Theodor Storm
Ein Bekenntnis
Theodor Storm

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

– – Es war eine der dem Arzte gewöhnlichen Mißschickungen, daß, noch bevor wir eingetreten waren, ein Bote mich im Vorsaal ereilte, welcher mich dringend zu einem meiner alten Patienten berief, der von einem Schlaganfall betroffen sei. Ich führte meine Frau sogleich in den Tanzsaal, zu unserer Frau Käthe, die ihr schon bei unserem Eintritt zugewinkt hatte; sie ließ einen hellen Blick über Elsis Gestalt schweifen: »Du bist apart«, flüsterte sie, »aber entzückend!« dann gab sie ihr Raum neben sich und machte sie mit ihrer einen Nachbarin bekannt, die meine Frau noch nicht gesehen hatte. Aber ich mußte fort; noch sah ich, wie die Weiber ihre Augen auf sie wandten, wie aus einem Haufen der Tänzer mit einer Kopfwendung oder leisem Fingerzeig auf sie gedeutet wurde und, da plötzlich die Tanzmusik einsetzte, mehrere derselben auf meine schöne Elbin zusteuerten; dann, nach einem hastigen Händedruck von ihr, ging ich in die kalte Nacht hinaus.

– Als ich spät, ich hörte hinter den Gassen schon die Hähne krähen, in den Tanzsaal zurückkehrte, flog Elsi mir entgegen: »Wo stand der Tod?« frug sie ernst, »zu Häupten oder am Fußende?«

»Nach dem Märchen«, erwiderte ich, »stand er zu Häupten; der alte Herr ist diesmal noch vor ihm bewahrt. Aber du hast ja gar keine heißen Wangen, Elsi; hast du nicht viel getanzt?«

»Gar nicht!« sagte sie.

»Was sagst du? – Und weshalb denn nicht?«

»Ich mochte doch nicht tanzen, indes du mit dem Tod verkehrtest! Auch«, und sie hob sich zu meinem Ohr, während wir in der Tanzpause im Saale auf und ab gingen, und flüsterte: »weißt du, Franz, ich tanz nicht gern; wohl einmal so mit einer jungen Sechzehnjährigen, nicht mit Männern; sie tanzen so schwer, das macht mich krank!«

Da fiel die Musik ein, und der Saal ward plötzlich wieder lebendig. »Komm, Franz!« rief sie; »nun laß uns tanzen; es ist der letzte auf der Karte, da können die andern mich nicht mehr plagen!«

»Aber du magst ja nicht mit Männern tanzen!«

– »O, wie du reden kannst! Ich bin ja dein!«

»Und was sollen deine Abgewiesenen sagen?«

»Ich weiß nicht. Wir wollen tanzen!«

Und wir tanzten miteinander; nur dies eine Mal in unserem Leben. Du weißt, Hans, ich war einst ein leidenschaftlicher Tänzer, und ich meine, auch kein ungeschickter; aber jetzt war mir, als würden meine Füße beflügelt, als ströme eine Kraft, die Kunst des Tanzes, von meinem Weibe auf mich über, und dennoch – mitunter befiel mich Furcht, als könne ich sie nicht halten, als müsse sie mir in Luft zergehen.

»O, das war schön!« hauchte Elsi; »wie liebe ich dich, Franz!«

Ich ließ das alles wie einen stillen Zauber über mich ergehen, denn – und das gehört wohl noch zu dem Bilde dieser Frau – der Haushalt ging desungeachtet unter ihren Händen wie von selber; ja, ich habe nie gemerkt, daß überhaupt gehaushaltet wurde; es war, als ob die toten Dinge ihr gegenüber Sprache erhielten, als ob sie ihr zuriefen: »Hier in der Ecke steckt noch ein Häufchen Staub, hier ist ein Fleck, stell hier die Köchin, hier die Stubenmagd!« Es war wie im Märchen, wo es dem Kinde beim Gange durch den Zaubergarten aus den Apfelbäumen zuruft: »Pflück mich, ich bin reif!« – »Nein, ich noch reifer!« – Von der Wirtschaftsunruhe, an der so viele Ehen kranken, habe ich niemals was erfahren. Doch ich habe weiter zu berichten, denn die Zeit des Glückes war nur kurz.

– – Es war an einem Maiabend unseres vierten Ehejahres, als ich von einer ermüdenden Praxis nach Haus zurückkehrte. Da es still und mild war, ging ich zunächst in den Garten, wo ich bei solchem Wetter und um diese Zeit meine Frau zu finden pflegte; ich ging die Steige durch die Tannen, zuletzt noch unten nach dem Rasen, der, wie wir schon im Herbst bemerkt hatten, ganz mit Veilchen durchsetzt war; aber die bescheidenen Blumen, die um Mittag den Platz mit Duft erfüllt hatten, waren in der herabsinkenden Abenddämmerung kaum noch sichtbar. Es war hier alles leer; auch Else war nirgend zu sehen, und so wandte ich mich und ging wieder dem Hause zu. Als ich nach den beiden Fenstern unseres Wohnzimmers hinaufblickte, die hier hinaus im oberen Stocke lagen, sah ich, daß sie ganz von dunklem Abendrot wie überströmt waren; aber auch dort schien es einsam. Niemand schaute hinter ihnen zu mir hinab.

Unwillkürlich nahm ich meinen Weg dahin, nicht ahnend, welch ein befremdender Anblick mich erwartete. Als ich eintrat, sah ich Else mitten im Zimmer stehen, aber sie schien mich nicht bemerkt zu haben; und jetzt gewahrte ich es, sie stand ohne Regung, wie ein Bild, die linke Hand herabhängend, die rechte, wie beklommen, gegen die Brust gedrückt. Gleich einer Verklärung lag der rote Abendschein, der durch die Scheiben brach, auf den herabfließenden Falten ihres lichtgrauen Gewandes, auf dem feinen Profil ihres Angesichts, das sich klar von dem dunklen Hintergrund des Zimmers abhob.

Eine Weile konnte ich sie so betrachten, ohne daß mir die leiseste Bewegung ihres Körpers kund geworden wäre. »Elsi!« rief ich leise.

»Ja?« erwiderte sie wie traumredend; »ich komme!« Wie ein Erwachen schien es plötzlich ihre schlanken Glieder zu durchrinnen; sie rieb mit ihren weißen Händen bedächtig sich die Augen. »Ach du, Franz!« rief sie und lag im Augenblick in meinen Armen.

»Was war das, Elsi?« frug ich.

– »Ich weiß nicht. Was war es doch? – Ich meinte, ich sei bei dir, und ich war es nicht; und da riefst du mich. – Aber du kommst aus deiner Praxis, du mußt jetzt ruhen!«

Sie hatte mich zu einem Lehnsessel gezogen, und als ich mich hineingesetzt hatte, kniete sie vor mir nieder und streckte die Arme mir entgegen. Ich war ermüdet, aber nicht so sehr, um nicht noch mit Entzücken auf den schöngeformten Kopf meines Weibes zu blicken; ich hatte ihre Hände in die meinen genommen, und so saßen wir, ohne zu sprechen; nur ihre lichtgrauen Augen sahen unablässig und immer forschender in die meinen. Es war seltsam, daß es mir – ich kann's nicht anders ausdrücken – unheimlich unter diesem Blicke wurde; zugleich aber kam jener süße Schauder über mich, der mir damals von meinem Nachtgesicht geblieben war.

»Elsi«, sagte ich endlich, »was siehst du so mich an?«

Ich sah, wie sie zusammenzuckte. »Soll ich das nicht?« frug sie dann leise.

»Deine Augen sind so gespenstisch, Elsi!«

Sie sah mich dringender an: »Du!« sagte sie heimlich und verstummte.

– »Was denn, geliebte Frau?«

»Du, Franz, wir müssen uns früher schon gesehen haben!«

Der Atem stand mir still, aber ich sagte nur: »Wir sehen uns jetzt schon in das vierte Jahr; von früher weiß ich nichts.«

Sie schüttelte ihren blonden Kopf: »Ich mein es ernsthaft; du sollst keinen Scherz daraus machen! Nein, weit, viel weiter zurück – aber ich kann mich nicht entsinnen; es war vielleicht im Traum nur; ich muß noch ein halbes Kind gewesen sein.«

Es durchlief mich, ich bebte vor dem, was weiter kommen könne; aber ich faßte mich, und indem ich sie sanft zu mir hinaufzog, sagte ich: »Das ist so zwischen Liebesleuten; mir ist es auch wohl so gewesen, als hätten unsere Seelen sich gesucht, bevor noch unsere Leiber sich gefunden hatten; das ist ein alter Glaube, Elsi.«

Sie antwortete nicht, aber sie strickte ihre Arme fest um meinen Hals und drückte ihre Wange an die meine; ihre Augen suchte ich vergebens noch zu sehen, denn der Dämmerungsschein war erloschen, und durch das Fenster funkelte von fern der Abendstern. »Franz!« hauchte sie endlich.

»Ja, Elsi?«

»Halte mich fest, Franz! Noch fester! O, mir ist, als könnte man mich von dir reißen!«

Ich preßte sie heftig an mich, aber sie erhob schmerzlich lächelnd ihr Antlitz: »Es hilft dir nicht, Franz; wir müssen doch wieder voneinander!«

– – Als ich später in meinem Zimmer mit mir allein war, überkam mich ein Schrecken über diesen halbvisionären Zustand; mit halben Gedanken ging ich auf und ab; bald griff ich, als sollte mir daraus eine Offenbarung werden, nach diesem oder jenem medizinischen Buche, das unter den andern auf dem Regal stand, und setzte es, meist ohne es nur aufgeschlagen zu haben, wieder an seinen Platz; ich fühlte mich plötzlich unsicher gleich einem Neuling. Da flog's mir durch den Kopf: wir hatten noch immer kein Kind; eine Fehlgeburt war am Ende des ersten Ehejahres gewesen und nicht ohne nachbleibende Schwächen überwunden worden – wenn es das, wenn es das erste Zeichen eines neuen Lebens wäre! Der Keim eines solchen wirkt ja oft wunderbar genug in der jungen Mutter. Ich hatte bisher die Kinder nicht vermißt; aber ich war mir wohl bewußt gewesen, daß ich dereinst nach den Nichtgeborenen so sehnsüchtig wie vergebens die Arme ausstrecken würde.

Und so beruhigte ich mich; ich beobachtete dann, ich frug mein Weib; aber sie selber wußte von nichts; ich glaube, sie hatte mich kaum verstanden. Und bald sah auch ich, daß diese Hoffnung eine eitle gewesen sei; außer einem leichteren Ermüden und einer vermehrten Zärtlichkeit zu ihrem Manne bemerkte ich nichts Auffallendes an ihr.

Da eines Tages kamen Schmerzen, nur leichte, vor denen sie selber nicht erschrak; aber der Ort, wo sie hervortraten, wollte mir nicht gefallen. Sie hatte sich ins Bett gelegt, aber sie konnte am folgenden Tage wieder aufstehen. »Es war nichts, Franz«, sagte sie; »nur ein Anflug, und dann war's wohl meine Hasenangst vor Schmerzen!«

Sie sagte das wohl und war wieder heiter und geschäftig; aber ein paar Wochen später, da ich vormittags in meinem Zimmer bei der Impfliste saß, trat sie zu mir herein, blaß und mit verzagten Augen: »Ich muß doch wieder in meine Kissen«, sagte sie, »mir ist, als wenn mich Unheil treffen sollte«.

Ich brachte sie nach unserem Schlafzimmer; ich suchte den Grund der sich bald, wenn auch gelinde, einstellenden Schmerzen, aber es wollte mir nicht gleich gelingen. Sie atmete tief auf: »Es wird schon besser!« flüsterte sie, und nach einiger Zeit: »Geh nur hinunter an deine Arbeit; es ist vorbei, du kannst mich ruhig liegen lassen!«

Und so trieb sie mich fort, aber ich war unfähig, selbst zu der geringfügigen Arbeit, die vor mir lag; eine Furcht vor einem Schrecknis, das sich mir vor Augen stellte, hatte mich ergriffen; ich wanderte rastlos auf und ab. Da wurde an meine Tür gepocht, und ich rief laut »Herein!«, aber es war nur der Postbote, der Briefe und neue Bücher brachte, auch medizinische Zeitschriften, die von mir gehalten wurden, waren darunter. Ich warf die letzteren unangesehen in die große Schublade meines Schreibtisches, wohin sie sonst erst gelangten, nachdem ich das Wesentliche mir herausgelesen hatte.

Es trieb mich wieder hinauf zu meiner Frau. »Sind die Schmerzen wieder da, Elsi?« frug ich, denn an den Kissen sah ich, daß sie unruhig gelegen hatte.

»Ein wenig«, sagte sie; »aber ich fürchte mich noch nicht!«

Doch mir konnte diese Antwort nicht genügen, und wieder glitt die tastende Hand, nicht des Gatten, sondern des Arztes, über den schönen jugendlichen Körper. Plötzlich – es war das erste Mal in meinem Berufe – begann meiner Hand zu zittern, und Elsis große erschrockene Augen blitzten in die meinen: »Carcinoma!« sprach es in mir; es durchfuhr mich; wie kam das Entsetzliche zu meinem noch so jungen Weibe? Das Leiden galt derzeit in der Wissenschaft für absolut unheilbar; nach leis heranschleichenden, alles Menschliche überbietenden Qualen war stets der Tod das Ende. Ich kannte diese Krankheit sehr genau, und mit Schaudern gedachte ich des letzten grauenhaften Stadiums derselben.

Ich zog die Hand zurück; ich küßte mein armes Weib; dann suchte ich über Gleichgültiges mit ihr zu reden, aber sie lehnte schweigend den Ellenbogen auf den Rand des Bettes, den blassen Kopf in ihre Hand legend, und blickte durch das Zimmer wie ins Leere: »Ich kann's nur noch so schnell nicht fassen«, sagte sie, und die Worte kamen ihr fast tonlos von den Lippen; »so lang' ich von mir weiß, habe ich gelebt und immer nur gelebt – nur vielleicht im Schlaf nicht – – doch ja, auch im Schlaf. – Du weißt es wohl, Franz, du weißt ja so viel: sag mir, wie ist denn der Tod?« Sie hatte die Augen zu mir erhoben und sah mich unruhig fragend an.

»Möge er uns noch lange fern bleiben!« entgegnete ich, aber mir war die Kehle wie zugeschnürt.

»Du antwortest mir nicht, Franz!« sprach sie wieder.

– »Warum soll ich dir darauf antworten? Was soll der Tod zwischen uns?«

Sie blickte mich durchdringend an, als wollte sie das Innerste meiner Seele lesen: »Der will mich!« sagte sie; »und bekenn es nur, auch du glaubst, daß ich sterben werde. Ich hab es deinen Augen angesehen!«

Ein Stöhnen wollte sich mir entringen, und in mir sprach es: Sterben? Nur sterben? O, armes Weib, du ahnst nicht, was es dir kosten wird! Laut aber sprach ich: »Du bist krank, Elsi, und wir müssen um deine Gesundheit kämpfen!«

Sie wurde totenblaß: »Sag nur ›um dein Leben‹, Franz!«

»Das kannst du in meinen Augen nicht gelesen haben.« – Ich wußte wohl, daß ich sie täuschte; vielleicht hat sie's gefühlt. Sie sprach nicht mehr; sie ergriff meine Hand und ließ sich in die Kissen sinken.

– – Meine äußersten Befürchtungen erfüllten sich; die Schmerzen traten stärker auf, und ich sah mein Weib in Todesqual sich winden, als sie noch nicht die Hälfte ihrer Höhe erreicht hatten.

»Fürchte nicht, Hans«, unterbrach sich mein Freund, »daß ich Schritt für Schritt mit dir an diesem Leiden entlang gehen werde; ich will dich auch mit ärztlicher Weisheit nicht quälen: es war eine jener Abdominalkrankheiten, die so viele Frauen, wenn auch meist erst in späterem Alter, hinraffen, und bald war der Gipfelpunkt erreicht, wo auch die kühnste Hoffnung sinken mußte.

Wie mit versteinertem Hirn saß ich eines Nachts an ihrem Bett – die Nächte bin allzeit allein bei ihr gewesen – ein furchtbarer Schauer war eben wieder einmal vorüber, und wie eine welke Blume lag sie mir im Arm, an meiner Brust, blutlos, ohne alle Schwere des Lebens. Ich wußte, das Beste, was bevorstehen konnte, war ein möglichst balder Tod; ich frug mich: Wie ist es möglich, daß sie noch immer lebt? Wie ein Irrsinn flog es mich an: ›Ist etwas in ihr, das sie nicht sterben läßt?‹ Aber in mir, und fast höhnisch, sprach es: ›Du Tor, sie wird schon sterben können!‹ Ein entsetzliches Selbstgespräch, Hans; denn ich liebte sie ja so grenzenlos, so wahnsinnig, daß ich auch jetzt, trotz meines vielgerühmten Scharfsinns, nicht lassen konnte, sie immer wieder über das Menschliche hinauszuheben. Nein, nein, es geht zu Ende! sprach ich zu mir selbst; ich lebte in mir durch, was kommen mußte – zuletzt blieb nur die Totenstille und ein großes ödes Haus.


 << zurück weiter >>