertheilten. Sein Licht ergoß sich nach und nach über die Berge der Inseln und ihre Felsenspitzen, deren Grün im Silberglanze schimmerte. Die Winde hielten ihren Athem an, und nur dann und wann erklangen aus den Wäldern, aus den Tiefen der Thäler, oder von der Höhe der Felsen herab einzelne Töne von Vögeln, die sich in ihren Nestern liebkosten und sich der Helle der Nacht und der reinen ruhigen Luft erfreuten. Alles freute sich seines Daseins, selbst die Insecten summten unter dem Grase. Am Himmel funkelten die Sterne und spiegelten sich in den Fluten des Meeres, das ihr Bild zitternd zurückwarf. Mit zerstreuten Blicken durchlief Virginie den weiten und dunkeln Horizont, der vom Ufer der Insel begrenzt war, wo die rothen Feuer der Fischer flackerten. Am Eingang des Hafens bemerkte sie ein Licht und einen Schatten: es war die Seelaterne und das Schiff, das sie nach Europa bringen sollte; schon war es segelfertig und erwartete nur das Ende der Windstille, um die Anker zu lichten. Bei diesem Anblick gerieth sie in Verwirrung und wandte sich ab, um Paul ihre Thränen nicht sehen zu lassen.

M argarethe, Frau von Latour und ich saßen einige Schritte von ihnen unter einem Bananasbaum, und in der Stille der Nacht hörten wir deutlich ihr Gespräch, das ich nicht vergessen habe.

P aul sagte zu ihr: »Mein Fräulein! Sie reisen, wie ich höre, in drei Tagen ab. Fürchten Sie sich denn nicht vor den Gefahren des Meeres, vor dem Sie immer so große Angst hatten?« – »Ich muß,« antwortete Virginie, »meine Verwandten und meine Pflicht fordern es.« – »Sie verlassen uns,« fuhr Paul fort, »wegen einer entfernten Verwandten, die Sie nie gesehen haben!« – »Ach!« sagte Virginie, »wie sehr wünschte ich, mein ganzes Leben bei Dir zu bleiben, aber meine Mutter hat es nicht gewollt. Mein Beichtvater hat gesagt, es sey Gottes Wille, daß ich die Reise mache; das Leben sey eine Prüfung..... Ach! es ist eine sehr harte Prüfung.«

Wie!« rief Paul, »Sie haben so viele Gründe zu Ihrer Abreise und keinen einzigen, der Sie zurückhielte! Ach, ich weiß noch einen, den Sie mir nicht sagten. Der Reichthum hat große Reize. Sie werden in der neuen Welt bald Jemand finden, dem Sie den Namen Bruder geben können, welchen Sie mir nicht mehr geben. Sie werden sich diesen Bruder unter Leuten auswählen, die durch Geburt und Reichthum, was ich Ihnen freilich nicht bieten kann, Ihrer würdig sind. Aber wohin wollen Sie gehen, um glücklicher zu werden, als Sie hier sind? Welches Land könnte Ihnen theurer seyn, als das, wo Sie geboren sind? Wo werden Sie eine liebenswürdigere Gesellschaft finden, als diejenige, die Sie liebt? Wie werden Sie ohne die Liebkosungen Ihrer Mutter leben können, an die Sie so gewöhnt sind? Was wird aus ihr, der schon bejahrten Frau, werden, wenn Sie bei Tische, im Hause, auf dem Spaziergange, wo sie sich auf Sie stützte, ihr nicht mehr zur Seite stehen? Was wird aus meiner Mutter werden, die Sie eben so liebt, wie die Ihrige? Was soll ich zu ihnen sagen, wenn ich sie über Ihre Abwesenheit weinen sehe? Grausame! Ich spreche nicht von mir; aber was soll aus mir werden, wenn der Morgen kommt und ich sehe Sie nicht mehr, wenn die Nacht einbricht und uns nicht vereinigt! wenn ich diese beiden Cocosbäume sehen werde, die bei unserer Geburt gepflanzt wurden und so lange Zeugen unserer gegenseitigen Freundschaft waren! Ach! da Dich ein neues Glück reizt, da Du andere Länder suchst, als dein Geburtsland, andere Güter, als die ich Dir mit meiner Arbeit verschaffen kann, so laß mich Dich wenigstens auf dem Schiff begleiten, das Dich von hinnen führt. Ich will Dir Muth einsprechen bei den Stürmen, die Du schon auf dem Lande so sehr fürchtest; dein Haupt soll an meiner Brust ruhen; dein Herz will ich an meinem Herzen erwärmen, und in Frankreich, wohin Du gehst, um Glanz und Größe zu suchen, will ich Dir als dein Sklave dienen. Glücklich in deinem Glück, werde ich in den Palästen, in welchen ich Dich verehrt und angebetet sehe, mich noch reich und vornehm genug denken, um Dir das größte aller Opfer zu bringen, um zu deinen Füßen zu sterben.«

Lautes Schluchzen erstickte seine Stimme, und wir hörten nun, wie Virginie unter vielen Seufzern ihm antwortete: »Nur für Dich reise ich ab..... Für Dich, den ich täglich unter der Last der Arbeit niedergebeugt sehe, um zwei arme Familien zu erhalten. Wenn ich die Gelegenheit ergreife, reich zu werden, so geschieht es nur, um Dir das Gute, das Du uns gethan hast, tausendmal zu vergelten; gibt es denn ein Glück, das deiner Freundschaft entspräche? Was sprichst Du von deinem Stande? Ach! wenn ich mir einen Bruder geben könnte, würde ich wohl einen andern wählen, als Dich? O  Paul! Paul! Du bist mir weit theurer als ein Bruder! Wie schwer ist es mir geworden, Dich von mir zu entfernen! Ich wollte nur, daß Du mir helfen solltest, mich von mir selbst zu trennen, bis der Himmel unsere Verbindung segnet. Aber jetzt will ich bleiben, ich will abreisen, ich will leben, ich will sterben: mache mit mir, was du willst. O ich tugendloses Mädchen! deinen Liebkosungen habe ich widerstehen können, deinen Schmerz kann ich nicht ertragen!«

Auf diese Worte schloß sie Paul in seine Arme, drückte sie fest an seine Brust und rief mit schrecklicher Stimme: »Ich reise mit Dir, nichts soll mich von Dir trennen!« Wir liefen Alle hinzu, und Frau von Latour sagte zu ihm: »Mein Sohn! wenn Du uns verlässest, was soll aus uns werden?«

Ich sah ihn zittern, als er die Worte wiederholte. »Mein Sohn... Mein Sohn... Sie meine Mutter!« sagte er, »Sie, die Sie den Bruder von der Schwester trennen! Wir haben alle Beide Ihre Milch getrunken, wir sind Beide auf Ihrem Schooße groß gewachsen und haben von Ihnen uns lieben gelernt; wir haben es uns Beide tausendmal gesagt, und jetzt entfernen Sie sie von mir! Sie schicken sie nach Europa, in dieses Barbarenland, das Ihnen einen Zufluchtsort versagte, zu grausamen Verwandten, die Sie hülflos gelassen haben! Sie werden zu mir sagen: Du hast keine Rechte mehr an sie, sie ist nicht deine Schwester. Ach! sie ist mein Alles, sie ist mein Reichthum, meine Familie, mein Stand und all mein Gut. Ich kenne kein anderes, als sie! Wir hatten Ein Dach und Eine Wiege, wir wollen auch nur Ein Grab haben. Wenn sie abreist, so muß ich ihr folgen. Kann mich der Gouverneur daran hindern, wenn ich mich in's Meer stürze? Ich werde ihr schwimmend folgen; das Meer kann mir nicht unheilvoller seyn, als das Land. Wenn ich hier nicht bei ihr leben kann, so will ich wenigstens fern von Ihnen unter ihren Augen sterben. Grausame Mutter! Mitleidlose Frau! Möge der Ocean, dem Sie sie Preis geben, sie Ihnen nie wieder bringen! Mögen die Wellen, die Ihnen meine Leiche vor die Füße spielen, sie mit der ihrigen in den Sand des Ufers begraben und Ihnen durch den Verlust Ihrer beiden Kinder ewigen Schmerz bereiten!«

Auf diese Worte faßte ich ihn in meine Arme, denn die Verzweiflung hatte ihn seiner Sinne beraubt. Seine Augen funkelten; der Schweiß floß in dicken Tropfen über sein flammendes Gesicht; seine Kniee zitterten und ich fühlte die heftigen Schläge seines Herzens in der kochenden Brust.

Voll Angst sagte Virginie zu ihm: »O mein Freund! bei den Freuden unserer Kindheit, bei deinen und meinen Schmerzen, bei Allem, was zwei Unglückliche auf ewig an einander ketten muß, wenn ich bleibe, so lebe ich nur für Dich; wenn ich abreise, so geschieht es nur, um nach meiner Rückkehr Dir anzugehören. Ich rufe euch Alle zu Zeugen auf, euch, die ihr meine Kindheit geleitet, die ihr über mein Leben verfüget und meine Thränen sehet. Ich schwöre es bei dem Himmel, der mich hört, bei diesem Meer, das ich durchfahren soll, bei der Luft, die ich athme und die ich nie mit einer Lüge befleckt habe!«

Wie die Sonne einen Eisblock auf dem Gipfel der Apenninen zerschmelzen macht und herabstürzt, so verging der ungestüme Zorn des Jünglings, als er die Stimme der Geliebten hörte. Sein trotziges Haupt senkte sich und ein Strom von Thränen stürzte ihm aus den Augen. Seine Mutter vermischte ihre Thränen mit den seinigen und hielt ihn sprachlos in ihren Armen. Frau von Latour war außer sich und rief: »Nein, das ertrage ich nicht; meine Seele ist zerrissen! Diese unglückselige Reise soll nicht statt haben. Lieber Nachbar, nehmen Sie meinen Sohn mit sich. Schon seit acht Tagen hat Niemand von uns ein Auge geschlossen.«

Ich sagte zu Paul: »Mein Freund! deine Schwester wird bleiben. Morgen wollen wir mit dem Gouverneur sprechen; laß deine Familie heute ruhen und komm diese Nacht mit mir. Es ist schon spät; es ist Mitternacht, das Sternbild des Kreuzes steht gerade am Horizont.«

Ohne ein Wort zu erwidern, ging er mit mir, und nach einer sehr unruhigen Nacht stand er mit Anbruch des Tages auf und kehrte nach seiner Wohnung zurück.

Aber wozu soll ich Ihnen diese Geschichte noch weiter erzählen? Es gibt nur Eine glückliche Seite im menschlichen Leben. Gleich der Erdkugel, die wir bewohnen, ist auch unser Dasein ein tagtäglicher Umschwung, und während die eine Seite dieses Tages Licht empfängt, hüllt sich die andere in Finsterniß.

»Mein Vater,« sagte ich zu ihm, »ich beschwöre Euch, vollendet Eure Erzählung, deren Anfang mich im Innersten ergriffen hat. Die Bilder des Glücks gefallen uns, aber die des Unglücks dienen zu unserer Belehrung. Ich bitte Euch, was wurde aus dem unglücklichen Paul?«

Das Erste, was Paul bei seiner Ankunft in der Nähe der Hütte erblickte, war die Negerin Marie, die auf einem Felsen stand und nach dem Meere hinsah. Sobald er sie bemerkte, rief er ihr zu: »Wo ist Virginie?« Marie wandte sich nach ihrem jungen Gebieter um und fing an zu weinen. Ganz außer sich, rannte Paul dem Hafen zu. Dort erfuhr er, Virginie habe sich mit Tages Anbruch eingeschifft, das Schiff sey sogleich unter Segel gegangen und man sehe es nicht mehr. Er kam zur Wohnung zurück und sprach mit keinem Menschen ein Wort.

Obgleich der Felsenwall hier hinter uns beinahe senkrecht erscheint, so sind doch die grünen Terrassen, die seine Abhänge durchschneiden, eben so viele Etagen, durch welche man vermittelst steiler Fußwege an seinen jähen und unzugänglichen Felsenkegel kommt, den man den »Daumen« nennt. Am Fuße dieses Felsen ist eine mit großen Bäumen bedeckte Fläche, so hoch und steil, daß sie einem Walde gleicht, der, von schrecklichen Abgründen umgeben, in der Luft schwebt. Die Wolken, welche den Gipfel des Daumens beständig verhüllen, unterhalten hier mehrere Gießbäche, die auf der andern Seite des Berges von einer so unermeßlichen Höhe herab in das Thal stürzen, daß man nicht einmal das Geräusch ihres Falles hört. Von diesen Höhen sieht man einen großen Theil der Insel mit ihren Bergspitzen, unter andern den Piterboth und die drei Zitzen sammt ihren waldigen Thälern, ferner die hohe See und auch die Insel Bourbon, die vierzig Meilen westlich liegt.

Von hier aus erblickte Paul noch einmal das Schiff, das Virginien fortführte. Er sah es noch mehr als zehn Meilen weit in der offenen See, wie einen schwarzen Punkt mitten im Ocean. Einen Theil des Tages war er ganz in diese Betrachtung versunken. Es war bereits verschwunden, aber er glaubte es immer noch zu sehen; endlich aber, als es sich ganz in den Nebel der Ferne verloren hatte, setzte er sich an diesem wilden, von ewigen Stürmen bewegten Orte nieder, wo das Sausen des Windes in den Wipfeln der Palmen und Tatamaken fernen verworrenen Orgeltönen ähnlich klingt und wehmüthige Empfindungen im Herzen hervorruft. Hier fand ich ihn, den Kopf gegen den Felsen gestützt und die Augen starr auf die Erde geheftet. Seit Sonnenaufgang war ich nach ihm umhergeirrt, und es kostete mich viele Mühe, ihn zu bewegen, daß er herabstieg und zu seiner Familie ging. Als ich ihn endlich nach Hause gebracht hatte und er Frau von Latour wieder sah, so war sein Erstes, daß er in bittere Klagen ausbrach, weil man ihn hintergangen habe. Frau von Latour sagte uns, um drei Uhr Morgens habe sich der Wind erhoben, das Schiff sey segelfertig gewesen, und nun sey der Gouverneur mit einem Theile seines Generalstabs und dem Beichtvater gekommen, um Virginien in einem Tragsessel abzuholen; trotz ihrer eigenen Vorstellungen, ihrer und Margarethens Thränen, habe man ihre Tochter halb todt weggetragen, und Alles habe zusammengerufen, es geschehe ja nur zum Besten der ganzen Familie. »Hätte ich ihr nur wenigstens Lebewohl sagen können,« antwortete Paul, »so wäre ich jetzt ruhig. Virginie! hätte ich zu ihr gesagt, wenn mir je in meinem Leben ein Wort entfahren ist, das Dich beleidigt hat, o so vergib mir, ehe Du ewig scheidest. Ich hätte zu ihr gesagt: Da es mir nicht vergönnt ist, Dich wieder zu sehen, so lebe wohl, meine theure Virginie, lebe wohl! Lebe fern von mir zufrieden und glücklich!« Und als er sah, daß seine Mutter und Frau von Latour weinten, sagte er zu ihnen: »Sucht euch jetzt einen Andern, der eure Thränen trockne!« Hierauf entfernte er sich seufzend und irrte im Thale umher. Er ging an alle Plätze, die Virginien am liebsten gewesen waren. Zu ihren Ziegen, die ihm mit ihren jungen Böcklein blöckend folgten, sagte er. »Was wollt ihr von mir? Ihr werdet nie mehr Diejenige bei mir sehen, deren Hand euch zu essen gab.« In Virginiensruhe rief er den Vögeln, die um ihn herum flatterten, zu: »Arme Vögel! nie werdet ihr Derjenigen mehr entgegen hüpfen, die eure gute Pflegerin war!« Wenn er Fidel erblickte, der überall umher roch und suchend vor ihm her lief, so seufzte er. »O! du wirst sie nie wieder finden.« Endlich setzte er sich auf den Felsen, wo er in der letzten Nacht mit ihr gesprochen hatte, und beim Anblick des Meeres, wo er das Schiff, das sie ihm entführte, verschwinden gesehen hatte, weinte er bitterlich.

Indessen folgten wir ihm Schritt für Schritt, da von seiner heftigen Gemüthsbewegung Alles zu fürchten war. Seine Mutter und Frau von Latour baten ihn in den rührendsten Ausdrücken: er möchte ihren Schmerz nicht durch seine Verzweiflung vermehren. Endlich gelang es der Letzteren, ihn zu beruhigen, indem sie ihn mit Namen belegte, die allein geeignet waren, seine Hoffnungen auf's Neue zu beleben. Sie nannte ihn ihren Sohn, ihren lieben Sohn, ihren Schwiegersohn, denjenigen, für den sie ihre Tochter bestimmt habe. Sie bat ihn, in's Haus zu kommen und einige Nahrung zu sich zu nehmen. Er setzte sich mit uns zu Tische, dicht neben der Stelle, wo die Gespielin seiner Kindheit zu sitzen pflegte, und immer noch mit ihr allein beschäftigt, redete er sie an und reichte ihr die Speisen hin, von denen er wußte, daß sie ihr die liebsten waren; wenn er aber dann seines Irrthums gewahr wurde, so stürzten ihm Thränen aus den Augen. An den folgenden Tagen sammelte er Alles, was zu ihrem Privatgebrauch gedient hatte, die letzten Blumensträuße, die sie getragen, eine Schale aus Cocos, aus der sie gewöhnlich getrunken, und gleich als wären diese Reliquien seiner Geliebten die kostbarsten Dinge von der Welt, küßte er sie und drückte sie an sein Herz. Der Ambra verbreitet keinen so süßen Wohlgeruch, als solche Gegenstände, wenn sie die Hand der Geliebten geweiht hat. Endlich als er sah, daß sein Kummer den der Seinigen nur vermehrte, und daß die Bedürfnisse der Familie seine Arbeit erheischten, fing er an mit Domingo den Garten wieder herzustellen.

Bald bat mich dieser Jüngling, der bisher wie ein Kreole gegen Alles, was in der Welt vorging, gleichgültig gewesen war, ich möchte ihn lesen und schreiben lehren, damit er mit Virginien einen Briefwechsel unterhalten könne. Er verlangte auch Unterricht in der Geographie, um sich einen Begriff von dem Lande machen zu können, wohin sie gereist war, und in der Geschichte, um die Sitten des Volkes kennen zu lernen, unter dem sie leben sollte. So hatte ihm die Liebe auch Lust zum Ackerbau eingeflößt und ihn die Kunst gelehrt, den ungeeignetsten Boden in einen anmuthigen umzuschaffen. Den Genüssen, welche diese glühende und nimmerruhende Leidenschaft sich vorsetzt, haben die Menschen ohne Zweifel die meisten Wissenschaften und Künste zu verdanken, und aus ihren Entbehrungen ist die Philosophie entstanden, welche lehrt, sich über Alles zu trösten. So hat die Natur, indem sie die Liebe zu dem alle Wesen verknüpfenden Bande machte, sie zugleich zur ersten Triebfeder der menschlichen Gesellschaft erhoben, und zu einem Sporn zu höheren Einsichten und Freuden.

P aul fand wenig Geschmack am Studium der Geographie, die uns nur die politischen Einteilungen der Länder darbietet, statt ihre Natur zu schildern. Auch die Geschichte, namentlich die neuere, interessirte ihn nicht sehr. Er sah darin nichts als ein allgemeines und periodisches Elend, dessen Ursachen er nicht kannte, Kriege ohne Veranlassung und Zweck, finstere Ränke, charakterlose Völker und unmenschliche Fürsten. Weit lieber las er Romane, die sich mehr mit den Empfindungen und Interessen der Menschen beschäftigen, und worin er zuweilen Lagen fand, die seiner eigenen ähnlich waren. Kein Buch machte ihm mehr Vergnügen, als Telemach mit seinen Schilderungen des Landlebens und der Leidenschaften, die dem menschlichen Herzen angeboren sind. Er las seiner Mutter und Frau von Latour die Stellen vor, die ihn am meisten ansprachen: dann aber pflegten rührende Erinnerungen in ihm aufzusteigen, seine Stimme stockte und seine Augen füllten sich mit Thränen. Es war ihm, als fände er in Virginien die Würde und Weisheit Antiopens mit dem Unglück und der Zärtlichkeit der Eucharis vereinigt. Dagegen wurde er durch die neueren Mode-Romane mit ihrer lockeren Moral ganz irre gemacht, und als er erfuhr, daß dieselben eine wahrheitsgemäße Schilderung der europäischen Sitten enthielten, so fürchtete er nicht ohne scheinbaren Grund, auch Virginie möchte verdorben werden und ihn vergessen.

Es waren in der That bereits mehr als anderthalb Jahre verflossen, ohne daß Frau von Latour Nachrichten von ihrer Tante und ihrer Tochter erhalten hatte: sie hatte nur zufällig erfahren, daß Letztere glücklich in Frankreich angekommen sey. Endlich aber brachte ein Schiff, das nach Indien ging, ein Paket und einen Brief von Virginiens eigener Hand. So vorsichtig und schonungsvoll das liebenswürdige Kind sich auch darin ausdrückte, so sah ihre Mutter doch daraus, daß sie sehr unglücklich seyn mußte. Dieser Brief schilderte ihre Lage so deutlich und charakterisiert die Verfasserin so genau, daß ich ihn beinahe Wort für Wort behalten habe.

Theuerste, geliebteste Mutter!

»Ich habe Ihnen schon mehrere Briefe mit eigener Hand geschrieben; da aber nie eine Antwort gekommen ist, so muß ich fürchten, daß Sie dieselben nicht erhalten haben. Hoffentlich wird es diesem hier besser ergehen, denn nach den Maßregeln, die ich getroffen habe, denke ich Ihnen mit Sicherheit schreiben und Ihre Briefe erhalten zu können.

»Ich habe seit unserer Trennung viele Thränen vergossen, ich, die ich sonst nur über fremde Leiden geweint hatte! Meine Großtante war bei meiner Ankunft sehr überrascht, als sie mich nach meinen Talenten ausfragte, und ich ihr sagte, daß ich weder lesen noch schreiben könnte. Sie fragte, was ich denn gelernt habe, seitdem ich auf der Welt sey? und als ich ihr antwortete, ich verstehe eine Haushaltung zu führen und Ihren Willen zu befolgen, so erklärte sie, dieß sey die Erziehung für eine Magd. Gleich am andern Tag schickte sie mich in ein großes Kloster bei Paris in Pension, und hier habe ich Lehrer aller Art. Unter Anderm lehrt man mich Geschichte, Geographie, Grammatik, Mathematik und auch Reiten; aber ich habe für alle diese Wissenschaften so wenig Sinn, daß ich bei diesen Herren nicht viel profitiren werde. Ich fühle, daß ich ein armes Geschöpf bin und wenig Geist besitze, wie sie mir auch zu verstehen geben. Indeß erkaltet deßwegen das Wohlwollen meiner Tante nicht. Sie schenkt mir zu jeder Jahreszeit neue Kleider, auch hat sie mir zwei Kammerfrauen gegeben, die so geputzt sind wie große Damen. Ich habe den Titel Gräfin annehmen, aber meinen Namen Latour ablegen müssen, der mir so theuer war, als Ihnen, durch Alles, was Sie mir von den Leiden und Kämpfen erzählt haben, die mein Vater bestehen mußte, um Sie zu heirathen. Sie hat mir statt Ihres Frauennamens Ihren Familiennamen gegeben, der mir ebenfalls theuer ist, da Sie ihn als Mädchen führten. Da ich mich in einer so glänzenden Lage sah, so habe ich sie gebeten, Ihnen einige Unterstützung zu schicken. Wie soll ich Ihnen ihre Antwort mittheilen! Doch Sie haben mich gelehrt, immer die Wahrheit zu sagen. Sie gab mir nämlich zur Antwort: wenig würde Ihnen nichts helfen und viel würde Sie bei dem einfachen Leben, das Sie führen, nur belästigen. Ich wollte Ihnen im Anfang durch fremde Hand Nachrichten von mir zukommen lassen, weil ich selbst noch nicht schreiben konnte; da ich aber Niemand hatte, dem ich vertrauen konnte, so habe ich mir Tag und Nacht Mühe gegeben, lesen und schreiben zu lernen. Gott hat mir die Gnade geschenkt, daß ich in kurzer Zeit damit zu Stande kam. Meine ersten Briefe habe ich den Frauen, die um mich sind, zur Besorgung übergeben, aber ich fürchte, sie haben sie meiner Großtante gebracht. Dießmal habe ich eine junge Freundin, die auch hier in Pension ist, darum gebeten, und unter ihrer unten bemerkten Adresse bitte ich Sie, Ihre Antworten an mich abgehen zu lassen. Meine Großtante hat mir allen Briefwechsel nach Außen untersagt, weil er, wie sie meint, den großen Absichten, die sie mit mir hat, hinderlich seyn könnte. Niemand als sie allein und ein alter Herr aus ihrer Bekanntschaft sprechen mich am Gitter; Letzterer soll, wie sie mir sagt, viel Geschmack an mir finden. Um die Wahrheit zu sagen, er gefällt mir gar nicht, wenn mir überhaupt noch jemand gefallen könnte.

»Ich lebe hier mitten im Glanze des Reichthums und kann über keinen Sou verfügen. Man sagt, es wäre nachtheilig, wenn ich Geld hätte. Selbst meine Kleider gehören meinen Kammerfrauen, die sich darum streiten, noch ehe ich sie abgelegt habe. Im Schoße des Reichthums bin ich ärmer als ich bei Ihnen war, denn ich habe nichts zu verschenken. Als ich sah, daß die großen Talente, die man mich lehren will, mir nicht einmal die Mittel verschafften, das Geringste Gute zu thun, so nahm ich meine Zuflucht zur Nadel, deren Gebrauch Sie mich glücklicherweise gelehrt haben. Ich schicke Ihnen hier einige Paar Strümpfe von meiner Arbeit für Sie und Mutter Margarethe, eine Mütze für Domingo und eines meiner rothen Taschentücher für Marie. Zugleich finden Sie ein Paket Obstkerne von verschiedener Art, die ich gesammelt, nebst allerlei Baumsamen, die ich in meinen Erholungsstunden im Klostergarten aufgelesen habe. Es liegen auch Samen von Veilchen, Maßlieben, Hahnenfüßen, Klatschrosen und Skabiosen bei, die ich auf den Feldern sammelte. Auf den Wiesen hier zu Lande wachsen schönere Blumen als auf den unsern, aber Niemand bekümmert sich darum. Ich bin überzeugt, daß Sie und Mutter Margarethe an diesem Beutel mit Samenkernen mehr Freude haben werden, als an dem mit Piastern, der die Ursache unserer Trennung und meiner Thränen war. O wie würde ich mich freuen, wenn Sie einmal das Vergnügen haben könnten, Aepfelbäume neben unsern Bananas und Buchen neben unsern Cocosbäumen wachsen zu sehen! Sie würden sich in der Normandie glauben, die Ihnen so theuer ist.

»Sie haben mir aufgegeben, Ihnen meine Freuden und Leiden mitzuteilen. Ich habe keine Freuden mehr, seit ich von Ihnen entfernt bin; meine Leiden aber versüße ich mir durch den Gedanken, daß ich auf einem Posten bin, wohin Sie mich nach Gottes Willen geschickt haben. Mein allergrößter Schmerz ist, daß ich hier Niemand habe, mit dem ich von Ihnen sprechen könnte. Meine Kammerfrauen oder vielmehr die Kammerfrauen meiner Großtante, denn sie dienen mehr ihr als mir, sagen, so oft ich das Gespräch auf Gegenstände lenken will, die mir so theuer sind: »Mein Fräulein, Sie müssen bedenken, daß Sie Französin sind; vergessen Sie jetzt das Land der Wilden!« Ach! eher würde ich mich selbst vergessen, als den Ort, wo ich geboren wurde, und wo Sie leben! Das Land hier ist für mich ein Land der Wilden; denn ich lebe allein und habe Niemand, den ich an der Liebe Theil nehmen lassen könnte, womit Ihnen, theuerste, geliebteste Mutter, auf ewig zugethan ist

Ihre gehorsame und zärtliche Tochter

Virginie von Latour.

»Ich empfehle Ihrer Güte noch Marie und Domingo, die mich in meiner Kindheit so treulich pflegten. Liebkosen Sie in meinem Namen auch Fidel, der mich im Walde wieder gefunden hat.«

P aul war sehr erstaunt, daß Virginie seiner mit keinem Worte gedachte, sie, die selbst den Haushund nicht vergessen hatte: er wußte nicht, daß die Frauen, wenn sie auch noch so lange Briefe schreiben, ihre liebsten Gedanken immer erst zuletzt bringen.

Denn in einer Nachschrift, die bloß für Paul bestimmt war, empfahl Virginie ihm zweierlei Samen: den der Veilchen und der Skabiosen. Sie gab ihm einigen Unterricht über die Art dieser Gewächse und die Orte, wo sie am besten gedeihen. »Das Veilchen,« schrieb sie, »treibt eine kleine dunkelviolette Blume, die sich gerne im Grase verbirgt; aber ihr köstlicher Geruch verräth sie bald.« Sie wies ihn an, dieselbe an den Rand der Quelle und an den Fuß ihres Cocosbaumes zu pflanzen. »Die Skabiose,« setzte sie hinzu, »gibt eine schöne blaßblaue Blume, die einen schwarzen mit weißen Punkten gezierten Kelch hat. Man sollte glauben, sie traure: sie wird deswegen auch Wittwen-Blume genannt. Sie gefällt sich an rauhen luftigen Orten.« Sie bat ihn, dieselbe auf den Felsen zu säen, wo sie ihn bei Nacht zum letzten Male gesprochen hatte, und diesem Felsen ihr zu Liebe den Namen Abschiedsfelsen zu geben.

Ein von Virginiens eigner Hand gestricktes Beutelchen verschloß diese Sämereien. Es war zwar sehr einfach, hatte aber für Paul unschätzbaren Werth, denn er bemerkte daß darauf ein P und ein V in einander verschlungen waren, und zwar aus Haaren, die er an ihrer Schönheit sogleich für die Virginiens erkannte.

Die ganze Familie weinte über diesen Brief des gefühlvollen und tugendhaften Mädchens. Ihre Mutter antwortete ihr im Namen Aller, es stehe ganz in ihrem Belieben, ob sie bleiben oder zurückkehren wolle. Zugleich versicherte sie ihr, daß sie Alle, seit ihrer Abreise, den besten Theil ihres Glücks verloren haben, und daß besonders sie selbst untröstlich sey.

P aul schrieb ihr einen sehr langen Brief, worin er versprach, daß er den Garten ihrer würdig herstellen werde: die europäischen Pflanzen sollen sich darin mit den afrikanischen vermischen, wie sie in dem Beutelchen ihren und seinen Namen in einander verschlungen habe. Er schickte ihr vollkommen reife Cocosnüsse von den Bäumen an ihrem Teich; Sämereien von der Insel aber, schrieb er, lege er absichtlich nicht bei, damit der Wunsch, ihre Erzeugnisse wieder zu sehen, sie zur baldigen Rückkehr bestimmen möchte. Er bat sie, sobald als möglich das heiße Verlangen der Familie, und besonders sein eigenes, zu erfüllen, da es fern von ihr keine Freude für ihn gebe.

Paul säete mit der größten Sorgfalt den enropäischen Samen, besonders die Veilchen und Skabiosen, deren Blüthen einige Aehnlichkeit mit dem Charakter und der Lage Virginiens zu haben schienen, welche sie ihm so angelegentlich empfohlen hatte. Aber sey es, daß der Samen auf der Ueberfahrt verdorben war, oder daß das Klima dieses Theils von Afrika ihm nicht zusagte, es gingen nur wenige auf, und auch diese gelangten nicht zur Vollkommenheit.

Indeß verbreitete der Neid, der besonders in den französischen Colonien manchmal sogar vor dem Glücke sich regt, Gerüchte auf der Insel, die Paul gewaltig beunruhigten. Die Mannschaft des Schiffes, das Virginiens Brief mitgebracht hatte, versicherte, sie sey im Begriff, sich zu verheirathen. Sie nannten den vornehmen Herrn vom Hofe, der sie heimführen sollte, mit Namen. Einige sagten sogar, es sey bereits geschehen, und wollten bei der Trauung selbst zugegen gewesen seyn. Im Anfang achtete Paul nicht auf solche Nachrichten von Handelsschiffen, die gar häufig überall, wo sie durchkommen, falsche Gerüchte in Umlauf setzen. Als aber mehrere Bewohner der Insel aus schadenfrohem Mitleid zu ihm kamen und ihn beklagten, so fing er an, der Sache einigen Glauben zu schenken. Dazu kam, daß er in einigen Romanen gelesen hatte, wie Wortbrüchigkeit nur scherzhaft behandelt wurde, und da er wußte, daß diese Bücher ziemlich getreue Schilderungen der europäischen Sitten enthielten, so fürchtete er, die Tochter der Frau von Latour möchte ebenfalls verdorben worden seyn und ihre alten Verbindlichkeiten vergessen haben. Schon machte ihn seine Aufklärung unglücklich, und was seine Besorgnisse noch vermehrte, war, daß binnen sechs Monaten mehrere Schiffe aus Europa kamen, ohne daß ein einziges Nachrichten von Virginien brachte.

Der unglückliche Jüngling, dessen Herz auf's grausamste bewegt war, kam oft zu mir, um durch meine Welterfahrung seine Unruhe zu begründen oder zu verscheuchen.

Ich wohne, wie gesagt, anderthalb Meilen von hier, am Ufer eines kleinen Flusses, der sich längs des langen Berges hinzieht. Dort lebe ich ganz allein, ohne Frau, ohne Kinder und ohne Sklaven.

Außer dem seltenen Glück, eine Lebensgefährtin zu finden, von der man vollkommen verstanden wird, ist das Loos Desjenigen, der allein lebt, gewiß das am wenigsten unglückliche. Jedermann, dem die Menschen viel Veranlassung gegeben haben, sich über sie zu beklagen, sucht die Einsamkeit. Es ist sogar sehr merkwürdig, daß alle Völker, die durch Meinungen, Sitten und Regierungsformen unglücklich wurden, zahlreiche Klassen von Bürgern hervorgebracht haben, die ein einsames, eheloses Leben führten. So war es bei den Egyptern zur Zeit ihres Verfalls, bei den Griechen unter ihren Kaisern, und so ist es noch heutigen Tags bei den Hindus, den Chinesen, den Neugriechen, den Italienern und den meisten östlichen und südlichen Völkern Europa's. Die Einsamkeit führt den Menschen gewissermaßen zu dem von der Natur ihm angewiesenen Glücke zurück, indem sie ihn dem Elende der bürgerlichen Gesellschaft entzieht. Unter diesen bürgerlichen Gesellschaften, die durch so viele Vorurtheile getrennt werden, ist die Seele in beständiger Aufregung; unaufhörlich von tausend störenden und sich widersprechenden Meinungen hin und her geworfen, liegt sie in ewiger Fehde mit denen einer ehrsüchtigen und elenden Menge. In der Einsamkeit dagegen entäußert sie sich dieser fremdartigen störenden Täuschungen, und der Geist gewinnt wieder das ursprüngliche reine Bewußtsein seiner selbst, der Natur und seines Schöpfers. Er gleicht dem Strome, der die Felder verwüstet und sein eigenes Wasser trübt, bis er sich endlich in ein abgelegenes Bett sammelt, die fremden Theile von sich ausstößt, seine ursprüngliche Klarheit und Durchsichtigkeit wieder gewinnt, und das Grün der Erde und den strahlenden Glanz des Himmels auf seine Ufer zurückspiegelt. Die Einsamkeit stellt sowohl die Harmonie des Körpers als der Seele wieder her. Unter der Klasse der Einsiedler finden wir diejenigen Menschen, die ihr Leben am höchsten bringen, wie z. B. die Brahminen Indiens. Kurz, ich halte sie für so nothwendig selbst zum Glücke in der Welt, daß es mir unmöglich scheint, irgend ein dauerndes Vergnügen, welcher Art es auch sey, zu genießen, oder sich eine feste und bestimmte Norm des Handelns vorzusetzen, wenn man nicht wenigstens eine innere Einsamkeit zu erlangen weiß, aus welcher die eigene Meinung selten heraus, und in welche eine fremde niemals hineintritt. Gleichwohl will ich nicht behaupten, daß der Mensch durchaus allein leben soll: er ist durch seine Bedürfnisse dem ganzen Menschengeschlecht verpflichtet, folglich auch schuldig, seine Arbeiten den Menschen wieder zu widmen; ja, er ist sich selbst auch der übrigen Natur schuldig. Wie aber Gott Jedem von uns Organe gegeben hat, die den Elementen des Planeten, auf dem wir leben, vollkommen angemessen sind, Füße für den Boden, die Lunge für die Luft, die Augen für das Licht, ohne daß wir den Gebrauch dieser Sinne verändern oder verkehren könnten, so hat Er, der Schöpfer des Lebens, das vornehmste Organ desselben, das Herz, sich allein vorbehalten.

Ich verlebe auf diese Art meine Tage fern von den Menschen, denen ich dienen wollte und die mich dafür verfolgt haben. Nachdem ich einen großen Theil Europas und einige Striche Amerika's und Afrika's durchzogen, habe ich mich auf dieser wenig bewohnten Insel niedergelassen, angelockt durch ihr mildes Klima und ihre einsamen Plätze. Eine Hütte, die ich im Wald am Fuße eines Baumes gebaut, ein Stückchen Feld, das ich mit eigenen Händen urbar gemacht, und ein Bach, der vor meiner Thüre hinfließt, ist Alles, was ich zu meines Leibes Nothdurft und zu meinen Vergnügungen bedarf. Zu diesen Genüssen habe ich noch den einiger guten Bücher gefügt, die mich lehren, besser zu werden. Ihnen danke ich's, daß selbst die Welt, die ich verlassen habe, noch zu meinem Glücke beiträgt: denn sie stellen mir Gemälde jener Leidenschaften auf, wodurch sich die Erdenbewohner so unglücklich machen, und verschaffen mir durch die Vergleichung, die ich zwischen ihrem und meinem Schicksal anstelle, wenigstens den Genuß eines negativen Glücks. Wie Einer, der sich vom Schiffbruch auf einen Felsen gerettet hat, sehe ich aus meiner Einsamkeit auf die Stürme herab, welche die übrige Welt durchtoben. Das ferne Tosen des Ungewitters macht mir meine Ruhe doppelt angenehm. Seitdem die Menschen nicht mehr auf meinem Wege sind und ich nicht mehr auf dem ihrigen, hasse ich sie nicht mehr, sondern beklage sie bloß. Wenn mir ein Hülfsbedürftiger begegnet, so suche ich ihm mit meinem Rathe an die Hand zu gehen, wie ein am Ufer eines Flusses Wandelnder dem Unglücklichen, der im Begriff ist zu ertrinken, die Hand reicht. Aber ich habe immer nur die Unschuld bereit gefunden, auf meine Stimme zu achten. Die Natur ruft umsonst die Menschen zu sich; Jeder entwirft sich ein besonderes Bild von ihr und bekleidet es mit seinen eigenen Leidenschaften. Er verfolgt das eitle Phantom, das ihn irre führt, sein ganzes Leben lang, und klagt zuletzt den Himmel an wegen Täuschungen, die nur er selbst geschaffen hat. Unter einer großen Zahl Unglücklicher, die ich zuweilen zur Natur zurückzuführen versuchte, habe ich keinen einzigen gefunden, der nicht von seinem eigenen Elend berauscht gewesen wäre. Sie hörten mich im Anfang mit Aufmerksamkeit an, in der Hoffnung, ich würde ihnen behülflich seyn, das, was sie Ehre oder Glück nannten, zu erlangen; sobald sie aber sahen, daß ich ihnen nur die Entbehrlichkeit desselben beweisen wollte, so hielten sie mich selbst für unglücklich, weil ich nicht ebenfalls nach ihrem elenden Glücke rannte. Sie tadelten mein einsames Leben, behaupteten, nur sie allein seyen ihren Mitmenschen nützlich, und suchten mich ebenfalls in ihren Strudel zu ziehen. Aber wenn ich mich auch Jedermann mittheile, so gebe ich mich Niemanden ganz hin. Oft bin ich mir selbst genug, um mir eine Lehre zu geben. In meiner gegenwärtigen Ruhe lasse ich die früheren Aufregungen und Stürme meines eigenen Lebens, denen ich so großen Werth beigelegt hatte, auf's Neue an mir vorüber gehen: den Schutz der Großen, den Reichthum, die Ehre, die Wollüste und die Meinungen, die sich auf der ganzen Erde bekämpfen. Ich vergleiche so viele Menschen, die ich wüthend um diese Truggebilde streiten sah, und die nicht mehr sind, mit den Wellen meines Baches, die sich schäumend an den Felsen seines Bettes brechen und verschwinden, um nie wieder zu kehren. Ich selbst lasse mich vom Strome der Zeit friedlich dem uferlosen Ocean der Unendlichkeit entgegentragen, und durch die Betrachtung der sichtbaren Harmonien der Natur erhebe ich mich zu ihrem Schöpfer und hoffe in einer anderen Welt ein glücklicheres Loos.


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