Theodor Storm
Neun Novellen und Erzählungen
Theodor Storm

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Veronika

In der Mühle

Es war zu Anfang April, am Tage vor Palmsonntag. Die milden Strahlen der schon tiefstehenden Sonne beschienen das junge Grün an der Seite des Weges, der an einer Berglehne allmählich abwärtsführte. Auf demselben ging in diesem Augenblick einer der angesehensten Advokaten der Stadt, ein Mann mittleren Alters, mit ruhigen aber ausgeprägten Zügen, gemächlichen Schrittes, nur mitunter ein Wort mit dem neben ihm gehenden Schreiber wechselnd. Das Ziel ihrer Wanderung war eine unfern belegene Wassermühle, deren durch Alter und Krankheit geplagter Besitzer dieselbe seinem Sohne kontraktlich überlassen wollte.

Wenige Schritt zurück folgte diesen beiden ein anderes Paar; neben einem jungen Manne mit frischem, intelligentem Antlitz ging eine schöne, noch sehr jugendliche Frau. Er sprach zu ihr; aber sie schien es nicht zu hören; aus ihren dunkeln Augen blickte sie schweigend vor sich hin, als wisse sie nicht, daß jemand an ihrer Seite gehe.

Als das Gehöft des Müllers unten im Tale sichtbar wurde, wandte der Justizrat den Kopf zurück. »Nun, Vetter,« rief er, »du hast eine leidliche Handschrift; wie wär' es, wenn du ein wenig Kontraktemachen lerntest?«

Aber der Vetter winkte abwehrend mit der Hand. »Geht nur!« sagte er und blickte fragend auf seine Begleiterin, »ich nehme indes eine Sprechstunde bei deiner Frau!«

»So mach' ihn wenigstens nicht gar zu klug, Veronika!«

Die junge Frau neigte nur wie zustimmend den Kopf. – Hinter ihnen von den Türmen der Stadt kam das Abendläuten über die Gegend. Ihre Hand, mit der sie eben das schwarze Haar unter den weißen Seidenhut zurückgestrichen, glitt über die Brust hinab, und indem sie das Zeichen des Kreuzes machte, begann sie leise das Angelus zu sprechen. Die Blicke des jungen Mannes, der gleich seinem Verwandten einer protestantischen Familie angehörte, folgten mit einem Ausdrucke von Ungeduld der gleichmäßigen Bewegung ihrer Lippen.

Vor einigen Monaten war er als Architekt bei dem Neubau einer Kirche in die Stadt gekommen und seitdem ein fast täglicher Gast in dem Hause des Justizrats geworden. Mit der jungen Frau seines Vetters geriet er sogleich in lebhaften Verkehr; sowohl durch die Gemeinsamkeit der Jugend als durch seine Fertigkeit im Zeichnen, das auch von ihr mit Eifer und Geschick betrieben wurde. Nun hatte sie in ihm einen Freund und einen Lehrmeister zugleich gewonnen. Bald aber, wenn er des Abends neben ihr saß, war es nicht sowohl die vor ihr liegende Zeichnung als die kleine arbeitende Hand, auf der seine Augen ruhten; und sie, die sonst jeden Augenblick den Bleistift fortgeworfen hatte, zeichnete jetzt schweigend und gehorsam weiter, ohne aufzusehen, wie unter seinem Blick gefangen. Sie mochten endlich selbst kaum wissen, daß abends beim Gutenachtsagen ihre Hände immer ein wenig länger aneinanderruhten und ihre Finger ein wenig dichter sich umschlossen. Der Justizrat, dessen Gedanken meistens in seinen Geschäften waren, hatte noch weniger Arg daraus; er freute sich, daß seine Frau in ihren Lieblingsstudien Anregung und Teilnahme gefunden hatte, die er selbst ihr nicht zu gewähren vermochte. Nur einmal, als kurz zuvor der junge Architekt ihr Haus verlassen hatte, überraschte ihn der träumerische Ausdruck ihrer Augen. »Vroni,« sagte er, indem er die Vorübergehende an der Hand zurückhielt »es ist doch wahr, was deine Schwestern sagen.« – »Was denn, Franz?« – »Freilich,« sagte er, »jetzt seh' ich's selbst, daß du gefirmte Augen hast.« – Sie errötete und duldete es schweigend, als er sie näher an sich zog und küßte. – –

Heute bei dem schönen Wetter waren sie und Rudolf von dem Justizrat aufgefordert worden, ihn auf seinem Geschäftsgange nach der nahegelegenen Mühle zu begleiten.

Seit der gestrigen Gesellschaft, wo sie eine unter seinen Augen vollendete Zeichnung auf Bitten ihres Mannes vorgelegt hatte, war indessen zwischen ihnen nicht alles so, wie es gewesen. Rudolf fühlte das nur zu wohl; und er vergegenwärtigte es sich jetzt noch einmal, wie es denn gekommen, daß er dem zwar etwas übermäßigen Lobe der anderen mit so scharfem leidenschaftlichen Tadel entgegengetreten war.

Veronika hatte längst ihr Gebet beendet; aber er wartete vergebens, daß sie die Augen zu ihm wende.

»Sie grollen mir, Veronika!« sagte er endlich.

Die junge Frau nickte kaum merklich; aber ihre Lippen blieben fest geschlossen.

Er sah sie an. Der kleine Trotz lag immer noch auf ihrer Stirn. »Ich dächte,« sagte er, »Sie wüßten, wie es geschehen konnte! Oder wissen Sie es nicht, Veronika?«

»Ich weiß nur,« sagte sie, »daß Sie mir weh getan. – Und«, setzte sie hinzu, »daß Sie mir weh tun wollten.«

Er schwieg eine Weile. »Haben Sie denn,« fragte er zögernd, »das kluge Auge des alten Mannes nicht bemerkt, der Ihnen gegenüberstand?«

Sie wandte den Kopf und blickte flüchtig zu ihm auf.

»Ich mußte es selber tun, Veronika – verzeihen Sie mir! – Ich kann Sie nicht von anderen tadeln hören.«

Es zog sich wie ein Schleier über ihre Augen, und die langen schwarzen Wimpern senkten sich tief auf ihre Wangen; aber sie erwiderte nichts. – –

Kurz darauf hatten sie das Gehöft erreicht. Der Justizrat wurde von dem Sohn des Müllers in das Wohnhaus geführt; Veronika und Rudolf traten in den zur Seite liegenden Garten. Aber sie gingen schweigend auf dem langen Steige fort; es war fast, als zürnten sie miteinander, als würde ihnen der Atem schwer, wenn sie dennoch wie beiläufig ein einzelnes Wort zu reden suchten.

Als sie den Garten durchwandert hatten, gingen sie über einen schmalen Steg in die untere Tür des Mühlengebäudes, welches hier zu Ende desselben an einem stark fließenden Wasser lag. – Durch das Klappern des Werkes und das Getöse des stürzenden Wassers, welches jeden von außen kommenden Laut verschlang, herrschte eine seltsame Abgeschiedenheit in dem fast dämmerigen Raume. Veronika war gegenüber in die Tür getreten, die zu dem Gerinne hinausführte, und blickte unter sich in die tosenden Räder, auf denen das Wasser in der Abendsonne blitzte. Rudolf folgte ihr nicht; er stand drinnen neben dem großen Kammrade, die Augen düster und unablässig auf sie gerichtet. – Endlich wandte sie den Kopf. Sie sprach, er sah, wie ihre Lippen sich bewegten; aber er vernahm keine Worte.

»Ich verstehe nicht!« sagte er und schüttelte den Kopf.

Als er zu ihr gehen wollte, war sie schon in den inneren Raum zurückgetreten. Im Vorübergehen kam sie dem Rade, neben welchem er stand, so nahe, daß die Zacken fast ihr Haar berührten. Sie sah es nicht, denn sie war noch geblendet von der Abendsonne; aber sie fühlte ihre Hände ergriffen und sich rasch zur Seite gezogen. Als sie aufsah, blickten ihre Augen in die seinen. Sie schwiegen beide; ein plötzliches Vergessen fiel wie ein Schatten über sie. Zu ihren Häuptern tosten die Mühlwerke; von draußen klang das eintönige Rauschen des Wassers, das über die Räder in die Tiefe stürzte. – Allmählich aber begannen die Lippen des jungen Mannes sich zu regen, und unter dem Schutze des betäubenden Schalles, in dem der Laut seiner Stimme wesenlos verschwand, flüsterte er trunkene, betörende Worte. Ihr Ohr vernahm sie nicht, aber sie las ihren Sinn aus der Bewegung seines Mundes, aus der leidenschaftlichen Blässe seines Angesichts. Sie legte den Kopf zurück und schloß die Augen; nur ihr Mund lächelte und gab von ihrem Leben Kunde. So stand sie wie in Scham gebannt, das Antlitz hilflos ihm entgegenhaltend, die Hände wie vergessen in den seinen.

Da plötzlich hörte das Rauschen auf; die Mühle stand, sie hörten über sich den Mühlknappen gehen, und draußen von den Rädern fiel das abtropfende Wasser klingend in den Teich. Die Lippen des jungen Mannes verstummten; und als Veronika sich ihm entzog, versuchte er nicht, sie zurückzuhalten. Erst als sie aus der Tür ins Freie trat, schien er die Sprache wiedergefunden zu haben. Er rief ihren Namen und streckte die Arme bittend nach ihr aus. Aber sie schüttelte, ohne nach ihm umzusehen, den Kopf und ging langsam durch den Garten nach dem Wohnhause.

Als sie drinnen in die nur angelehnte Tür des Zimmers trat, sah sie gegenüber den alten Müller mit gefalteten Händen in seinem Bette liegen. Oberhalb desselben an der Wand war ein hölzernes Kruzifix befestigt, von dem ein Rosenkranz herabhing. Ein junges Weib, mit einem Kinde auf dem Arm, war eben herangetreten und neigte sich über das Deckbett. »Ihm fehlt nur die Luft,« sagte sie, »das Essen schmeckt ihm gut genug.«

»Welchen Arzt habt Ihr denn?« fragte der Justizrat, der mit einem Schriftstück in der Hand danebenstand.

»Arzt?« wiederholte sie. »Wir haben keinen Arzt.«

»Da tut Ihr unrecht!«

Das junge Weib stieß ein verlegenes Lachen aus. »Es ist die Altersschwäche,« sagte sie, indem sie ihrem dicken Jungen sein Näschen mit der Schürze putzte, »da hilft der Doktor nichts dazu.«

Veronika horchte atemlos auf diese Reden. – Der Alte begann zu husten und fuhr mit der Hand nach seinen Augen.

»Ist das so Euer Wille, Martin, wie es hier geschrieben steht?« fragte jetzt der Justizrat.

Aber der Kranke schien ihn nicht zu hören.

»Vater,« sagte das junge Weib, »ob das so richtig ist, wie es der Herr Justizrat vorgelesen hat?«

»Freilich,« sagte der Kranke, »es ist alles so richtig.«

»Und Ihr habt alles wohl bedacht?« fragte der Justizrat.

Der Alte nickte. »Ja, ja,« sagte er, »ich hab' es mir lassen sauer werden; aber der Junge darf doch nicht zu schwer zu sitzen kommen.«

Der Sohn, der bisher rauchend in der Ecke gesessen, mischte sich jetzt in das Gespräch. »Es kommt auch noch die Abnahme dazu,« sagte er und räusperte sich ein paarmal, »der Alte lebt noch sein artlich' Ende weg.«

Der Justizrat blickte mit seinen grauen Augen auf den vierschrötigen Bauer hinab. »Ist das Euer Sohn, Wiesmann?« fragte er, indem er auf einen neben dem Bett spielenden Jungen zeigte. – »So laßt ihn hinausgehen, wenn Ihr vielleicht noch mehr zu reden habt!«

Der Mensch schwieg; aber seine Augen begegneten mit einem fast drohenden Ausdruck denen des Justizrats.

Der Greis strich mir seiner harten Hand über das Deckbett und sagte ruhig: »Es wird nicht gar so lange, Jakob. – Aber,« setzte er, zum Justizrat gewandt, hinzu, »er muß mich dann nach Dorfsgebrauch zur Erde bringen lassen; das kostet auch.« – –

Die junge Dame verschwand lautlos, wie sie gekommen, aus der offenen Tür, in der sie während dieses Vorganges gestanden hatte.

Draußen sah sie Rudolf jenseits des Gartens im Gespräch mit dem Mühlknappen; aber sie wandte sich ab und ging einen Fußsteig entlang, der unterhalb der Mühle an den Bach hinabführte. Ihre Augen schweiften bewußtlos in die Ferne; sie sah es nicht, wie die Dämmerung vor ihr auf die Berge sank, noch wie allmählich, während sie hier auf und ab wandelte, der Mond hinter ihnen emporstieg und sein Licht über das stille Tal ergoß. Das Leben in seiner nackten Dürftigkeit stand vor ihr, wie sie es nie gesehen; ein endloser öder Weg, am Ende der Tod. Ihr war, als habe sie bis jetzt in Träumen gelebt, und als wandle sie nun in einer trostlosen Wirklichkeit, in der sie sich nicht zurechtzufinden wisse.

Es war schon spät, als die Stimme ihres Mannes sie auf das Gehöft zurückrief, wo sie an der Tür von ihm erwartet wurde. – Auf dem Heimwege ging sie schweigend neben ihm, ohne zu fühlen, wie seine Augen teilnehmend auf ihr ruhten. »Du bist erschreckt worden, Veronika!« sagte er und legte die Hand an ihre Wange; »aber,« fügte er hinzu, »das Maß der Dinge ist für diese Leute ein anderes; sie sind, wie gegen die Ihrigen, so auch härter gegen sich selbst.«

Sie sah einen Augenblick zu dem ruhigen Antlitz ihres Mannes auf; dann aber blickte sie zur Erde und ging demütig an seiner Seite.

Ebenso schweigsam folgte Rudolf neben dem alten Schreiber. Seine Augen hingen an der vom Mond beleuchteten Frauenhand, die noch vor kurzem so willenlos in der seinen gelegen und die er nun zur Gutenacht noch einmal, wenn auch auf einen Augenblick nur, zu umfassen hoffte. – Aber es wurde anders; denn, als sie in die Nähe der Stadt kamen, sah er die kleinen Hände, eine nach der anderen, in ein Paar dunkler Handschuhe gleiten, die, wie er wohl wußte, Veronika sonst nur der vollständigen Toilette wegen bei sich zu tragen pflegte.

Endlich hatten sie das Haus erreicht; und ehe er sich in dessen seinem Unmut recht bewußt wurde, empfand er schon die flüchtige Berührung der verhüllten Finger an den seinen. Mit einem vernehmlich gesprochenen »Gute Nacht!« hatte Veronika die Tür geöffnet und war, ihrem Manne voraus, im Dunkel des Flures verschwunden.

Palmsonntag

Der Vormittag des Palmsonntags war herangekommen. Die Straßen der Stadt wimmelten von Landleuten aus den benachbarten Dörfern. Im Sonnenschein vor den Türen der Läufer standen hier und da die Kinder der protestantischen Einwohner und blickten hinab nach dem offenen Tor der katholischen Kirche. Es war der Tag der großen Osterprozession. – Und jetzt läuteten die Glocken, und der Zug wurde unter der gotischen Torwölbung sichtbar und quoll auf die Gasse hinaus. Voran die Waisenknaben mit ihren schwarzen Kreuzchen in den Händen, nach ihnen die barmherzigen Schwestern in den weißen Schleierkappen, dann die verschiedenen städtischen Schulen und endlich der ganze unabsehbare Zug von Landleuten und Städtern, Männern und Weibern, von Kindern und Greisen; alle singend, betend, mit ihren besten Kleidern angeputzt, Männer und Knaben barhäuptig, die Mützen in den Händen haltend. Darüber her in gemessenen Zwischenräumen, auf den Schultern getragen, ragten die kolossalen Kirchenbilder: Christus am Ölberge, Christus von den Knechten verspottet, in der Mitte hoch über allen das ungeheure Kruzifix, zuletzt das heilige Grab.

Die Damen der Stadt pflegten sich an dieser öffentlichen Feierlichkeit nicht zu beteiligen. –

Veronika saß in ihrem Schlafgemach halb angekleidet an einem Toilettentischchen. Vor ihr lag aufgeschlagen ein kleines Testament in Goldschnitt, wie es die katholische Kirche ihren Angehörigen gestattet. Sie schien sich über dem Lesen vergessen zu haben; denn ihr langes schwarzes Haar hing aufgelöst über das weiße Nachtkleid herab, während ihre Hand mit dem Schildpattkamme müßig in ihrem Schoße lag.

Als das Getöse des nahenden Zuges ihr Ohr erreichte, hob sie den Kopf empor und lauschte. Immer deutlicher kam es heran, das dumpfe Geräusch der Schritte, das singende eintönige Murmeln der Gebete. – »Heilige Maria, Mutter der Gnaden!« erscholl es vor dem Fenster, und von hinten aus dem Zuge kam es gedämpft zurück: »Bitte für uns arme Sünder jetzund und in der Stunde des Todes!«

Veronika sprach die vertrauten Worte leise mit. Sie hatte den Stuhl zurückgeschoben; mit herabhängenden Armen stand sie in der Tiefe des Zimmers, die Augen unablässig nach dem Fenster gerichtet. – Immer neue Menschen kamen und gingen, immer neue Stimmen erschollen, ein Bild nach dem anderen wurde vorübergetragen. – Da plötzlich durchdrang ein herzerschütternder Ton die Luft. Das castrum doloris nahte sich, unter Posaunenschall, umdrängt von Menschen, gefolgt von den Meßdienern und den vornehmsten Priestern in feierlichem Ornate. Die Bänder flatterten, der schwarze Flor des Thronhimmels flutete in der Luft; darunter in einem Blumengarten lag das Totenbild des Gekreuzigten. Der eherne Schall der Posaunen war wie ein Ruf zum Tage des Gerichts.

Veronika stand noch immer unbeweglich; ihre Knie bebten, unter den scharfgezogenen schwarzen Brauen lagen die Augen wie erloschen in dem blassen Antlitz.

Als der Zug vorüber war, sank sie neben dem Stuhl, worauf sie zuvor gesessen hatte, zu Boden, und mit beiden Händen ihr Gesicht bedeckend, rief sie mit den Worten im Lukas: »Vater, ich habe an dem Himmel gesündigt und bin nicht wert, dein Kind genannt zu werden!«

Im Beichtstuhl

Der Justizrat gehörte zu der immer größer werdenden Gemeinde, welche in dem Auftreten des Christentums nicht sowohl ein Wunder als vielmehr nur ein natürliches Ergebnis aus der geistigen Entwickelung der Menschheit zu erblicken vermag. Er selbst ging deshalb in keine Kirche; seine Frau jedoch ließ er, vielleicht in Erwartung einer allmählichen selbständigen Befreiung, in der Gewöhnung ihrer Jugend und ihres elterlichen Hauses gewähren.

Seit ihrer vor zwei Jahren erfolgten Verheiratung war Veronika indessen nur in der jetzt wiederbegonnenen österlichen Zeit zur Beichte und zum Abendmahl gegangen. Er kannte es dann schon an ihr, daß sie in den Tagen zuvor still und scheinbar teilnahmlos im Hause umherging; es war ihm daher auch nicht aufgefallen, daß die zuvor so eifrig betriebenen Zeichenstunden seit jenem abendlichen Spaziergange aufgehört hatten. Aber die Zeit verstrich, die Maisonne strahlte schon warm ins Zimmer, und Veronika verschob noch immer ihren Beichtgang. Es konnte ihm endlich nicht mehr entgehen, daß ihre Wangen von Tag zu Tag mehr erblaßten, daß unter ihren Augen leichte Schatten sichtbar wurden, welche schlaflose Nächte dort zurückgelassen.

So fand er sie eines Morgens, da er unbemerkt in das Schlafzimmer getreten war, in sich versunken an dem Fenster stehen.

»Vroni,« sagte er und legte den Arm um sie. »Willst du nicht sorgen, daß das Köpfchen wieder aufrecht werde?«

Sie schrak zusammen, als habe er die unbewachten Gedanken in ihr ertappt. Aber sie suchte sich zu fassen. »Geh nur, Franz!« sagte sie, indem sie seine Hand ergriff und ihn sanft zur Stubentür zurückführte.

Dann, nachdem er sie allein gelassen, kleidete sie sich an und verließ bald darauf mit dem Gebetbuch in der Hand das Haus.

Nach einer Weile trat sie in die Lambertuskirche. Der Vormittag war indes herangekommen. Vor den Fenstern des mächtigen Raumes schatteten die jetzt schon belaubten Zweige der draußenstehenden Lindenbäume; nur im Chor auf die Türen des Reliquienschrankes fiel ein gebrochener Sonnenstrahl durch die bunten Glasscheiben. In den Stühlen im Schiff der Kirche saßen oder knieten hier und da noch einzelne vor den aufgeschlagenen Gebetbüchern, sich vorbereitend auf das abzulegende Bekenntnis. Nichts war vernehmlich als das Flüstern in den Beichtstühlen, mitunter ein tiefes Atemholen, das Rauschen eines Kleides oder ein leiser Schritt über die Fliesen des Fußbodens. – Bald kniete auch Veronika in einem der Beichtstühle, unweit des Bildes der Gebenedeiten, das mitleidig lächelnd auf sie herabblickte. Ihre ganz schwarze Kleidung machte heute die durchsichtige Blässe ihres Angesichts noch bemerklicher. Der Geistliche, ein kräftiger Mann in mittleren Jahren, lehnte von drinnen den Kopf gegen das Gitter; das ihn von seinem Beichtkinde trennte.

Veronika begann halblaut die Worte der Einleitungsformel: »Ich armer sündiger Mensch!«, und mit unsicherer Stimme fuhr sie fort: »bekenne vor Gott und Euch Priester an Gottes Statt!« – – Aber ihre Worte wurden immer langsamer, immer unverständlicher; zuletzt verstummte sie.

Das dunkle Auge des Priesters war ruhig und fast mit einem Ausdruck von Ermüdung auf sie gerichtet; denn die Beichte hatte schon stundenlang gedauert. »Bekehret Euch zu dem Herrn!« sprach er milde. »Die Sünde tötet; aber die Buße machet lebendig.«

Sie suchte ihre Gedanken zu sammeln. Und wieder vor ihrem inneren Ohr, wie so oft seit jener Stunde, war das Tosen der Mühle; und wieder stand sie vor ihm in der heimlichen Dämmerung, ihre Hände gefangen in den seinen, im Drang des übermächtigen Gefühls die Augen schließend, in Scham gebannt, nicht wagend zu entfliehen, noch weniger zu bleiben. – Ihre Lippen bewegten sich; aber sie brachte es nicht hervor, sie mühte sich vergebens.

Der Priester schwieg eine Weile. »Mut, meine Tochter!« sagte er dann, indem er das Haupt mit dem vollen, schwarzen Haar emporhob. »Gedenken Sie der Worte des Herrn: ›Nehmet hin den heiligen Geist; denen ihr die Sünden erlasset, denen sollen sie vergeben sein!‹«

Sie blickte auf. Das gerötete Antlitz, der kräftige Stiernacken des Mannes im Priesterornate war dicht vor ihren Augen. Sie begann noch einmal; aber ein unüberwindliches Sträuben überkam sie, eine Scheu wie vor unkeuschem Beginnen, schlimmer als was zu bekennen sie hierhergekommen. – Sie erschrak. War, was sich jetzt in ihr empörte, nicht eine Lockung der Todsünde, von der sie sich befreien wollte? – Sie neigte in stummem Kampf ihr Haupt auf das vor ihr liegende Gebetbuch.

Aus dem Antlitz des Geistlichen war indessen der Ausdruck von Abspannung verschwunden. Er begann zu sprechen, ernst und eindringlich und bald mit allem Zauber der Überredung; leis, aber klangvoll drang der Ton seiner Stimme in ihre Ohren. Zu jeder anderen Stunde wäre sie hingerissen in den Staub gesunken; aber diesmal war das neu erwachte Gefühl stärker als alle Macht der Rede und alle Gewöhnung ihrer Jugend. – Ihre Hand nestelte an dem Schleier, der auf ihren Hut zurückgeschlagen war. »Verzeihung, Hochwürden!« stammelte sie. Dann, während sie stumm das Haupt schüttelte, zog sie den Schleier herab, und ohne das Zeichen des Kreuzes empfangen zu haben, stand sie auf und ging mit eiligen Schritten den Steig entlang. Ihre Kleider rauschten an den Kirchenstühlen; sie nahm sie zusammen; ihr war, als griffe alles nach ihr, um sie hier zurückzuhalten.

Draußen unter dem hohen Portale blieb sie tief aufatmend stehen. Ihr war schwer zu Sinne; sie hatte die rettende Hand, von der sie seit ihrer Jugend geführt worden war, zurückgestoßen; sie wußte keine, die sie jetzt ergreifen konnte. Da, während sie noch unentschlossen auf dem sonnigen Platze stand, hörte sie neben sich eine Kinderstimme, und eine kleine braune Hand hielt ihr feilbietend einen vollen Primelstrauß entgegen. – Es war ja Frühling draußen in der Welt! Als hätte sie es nicht gewußt; wie eine Botschaft kam es an ihr Herz.

Sie bückte sich nach dem Kinde und kaufte ihm seine Blumen ab; dann, mit dem Strauß in der Hand, ging sie die Straße hinunter, dem Tore zu. Der Sonnenschein lag so hell auf den Steinen; aus dem offenen Fenster eines Hauses drang der laute Schlag eines Kanarienvogels. – Langsam fortgehend erreichte sie die letzten Häuser. Von hier aus führte seitwärts ein Fußsteig nach dem Höhenzuge, der nach dieser Richtung hin das Stadtgebiet begrenzte. Veronika atmete freier; ihre Augen ruhten auf dem Grün der Saatfelder, die neben dem Wege hinliefen; mitunter regte sich die Luft und brachte den sanften Duft der Schlüsselblumen, die drüben an dem Fuß des Berges standen. Weiterhin, wo an der Grenze der Felder der Nadelwald begann, erhob der Weg sich steiler, und es bedurfte der körperlichen Anstrengung, obgleich Veronika des Bergsteigens von Jugend an gewohnt war. Sie hielt mitunter inne und blickte aus dem Schatten der Fichten in das sonnige Tal hinab, das immer tiefer unter ihr versank.

Als sie die Höhe erreicht hatte, setzte sie sich auf den Boden in den wilden Thymian, der hier den ganzen Berg besponnen hatte; und während sie die würzige Luft des Waldes atmete, schweifte ihr Blick nach dem blauen Gebirg hinüber, das wie ein Duft am Horizonte lag. Hinter ihr, in kleinen Pausen, fuhr der Frühlingswind durch die Wipfel der Tannen, dann und wann schallte ein Amselschlag aus der Tiefe des Waldes oder über ihr aus der Luft herab der Schrei eines Raubvogels, der unsichtbar in dem unermessenen Raume schwebte.

Veronika nahm ihren Hut ab und stützte den Kopf in ihre Hand.

So in Einsamkeit und Stille verging eine Spanne Zeit. Nichts nahte sich als nur die reinen Lüfte, die ihre Stirn berührten, und der Ruf der Kreaturen, der aus der Ferne an ihr Ohr schlug. – Zuweilen flog ein helles Rot über ihre Wangen, und ihre Augen wurden groß und glänzend.

Nun klangen Glockentöne von der Stadt herauf. Sie hob den Kopf und horchte. Es läutete schrill und hastig, »Requiescat!« sprach sie leise; denn sie hatte die kleine Glocke vom Lambertusturm erkannt, die es über die Gemeinde ausrief, daß unter eines ihrer Dächer der finstere Bote des Herrn getreten sei.

Am Fuße des Berges lag der Kirchhof. – Sie sah das Steinkreuz auf dem Grabe ihres Vaters ragen, der vor Jahresfrist unter den Gebeten des Priesters in ihren Armen entschlafen war. Und weiterhin, dort wo das Wasser glitzerte, war jenes wüste Fleckchen Erde, das sie als Kind so oft mit scheuer Neugierde betreten hatte, wo nach dem Gebot der Kirche neben denen, die sich selbst den Tod gegeben hatten, auch die begraben wurden, welche nicht gekommen waren, das Sakrament des Altars zu empfangen. Dort war auch ihre Stätte jetzt, denn die Zeit der österlichen Beichte war zu Ende.

Ein schmerzlicher Zug stahl sich um ihren Mund, aber er verschwand wieder. Sie richtete sich auf; ein Entschluß stand fest und klar in ihrer Seele.

Noch eine Weile blickte sie auf die Stadt hinab und ließ ihre Augen wie suchend über die sonnenbeschienenen Dächer wandern. Dann wandte sie sich und ging durch die Tannen, wie sie gekommen, den Berg hinab. Bald war sie wieder unten zwischen dem Grün der Saatfelder. Sie schien zu eilen; aber sie ging aufrecht und mit festen Schritten.

So erreichte sie ihr Haus. – Von der Magd erfuhr sie, daß ihr Mann in seinem Zimmer sei. Als sie die Tür geöffnet und ihn so ruhig an seinem Schreibtische sitzen sah, blieb sie zögernd auf der Schwelle stehen. »Franz!« rief sie leise.

Er legte die Feder hin. »Du, Vroni?« sagte er, sich zu ihr wendend. »Du kommst ja spät! War das Register denn so lang?«

»Scherze nicht!« sagte sie bittend, indem sie zu ihm trat und seine Hand ergriff. »Ich habe nicht gebeichtet.«

Er blickte verwundert zu ihr auf; sie aber kniete vor ihm nieder und drückte ihren Mund auf seine Hand. »Franz,« sagte sie, »ich habe dich gekränkt!«

»Mich, Veronika?« fragte er und nahm ihre Wangen sanft zwischen seine Hände.

Sie nickte und sah mit dem Ausdruck der tiefsten Bekümmernis zu ihm auf.

»Und jetzt bist du gekommen, deinem Mann zu beichten?«

»Nein, Franz,« erwiderte sie, »nicht beichten; aber vertrauen will ich dir – dir allein; und du – hilf mir und, wenn du es vermagst, verzeihe mir!«

Eine Weile sah er sie mit seinen ernsten Augen an; dann hob er sie mit beiden Armen auf und legte sie an seine Brust. »So sprich, Veronika!«

Sie regte sich nicht; aber ihr Mund begann zu sprechen; und während seine Augen an ihren Lippen hingen, fühlte sie es, wie seine Arme immer fester sie umschlossen.



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