Otto Stoessl
Sonjas letzter Name
Otto Stoessl

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Der dritte und der vierte, richtige Name

Als Roszkowski, in seiner neuen siebenbürgischen Garnison einquartiert, für Sonjas Aufnahme, Ausstattung, Schuldentilgung und Weiteres Geld benötigte, verlangte er von mir Auskunft über die verwalteten Beträge und die Zusendung eines Teiles der anvertrauten Summe.

Ich legte ihm Rechnung über jeden Heller und es ergab sich ein recht ansehnlicher Zinsgewinn. Er antwortete darauf, die Buchungen stimmten ihm nicht genau, es fehle ihm ein Posten von ungefähr zehn Gulden, worüber er ungesäumt Aufklärung erbitte. In dieser Zumutung, die zwar völlig seiner Natur entsprach, aber für mich doch peinlich war, mußte ich eine Art undankbaren und übelangebrachten Mißtrauens erblicken, brachte das Beanstandete mit allen Belegen, jeden Zweifel ausschließend ins Reine, machte 240 sein ganzes Guthaben flüssig und sandte es ihm kurzer Hand mit ein paar Zeilen ein, ich habe ihm die Gelder schon lange genug verwaltet und bitte ihn, mich der unangenehmen Sorge um ihre Verwertung in Gnaden zu entheben.

Bei meiner unwillkürlichen Mißlaune war mit diesem Brief unsere alte Freundschaft leise verstummt und der Verkehr zumindest vorläufig unterbrochen. Er antwortete nicht mehr, und so mochte sein und seines Mündels Schicksal sich in Hinkunft ohne meine weitere Mitwirkung abspielen.

Aber es ist ein alter Irrtum des Menschen, zu glauben, sie könnten irgendeine Beziehung, die sie einmal angeknüpft, willkürlich lösen und mit Leuten und Verhältnissen nach Belieben aufräumen. Nicht bloß im Gedächtnisse, auch in den tatsächlichen Zuständen des Daseins bleibt alles, womit man sich je befaßt, unfehlbar eingeschlossen, wie in einer ehernen Kammer, und alle Bande lösen sich erst mit dem Tode. Denn die Einleitung der merkwürdigen Verkettungen von verschiedenen Personen, Schicksalen, Zuständen scheint wohl zufällig und eigenmächtig, ihr Fortgang aber folgt unentrinnbarem Zwange, und dies macht eben die rätselhafte Lage des Menschen im Leben aus, der 241 niemals sich selbst allein gehört, sondern irgendwie mit zarten oder straffen, sanften oder einschneidenden und schmerzlichen Fäden an die Gesamtheit gebunden, sich ihrem Anspruch, mag er sich dessen noch so klug erwehren, in einzelnen vertrauten oder feindlichen Gestalten immer wieder gegenüber findet.

So hatte auch ich im Laufe zweier Jahre den Oberleutnant und sein Mündel längst vergessen und nur zuweilen mit einer rasch abgeschüttelten Frage des wunderlichen Paares gedacht, als ich wieder einmal unversehens eine Postkarte aus Wien vorfand, auf welcher nur die Worte standen: »Herzlichen Gruß von Sofia Kobierska, das ist die Sonja!« Sie hatte also schon wieder einen Namen, den dritten, wenn ich alle wußte und war damit in Wien. Nun, es ging ihr sicherlich gut, weil sie von sich hören ließ, denn in schlechten Zeiten verkroch sie sich, aber im Glück hatte sie das Bedürfnis, sich mitzuteilen und ihre Freude bei Licht besehen zu lassen.

Nun würde sie sich wohl auch bald zeigen.

In der Tat kam sie eines Tages in meine Wohnung gestürzt, elegant angezogen wie eine Dame, mit einer hochgehenden Beredsamkeit von fünfundzwanzig Worten in der Sekunde, umarmte meine Frau, fiel 242 auch mir nebenbei um den Hals, weinte, lachte, schrie, sprang, warf sich auf die Erde, schüttelte sich und ließ sich nach ihrer Art von uns beiden mühsam aufheben und auf einen Stuhl setzen!

»Da bin ich wieder. Meine lieben guten Eltern sind . . .«

»Ei was, Eltern hast du auch?«

»Ja, freilich, mein Vater . . .«

»Dein Vater? Ist er denn aus dem Jenseits aufgestanden, der brave gottselige Leiser Weinrausch?«

»Aber Dieter, du bist immer noch der alte Narr, ich meine doch den Kobierski.«

»Wer ist denn das?«

»Nun mein Vater. Du weißt doch, der Starost, bei dem ich vor Jahren untergebracht war. Und meine liebe Mutter . . .«

»Das ist nun wohl die Frau des Herrn Starosten?«

»Gewiß, sie ist so gut zu mir.«

Ich war völlig verwirrt vom Sturm dieser unerwarteten zärtlichen Familienverhältnisse. Sie schienen mir zwar mit den bisherigen Begebenheiten immerhin in einem Widerspruche zu stehen, ich durfte ihn aber bei Sonjas erprobter Wandlungsfähigkeit keineswegs für unerklärlich halten.

243 »Also liebes Kind, setze dich endlich ruhig nieder, da hast du einen kleinen Schnaps, trink und stärke dich, überlege die Dinge einmal ordentlich und erzähle dann deutlicher, was du sagen willst, damit man auch verstehen kann, was man dir glauben muß.«

»Du wirst Augen machen, Dieter, warte nur, bis du meinen Bräutigam kennen lernst. Die Sonja ist nämlich verlobt. Gelt, da schaust du, das hättest du nicht von mir geglaubt!«

Ich richtete mich ehrfurchtsvoll auf und meine Frau leuchtete vor Neugier, jetzt wurde die Sache großartig, denn wenn eine einen Bräutigam hat, ist sie auch dem besten Frauenzimmer gleich doppelt verdächtig.

Bei ihrer Ungeduld und hilflosen Ausdrucksweise, die tausend unbekannte Dinge voraussetzte, um das tausendunderste klar zu machen, berichtete sie recht verwickelt die Geschichte ihrer jüngsten Vergangenheit, die ich hier nach bestem Vermögen etwas umständlicher ins Klare bringen muß, soweit dies eben bei solchen Wirrsalen möglich.

Mit heiler Haut den Wiener Übelständen entronnen, war sie in der wohlvertrauten Gestalt eines liebenswerten Offiziersmündels und edlen Polenkindes in die siebenbürgische Stadt gelangt, wo sie durch 244 Roszkowskis Bemühungen und interessante Erzählungen in das Haus seines Regimentskommandanten, eines braven Obersten Eingang fand. Freilich hatte sie in diesem neuen Heim manche Schwierigkeiten zu bestehen, bis sie schließlich auch hier wieder ausgeschieden wurde, denn die Seßhaftigkeit in fremden Familien war ihr nun einmal versagt. Aber vorläufig, durch ihre Erfahrungen gewitzigt und herabgestimmt, schmiegte sie sich mit all ihrer kindlichen Anpassungsfähigkeit in die neuen Verhältnisse bei den neuen Wohltätern. Diesen Ehrennamen verdiente eigentlich nur der Oberst um sie, der ein mitleidiges Herz und ein freundliches Gemüt hatte und schon darum gerne, wo er nur konnte, etwas Liebes erwies, weil er auf diese Art doch auch ab und zu einem Strahl von Heiterkeit, von heller Dankbarkeit und fröhlicher Zuneigung begegnete, den er bei seiner trübseligen Familie leider entbehren mußte. Obgleich wohlhabend und ohne Geldsorgen, fand er zu Hause kein munteres Dasein. Seine Frau und seine beiden Töchter waren nämlich von einer grausamen Natur durchaus mißmutig und dumpf gemacht worden. Und da sie innerlich kein Licht besaßen, erhellte sie auch kein Licht von außen, sei es von heiteren Menschen, sei es von einem schönen Tage der schönen Welt.

245 Die Gattin mit ihrem bräunlichen Vogelgesicht und einer Habichtsnase schien mit dieser, wie mit ihrem ganzen spitzigen, boshaften Verstande und eiskalten Herzen auf jeden Menschen, der ihre Beute wurde, loszuhacken, ohne eigentlich ein besonderes Ziel zu haben, es sei denn, daß sie in zwecklosem Ehrgeiz ihrem Manne sowohl eine außerordentliche Stellung wünschte, als in gewohnter Verachtung ihn wieder jeder solchen Würde für durchaus unfähig hielt. Sie hatte nur eine Tugend, und die geriet ihr und ihren Mitmenschen erst wieder zu beständig neuem Verdruß und Kummer und Enttäuschung: die Mutterliebe. Ihre zwei Töchter waren nämlich so beschaffen, daß sie nur von dieser Mutter geliebt werden konnten, während alle anderen Menschen ihnen in respektvoller Scheu fern blieben. Eben diese Einsamkeit ließ die bereits ziemlich hoch in den Jahren stehenden Frauenzimmer mit einer Art von gefühlloser Zähigkeit zusammenhalten, wie zwei saure Kirschen an einem Stengel. Jahrelang hatten sie vergeblich auf allen geselligen Festen, inmitten der Offiziere und heiteren Damen die jungen Mädchen gespielt, immer von heißer Erwartung voll, dabei äußerlich streng und herb gefaßt, wie es ihrer Gemütsart und der Vornehmheit entsprach, 246 die sie als ihre höchste Pflicht betrachteten. Aber wie gerne hätten sie sich begehren, verführen, erstürmen lassen, doch niemand machte einen Versuch dazu, man behandelte sie mit Achtung, befaßte sich mit ihnen aber nur so viel, wie es die Pflicht den Töchtern des Kommandanten gegenüber gebot und führte sie bei den Bällen nach den genau abgemessenen Touren höflich wieder zur lauernden Mutter zurück. In solchen Jahren vergeblichen Harrens wachsen Enttäuschung und Verdruß mächtig an wie eine harte Kruste und das menschliche Herz sitzt endlich wie ein Stein in dem unbegehrten Busen. Mit knapper Not fand die ältere schließlich doch noch einen bejahrten Hauptmann als Freier, der mangels jeder Begabung im Dienste schwer vorwärtskam und jetzt seine Laufbahn durch eine Ehe mit der Tochter seines Chefs zu beschleunigen hoffte. Das gab nun einen kühlen, sauersüßen Brautstand, der auch nur eben den äußerlichen Formen, leider nicht dem tieferen Begehren entsprach. Die jüngere Tochter aber spähte, von der Gefahr gänzlicher Vereinsamung bedroht, umso ärger und zäher nach einer angemessenen Verlobung für sich selbst.

In diesen Kreis geriet nun Sonja. Bei solchen Leuten hatte sie doppelt Mühe, nicht als der 247 ungebärdige Sauerteig der Gesellschaft auseinandertreibend zu wirken, der sie mit ihrer Heftigkeit und leidenschaftlichen Ungebundenheit immer war und blieb. Der Oberst hatte sie wegen ihrer heiteren Zwanglosigkeit gar bald in sein Herz geschlossen, bedurfte aber seiner ganzen väterlichen Autorität und Gattenwürde, um diese respektlose Schelmin in der eisigen Würde seiner Wirtschaft zu erhalten. Die Frau und die Töchter duldeten sie nur gerade und dies vielleicht just wegen Sonjas harmloser Ungezogenheit, an welcher sie des Maßes und der Zucht des eigenen Wesens in jedem Augenblick mit einer Art von innerer Zufriedenheit bewußt werden durften. Sie benützten Sonja sozusagen als lebendiges Vergleichsobjekt, indem sich ihr eitler Stolz gleichsam an Sonjas unschuldiger Unbändigkeit, wie an einer Kletterstange zur vollen Höhe der Verachtung und Selbstgenügsamkeit emporschwang, von wo sie zugleich triumphierend und hohnvoll auf die ganze Welt herabsahen.

Daß bei diesen Klettereien Sonja alle Krallen weidlich zu spüren bekam, ließ sich eben nur ertragen, weil sie aus einer bösen Zeit geflüchtet, dies kümmerliche Obdach nicht verscherzen wollte, vergleichsweise sogar schätzte, und weil sie Zeit ihres Lebens eben gewöhnt 248 worden war, sich fremden Menschen zu fügen. Ihr einziger Trost blieb die unverlierbare Zuversicht, einmal doch auf einen grünen Zweig zu kommen.

Am schwierigsten aber war es, die Musik dieser Gesellschaft gutwillig zu ertragen. Sonja war nämlich bei all ihrer vielseitigen Ausbildung so unmusikalisch wie eine Katze. Die Erinnerung an das schöne Klavier bei dem Freiherrn von Bézincourt, an die Lektionen, die sie damals in schauerlicher Glückseligkeit genossen hatte, war bis auf das furchterweckende Bild einer Reihe weißer und schwarzer Zähne eines tönenden Ungeheuers ausgelöscht, wurde aber jetzt auf das bitterste lebendig, denn diese Töchter des Obersten waren, es ist unglaublich zu sagen, äußerst musikalisch.

Man sollte meinen, diese Kunst verschließe sich harten, gefühlsarmen und seelisch leeren Menschen als die eigentliche Äußerung des innigsten Gemütes. Gar oft aber bietet ihre eigentümliche Inbrunst den gottverlassensten Wesen eine beständig neue Gier erregende, unfruchtbare Nahrung. So war die Musik auch hier die einzige wahre Leidenschaft der beiden Töchter des Hauses. Den ganzen Tag hallte und schallte es in der öden, sauberen, mit zwecklosen, bunten, widerwärtigen Handarbeiten ausstaffierten Wohnung von 249 rauschenden Tönen. Skalen wogten auf und nieder, Fingerübungen turnten atembeklemmend in die Höhe und Tiefe, um großartigen Tonstücken zu weichen. Eine Tochter exerzierte am Vormittag und machte der anderen am Nachmittag Platz, bis sich beide am Abend zu vierhändiger Klavierlust vereinigten. Die Mutter aber saß dabei auf dem Sofa und lauschte voll Stolz und Andacht.

Diese Folter mußte Sonja geduldig ertragen. Der Oberst selbst war daran gewöhnt und so abgehärtet, daß er den Lärm gar nicht mehr zu hören schien, es sei denn, daß ihn eine der Töchter besonders darauf aufmerksam machte, sein Lieblingsstück komme jetzt an die Reihe. Man zog auch immer neue Gelegenheiten zu ausgedehnten musikalischen Darbietungen so recht bei den Haaren herbei. Da galt es, jeden Geburtstag durch ein neu einstudiertes Werk zu feiern, jeden Sonntag durch eine passende Musik, gibt es doch leider für jeden Tag neue Herrlichkeiten der Tonkunst, die sich an Zahl, Vielfältigkeit und Auswahl nicht spotten läßt. Kam ein Gast, so mußte er sich anstandshalber den Genuß einer Sonate oder Ouvertüre erbitten, unterließ er's, so wurde das Gespräch so lange um die Musik gedreht, bis es endlich auf die einzig schickliche Art 250 dadurch abgeschlossen werden konnte, daß sich die beiden Töchter gefällig an den Flügel setzten und eine Symphonie oder auch zwei, vierhändig exekutierten. Sonjas eingeborener Lärm wurde durch diesen harmonischen äußeren recht niedergedrückt.

Es war nur ein Glück, daß sie zuweilen diesem rauschenden Käfig entfliehen durfte, denn als vornehmes Polenkind genoß sie doch einige Freiheit. Ja, die Frau Oberst spielte die bedeutende Herkunft ihres Schützlings vor sich und der Welt als einzige Rechtfertigung dafür aus, daß sie diese kleine Person überhaupt aufgenommen hatte und duldete.

In der kleinen Stadt genoß Sonja als junge Dame, welche das reiche Leben, die Saisonereignisse, Moden, Gesellschaften Wiens mitgemacht und die bezauberndsten Erfahrungen der großen Welt aufgenommen hatte, das beste Ansehen. Ihr heiteres Wesen, ihre gewinnende Zwanglosigkeit machten sie allgemein beliebt.

Roszkowski führte einen, wie immer zwischen äußerster Sparsamkeit und dem Anschein vornehmer Lebensführung geteilten Junggesellenhaushalt, gab gelegentlich auch hier seine kleinen Festmahle, zu welchen er Sonja vom Obersten als Repräsentantin ausbat. In solchen Fällen machte sie in gewohnter Weise die 251 Hausfrau, bereitete mit Antipas ihre großartigen polnischen Speisen aus fünfzig Nichtigkeiten mit fünfundvierzig Zutaten, schnöder österreichischer Champagner wurde mit irgendwo errafften echten französischen Etiketten versehen und als Perle der Veuve Clicquot aufgetischt, die Teller und Bestecke nach jedem Gang in der Küche eilig gewaschen und neu hereingebracht, zum Schlusse der berühmte »Fromage de Kanczuga« herumgereicht. Und wenn die Gäste am nächsten Tage sich ängstlich fühlten, konnten sie es nur der ungewohnten Kostbarkeit der Gerichte zuschreiben, keineswegs ahnen, daß sie es den wohlfeilsten, aber schwer verdaulichen Bestandteilen der mannigfaltigen Mahlzeit zu verdanken hatten.

Sogar der Divisionär, dessen legendäre, in der ganzen Armee bekannte Großmut Roszkowski in Wien zur Wahl dieser Garnison bewogen hatte, wohnte solchen Gastereien leutselig bei, was für den Oberleutnant immer einen wertvollen Spesenbeitrag zu den Kosten der Feste bedeutete. Denn das großartige Trinkgeld von fünf Gulden, welches der leutselige Mann beim Weggehen dem aufwartenden Antipas in die Hand steckte, wurde diesem verabredeterweise und auf Grund eines mündlichen Vertrages bis auf einen Gulden abgenommen. Wozu braucht auch ein dummer Bauer, der ohnedies seinen Lohn und anständige Behandlung hat und mit allem versorgt ist, eine so ungebührliche Summe, die ihn als unmoralischer Gewinn nur von der strengen Pflicht der Arbeit ablenken könnte!

Die vornehme Gesellschaft der Stadt zog natürlich den lebensgewandten Offizier und Sonja mit der Familie des Regimentskommandanten allen Festlichkeiten, Bällen und Konzerten bei.

Wie in Wien wurden auch in dem schönen fremden Gebirgslande allerhand Ausflüge gemacht mit ebenso strengen, sinn- und geistreichen Problemen vom militärischen Gesichtspunkte.

Und wie seinerzeit ich als Wegweiser mitgezogen war, hatte sich dort ein junger, ernster und strenger Offizier, ein Kamerad Roszkowskis, der wie dieser die eitle und nichtige Gesellschaft der Spieler und Trinker mied, dem Paare zugesellt.

Sie bestiegen einmal einen hohen Berg ohne richtige touristische Ausrüstung, in Uniform, mit leichten Schuhen und geringem Mundvorrat, verirrten sich, mußten im Freien nächtigen, konnten zuerst den richtigen Aufstieg nicht finden und kletterten an Felsen 253 empor, wobei sie sich mit den Säbeln mühselig einen Weg durch das Gestrüpp hieben.

Sonja marschierte tapfer und lustig mit, und als es Abend wurde, merkte man ihr freilich die Erschöpfung an, denn sie ging mit halb geschlossenen Augen wie im Schlafe weiter, fiel bei jedem zehnten Schritte nieder, wies aber empört jede Hilfe des neuen Freundes, des Oberleutnants Heiner, zurück und überwand wie immer die Mühsal.

Dieses tüchtige Benehmen, der ganze abenteuerliche Reiz, der von dem jungen Mädchen ausging, wirkten auf den jungen Offizier nachhaltig ein und er suchte unwillkürlich ihre Gesellschaft, wobei sie die üblichen schüchternen Komplimente, mit denen er sich hervortraute, heiter zurückwies. Im Verkehr mit den Frauen wird selbst der strengste und ehrlichste Mann zum Kinde und wagt die alten ewigen Versuche der naiven Werbung und Huldigung. So brachte er ihr Blumen, sie roch daran, natürlich errötend und gab sich dem angenehmen Gefühl hin, wieder einmal beschenkt und verehrt zu werden, was im allgemeinen von jedem weiblichen Geschöpfe gewürdigt wird, im besonderen aber von Sonja, die derlei schon lange nicht gespürt. Doch bedachte sie gleich, daß sich der arme junge Mann, 254 der wie Roszkowski überaus sparsam von seinem Gehalte leben mußte, durch solche Ausgaben in Unkosten stürze, weshalb sie ihm mit einer ernsten, mütterlichen Miene, die vollends sein Entzücken erregte, zusprach, er möge doch solche teure und zwecklose Gaben unterlassen, da ihr sein guter Wille für alle derartigen Taten gelte und hiermit von Herzen bedankt sei. Roszkowski beobachtete die zarte, beiden Leuten kaum bewußte Neigung, welche hier im stillen aufkeimte, mit ruhigen Augen und voll Zurückhaltung, denn bei all seiner sonstigen Selbstsucht und unbarmherzigen Energie betrachtete er die Geliebte, die er sich herangezogen hatte, wie ein Gärtner seine merkwürdige Pflanze, doch keineswegs als sein Eigentum und seine Sache, sondern eben, da er sie liebte, bei aller Vertrautheit doch wieder als ein köstliches Ding der Anbetung, das ihm nicht selbstverständlich, sondern wunderbar schien. Obgleich, oder gerade weil er sie zu dem Wesen gemacht hatte, das sie nun war, schien sie ihm in ihrer Art durchaus einzig, seinen Händen entwachsen, ein Werk seines Geistes, seines Herzens, in freier Vollendung vor ihm zu wandeln, wie sein leibhaftiger Gedanke. Gleich einem Schöpfer sann er, halb eifersüchtig in Liebe, halb erstaunt ehrfürchtig und geradezu 255 väterlich ihrer Zukunft und ihrem Glücke nach, das nun wohl ebensowenig allein in seinen Händen lag, wie das Schicksal eines Werkes in denen seines Urhebers. Dem Sinn und Verstand, den schaffenden Kräften entstiegen, geht es unbekümmert mit der undankbarsten Gelassenheit und Sicherheit seiner Wege mitten unter die Menschen. An ihnen will es seine ganze Macht erproben, an ihnen wird es seiner Tugenden inne, von ihnen bestimmt, aufgenommen, heimgesucht, sieht es sich erhoben oder gekränkt, bis es stirbt oder zu der Höhe aufsteigt, fern seinem Schöpfer, der ihm nicht ohne Staunen und mit bestürzter Befremdung nachblicken muß.

Von jeher hatte er indessen mit Sicherheit Sonjas Gedeihen vor Augen gesehen. Es war fern von ihm, irgendwie mit plumper Hand in ihre Bestimmung einzugreifen, vielmehr hatte er sie allen Zufällen und Gefahren der Selbständigkeit absichtlich überlassen, eben um ihrer eigentlichen Zukunft gleichsam den Weg freizugeben.

Aber seien wir vorsichtig! Im Menschen ist Höchstes und Niedriges wunderbar ineinandergewirkt. Auch Ernsts Selbstsucht, sein Trieb, sich in Freiheit und ungebundener Willkür nach seiner Weise zu behaupten, 256 spielte ohne Zweifel mit, wenn er seine Eigenliebe und Eifersucht unterdrückte, als er das leise Morgendämmern dieser beginnenden Neigung gewahr wurde. Lange genug hatte er die schöne, aber immerhin schwere Bürde dieses fremden Schicksals getragen. Sie mochte ihn zuzeiten drücken und irgendwie hatte er immer mit dem Gedanken gescherzt, ein König möchte Sonja krönen, sei es auch nur morganatisch und dabei für ihn einen guten Dank wissen, daß er dieses Kleinod bisher beschützt, oder ein Millionär möchte sie an Kindesstatt annehmen, oder ein reicher Edelmann sie heiraten. Denn schließlich, er hatte viel, er hatte genug getan für ein Kind, das der Zufall, nicht seine Wahl ihm zugeführt. Es gibt Stunden für einen Mann, der die Unendlichkeit des Lebens begierig vor sich sieht, wo er mehr die Qual der Fesseln, als deren Glück, mehr die Not der zärtlichen Abhängigkeit, als deren Lust empfindet und wieder einmal allein, frei, aufrecht seiner Wege gehen, aufatmend ohne Zwang, sich mutvoll ins neue schönere Dasein stürzen will, das er wieder einmal mit seinen zwei einsamen Augen schauen möchte.

Im Winter wurden sie von einem reichen rumänischen Bojaren auf seine Besitzung eingeladen, wo die beiden Offiziere und Sonja bis in das späte 257 Frühjahr als willkommene Gäste geehrt blieben. Es gab Bärenjagden, tolle Ritte, vornehme Gelage, an welchen die rumänischen Damen in reichem Schmuck teilnahmen. Sonja hatte Mühe, hier ihre gute Erziehung zu bewähren, denn die Umgangssprache war französisch, aber sie half sich immerhin so ziemlich aus den Verlegenheiten und wenn sie wirklich irgendeine Ungeschicklichkeit beging, ein Glas umwarf, in der Heiterkeit aufschrie wie ein Ferkelchen und sich im Stuhl zurückwarf, daß sie das Gleichgewicht verlor und lachend auf dem Boden sitzen blieb, bis Ernst sie mit strafendem Blick aufhob, und was dergleichen Zwanglosigkeiten mehr waren, so wurde alles dies nachsichtig als ein Reiz mehr bewundert. Obgleich sicherlich nach den allgemeinen Begriffen nicht schön, ja vielleicht nicht einmal hübsch zu nennen, galt sie doch bei den Herren als bezaubernd, bei den Damen als merkwürdig, und am Ende darf ein junges Geschöpf, das den Männern gefällt, sich vieles erlauben, denn der Erfolg entscheidet und die böse Gesinnung der Zurückgesetzten wagt sich nur insgeheim mit einem leichten Achselzucken oder einem spöttischen Blick und fragenden Lächeln hervor. Sonjas Sieg war unbestritten, und die Fürstin Isopescul, die tonangebende Dame der Gesellschaft, 258 erklärte sie als »beauté du diable«. Das war die Formel für ihr Wesen, mit der die Anbeter ihre Bewunderung, die Neider ihre Mißgunst begründen konnten.

Hier kam auch die Seide der Wiener Hofgalawagen wieder zu Ehren, denn Sonja trug ein herrliches Courkleid. Dort, wo der Stoff von den Knöpfen der Kissen etwas verletzt und brüchig, seine Herkunft zu verraten drohte, malten die beiden Freunde mit vereinten Kräften zartfarbige Blüten hin, ein Kunstwerk vieler Tage für ein Fest, wo Sonja in einem Gewande erschien, das den leibhaftigen Frühling darstellte, indem auf rosigem Grunde leichte blaue Blumen und zarte grüne Blättchen und Ranken hingestreut erschienen, was als die äußerste Pariser Modezier die gebührende Bewunderung fand. Daß sie keinen Schmuck trug, galt als die auserlesene Einfachheit des vornehmsten Geschmackes. Auf diesem Feste – sie sollte nach längerem Aufenthalte wieder mit ihren Beschützern nach der siebenbürgischen Stadt zurückkehren – faßte sich der Oberleutnant Heiner ein Herz und beschloß, Sonja seine Liebe zu entdecken.

In einer Pause, als sie recht erhitzt vom Eifer des Tanzes und vor junger Munterkeit glühend in einer Fensterecke stand, erklärte er sich und sagte gleich, er 259 fürchte, vielleicht ältere Rechte seines Freundes zu verletzen, wenn er sie um ihre Hand bitte. Sollte dies der Fall sein, so möchte sie es ihm unumwunden gestehen, dann wolle er schweigen, verzichten und seinen Kummer zu vergessen suchen, indem er sich in irgendeinem fernen Winkel verberge, wo nicht, dann liege sein Glück bei ihrer Gnade.

Da trat nun wieder das Schicksal mit einer drängenden Entscheidung in einem Augenblicke vor, als sie sich dessen wahrlich nicht versah, denn Sonja hatte sich über den angenehmen neuen Freund wenig Gedanken gemacht; gerne hatte sie sich seine stillen und bescheidenen Huldigungen gefallen lassen, war ihm auch recht günstig zugetan gewesen, aber daß es nun dreist an ihr Herz ging, kam doch überraschend genug und daß er gar sogleich ihre Hand begehrte, verwirrte sie vollends. Bei aller selbstverständlichen Unbescheidenheit, mit der sie das Leben beim Schopfe zu nehmen gewohnt war, hatte sie sich doch nur selten soweit vorgewagt, zu wünschen, daß sie geheiratet werde. Das war eine Zukunft, zu welcher ihr Vergangenheit und Gegenwart doch allzuwenig Rechte gewährten: Hätte sich Roszkowski endlich dazu entschlossen, so wäre ihr das nicht gar zu verwunderlich erschienen, denn im 260 Grunde beherrschte sie diesen freiesten Mann und wußte um ihre Macht ihm gegenüber. Auch irgendeines reichen Bojaren oder Kaufmannes Werbung hätte sie sich wohl zurechtgelegt, denn einen solchen Gatten einzusaugen, hatte ihr Ernst schon oft, halb scherzhaft, halb bestimmt zugeredet. Nun aber erschien ein junger Offizier, ein ernsthafter, gescheiter, närrisch verliebter Mensch als Freier, dem sie keine Laune war, der man nachjagte, die man ergriff und wieder wegwarf, sondern ein ersehnter Lebensgewinn.

Daß er ihr gefiel und daß eine solche Gelegenheit nicht so bald wiederkehrte, wußte sie gar wohl. Wie war es aber mit ihrem Beschützer und älteren Freunde? Sie sah ihn an der anderen Ecke des Saales allein vor einer Karte stehen, in der er zu studieren schien, während die übrigen ringsum, alte und junge, tanzten und fröhlich waren. Zum erstenmal betrachtete sie ihn mit fremden, aufrichtigen Blicken, wie er, etwas vornübergebeugt, dastand, sie sah ihn von rückwärts, sein blonder Kopf war leicht geneigt, zum erstenmal bemerkte sie, daß sein Haar im Scheitel gelichtet, eine beginnende kahle Stelle zeigte. Unwillkürlich wandte auch Heiner sich nach ihm um und ein paar Sekunden vergingen, ohne daß beide ein Wort sprachen.

261 Ein leichter zarter Schleier von Traurigkeit senkte sich über Sonjas Augen und sie erblickte nun einen anderen in ihrem bisherigen Beschützer, wie in jenem Zauberspiele, wo die Jugend ihren Günstling verläßt und das Alter ihm seine Hände auf das Haupt legt, so daß er mit einem Schlage verwandelt dasteht.

Sie sah in Ernst plötzlich nicht mehr den Geliebten, sondern den treuen Freund und Beschirmer, der ihr Vater und Mutter ersetzt hatte, und Tränen traten in ihre Augen.

Schließlich flüsterte sie, wie das schüchternste, sittsamste junge Mädchen: »Sprechen Sie mit ihm.«

Gehorsam ergriff Heiner ihren Arm, und um nicht aufzufallen, traten sie zur Quadrille an, bei der Ernst mit einer anderen Dame ihr Gegenüber war. Und indes sie sich gemessen in den strengen, gezirkelten Touren einherbewegten, trug Heiner, so oft er neben Roszkowski zu stehen kam, seine Werbung vor, immer wieder unterbrochen, immer wieder an die Seite der fremden Tänzerin gebracht, dann neuerlich das entscheidende Gespräch aufnehmend, hier Sonja tröstend und zärtlich ihre Hand drückend, dort den Kameraden eindringlich fragend.

Roszkowski hörte Heiner freundlich an und sagte 262 ihm schließlich, da sei noch anderes und mehr als er glaube, zu besprechen, er bitte, ihm bei der Heimreise Gehör zu schenken.

Das Fest endigte fröhlich. Noch eine Nacht schlief Sonja im fremden Schlosse, am nächsten Morgen traten sie die Rückfahrt an.

Der ganze Schwarm der Gäste begleitete sie zur Freitreppe, vor der sie zwei scharrende Rappen, an einen Kutschierwagen gespannt, die ziemlich lange Straße zur nächsten Bahnstation zu führen harrten. Ein elegantes, selbstgefertigtes weißes Frühjahrskostüm mit fußfreiem Rock ließ Sonja zugleich kindlich und üppig erscheinen, ihre achtzehn Jahre konnten, wenn sie wie ein kleines Mädchen tollte, getrost vergessen werden, als sei sie eben erst aus der Schule gekommen, auf dem schwarzen üppigen Haare saß keck die Konfederatka, die eigentümliche polnische Mütze, die sie aus den übrigen, fremden, modischen Rumäninnen hervorhob. Ein Liebhaberphotograph nahm sie in der stolzen Stellung auf, wie sie von der Treppe mit einem leichten Neigen des halb rückgewandten Kopfes zu den Gastfreunden emporgrüßte, während die beiden Offiziere unten auf sie warteten. Sie zeigte mir später das wohlgelungene Bild, als die Verewigung eines 263 Lebenshöhepunktes, wo sie inmitten einer vornehmen Welt als der hellste Stern leuchtete und verschwand.

Nach ein paar Stunden lag die Herrlichkeit hinter ihrem Rücken und vor ihr die Bahnstation. Sie besetzten gemeinschaftlich ein Coupé, und als sie zu dritt still beisammensaßen, kam Heiner auf seine Werbung zurück.

Sonja sah Ernst fragend an, dieser schien bekümmert, doch nicht unwillig, er sagte ihr: »Du wirst müde sein, leg dich nieder und ruhe aus, wir wollen auf den Gang hinausgehen und ein wenig rauchen.«

Damit verließen sie die beiden, Sonja nahm die krönende Konfederatka ab, streckte sich gehorsam auf der Bank aus und lag stundenlang in Angst und Sorgen mit offenen Augen. War dies eine Zeit, zu schlafen und zu ruhen, indessen die beiden draußen vielleicht um ihretwillen Todfeinde wurden!

Auf dem Gange des Waggons standen Ernst und Heiner und rauchten, Ernst erzählte, Heiner hörte zu und fragte und vernahm Zug um Zug die Geschichte seiner Erwählten. Roszkowski verschwieg und beschönigte nichts, ersparte sich und dem Kameraden keine einzige, noch so verschämte Wahrheit, keinen listenreichen Betrug, kein fragwürdiges Auskunftsmittel, er enthüllte ihm sein Verhältnis zu Sonja, die eigene Schwäche und die eigene Kraft, alle Sorgfalt und Leidenschaft, alles.

Am Ziele ihrer Fahrt angelangt, sagte er dem ganz still und nachdenklich gewordenen Freunde: »So, jetzt weißt du alles, nun geh nach Hause und überlege dir die Sache, ich stehe Euch beiden nicht im Wege. Ich habe alles aufrichtig einbekannt, weil ich es für meine Pflicht halte, dich über gar nichts im Unklaren zu lassen. Sie ist ein Kind, wenn irgendwer an allem, was geschehen ist, eine Schuld trägt und wenn hier von einer Schuld gesprochen werden darf, so habe ich sie begangen, aber ich glaube, sie verantworten zu können, trotz allem. Wie immer du über die Sache denkst, das eine bitte ich mir aus, daß du Sonja niemals etwas Böses merken läßt und sie gering anschaust, das verdient sie nicht, denn sie ist tausendmal besser, als wir beide. Jetzt mache dich fort, damit sie dich heute nicht mehr sehen muß. Ich begleite sie nach Hause.«

Heiner gehorchte und ging fort, ohne sich von Sonja zu verabschieden. Diese blickte Roszkowski, der gelassen ins Abteil trat und ihr aussteigen half, dann den Arm bot, um sie ins Haus des Obersten zu führen, fragend 265 an. Er erwiderte ihren Blick still und klar, ohne weiter ein Wort zu sprechen.

Stumm wanderten sie das kurze Stück Weges und stumm schüttelten sie einander die Hände, als sie vor dem Hause des Obersten standen, und Roszkowski ging ruhig fort. Sie sah ihm eine Weile ratlos nach, bis er bei der nächsten Straßenecke einbog und verschwand. Dann stieg sie langsam die Treppe hinauf.

Nun vergingen drei Tage, ohne daß Heiner etwas von sich hören ließ. Man mag sich vorstellen, in welcher Angst Sonja diese Tage hinbrachte, mit welchen Gefühlen sie vor jedem Klingelzuge erschrak, oder wenn die Türe ging. Aber keine Botschaft traf ein. Wie schwer empfand sie die Rückkehr ins öde Haus des Obersten, der über ihre ungewohnte Stille und Traurigkeit verdrießlich den Kopf schüttelte, als fehle ihm etwas; er blickte umher und suchte die abhanden gekommene Freude in allen Winkeln und schnitt ein grimmiges Gesicht, wenn er anstatt der vermißten Heiterkeit die strengen Züge seiner Ehefrau oder die verbissenen seiner beiden Töchter gewahrte, oder statt eines lieblichen Gelächters – der Frohsinn der Jugend ist immer die allerschönste Melodie – irgendein vierhändiges Scherzo zu hören bekam. Es war, als 266 wollte man den Hunger eines armen Teufels nach freundlicher irdischer Nahrung durch den großmütig dargebotenen Anblick eines recht saftigen Stillebens mit gemalten Eßwürdigkeiten der schönsten Art stillen.

In diesen Tagen glaubte Sonja vollends zu erfrieren. So oft der Oberst sie durch irgend einen Scherz aufzumuntern suchte, blickte sie, was doch sonst nicht ihre Art war, ganz erstaunt und stumm und als er sagte: »Mir scheint, Sie haben Ihr Herz bei den Bojaren verloren,« konnte sie nur erröten, seufzen und nein sagen.

In dieser Zeit der enttäuschten Erwartung und zitternden Hoffnung fühlte sie, und vielleicht zum erstenmal seit ihrer lang versunkenen Kindheit, den mächtigsten, ruhelosen, klagenden sehnsuchtsvollen Schlag des Herzens. Solange Heiner still um sie geworben, hatte nur ihre Eitelkeit sich in der behaglichen Wärme der fremden Neigung gestreckt und wohlig gedehnt, als er seine Liebe gestand, hatte sie vergnügt von diesem Reiche neuer Erfüllungen Besitz genommen, aber jetzt, da sich Heiner vielleicht für immer zurückzog, wußte sie erst, wie völlig sie selbst von diesem Gefühle beherrscht war und daß die ganze, eben erst erschlossene Welt wie mit einem Schlage verhüllt und 267 entzogen sei. Das trostlose Grau ihres abenteuerlichen und im Grunde ziellosen Daseins überwältigte all ihre Zuversicht, sie sah sich ganz allein und was sollte sie mit sich beginnen! Jetzt wußte sie erst, daß sie diesen Mann über alles liebte, der ihr von der Vorsehung, wie immer die endliche Rettung aus aller Not, zuguterletzt entgegengesandt worden. Unsägliche Dankbarkeit, mit einer tollen Sehnsucht verbunden, benahm sie so ganz, daß ihr Wunsch nach diesem Glücke, das ihr erschienen war und sich nun vielleicht auf Nimmerwiedersehen verbarg, jede Fiber ihres Körpers spannte, der Wunsch saß in ihren Fingerspitzen, in ihren Haaren, klang in ihren Ohren, lebte an jeder Stelle ihrer Haut, er zuckte in ihrem Munde, glühte auf ihren Wangen, sie wollte und wollte glücklich sein. Und zugleich empfand sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Unwert, litt unter der Unbilligkeit ihres Wunsches, hielt sich vor, was sie verschuldet, sah deutlich all ihr vergangenes Geschick als grausamsten Zeugen vor sich, der wider sie aussagte und den Geliebten von ihr entfernte. Und doch hatte alles geschehen müssen, sie hatte Zeit ihres Lebens doch nichts getan, als was der Augenblick von ihr verlangt. Und nun sollte sie dafür so bitter gestraft werden! In der höchsten Not war sie 268 immer obenauf geblieben und hatte gewußt: mir ist die Sonne bestimmt, nicht der Schatten. Aber jetzt war sie zum erstenmal in der wirklichen Sonne gewesen und sollte in den Schatten zurück! Sie fror bei dem Gedanken. Und Heiner konnte zögern, an dem ganzen Schatz ihrer unverbrauchten, riesenkräftigen Liebe zweifeln! Freilich, was hatte sie ihm auch zeigen können, ein munteres Gesicht, einen törichten Witz, einen lächerlichen Einfall ihrer kindischen Laune? Was wußte er von ihrer Liebe? Sie hatte ihn zu Ernst geschickt, wie zu einem Vater! Aber was wußte auch der von ihrer Liebe, was konnte Ernst von ihr sagen, von eines Weibes Gefühl und von allen den wartenden Gaben ihrer Empfindung. Wie albern war sie doch, einen Menschen, den sie liebte, an einen anderen und sei es an den Besten zu weisen! Nun mußte Heiner unkundig mit sich allein zu Rate gehen. Was Wunder, daß er zweifelte! War sie nicht alt genug, endlich ihr Schicksal selber zu führen zum guten oder schlimmen Ende, nach ihrem eigenen Willen? War sie dem Geliebten und sich selbst nicht die Wahrheit ihres Gefühles schuldig, ihm Rede zu stehen: Da bin ich, so bin ich, das und das habe ich getan, aber ich liebe dich! Er mußte ihr ins Gesicht das Urteil sprechen. Es konnte 269 nicht sein, daß er sie verwarf, hätte sie denn einen so törichten Menschen lieben können? Drei Tage ging sie in dieser Not des Herzens umher. Sie hoffte: Mein Wille wird stark genug sein, ihn über allen Abgrund zu mir zu ziehen. Sie fürchtete: Er ist allein und wird an mir verzweifeln, weil ich schwieg.

Am vierten Tage machte sie sich auf und ging zu Heiner. Sie pochte an seine Tür; als er ihr auftat, lachte sie verlegen mit ihrer heiseren, beklommenen Stimme, er aber lächelte und dies schien ihr über alle Maßen hold, wie ein aus Wolken erlöster blauer Himmel. Und nun wußte sie sich gerettet, sie warf sich an seinen Hals und er sagte mit einer leisen, ernsten Feierlichkeit, die sie erbeben machte, er habe es in dieser Stunde, ehe sie kam, beschlossen, er wolle ohne sie nicht leben.

So waren ihre Gefühle in diesen drei bösen Tagen einander auf unsichtbarer Brücke über den Abgrund entgegengewandelt und umschlossen sich nun auf immer.

Sonja sagte: »Aber ich bin zuerst gekommen.«

Und nun gingen sie miteinander zu Ernst, um sich als Verlobte vorzustellen, denn es gab manches zu beraten, doch was galten alle Schwierigkeiten und 270 Sorgen bei der endlichen Sicherheit ihrer Liebe und den vereinigten Kräften ihres glücklichen Willens! Sie glaubten nicht mit schweren Sohlen auf der schmutzigen Erde, sondern mit geflügelten Schritten durch die strahlenden Gefilde zu eilen, wie Götter, die selbst die Sterne aus dem Gefüge des Himmels wie Blumen pflücken können nach ihren Gelüsten. Aber der Rauch und Dunst erhob sich auch um diese Brautleute, der bekannte lästerliche Provinzlärm wirbelte auf und sie konnten sich der unbegehrten Teilnahme um so weniger entziehen, als die Standesgesetze der Offiziere eine Art von Ehrenprüfung jedes Verlöbnisses gebieten, das den versammelten Regimentskameraden angekündigt werden muß. Erst ohne Einwand angehört und aufgenommen, gilt es und besteht zu Recht. Freilich ist auch das nur eine Form, welche durch die bei erwachsenen Ehrenmännern übliche und selbstverständliche Duldsamkeit ihre Strenge einzubüßen pflegt, indem selten einer den Beruf fühlt, sich um die Ehe seines Nächsten zu kümmern und ihn gern nach seinem Wunsche selig werden läßt. Aber die Ehre des Standes verlangt immerhin, daß keine Unwürdige sich in den auserwählten Kreis stehle. Doch Sonja und Ernst, ihr väterlicher Beschützer, müßten nicht die ewigen 271 Abenteurer und Ausnahmen von jeder Regel gewesen sein, wären ihnen nicht auch hier unerwartete Schwierigkeiten begegnet.

Wie konnten die bittere Frau Oberst und ihre Töchter der kleinen hergelaufenen Person ein so unverdientes Glück gönnen, hatte sich doch die jüngere, freilich ohne sein Wissen, auf Heiner Hoffnungen gemacht und sollte nun, zum wievielten Male, zusehen, wie eine andere, Unwürdige, ihr einen guten Mann wegnahm. Da sammelte sich denn alle Kraft ihres beleidigten Gemütes zu einer werktätigen Handlung gegen die Glückliche. Allerhand wahre und falsche Nachrichten über deren dunkles Vorleben wurden in den Brennspiegel dieses unerbittlichen Neides gefangen und strahlten daraus in aller Pracht der Sünde und schmählichen Hoffart wieder.

Roszkowski und Heiner hatten Sonja den spitzen Reden und Anspielungen der feindseligen Weiber längst entzogen und sie nach abgestattetem Dank für die genossene Gastfreundschaft aus dem Hause des Zornes entfernt. Sie quartierten sie bei einer freundlichen alten Dame ein. Aber so leicht entkam Sonja nicht dem einmal erwachten Grimm, hatte sie doch als Gast in des Obersten Hause der Tochter ihres Wohltäters einen 272 Freier abwendig gemacht. Wieder einmal hatte man eine Schlange am Busen genährt. Die drei erzürnten Damen fanden mit ihren Lästerungen, Nachreden, Erfindungen über Sonjas dunkles Vorleben bei dem geraden und rechtschaffenen Hausherrn, dem Obersten, kein Gehör, der sich derlei verbat und Ruhe haben wollte, aber desto mehr bei dem Bräutigam der älteren Schwester, dem Hauptmann, einem beschränkten und eingebildeten Tropf, der wie alle niedrig gesinnten, ohnedies von jedem Nebenmenschen nur die eigene Erbärmlichkeit voraussetzte. Dem lagen sie nun mit ihrem Zorn und Eifer in den Ohren, eine solche Person dürfe nicht in den reinen Kreis der Auserwählten treten und die Ehre des Regiments gefährden. Er müsse sich mit seiner ganzen Kraft einsetzen, dieses Ärgste zu verhüten. Welche Gelegenheit, sich wichtig und als Retter des Standes zu fühlen! Er verschwor sich mit ihnen und die dunkle Unternehmung wurde besiegelt, indem die beiden Frauenzimmer schmetternd die »Aufforderung zum Tanze« klappern ließen. Beim Liebesmahl der Offiziere, welches recht vergnügt und heiter verlaufen war, erhob sich am Schluß der Oberst und sagte mit seiner herzlichen Liebenswürdigkeit, noch eine Kleinigkeit sei zu erledigen, Herr Oberleutnant Heiner 273 habe seine Verlobung mit dem Fräulein Sophie, Eleonora, Charlotte Podchmielska angemeldet, er glaube im Namen aller Anwesenden vorschlagen zu dürfen, daß das Regiment die Anzeige glückwünschend zur Kenntnis nehme.

Alle stimmten mit freundlichem Zuruf bei, als der Hauptmann, der ganz unten am Ende der Tafel saß, sich erhob und mit ernstem Gesichte stammelte: Da sei doch immerhin einiges zu bedenken und aufzuklären, es seien allerhand Gerüchte im Umlauf, man spreche dies und jenes. Der Oberst unterbrach den unliebsamen Redner nicht ohne Zorn, er habe ihm nicht das Wort erteilt, ihn nicht gefragt, doch war es bei der eingetretenen peinlichen Stille nicht mehr möglich, die Sache aufs harmlose Gleis zu schieben, die Ehre einer Dame war in Frage gestellt worden, alle hatten es gehört, die Angelegenheit mußte ausgetragen werden, natürlich ritterlich, nicht etwa durch einen Beweis von Sonjas tadelloser Lauterkeit, sondern durch das unmögliche Gottesurteil der Waffen. Roszkowski, als der Vormund und Beschützer der Waise, war ihr einziger berechtigter Vertreter und sandte dem Beleidiger unverzüglich »zwei Unangenehme«, wie man die Sekundanten zu nennen pflegt, welche 274 ein Duell unter den schwersten Bedingungen verabredeten.

Schon am nächsten Tage wurde im Kasernenhofe gefochten und es gelang Roszkowski, dem Gegner ein paar recht gefährliche Wunden beizubringen, wodurch Sonjas Ehre hergestellt und der Hauptmann dauernd abgeführt war, so daß nunmehr das Verlöbnis rein und ohne Makel dastand.

Sonja ging gerade mit ihrem Verlobten auf dem Hauptplatze spazieren und freute sich dieses Sieges, als ihr die Braut des Verwundeten, die eben von seinem Lager kam, begegnete. Doppelt erregt durch die schmähliche Niederlage ihrer bösen Pläne und durch den gefährlichen Zustand ihres Verlobten, den sie am Ende auch noch verlor, konnte sie den Anblick des verhaßten fremden Glückes nicht ertragen und stürzte auf Sonja mit erhobenen Armen los, schrie sie voll Zorn an und belegte sie mit den gemeinsten Schimpfworten: »Soldatenliebchen«, »Offiziersdirne« und dergleichen anderen ausgewählten Ausdrücken, die ihr wohl im stillen längst geläufig waren. Nur mit Mühe gelang es dem besonnenen Heiner, seine Braut vor tätlichen Angriffen der halbwahnsinnigen Feindin zu beschützen und in Sicherheit zu bringen.

275 Als Sonja dieses Erlebnis schluchzend ihrem Beschützer erzählte, frohlockte Ernst: »Du wirst glänzend gerächt werden. Dich hat sie um den Mann bringen wollen und nun wird sie selber ihren Hauptmann nicht heiraten können. Das schwör ich dir zu. Sei getrost!«

Da diese Beleidigung nicht von einem Manne ausgegangen war, konnte sie auch auf dem Waffenwege nicht gesühnt werden, es sei denn, daß man den Vater der Dame vor den Säbel gerufen hätte, den Obersten. Doch dies verbot sich, weil der Brave Ernsts Vorgesetzter war.

Er brachte also gegen die Dame die Klage beim ordentlichen Richter ein wegen Ehrenbeleidigung. Dem Prozesse sah er mit heiterer Ruhe entgegen. Doch ließ ihn der friedfertige Oberst ganz demütig durch einen Vermittler ausholen, ob sich denn die leidige Angelegenheit, welche er selbst aufs bitterste beklage, nicht irgendwie anständig ordnen und aus der Welt schaffen lasse, woran doch wohl allen Beteiligten gelegen sein müsse.

Ehrfurchtsvoll stimmte Roszkowski zu, nichts könne ihm erwünschter sein, namentlich um sich seinem geliebten und ehrwürdigen Kommandanten, dem er zu 276 Dank verpflichtet sei, in allen Stücken gehorsam zu erweisen.

Kurz, so schwer es der armen Beleidigerin, der empörten Mutter, der gekränkten Schwester, dem verlegenen alten Vater fiel: als an einem Abende, der die ganze ehrengestrenge Gesellschaft der Provinzstadt bei einem Promenadekonzerte vereinigte, Sonja inmitten ihrer Beschützer, weithin sichtbar, auf einem Ehrenplatze saß, trat die Tochter des Obersten vor sie und trug, merklich blaß, eine Entschuldigung mit ziemlich lauter Stimme vor, deren grausamer Text von den Beteiligten vorher genau verabredet worden war. Darauf erhob sich Sonja in vorgeschriebener Rührung von ihrem Stuhle und breitete die Arme aus, in welche sich die Gedemütigte auf einen Augenblick ergab. Sie küßten sich unter bitteren und süßen Tränen dreimal auf die rechte, dreimal auf die linke Wange, oder sie rieben vielmehr die Wangen dreimal auf jeder Seite aneinander vorbei, indem die eine dachte: Du verruchter Teufelsbraten, und die andere: Dir hab ich aber den Spaß versalzen!

Und daraufhin wurde die Klage zurückgezogen. Aber die Folge dieser Begebenheiten war die notwendige Auflösung aller bisherigen Verhältnisse, Roszkowski 277 konnte in dieser Garnison nicht weiter dienen und kam um seine Versetzung ein. Heiner erhielt einen sechsmonatigen Urlaub zur Regelung seiner privaten Angelegenheiten, der mühsam geheilte Hauptmann aber mußte ehrenhalber von dem Verlöbnis mit der so öffentlich gedemütigten Tochter des Obersten zurücktreten. Somit war alles in schönster Ordnung.

Diese Ordnung herrschte jedoch nur vor der Welt, welche Mühe und Verworrenheit verursachte sie aber den Beteiligten! Besonders Ernst und das jungverlobte Paar sahen sich in einem ganzen Urwald von Schwierigkeiten, aus jedem Beginnen, jedem täglichen Zustand, jedem Gespräch und gar aus jeder auf die endgültige Fassung ihrer bürgerlichen Verhältnisse gerichteten Absicht, streckten sich ihnen drohende Arme, giftige Schlinggewächse von Fragen entgegen, zischten sie Schlangen von böser Nachrede an. Bei jedem Schritt zagten sie vor einer neuen Fußangel oder vor einer Löwengrube. Wäre nicht Ernst mit Gleichmut, eisernem Willen und hoher Verachtung der gemeinen Welt bis an die Zähne bewaffnet gewesen, zu allem fähig, aber auch allem gewachsen, so daß er wie ein Pfadfinder der freien, vorurteilslosen Gesittung durch das urweltliche Dickicht der bürgerlichen, durch den Sumpf der 278 Standesmoral aufrechten Hauptes voranschritt, die beiden Schützlinge wären längst verzweifelt den äußersten Entschlüssen rettungslos zum Opfer gefallen. Doch Ernst erwog immer neue Pläne und machte immer neue Unmöglichkeiten möglich.

Da drohten vor allem zwei Todesgefahren.

Die Verlobung konnte Sonja noch als Eleonora, Charlotte, Sofie Podchmielska schließen, aber die Ehe? Nach dieser peinlichen Affäre waren die genauesten Ausweispapiere der Braut zur Vorprüfung des Ansuchens um Eheschließung durch den Offiziersehrenrat ganz unentbehrlich. Was sollte Roszkowski vorzeigen? Nicht einmal ein ordnungsliebender Priester hätte sie auf Grund der Bescheinigung des weiland Domherrn zu Breslau, daß sie zwar katholisch geboren und getauft, aber durch einen Brand an der Vorbringung echter Geburts- und Taufpapiere behindert sei, trauen und in die Eheregister eintragen dürfen, um wieviel weniger konnte diese Bescheinigung einer genauen Ehrenprüfung gewissenhafter und strenger Standesgenossen genügen! Auch seine Bestellung als Vormund, die er damals bei dem Starosten erwirkt hatte, war jetzt höchst fragwürdig. Der Vormund konnte wohl anerkannt werden, aber wie war's 279 eigentlich mit dem Mündel? Betrachtete man diese Verhältnisse, so verdunkelten sie sich gleich, entfernten sich zusehends ins Nebelhafte und verflüchtigten sich endlich wie ein Räuchlein, das hinter dem Pferdefuße des Teufels aufsteigt und übel riecht. Der sterbende Oberst, der ihm die Tochter anvertraut hatte, war ja für Breslau und überhaupt für eine größere Entfernung sehr ansehnlich, aber nun mußte man ihn, da er seine Vaterdienste geleistet, ohne je gelebt zu haben, wohl am besten still in die Erde versenken, denn welchen toten Armeeangehörigen sollte man der Urheberschaft Sonjas bezichtigen?

Ihr Name und ihre bürgerlichen Verhältnisse bedurften mithin einer neuen und ausreichenden Fassung, die doch auch wieder einigen Spielraum für die Zukunft bot. Mit einem Worte: es war höchste Zeit, daß sie endlich ordentliche, ehrliche Eltern bekam.

Die zweite Gefahr lauerte hinter der ersten. Gesetzt den Fall, Sonja hätte standesmäßige und mögliche Erzeuger und damit ausreichende Ausweispapiere zur Eheschließung aufgebracht, wo nahm sie das Geld zur Heiratskaution her? Die strengen Gesetze des Berufes verlangen nämlich eine in barem oder in mündelsicheren Wertpapieren zu hinterlegende Bürgschaft, durch 280 deren Zinsenertrag dem Ehepaare eine notwendige Ergänzung des vom Staate gewährten geringen Offiziersgehaltes gewährleistet wird.

Sonja hatte kein Geld, das stand fest. Und eher bekam sie noch standesgemäße Eltern, als eine leibhaftige Mitgift. Heiner aber war der Sohn eines Regimentsarztes, der in einer ungarischen Kleinstadt das Garnisonspital leitete und sich ein hübsches Vermögen erspart hatte, auf welches außer der Mutter noch Heiner und eine erwachsene, ledige Schwester rechneten. Solange aber beide Eltern lebten, durfte Heiner kaum einen Zuschuß erwarten. Roszkowski schüttelte den Kopf: wo Geld ist, kann man es auch herauslocken. Und hatte man nur eine Hälfte der Kaution, so fand sich die andere wohl auch. Schlimmstenfalls müßte man sie auf Borg nehmen. Gegen einwandfreie Bürgen, eine Lebensversicherungspolize und hohe Zinsen leihen gewisse Geldinstitute solche zweite Hälften von Kautionen am Ende her, da die Papiere amtlich verwahrt bleiben, dem Eigentümer oder Schuldner nicht ausgefolgt werden und die Gefahr eines Betruges, oder Verlustes bei der peinlichen Ehrengenauigkeit des Standes verringert ist. Bekäme man nur die erste Hälfte!

281 »Eines nach dem anderen!« sagte Roszkowski. »Zunächst wollen wir uns nach Eltern für Sonja umsehen.« Ein ehrlicher Vater, eine ehrliche Mutter waren schon einen Hunderter wert! Deshalb hatte er ja all die Jahre nach einem adoptierenden Millionär gefahndet, denn für ein so interessantes Kind sollte von rechtswegen auch gutes Geld gegeben werden! Aber diese Grundsätze der wahren Billigkeit konnten jetzt nicht eingehalten werden, überhaupt richtete er die Grundsätze nach den Tatsachen ein, nicht umgekehrt wie die Narren, welche gemeiniglich die Tatsachen nach Grundsätzen zwingen wollen. Da ein Adoptivelternpaar Sonja nicht kaufen wollte, hatte sich diese die benötigten standesamtlichen Erzeuger im Notfall für bares Geld zu beschaffen. Man mußte nur sehen, wie man ein solches Paar möglichst wohlfeil bekam; da nichts als ein anständiger, unzweifelhafter Name verlangt wurde, ließ sich hoffen, man werde eine bescheidene, aber brauchbare Elternware käuflich an sich bringen können.

Zur rechten Zeit wie immer, besann sich Ernst des Starosten jenes Dörfchens, der ihn als Sonjas Vormund bestellt und diese selbst eine Weile, freilich schnöde genug, beherbergt hatte. Der Mann war kinderlos, also der geborene Adoptivvater. Sogleich 282 nahm Ernst Urlaub und fuhr nach Lemberg. Dort bestieg er ein geliehenes Pferd und eilte nach dem Dörfchen. Der Starost war nicht wenig erstaunt, den Offizier wiederzusehen. Roszkowski ritt drohend auf ihn zu und setzte ihn einem peinlichen Verhör aus, wie er sich habe unterstehen können, seinerzeit den ihm anvertrauten Schützling so schnöde zu behandeln. Ob er denn nicht wisse, daß Sonja von fürstlicher Abkunft sei und daß hinter der Waise höchste Würdenträger des Staates stünden mit schützenden, aber auch mit drohenden Armen, die ihn wegen seiner damaligen Niedertracht beim Schopfe zu packen und in den dunkelsten Abgrund des Gefängnisses zu werfen bereit seien.

Der Starost hörte gläubig und entsetzt zu. Genügte doch schon der Anblick des bewaffneten Mannes, der so einen armen Hund einfach niedersäbeln konnte, sich auf die Knie zu werfen, den Boden erst, dann die Stiefel des unerwarteten Racheengels zu küssen und schluchzende Abbitte zu tun. Womit könnte er nur die verscherzte Gnade wieder gewinnen.

Roszkowski warf ihm die Zügel des Rosses zu, stieg ab und ließ sich mit finsterer Miene in ein näheres Gespräch ein. Allerdings vermöchte er, der 283 Unglücksmensch von Starost, sich wieder in Gnade zu bringen und sogar ein Stück Geld zu gewinnen, wenn er Sonja an Kindesstatt annehme. Er habe doch hoffentlich kein Kind? Nein. Er sei doch schon ein bejahrter Esel, mindestens fünfzig Jahre alt, sein Weib, die schamlose Hündin desgleichen? Ja, Gott sei es geklagt. Dann stünde einer solchen gesetzlichen Handlung nichts im Wege, welche darum erforderlich sei, weil Sonja ihre fürstliche aber uneheliche Herkunft allezeit verbergen müsse, um mit Hilfe ihrer hohen Gönner, deren Abgesandter er sei, eine Ehe mit einem angesehenen und reichen Offizier zu schließen.

Er, der Hund von Starost, sei nun in der Lage, einmal im Leben sich nützlich zu machen und Sonja seinen Namen zu geben. Doch müsse er zugleich mit der Adoption auch erklären, sie sei sein wahrhaftes, eheliches Kind und mit einem Eide bei der jungfräulichen Gottesmutter beschwören, von den ihm anvertrauten Dingen keiner lebendigen Seele jemals etwas zu verraten.

»Du schamloser Knecht hast sie als kleines Kind so schändlich behandelt, gezüchtigt, unterm Vieh herumgejagt, und geschlagen, daß sie dir davonlief. Auf und davon! Jahrelang hast du sie nicht gesehen. Bis du 284 sie bei der wunderbaren Fügung Gottes durch mich wiedergefunden hast. Ich aber habe sie als Kind auf der Landstraße irgendwo aufgegriffen und aus Gnade und Barmherzigkeit erzogen und beschützt, damals führte sie den Namen Podchmielska, verstehst du, die herumziehenden Vagabunden, bei denen ich sie fand, nannten sie so, weil sie einen tollen Weinrausch hatten, als sie ihnen begegnete. Als Sonja Podchmielska habe ich sie gerettet. Jetzt aber bist du auf ihre Spur gekommen, denn ich suchte immer den Vater des edlen Kindes, bis ich dich, Hund, entdeckte. Du hast ihre Schuld verziehen, denn immerhin, es ist ein Vergehen einer Tochter, dem Vater durchzubrennen. Du aber hast bereut, Schurke, und sie in Gnaden als dein verlorenes, beweintes Kind aufgenommen und anerkennst sie als solches. Um ihr aber die Rechte des Kindes zu sichern, bleibt dir nichts anderes übrig, als sie zu adoptieren, denn die bösen Leute könnten einem solchen Hundsfott wie du, am Ende nicht glauben, daß er mit fünfzig Jahren unversehens eine Tochter wiederfindet, die er einmal hatte, oder auch nicht.«

Es brauchte lange Zeit, dem verdutzten Bauern diese Geschichte mundgerecht zu machen und einzuprägen. Der Starost bedachte sich ängstlich und fragte nur, 285 ob er keine Scherereien zu gewärtigen habe und nicht am Ende noch zahlen müsse, oder für seine Verbrechen bestraft werden könne, wenn er so tue. Aber als Roszkowski ihm hundert Gulden versprach, fünfzig, wenn die Adoption bewirkt, und weitere fünfzig, wenn die Heirat glücklich vollzogen sei, seufzte der Starost und fand sich bereit, sein Vergehen zu sühnen, Sonja an Kindesstatt anzunehmen und beim Pan Bezirkshauptmann mit Roszkowskis Hilfe alles zu erklären. Sofort ordnete Roszkowski das weitere an. Damit auch Sonja ihre wiedergefundenen Eltern so recht kennen und lieben lerne, übergab er dem Starosten einige hübsche Schmuckgegenstände, welche Heiner auf diesem Umwege seiner Braut zukommen lassen wollte, Sonja wurde in das Dorf beschieden, zu ihren einstigen Peinigern geführt und mit unterwürfiger Zärtlichkeit, mit einem rechten Gemisch von Verehrung, Mißtrauen und Angst empfangen. Der Starost überreichte ihr als zärtlicher Vater ein goldnes Kettlein und Kreuzchen und segnete sie, sein Weib bestaunte sie als einen leibhaftigen Engel Gottes und allgesamt gingen sie zum Bezirkshauptmann, das neue Märchen zu Protokoll zu geben.

Der bereitwillige Beamte, von dem übrigens 286 befreundeten Oberleutnant unterrichtet, und ohnedies von der Ehrfurcht für die überragende Militärmacht überwältigt, nahm die Erklärung auf; was war bei Gott und in Polen nicht alles möglich! Noch viel wunderbarere Dinge geschehen unter der Sonne. Man kann nicht alles sehen, erforschen und prüfen, denn der Ratschlüsse des Geschickes gibt es viele und alle sind dunkel. Irgend etwas Außerordentliches steckte hinter der Sache, aber eben das machte seine Geschicklichkeit und seinen Diensteifer erforderlich. Einem gewöhnlichen Anliegen hätte er Schwierigkeiten bereitet, ein so merkwürdiges sah er als eine Probe auf seine besonderen Fähigkeiten an, Berge zu ebnen und Hindernisse wegzuräumen, Roszkowskis Andeutungen ließen ihn ahnen, daß eine höhere Stelle hinter der Angelegenheit hervorschaue und sich für das Gelingen interessiere. Wozu hat ein intelligenter Amtmann seine Augen im Kopfe, als um sie beizeiten zuzudrücken! Auch waren die Voraussetzungen der Adoption gegeben. Alles geschah höchst gesetzmäßig. Ebensowenig machte der Richter, nachdem der Bezirkshauptmann die Vorbedingungen geprüft, irgendwelche Schwierigkeiten und nach Ablauf weniger Wochen war Sonja das eigentlich eheliche, aber nach der gesetzlichen Lage adoptierte 287 Kind des Starosten, hatte Eltern, Vater und Mutter, an denen sie mit Liebe hing, deren sie, wie ihre erste Begrüßung bei mir bewies, mit Zärtlichkeit gedachte. Ihrem kindischen Herzen tat es wohl, einmal wirklich Vater und Mutter sagen zu können und eine kleine Kette, ein goldenes Kreuz am Halse zu tragen, das von wahrhaftigen Eltern geschenkt war. Gleichzeitig gaben diese auch ihre Zustimmung zur Verehelichung ihres minderjährigen Kindes mit dem Oberleutnant Heiner. So hatte Sonja ihren dritten Namen bekommen, den sie allerdings nicht gar zu lange mehr tragen zu müssen hoffte.

So standen die Dinge, als Sonja uns in Wien aufgesucht hatte. Den zur Eheschließung notwendigen Namen hatte sie nun freilich mit Mühe aufgebracht, die Kaution aber ließ auf sich warten, denn Heiners Vater hatte auf seines Sohnes Bitte um Hilfe ganz trocken geantwortet, er bedaure sehr, kein Geld zu besitzen. Roszkowski hatte bereits mancherlei versucht, den Mangel zu beheben, er wäre sogar bereit gewesen, selber eine Braut mit reicher Mitgift zu gewinnen, um seinen Schutzbefohlenen zu helfen, aber da er bisher niemals Heiratspläne getragen, war er in diesem Geschäfte ganz unerfahren; auch drängte die Zeit, denn 288 Heinern waren zur Ordnung seiner Vermögensverhältnisse sechs Monate eingeräumt worden, verstrich diese Frist, ehe es ihm gelang, alles befriedigend zu vollenden, so mußte er seine Charge niederlegen. Die Standesehre kennt keinen Aufschub.

So war Sonja, obgleich als junge, zärtliche und verliebte Braut glücklich und hoffnungsvoll, doch von einer zehrenden Wehmut und Ungewißheit erfüllt, welche ihr sonst so stürmisches und lautes Betragen angenehm und durchaus vorteilhaft milderten.

Bald suchte uns auch der Bräutigam auf, ein ernster, stiller, bescheidener, strenger, junger Mann, der zu der Schelmin und Abenteurerin im wunderlichsten Gegensatze stand. Er zog mich zu Rate, was er beginnen und wie er sich helfen solle. Er dachte nämlich allen Ernstes daran, den Soldatenstand aufzugeben und in irgendeinem bürgerlichen Berufe das bescheidenste Auskommen zu suchen, um sich und seine Frau anständig zu ernähren. Aber wie schwer wird ein solches Vorhaben bei der einseitigen und unzureichenden Ausbildung der Offiziere! Ganz abgesehen von der nötigen, völligen Veränderung aller Lebensgewohnheiten, die bisher auf Befehlen, auf freie Bewegung in gesunder Luft, auf äußere Würde und Ansehen in 289 der Welt gerichtet, nun demütig einer neuen kleinlichen Schreibstubenarbeit sich anpassen sollen. Zudem bedarf das Unterkommen in das kümmerlichste Ämtlein besonderer Fachkenntnisse, Zeugnisse und einer ungeheuerlichen Protektion durch Verbindungen mit der großen Welt, die dem Offizier fremd geblieben. Was sollte ich ihm da raten?

Auf meine Frage, zu welcher Art von Tätigkeit er am meisten Lust fühlte, zog er ein Notizbüchlein hervor, worin er allerhand Erfindungen aufgezeichnet hatte, die er in seinen Mußestunden ausgeheckt. Anfänglich war ich gegen diese Art von Abenteurerei mißtrauisch, denn wer sonst keinen Zeitvertreib hat, erfindet gewiß ein lenkbares Luftschiff oder einen Flugapparat oder dergleichen, und die ungelehrten Leute glauben sich gerne jeder technischen Bildung und gewissenhafter Vorstudien überhoben, wenn sie irgendeinen unreifen Einfall gegen alle Naturgesetze und Erfahrungen behaupten und hinzeichnen. Er aber war keiner von diesen ganz armseligen Projektenmachern. Was er mir zeigte, leuchtete durch solide Logik und folgerichtige Ausführung eines sinnreichen Gedankens ohne weiteres ein.

Da war zum Exempel eine geistreiche Hutventilation, um der dichten Soldatenkopfbedeckung, dem Tschako 290 und der Offiziersmütze, dem Helm und der Haube, Luft zuzuführen.

Zufällig hatte ich in Ausstellungen eine oder die andere der Erfindungen, die er in der Abgeschiedenheit seiner Garnison mühsam erdacht, tatsächlich mit größerer technischer Gewandtheit und mit den bereitstehenden Hilfsmitteln einer reichen Industrie ähnlich bereits ausgeführt gesehen.

Ich machte ihn schonend aufmerksam, er strich dann mit bescheidener, bekümmerter Miene die betreffende Erfindung in seinem Notizbuche aus und sagte wehmütig lächelnd: »Sehen Sie, lieber Herr Dieter, das ist eben mein Unglück. Ich lebe so aus der Welt, habe leider keine technische Vorbildung und bin auf meine eigene mühselige, einsame Arbeit so angewiesen, daß ich alle die Gegenstände, mit denen ich mich abgebe, aus der Erfahrung gar nicht kenne, sondern aus Büchern, die ich mir ohne Rat und Wahl um teures Geld kaufen muß. Aber selbst diese gelehrten Schriften leicht zu bewältigen, fehlt mir die Grundlage eines ordentlichen Realunterrichtes. Der Kenner liest die gedruckte Darlegung, ihm sind alle Fachausdrücke geläufig, die Zeichnungen mit allen ihren Feinheiten überfliegt er nur zur rascheren Einsicht des Texten.

291 Ich aber muß umgekehrt verfahren, die Illustrationen stundenlang auf jede Einzelheit hin betrachten und bis ins kleinste studieren, denn erst daraus lerne ich die Fachausdrücke des Textes und schreite zum richtigen Verständnis der Sache selbst vor. Bis ich nun eine Verbesserung eines Motors ausgedacht, ohne jemals einen an der Arbeit gesehen zu haben, ist sie von einem anderen Wohlunterrichteten längst schon ins Werk gesetzt worden, und mir bleibt das Nachsehen.«

Wie sollte er auf Erfolge hoffen, da er kein Vermögen besaß, seine Projekte auszuführen, etwaige Patente zu bezahlen und nicht die geringsten Verbindungen, andere dafür zu interessieren.

So stand er mitten unter Einfällen, die einen anderen vielleicht zum reichen Manne gemacht hätten, recht arm und durstig und ohne Aussicht da, auf sich gestellt, tüchtig und bescheiden und mußte der bleiben, der er war, ohne von den mannigfaltigen Schätzen seines Notizbuches den richtigen Gebrauch machen zu können. Ich gab ihm nach bescheidener Einsicht Ratschläge und etliche Empfehlungen mit, aber wir wußten alle, daß er damit wohl kaum etwas Ordentliches ausrichten würde.

Derart blieb die Stimmung sämtlicher Beteiligten 292 recht gedrückt. Die erforderliche Kaution hing unerreichbar irgendwo. Sonja zuckte die Ungeduld und Unsicherheit in allen Gliedern, endlich erklärte sie, vielleicht habe Heiners Vater doch das Nötige und es bedürfe nur eines ordentlichen Verfahrens, ihn zur Herausgabe zu veranlassen.

»Ihr seid allesamt ungeschickt. Wie soll dein Vater, lieber Heiner, für eine Schwiegertochter einen Kreuzer hergeben, die er nicht kennt. Ich will selbst zu ihm und dann mag er mir verweigern, was mir zukommt!« Heiners Angebot, sie zu seinen Eltern zu begleiten, wies sie entschieden zurück, sie wolle alles allein anfassen und zu Ende bringen.

Kopfschüttelnd unterwarf sich Heiner, wie jeder richtige Soldat, dem Weibe und ließ sie ziehen.

Sie machte sich nach ihrer Weise schön und suchte den künftigen Herrn Schwiegervater nicht etwa in seiner Wohnung auf, wo er durch die stärkere Gattin oder durch die Tochter in seiner angeborenen Großmut oder Schwäche beeinflußt werden konnte, sondern im Garnisonspitale, wo er als Feind ihr und ihrem Angriffe allein standhalten mußte.

Man wehrte ihr den Eintritt, doch sie erklärte kurzweg, sie sei die Schwiegertochter des Herrn 293 Regimentsarztes und müsse ihn unbedingt sofort sprechen. Darauf ließ man sie in einen Operationssaal ein, wo eben etliche nackte Bursche auf die ärztlichen Handreichungen warteten, einer auf einem Tische ausgestreckt lag und auf das böse Messer des Chirurgen gefaßt war. In dieser Luft von Kasernen- und Spitalgeruch stand der ältliche Mann in seinem Operationskittel, mit Brillengläsern und einem recht mürrischen Gesicht, als sie beherzt auf ihn zuging. Er hatte ein blitzendes Besteck in den Händen und gar keine Möglichkeit, sich des Überfalles zu wehren. Mit der heitersten Selbstverständlichkeit begrüße sie ihn: »Ich bin die Sonja. Sie wissen ja!«

Er konnte nur ärgerlich den Kopf schütteln und mit verwirrtem Stammeln heftig nach einer Richtung deuten, wohin sich Sonja zunächst begeben müsse. Sie sah wohl ein, daß sie augenblicklich hier nicht am Platze sei und gehorchte, trat in das Nebenzimmer, einen ärztlichen Ordinationsraum, der an den Saal stieß und beschloß, hier zu warten. Es verging eine gute Stunde, während welcher sie draußen abgerissene Scheltworte, unterdrückte oder aufbrüllende Wehrufe der Kranken hörte. Mit einem Male wurde es still. Da die Türe geschlossen blieb, vermutete sie mit Recht, der 294 Regimentsarzt sei jetzt mit seinem Arbeit fertig geworden, so daß er keine Ausrede mehr hätte, sich ihr zu entziehen.

Daher öffnete sie leise die Tür und bemerkte eben, daß sich der schlaue Mann in aller Eile davonmachen wollte, in voller Uniform, mit Mantel und Säbel setzte er sich gerade in Bewegung und hätte sie seelenruhig in seinem Operationszimmer bis zum jüngsten Tage warten lassen. Aber für derlei Ausflüchte war sie nicht zu haben, ihr mußte man sich stellen.

Sie rief ihn mit starker Stimme, so daß er Halt machte, erklärte, sie werde ihn begleiten, sie müsse ihm wichtige Dinge sagen und er wichtige Dinge hören. Ein Spaziergang gebe die beste Gelegenheit, alles anzubringen und zu erledigen. Mit gesenktem Kopfe fügte sich der alte Sünder ins Unvermeidliche und führte die dringliche kleine Person ins Freie. Hier trug sie ihm nun umständlich und konfus, halb fromm verschämt, halb dreist verwegen, nach ihrer Art die ganze Not und Sorge vor, stellte seinem Kopf und Herzen die Hilfe als recht und billig, ja als unabweisliche Pflicht dar und schrie sich um so lauter in ihre Leidenschaft hinein, als sie zu erkennen glaubte, daß der künftige Schwiegervater nicht nur hartherzig, sondern 295 auch harthörig sei, so daß man ihm jeden Punkt nicht nur dreimal sagen, sondern auch mit Gebärden und Rufen verständlich machen müsse. Der geriebene alte Sünder war aber nichts weniger als taub, sondern stellte sich nur so, um auch dieses naheliegende Mittel nicht unverwandt zu lassen, etwas Unwillkommenes überhören zu können. Aber da sie immer lauter wurde und sich so stark vernehmen ließ, daß sich die Leute nach ihnen umsahen, bedeutete er ihr größere Ruhe und ließ sich in die Erörterung ein.

Was sie denn eigentlich wolle. Sein Sohn sei mündig, er mische sich nicht in solche Angelegenheiten. Heiner wolle heiraten, er solle tun, was er nicht lassen könne. Aber da er von seinem Sohne nicht gefragt worden sei, als die Verlobung zustande kam, sei doch jetzt kein besonderer Anlaß, ihn damit zu beschäftigen. Wenn es Sonja um seinen Segen zu tun sei, so gebe er ihn in Gottes Namen. Aber unentgeltlich, denn für seines Sohnes Brautstand noch zahlen zu müssen, scheine ihm doch eine unerlaubte Zumutung.

Darauf entgegnete Sonja, was ihr die helle Verzweiflung und Sehnsucht eben eingab. Er könne doch nicht zusehen, wie Heiner unglücklich werde, bloß, weil er ihm die lumpigen paar Gulden versage.

296 »Weil ich nicht ruhig zusehen will, wie er unglücklich wird, rate ich ihm eben aus meinem väterlichen Herzen, eine so törichte Verbindung aufzugeben, und wenn er durchaus heiraten will, sich eine Braut zu suchen, die ihm, wie es in der Welt der Brauch, Geld zubringt, statt eines zu verlangen. Der Mensch muß sich nach den Gesetzen seines Standes und der Welt richten, wenn er ruhig auskommen will. Wer das nicht tut, muß die Folgen tragen und nicht verlangen, daß sich andere für ihn opfern, weil er selber dazu keine Lust hat. Wenn wir aber schon vom Opfern reden, warum machen Sie, liebes Fräulein, nicht den Anfang? Sie wissen, die Ehe mit Ihnen wird dem Burschen seinen Stand kosten, wenn er die Kaution nicht aufbringt. Nun, Sie haben ja ein großes Herz, wie Sie versichern, also tun Sie das Ihrige, geben Sie ihn frei, treten Sie zurück, und alles ist in bester Ordnung.«

Da verlor Sonja ihre mühsam bewahrte Fassung und schrie mit bitterer Verachtung jeder Rücksicht und Schonung, was er denn glaube, daß er sie mit solchem Hohne behandle, sie sei eine Dame, keine Hergelaufene, die man zuerst überhaupt verleugne, die man vor den gemeinen Soldaten stehen lasse und dann mit solchen 297 Redensarten abspeise. Auf der Welt seien die jungen Leute die wichtigsten, nicht die alten mit ihrer Schäbigkeit und ihrer Selbstsucht. Es gebe kein Recht, das von zwei Liebenden den Verzicht verlangen dürfe, und kein Gesetz, das ein ehrliches Gefühl verbiete. Was aber das Gesetz betreffe, nach dem man sich, wie er sagte, so genau richten müsse, so frage sie ihn jetzt in aller Stille, wenn er aber Lust habe, wollte sie die Frage ohne weiteres recht laut wiederholen, wie er denn sein Vermögen erworben habe, auf welchem er jetzt so breit dasitze. Ob die feinen Militärbefreiungen und ärztlichen Zeugnisse der Waffenuntauglichkeit, denen er seine Beliebtheit verdanke, etwa dem strengen Gesetz entsprächen, oder vielleicht auch einer gewissen Vorliebe und schnöden Leidenschaft für das liebe Geld. Ob seine schönen Ersparnisse nicht auf eine gewisse Duldsamkeit zurückzuführen seien, die er gegen sich selbst so gerne betätigt habe und gerade seinem Sohne und ihr so hartherzig verweigere. Jetzt habe sie die ganze Heuchelei satt und wolle klar reden und ohne Umschweife. Wenn er schon sein Geld durch allerhand weise Vorkehrungen erworben habe, müsse er seinen Nächsten auch etwas steuern, denn sonst geschehe ein Unglück; sie überschlug sich im Sprechen und begann zu weinen, 298 da sie keinen Nachsatz mehr wußte, mit dem sie das angedrohte Übel so recht ins Licht setzen konnte und auch fühlte, weiter gegangen zu sein, als die Schicklichkeit erlaubte, sogar so weit, daß ein Rückzug in ein edles, schwiegertöchterliches sanftes Verhältnis fast unmöglich war.

Über diesen unvorhergesehenen Gefühlsausbruch schüttelte der Regimentsarzt verlegen den Kopf.

»Ja, liebes Fräulein, da Sie so gut wissen, wie man sich Geld beschafft, können Sie mir vielleicht auch einen Rat geben, ich habe nämlich selber keines und brauchte es notwendig, schon weil ich Ihnen gerne damit aushelfen möchte.«

Nun war das Staunen an Sonja. Sie stammelte ganz fassungslos: »Sie sollen doch ein Vermögen haben.«

»Gehabt haben,« verbesserte der Alte mit geneigtem Haupt. Sie sah ihn zweifelnd an.

»Ja, liebes Fräulein, ich habe hübsch ein paar Gulden zusammengebracht, aber der Teufel hat sie geholt.«

»Was haben Sie denn damit angefangen?«

»Ich habe sie recht gut verwerten wollen, daß sie rascher anwüchsen, als sie bei mir zu Hause mochten und statt dessen sind sie davongegangen.«

299 »Also verspielt!« schrie Sonja verzweifelt.

Der Alte nickte schmerzvoll und sah nach der anderen Seite, als ob er seinem guten Gelde nachblickte, das doch längst schon verschwunden war . . .

»Da schämen Sie sich aber recht in die Erde hinein, ein alter Mann und so töricht, sein sauer Erworbenes in die Luft zu jagen! Wissen Sie denn nicht, was man mit erspartem Geld machen muß? Darauf sitzen! Sonst hat man's nicht lange. Und da haben Sie Frau und Kinder und verspielen Ihr Geld!«

Sie verschluckte ingrimmig ihre Tränen.

Der alte Herr nickte schuldbewußt. »Freilich, freilich war es ein Unsinn, aber was nützt es jetzt, davon zu reden. Hin ist hin.«

»Schade, schade, wir hätten es so gut brauchen können, aber nichts für ungut. Vielleicht hätten Sie uns doch geholfen, wenn Sie das Geld gehabt hätten. Nicht wahr? Also muß ich wieder zurück.«

Der Regimentsarzt begleitete sie zum Bahnhof und faßte einige Zuneigung zu dem entschlossenen, jungen Mädchen, welches ihn nun nach ihrer Weise zu trösten suchte. Sie und Heiner seien ja noch jung und würden sich schon zurecht finden, wenn es auch schwer sei, sich alles auf der Welt selber schaffen zu müssen und 300 nichts, aber auch gar nichts zu überkommen. Dabei dachte sie vielleicht: nicht einmal einen simplen Namen erbt unsereins.

Schließlich nahmen sie recht herzlich voneinander Abschied und Sonja kam um eine Erfahrung reicher, das heißt um eine Hoffnung ärmer, in Wien an.

Als sie diesen letzten Versuch der Geldbeschaffung und sein klägliches Scheitern ihrem Bräutigam und ihrem Beschützer berichtete, ließen anfänglich alle drei betrübt die Köpfe hängen, als seien ihnen drei schwer mit Gold beladene Schiffe untergegangen. Roszkowski, der auf ein paar Tage nach Wien gekommen war, um nach dem Rechten zu sehen, faßte zuerst wieder Mut, tröstete und beruhigte die beiden anderen.

Noch gab es ein allerletztes Mittel: ein Gnadengesuch an den Monarchen um Befreiung von der Kautionsleistung. Es mußte an die kaiserliche Kabinettskanzlei berichtet werden. Diese stellt die peinlichsten Untersuchungen über die Würdigkeit der Werbenden an und unterbreitet nur bei einwandfreister Lage der Dinge, wenn die höchste Billigkeit für die Ehe zweier so Armen spricht, die Entscheidung dem Monarchen selbst. Bei dieser Untersuchung ist auf eine Abweisung der Bitte zehn gegen eins zu wetten. Aber 301 die Welt ist nicht bloß aus Wahrscheinlichkeiten und Gewißheiten, sondern auch aus Wundern und unerhörten Schickungen zusammensetzt, warum sollten sie nicht einmal, wie sonst auf einen glücklichen Zufall hoffen und das ihrige tun, ihn herbeizuführen, während gewöhnliche Leute so töricht sind, ihn abzuwarten, als ob ein Wunder von selbst käme und nicht der richtigen Mühe bedürfe, sich herbeizwingen zu lassen. Da Roszkowski wußte, daß bei dieser Untersuchung Nachforschungen nach dem Vorleben, der Herkunft und dem Charakter der Braut gepflogen werden, die weit strenger und eindringlicher verfahren, als der Offiziersehrenrat, welcher etwaige Zweifel durch ein gelungenes Duell aus dem Wege räumt, erwog er, wie er Sonjas Abstammung auf möglichst einwandfreie Weise dartun und erklären könne.

Es gab ein rechtes Stück Arbeit, die schwierigen Verhältnisse gebührlich und mit aller Unterwürfigkeit, doch schwungvoll, darzustellen.

Er erklärte zunächst, als langjähriger Vormund für Sofia Eleonore Charlotte Kobierska das Wort zu ergreifen, da deren Vater, der Starost Jaroslav Kobierski der Schrift unkundig und auch sonst nicht in der Lage sei, die schwierigen Umstände auseinander zu 302 setzen, welche bis zu diesem Tage über seinem Kinde gewaltet.

Er, Oberleutnant Roszkowski, beim ..ten kaiserlichen und königlichen Infanterieregimente so und so bedienstet, habe vor etwa sieben Jahren auf einem Ritte durch eine verlassene Gegend Polens eine Bande von Vagabunden getroffen, welche eben ein kleines, halbwüchsiges Mädchen mißhandelten, dessen jämmerliche Schreie ihn zwangen, näherzukommen und sich der Hilflosen anzunehmen. Auf seine Fragen habe er von der Bande herausgebracht, daß das Kind angeblich die Tochter zweier verstorbener Angehörigen sei, die ihnen nun am Halse hänge. Die Kleine zöge mit ihnen so im Lande herum, helfe ihnen betteln und nehme an ihrem kümmerlichen Schicksale teil. Obgleich sie recht zerlumpt und verwahrlost erschien, glaubte er doch Zeichen einer besseren Art und Herkunft an ihr zu bewahren. Die Vagabunden versicherten ihm, sie sei getauft und heiße Podchmielska, doch seien ihre Ausweispapiere bei einem Brande untergegangen. Er glaubte in diese Geschichte berechtigte Zweifel setzen zu sollen und nahm an, daß sich das Gesindel wohl auf irgendeine verbotene Weise des armen Geschöpfes bemächtigt habe. Da ihn das Wesen, das mit großen 303 bittenden Augen auf ihn sah, dauerte, habe er es um ein geringes Geld losgekauft und auf sein Pferd genommen und unterwegs erst überlegt, was er mit diesem wunderbaren Funde beginnen wolle.

Schließlich habe es ihn das beste gedünkt, die Kleine seinen Eltern ins Haus zu bringen, wo sie aus Gnade und um Gottes Barmherzigkeit willen anständig aufgenommen werden würde.

Auf seine Frage hin habe die verschüchterte Kleine allmählich Zutrauen gefaßt und erzählt, sie sei nicht unter diesen Leuten geboren worden, sondern das Kind von Bauern und den Schlägen und Mißhandlungen eines strengen Vaters vor zwei Jahren entlaufen, auf dem Wege von den Herumziehenden aufgegriffen und nun durch ihn von noch viel schlimmeren Zuständen erlöst worden. Ihren Namen habe sie freilich nicht gewußt, oder vielmehr den einer »Podchmielska« als eigen angesprochen, so daß er mit Grund vermutet habe, sie heiße wirklich so. Nachforschungen in dieser Richtung führten aber nicht dazu, ihre Herkunft aufzuklären.

Nachdem er das Kind in der Tat bei seinen Eltern untergebracht – es braucht nicht gesagt zu werden, daß Roszkowski seine Mutter entsprechend von ihrer damaligen großmütigen Handlung genau unterrichtete, 304 bevor er sie als Zeugin in diese Geschichte verwickelte – nachdem also Sonja zwei Jahre auf dem Gütchen gelebt und sich dort als fügsames, braves und begabtes Kind erwiesen hatte, redeten ihm seine Eltern zu, auf diesen Schützling doch rechte Sorgfalt zu verwenden und ihm eine bessere Erziehung angedeihen zu lassen. Da er selbst sich dieser guten Handlung angesichts des Gedeihens der Kleinen freute, beschloß er, weiter für sie einzustehen und brachte sie, obgleich seine Mittel recht beschränkt waren, nach Breslau ins Kloster, wo sie in allen Gegenständen des Unterrichtes und der weiblichen Fertigkeiten unerwiesen, sich als frommes Mädchen gedeihlich und von den gütigen Schwestern geliebt, entwickelte.

Nach einem weiteren Zeitverlaufe verlangte sie als erwachsene Jungfrau für ihr Leben durch Arbeit und Verwertung ihrer Kenntnisse selbst aufzukommen, deshalb nahm er sie, zumal die Kosten der Erziehung zu entrichten ihn nachgerade schwer fiel, aus dem Kloster und brachte sie nach Wien, wo sie in den verschiedensten Berufen, als Gesellschafterin, Erzieherin, als kunstfertige Stickerin, ihren bescheidenen, aber ausreichenden Erwerb fand.

Zu ihrer Erholung sei sie – von der Anstrengung 305 des Wiener Arbeitslebens übermüdet – nunmehr im Vorjahre nach Siebenbürgen gereist, um ihn, ihren Vormund wiederzusehen, und dort habe sie Heiner kennen gelernt, welcher um ihre Hand anhielt und sie auf das Inständigste nun zu heiraten wünsche.

In aller dieser Zeit habe er, Roszkowski, es sich angelegen sein lassen, die Herkunft dieses Kindes zu ergründen und ihm die Eltern zuzuführen, welche jeder Mensch, am meisten ein junges Mädchen, so sehr braucht, um sie recht zu ehren und zu lieben und von ihnen die Anerkennung seines Standes und Herkommens zu erlangen. Mannigfache Spuren hätten ihn immer wieder in die Irre geführt, manches Stück Geld sei vergeblich aufgewendet worden, bis er endlich auf eine merkwürdige Weise, die in diesem Gesuche des weiteren auseinanderzusetzen wohl nicht der richtige Anlaß sei, in dem Dörfchen unweit Lembergs den Starosten und dessen Gattin als Eltern Sonjas entdeckt habe. Eine genaue, Glied an Glied passende Kette von Umständen habe jeden Zweifel ausgeschlossen, leibliche und seelische Anzeichen bekräftigten die scheinbar ganz unglaubliche Nachricht. Tatsächlich bekannte der Starost, durch Fragen in die Enge getrieben, daß ihm ein einziges Kind vor Jahren durchgebrannt sei, nahm 306 es nunmehr mit Freuden auf und als besten Beweis seiner Vaterschaft adoptierte er Sonja, da er auf andere Weise wohl kaum in der Lage war, die Abstammung der Tochter rechtens zu erhärten.

Dies und noch manches andere stand in dem Gesuche. Wenn man heute und in einer heiteren Abendlaune davon erzählt, mag es ganz unglaublich erscheinen, daß ein ernsthafter Mann einem ernsthaften und so hohen Amte mit solcher Unbefangenheit einen solchen Bären aufbindet und mit allem Eifer voraussetzt, es würde ein solches Märchen glauben. Aber die glaubhaftesten Regelmäßigkeiten des Daseins sind es nicht, welche um außerordentliche Hilfe flehen und wunderbare Auswege, barmherzige Rettungen suchen. Wer in verzweifelter Lage verzweifelte Schritte tut, hat wohl auch verzweifelten Grund dazu und die Wege seines Schicksals mögen dunkel genug in die Irre gefangen sein. Wer weiß, wie viele Abenteuer und fabelhafte Berichte in solchen Gesuchen ausgebreitet und mit einer Klarheit dargelegt werden, daß diejenigen, welche darüber entscheiden sollen, den Unglauben allgemach verlieren und infolge ihrer ständigen Prüfung solcher Vorbringungen das Leben nicht wie wir Unerfahrenen nur als ziemlich glattes und klares, sondern 307 als schmerzlich verworrenes und fragwürdiges Spiel betrachten lernen, worin das Unmögliche tatsächlich wird.

Könnte sonst übrigens der fromme Glaube Berge versetzen, wenn sich nicht im tiefen Lebensinneren für alles Wunderbare und Unerhörte, für alles Staunenswerte und Ungewöhnliche ein liebendes Zeugnis regte und Fürsprache leistete?

So mochte eben vor einem Amte das Gesuch Roszkowski mehr Gewicht haben, als wir anzunehmen geneigt wären. Zumal da er es mit den deutlichsten Hinweisen und Berufungen auf lebende Zeugen belegte.

Da war seine Mutter, die Sonja zwei Jahre lang als ihren Pflegling beherbergt, die frommen Schwestern in Breslau, die sie unterrichtet, – er verabsäumte nicht, sie auf eine etwaige Zeugenschaft vorzubereiten und ihnen ihren einstigen Schützling durch eine persönliche Rücksprache und reichliche Geldspenden in angenehmste Erinnerung zu bringen – da war Jean Ferdinand Eclair, Freiherr von Bézincourt und das gräfliche Haus, wo Sonja als Tochter gehalten worden war. Roszkowski besaß den Mut der Verzweiflung, sogar diese vornehmen Herrschaften als Urkundpersonen anzugeben, bei denen Sonja sich ehemals 308 leider unmöglich gemacht hatte. Aber sie würden einem armen Geschöpfe wohl nichts Böses nachreden. Da waren die rumänischen Bojaren, die sie schätzten, der Adoptivvater, er selbst. Das Wunder erschien bei näherem Zusehen doch durchaus glaublich und natürlich.

Jedenfalls zogen sich die Untersuchungen, welche von der Kabinettskanzlei angestellt wurden, recht in die Länge, von den gewährten Urlaubsmonaten des Bräutigams waren bereits vier verstrichen und er mußte darauf gefaßt sein, wenn seine Bitte abschlägig beschieden wurde, seine Charge niederzulegen und einen bürgerlichen Erwerb zu suchen.

Roszkowski hatte mittlerweile in seiner neuen Garnison ein genaues Verhör über sein Gesuch zu bestehen gehabt und bei dieser Gelegenheit durch Verbindungen und gewandte Umfragen erfahren, in welcher Art man über Sonjas Vorleben und Schicksale Erhebungen gepflogen und Auskünfte erhalten.

Das Kloster hatte sich über ihre Schulzeit, ihre Frömmigkeit und namentlich über ihre kunstfertigen Stickereien höchst lobend ausgesprochen, ihre Sittsamkeit gerühmt und ihr das beste Zeugnis ausgestellt.

Seine Mutter hatte alle gewünschten Auskünfte 309 seiner Weisung gemäß erteilt, Jean Ferdinand Eclair, Freiherr von Bézincourt sammelte glühende Kohlen um das Haupt des jungen Mädchens, das ihm seinerzeit solche Schwierigkeiten bereitet, er äußerte sich mit tadellosem Edelmute über Sonja, wies alle Bedenken, die über ihr Vorleben bestanden und ihm in deutlichen Fragen vorgehalten wurden, entrüstet zurück, und auch seine gräflichen Verwandten hatten nur Lobsprüche für den einstigen Gast.

Zum Starosten war ein hoher Offizier mit besonderer Vollmacht geschickt worden, der als Abgesandter der Kabinettskanzlei die Andeutung Roszkowskis leibhaftig zu bestätigen schien, daß höhere Mächte an diesem Wesen Interesse hätten. Um so unterwürfiger bekräftigte der Bauer alle eingelernten Angaben, seine Lügen zu verleugnen außerstande, hätte er doch sonst die bösesten Folgen auf sein Haupt beschworen. Wie dumm er auch war, sein Verstand reichte immerhin aus, sich noch dümmer zu stellen. Der Abgesandte erfuhr von ihm nur, was Roszkowski ihn wissen lassen wollte.

Aber diesen schönen Zeugnissen standen allerhand dunkle und fragwürdige gegenüber, Gerüchte, Verwicklungen, die keine Aufklärung fanden, Sonjas Aufenthalt in Wien, ihre Beanstandung durch die Polizei, 310 ihre Stellen, denen keine Belege entsprachen, große Zeiträume schienen offen, ohne daß bewiesen werden konnte, wo sie damals gewesen und was sie getrieben, die peinliche Geschichte ihrer Siebenbürger Verlobung, das Duell Roszkowskis, die Ehrenbeleidigung nach dem Prozesse und dergleichen Bedenken mehr.

Wo war nun die Wahrheit? Zwischen Unbegreiflichkeit und Lüge, wunderlichen, aber belegten Aussagen und unerklärlichen Lücken schwankte die unerhellte Erkenntnis und wie vor dem überirdischen Richter neigte sich die Wagschale dieses menschlichen Geschickes hier zum Guten, da zum Schlimmen und welcher Sterbliche möchte entscheiden, ob sie selig zu sprechen oder aus allen Himmeln auszuschließen sei?

Um diese Zeit verschwand Sonja mit ihrem Verlobten plötzlich ohne Abschied. War sie fortgereist, standen ihre Aussichten schlimm und tauchten beide irgendwo unter in dem Strom der Not und neuer Abenteuer, oder war sie in Wien geblieben und verschmähte es, sich sehen zu lassen, mit ihrer alten, rechtschaffenen Schamhaftigkeit, die sie davon abhielt, ihr Unglück zu zeigen?

Besorgt und bekümmert nahm ich umso größeren Anteil an ihrem Geschick, bis ich in diesen Tagen den 311 Brief bekam, der mich vom glücklichen Ausgange der Dinge in angenehme Kenntnis setzte. Nachdem ihr wieder die Sonne aufgegangen, zeigte sie sich auch wieder frisch, munter und siegreich, den Brief lese ich Ihnen dann vor, zunächst erzähle ich die Lösung der verwirrten Ereignisse, die ihn veranlaßten und die ich durch einen zweiten späteren Brief erfahren habe, dessen Kauderwelsch ich Ihnen hiemit halbwegs verdeutsche.

Die Sache ging so vor sich. Sonja war in Wien geblieben, nicht fortgereist. Das Ausbleiben jeder Erledigung des Majestätsgesuches versetzte sie in immer ärgere Angst und Aufregung, nicht nur, daß ihr jede Hoffnung versank, sie fürchtete von dem kühnen Anliegen schwere Folgen für ihren Geliebten. Eines Tages erhielt sie eine amtliche Vorladung, in Sachen des Einschreitens bei der Kabinettskanzlei zur Erteilung notwendiger Aufklärungen zu erscheinen. Man mag sich ihren Zustand vergegenwärtigen. Sie zitterte am ganzen Körper, da war nicht eine Fiber, die nicht erregt gewesen wäre, alle Bedrängnis ihres ganzen Lebens, alle Schelmenstreiche, alle Notlügen, alle Versuche, sich trotz allem zu behaupten, bedrückten sie wie eine jahrelang angehäufte Last von Schuld, die nun an 312 einem letzten Faden schwer und unheimlich über ihrem Haupte hing. Gleichwohl faßte sie sich, so gut sie konnte und zog sich möglichst standesgemäß an. Ist doch die Anmut eines von Natur liebenswürdig gemachten Geschlechtes, der Reiz gefallsamer Tracht, eine nie versagende Hilfe der Weiber.

Sie verfügte sich in die alte Burg, wo eine prächtig gekleidete Wache sie empfing, ihre Vorladung einem galonierten Diener weitergab, der sie aus einem Vorsaal in den nächsten führte, bis sie am Ende in ein großes, reich ausgestattetes Gemach eingelassen wurde, in dessen Mitte an einem ungeheuren, mit Schriftstücken bedeckten Tische ein schlanker Herr in Generalsuniform saß, mit angenehmen, gebräunten und leicht geröteten Gesichtszügen, weißen, sorgsam gescheitelten Haaren und sehr aufrechter Haltung.

Sie blieb schüchtern bei der Tür stehen, er blickte auf und erhob sich mit natürlicher Liebenswürdigkeit und ungezwungener Ehrerbietung, die den vornehmen Adeligen zeigte, der einer Dame gegenüber keinen Augenblick in der Gewährung der förmlichen Huldigung zögert. Mit einer Verbeugung und einem leisen, fast unmerklichen Lächeln lud er sie ein, näher zu treten und an seinem Tische, auf einem Fauteuil neben 313 dem seinen Platz zu nehmen. Als er derart die Zeugin so recht in seiner Nähe hatte, begann er im leichten Gesprächston:

»Also meine Gnädigste, ich bin erfreut, die Heldin solcher Abenteuer endlich kennen lernen zu dürfen, wie Sie in dem Gesuche geschildert sind, das der Kabinettskanzlei unterbreitet worden ist, von Herrn Oberleutnant Roszkowski, wenn ich den Namen richtig behalten habe.«

Sonja nickte Bejahung.

»Ich habe mithin die Ehre, Fräulein Kobierska vor mir zu sehen?«

Sonja nickte beklommen Bejahung.

»Nun sind Sie oder vielmehr Ihr Vormund um Erteilung der Bewilligung zur Ehe mit Herrn Oberleutnant Heiner unter Nachsicht der Kaution eingeschritten. Sie haben sich wohl nicht verhehlt, daß ein solches Gesuch seine Schwierigkeiten macht, denn der Erlag der geforderten Summe bietet immerhin eine gewisse Bürgschaft für das Vorhandensein aller jener Bedingungen, die eben für die Ehe eines Offiziers unerläßlich scheinen. Das Geld erspart uns sonst eine strengste Prüfung aller Voraussetzungen.«

Sonja zeigte einen bekümmerten Gesichtsausdruck.

314 »Sie nennen das mit Recht betrüblich, ja grausam, in einer Summe Geldes, die man dem glücklichen Schicksal, reichen Eltern verdankt, den Ersatz für alle anderen Beweise der menschlichen Ehrbarkeit und Tadellosigkeit zu erblicken. Auch ich finde dies traurig, aber ich kann die Gesetze nicht ändern, denen immerhin manche Erfahrung recht gibt. Es ist einmal schon so in der Welt, daß, wer reich ist, eine gewisse Erleichterung guter Führung, unanfechtbarer Haltung und standesgemäßen Betragens gleichsam mit dem Gelde mitbekommt. Wenn nun ein Gesuch um Nachsicht von dieser Bedingung unterbreitet wird, haben wir die Pflicht, die Voraussetzungen für seine Gewährung auf das Strengste zu prüfen. Dieser Aufgabe habe ich mich unterzogen, sie war, ich kann es gestehen, in Ihrem Falle nicht leicht. Das wissen Sie wohl selbst am besten. Vieles ist mir dunkel und so unerklärlich geblieben, daß ich Ihre Hilfe und Zeugenschaft nicht gern entbehren mag. Sie waren also das eheliche Kind des Starosten Jaroslav Kobierski, Sie sind seinen Mißhandlungen als kleines Mädchen entflohen im Alter von . . .«

»Zehn Jahren.«

»Ja, leider sind manche Eltern grausam genug 315 gegen ihre Kinder, gar ein so ungebildeter polnischer armer Bauer, Sie verzeihen, daß ich Ihren Vater derart pietätlos kennzeichne, aber Sie werden kaum anders über ihn denken.«

Sonja nickte bekümmert Bejahung.

»Dann sind Sie mit Zigeunern umhergezogen, die leider spurlos verschwanden, ich konnte über diese Zeit Ihrer Jugend gar keine Daten sammeln. Die späteren Jahre sind einigermaßen, wenn auch nicht widerspruchslos aufgehellt. Sie wurden von Herrn Oberleutnant Roszkowski aufgefunden, gerettet, verschiedentlich untergebracht, Sie blieben eine Weile bei seinen Eltern, dann wurden Sie in Breslau bei frommen Schwestern unterrichtet, ergriffen in Wien den Beruf einer Erzieherin und so weiter.

Aber folgendes hat sich ergeben. Ihr Herr Vater, der Sie rechtens adoptiert hat, besaß niemals ein eheliches Kind.«

Sonja erschrak.

»Das ist ja kein Hindernis der Adoption, die ist gesetzlich unanfechtbar, es fehlten freilich genaue Ausweispapiere des anzunehmenden Kindes, aber dies mag der Richter verantworten, vor uns sind und bleiben Sie Kobierskis Tochter. Nur die Behauptung, daß 316 Sie von Natur aus ihm angehören, eigentlich sein wahres, wirkliches, eheliches Kind sind, ist leider unrichtig. Der Mann hatte niemals ein Kind.«

»Hat er das gesagt?«

»Nein, er nicht, aber die Leute im Dorfe erklärten einstimmig, Jaroslav Kobierskis Ehe sei niemals mit Kindern gesegnet gewesen. Folglich konnte er Sie auch nicht mißhandelt haben, Sie konnten nicht entflohen sein, die Zigeuner sind ebenso unwahrscheinlich und lassen sich daher auch nicht auffinden. Das gibt nun, wenn ich so sagen darf, einen Geburtsfehler ihres Gesuches, einen wesentlichen Mangel an der ersten Voraussetzung für seine Bewilligung, ich meine die unbedingte Glaubwürdigkeit.«

Sonja schwieg.

»Ich bitte, verehrtes Fräulein, Sie haben bisher noch keine Aussage gemacht, Sie tragen daher gar keine Schuld, seien Sie unbesorgt, ich habe nur das Gesuch Ihres Vormundes nacherzählt, der sich für seine Angaben selbst zu verantworten haben wird. Aber jetzt frage ich Sie, ich bitte Sie vielmehr: Haben Sie Vertrauen und sagen Sie mir, wie sich die Dinge verhalten, vielleicht können Sie mir alles besser aufklären, die Wahrheit ist das richtigste Auskunftsmittel.«

317 »Aber was soll ich sagen?«

»Nicht ein Wort mehr, als Sie aus freien Stücken sagen wollen. Ich habe ein Gesuch zu erledigen, keine Untersuchung. Die wird Herr Oberleutnant Roszkowski bestehen müssen.«

»Nein, das darf nicht sein, nur das nicht. Er soll nicht weiter Schaden und Unglück durch mich erfahren, er hat genug für mich getan, genug gelitten, jetzt sollte er noch für mich gestraft werden! Das darf nicht geschehen. Bei Gott nein, wegen einer tausendmal Elenden; er ist unschuldig wie ein Kind, ich habe alles auf dem Gewissen.«

Sie weinte.

Der General beugte sich mitleidsvoll über sie und sprach ihr Trost zu:

»Wenn Sie sich mir freundlich anvertrauen wollen und wenn der Herr Oberleutnant wirklich, wie Sie sagen, so ganz schuldlos ist, kann ja noch alles gut werden; fassen Sie Mut, wir sind ja allesamt nur Menschen mit unseren Schwächen und Torheiten und dürfen nicht zu streng miteinander ins Gericht gehen. Also Fräulein Kobierska, sagen Sie mir getrost, wer sind Sie, wer waren Sie, vor Ihrer Adoption, wie kamen Sie zu dem Namen Podchmielska?«

318 Sonja schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Also nicht Podchmielska, Eleonore, Charlotte, Sofie Podchmielska, wie denn?«

Sonja schwieg. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, der ganze Körper schluchzte, endlich blickte sie entschlossen auf und sagte:

»Ich heiße oder ich hieß Lea Weinrausch, oder Hopfen.«

Der General lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lächelte, nur einen Augenblick lang, um gleich die Fassung wieder zu gewinnen und mit teilnehmendem höflichen Ausdruck alles weitere zu gewärtigen.

Und nun begann Sonja zu reden, die Last alles verschwiegenen, verstellten, erfundenen Schicksals wälzte sie sich, erst zögernd, dann rascher und immer rascher von der gequälten Brust, sie befreite sich von der ganzen jahrelangen Qual der Verheimlichung, sie fühlte fast eine Art von Glück, endlich, endlich die Wahrheit zu bekennen, was lag jetzt an all den Lügen, sie mußte einmal die Wahrheit sagen, sich und ihren Beschützer frei machen von den schwer getragenen Fesseln, von denen sie beide jetzt am Halse gewürgt waren. Sie sprach immer lauter und lebhafter, ihre heisere Stimme, ihr ungeschicktes, stammelndes, 319 unordentliches Erzählen, die hilflosen doch beredten Gebärden ihrer Hände, der ganze zugleich flehende und erlöste Ausdruck ihrer klugen Augen, die merkwürdige Folgerichtigkeit aller ihrer Lügen, Ausflüchte, Rettungen, aller Verbindungen, die kaum ersonnen und benützt, wieder als wertlos zerrissen wurden, das ganze Gewebe, das in diesen Jahren mit immer neuen Erfindungen geflickt, immer wieder auf den Glanz hergerichtet worden war, erschien in ihrem Berichte so wahrhaft, so glaubwürdig, so völlig notwendig, und durchaus bedingt, daß kein Zweifel mehr übrig blieb.

Schließlich seufzte sie erlöst auf.

Der General blickte sie nicht unfreundlich an und sagte nun: »Mein Gott, was habt ihr aber alles aufgeboten! Wenn die Sache zuletzt nur nicht gar so kühn geworden wäre. Da habe ich ein Gesuch, wie soll ich mir helfen? Ein Offizier hat das geschrieben! Was er getan hat, war nicht eben das einfachste und geradeste, aber es läßt sich in der Beleuchtung der zwingenden Ereignisse bis zu einem gewissen Grade verstehen, doch wie soll man es entschuldigen? Es ist eine Fabel, die er dem Obersten Kriegsherrn weiszumachen versucht hat. Hält er die Menschen wirklich für so leichtgläubig, daß er das so ohne weiteres wagen 320 konnte? Die Vergangenheit berechtigt ihn allerdings zu solcher Annahme.«

»Sie wollen ihn jetzt noch strafen? Jetzt noch, für alles, was er um meinetwillen getan hat? das will ich nicht erleben, das kann ich nicht ertragen.«

»Seien Sie mutig, Fräulein, wir wollen alles überlegen, vielleicht findet sich irgendein Ausweg. Ich kann Ihnen nichts versprechen, die Angelegenheit ist allzu verwirrt. Wir haben den Knoten freilich durchhauen, aber wie wird die Sache wieder ganz? Doch seien Sie getrost und fassen Sie sich. Sie haben einmal im Leben gebeichtet. Ich will mich als Ihren Beichtvater betrachten, der die ärgsten Sünden in seiner Brust verschließt und gar so Schlimmes haben Sie ja im Grunde nicht begangen. Das Leben hat Sie eben arg durchgetrieben und Sie haben sich Ihrer Haut gewehrt. Wir Soldaten können das schon verstehen.«

Sonja lächelte ein wenig, ganz zaghaft und verstohlen glitt dieses Lächeln über ihr verweintes Gesicht. Der General, der bisher nicht recht verstanden hatte, daß diese kleine Person solche Abenteuer erregen, zu solchen Stücken einen braven Mann hatte zwingen können, recht als ein Schicksal selber, sah dieses Lächeln, welches ein ganzes, hilfloses, schlaues und wieder 321 törichtes, unendlich kräftiges und wieder durchaus zartes Wesen mit dem geheimen gütigen Glanze der Jugend, des stillen Reizes der Hilfbedürftigkeit, der Dankbarkeit und Treue überstrahlte. Und nun begriff er, daß man auch um einer solchen Schelmin willen ein Schelm, um eines armen, schutzlosen, sehnsüchtig ans Licht verlangenden kleinen Mädchens ein wunderlicher Lügenheld und gewandter Erfinder werden konnte. Er begriff es, denn man hat in seinen Jahren mancherlei Erfahrungen willentlich und unwillkürlich gesammelt, die Haare werden grau davon, aber vom kräftigen Herzen fließt ein starker Strom warmen Blutes durch die Glieder, jenes Blutes der Männer, die, was sie erleben, oft genug durch ein Weib erleben und um eines Weibes willen das Schicksal erleiden und bestehen, das sie zu dem gemacht hat, was sie sind.

Er sah Sonja mit einem raschen Blicke an, während sie in ihr Taschentuch hinein leise schluchzte und er dachte: Eigentlich ist sie ein Fisch, der durch eine mächtige Welle in den Sand geworfen worden ist und nun schnellt und springt, qualvolle, sehnsüchtige, jämmerliche Augenblicke lang, um wieder ins Wasser zu kommen und zu leben, denn leben wollen alle 322 lebenden Wesen, alle. Sollte das geschmeidige, hurtige, muntere Fischlein im Sand verenden? Wie schmerzlich blickten ihre Augen, wie schnappte sie nach ihrem Element! So nah war die Rettung, so weit! Und er war ausersehen, ihr den rechten Schwung zu geben.

Er, der alte Mann, hatte ein Schicksal, nein drei Geschicke in seiner Hand.

Lea Weinrausch, was wird aus dir?

Er erhob sich endlich, in Gedanken versunken, doch nicht unfreundlich und sagte:

»Nun liebes Fräulein, gehen Sie mit Gott und bleiben Sie stark.«

»Was wollen Sie ihm tun?«

»Das weiß ich nicht, aber ich hoffe, wir werden das Richtige finden, Sie haben dem Herrn Vormund viel zu verdanken, vielleicht haben Sie ihm heute alles abgestattet, was Sie ihm schulden. Aber in Zukunft seien Sie streng und genau und stellen keine solchen Streiche mehr an, denn sonst gilt's den Kopf. Also viel Glück und Gott befohlen.« – Damit war Sonja entlassen. Und nun den Brief, den ich aus der neuen Garnison des Oberleutnants Heiner bekam, mit kräftigen, munteren Schriftzügen, denen man schon von außen ansieht, daß sie mit dem Laufe der Welt, nicht gegen ihn 323 segeln und unter günstigem Wind des Schicksals aufrecht stehen, nicht von bösem geknickt und gebeugt sind.

Er lautet aber so:

»Lieber Dieter! Sie werden sich schon allerhand Gedanken gemacht haben über mein plötzliches Verschwinden ohne Abschied und Dank für Ihre Gastfreundschaft. Aber unsere Schicksale waren so schwierig und wir hatten in der letzten Zeit vor unserer Hochzeit so vielerlei zu erledigen, anzuordnen und vorzukehren, daß wir die kurze Frist vor dem Ende meines Urlaubs durchaus zu benützen genötigt, jeden Tag vergeblich Abschied zu nehmen gedachten, bis wir abreisen mußten, ohne es getan zu haben. Nun sind wir schon seit einem halben Jahre glücklich verheiratet und Sonja ist eine geschickte und tüchtige Hausfrau geworden, die sich um alles selbst annimmt und überall Bescheid weiß. Sie hat auch wirklich alle Hände voll zu tun, um unsere kleine Wirtschaft zu führen und mit den geringen Mitteln zu bestreiten, zumal uns keine Zinsen einer Kaution eine Ergänzung unseres Einkommens bieten. Aber wir haben uns recht behaglich eingerichtet, führen ein kleines, doch angenehmes Haus, wir haben eine mäßige, aber für unsere bisherigen Verhältnisse ausreichende Wohnung inne: drei 324 Zimmer, Vorzimmer, Badezimmer und Küche. Da gibt es denn mancherlei zu tun, besonders wenn man gerne Gäste bei sich sieht und außer dem Offiziersburschen nur ein Dienstmädchen hat. Ein einziger Kummer trübt leider unser junges Glück; mein armer Vater wurde nämlich ohne vorhergehende Krankheit plötzlich vom Tode dahingerafft, doch erlebte er noch unsere Heirat und beherbergte uns als Brautpaar in seinem Hause. Sonja aber freut sich ihrer Würde und ist sehr zufrieden. Wir wünschen nur beide, Sie möchten sich recht bald mit Ihrer verehrten Frau Gemahlin bei uns einfinden und alles in Augenschein nehmen, was wir uns selbst geschaffen haben. Dann wird es auch allerhand zu erzählen geben, worauf sich schon von Herzen freut Ihr dankbar ergebener Heiner, Oberleutnant.«

Unter diesen Zeilen stand mit übermütigen und vertrauten Krähenfüßen: »Schönen Gruß auch von Eurer glücklichen Sonja Heiner.«

So hatte also das kleine Ding Lea Weinrausch, recte Hopfen, vulgo Sofia Eleonore Charlotte Podchmielska, rechtens Kobierska zu guter Letzt doch nach all den Stürmen ihrer unruhigen und ungemäßen Namen den stillen Hafen eines einfachen, ehelichen gewonnen und lag in Ehren neben einem braven 325 Manne, wie es der Wunsch jedes Frauenzimmers ist, das am Ende doch gerne weiß, wo es eigentlich hingehört.

Hoffentlich gewährt ihr das Schicksal jetzt Ruhe und Frieden und Wohlergehen und erspart ihr die Mühe, Schlauheit und Listenspinnerei, an einen Namen immer das dichte Gewebe eines angeblich besseren zweiten und dritten zu drehen. Denn der ehrliche Name, der eines anständigen guten Mannes ist haltbar und kleidet stattlich, daß man sich ungescheut vor den Leuten sehen lassen kann.

Ich schrieb den beiden denn auch auf der Stelle einen recht aufrichtigen und herzlichen Glückwunsch, nicht ohne Sonja daran zu erinnern, daß sie viel, ja alles Gute ihres Lebens dem einen Menschen zu danken hätte, der die Abenteuer ihrer Jugend treulich mit ihr bestanden und sie durch alle Fährnisse einer bösen Zeit heil hindurchgeführt. Wenn ich auch selbst mit Roszkowski nicht eben gut ausgekommen war, da seine Taktlosigkeit anläßlich der Rechnungslegung über seine Ersparnisse mich erzürnt hatte, gedachte ich doch angesichts der glücklichen Lösung freundlicher des merkwürdigen Menschen und vergaß, was uns getrennt, denn bei allen Schelmenbräuchen ist er im Grunde 326 doch ein ehrlicher und ganzer Kerl, dem das Leben mehr ungerade als gerade Wege auferlegte und den die Hindernisse ringsum zwangen, seinen guten Willen mit allen möglichen Mitteln durchzusetzen. Wer das muß, hat keine Wahl, wählerisch zu sein und mag sich am Ende freuen, wenn alles geht, wie es eben ging. Mit Sonjas Glück und viertem letzten Namen hatte er alles reichlich gesühnt, was er etwa Schlimmes angestellt und ausgeheckt. Und nun, da sie versorgt und wohlgeborgen war, trat er still, bescheiden und selbstverständlich in das Dunkel zurück, als sei sein Verzicht die natürlichste Sache.

Und selbst wenn er die kleine Jüdin, das edle Polenmädchen, die angebliche Offizierswaise, die verjagte und wiedergefundene Starostentochter einmal geliebt und nach kurzer Blüte der Leidenschaft nicht mehr als Weib, sondern nur wie ein eigenes Kind im Herzen gehegt hatte, so war doch gerade diese wunderlich verworrene Zeit seines Daseins Sinn, Ziel und Glück gewesen, wovon er nun hatte Abschied nehmen müssen. Und wer weiß, ob nicht in späteren Jahren einmal über den unverdrossenen Wandersmann mit der Müdigkeit des Alters der Schmerz der Einsamkeit kommt und die wehmütige Erinnerung an diese Tage der Jugend, der 327 munteren Lügen und der gewandten Ausflüchte, an Tage, bittersüß, heiß und kalt, stürmisch und hell wie ein Sonnenregen im April. Während aber ein Vater sich die Füße am Herd der Tochter wärmen darf und Kinder spielen sieht, die sein Geschlecht weiterführen, blieb ihm, der Sonja wie ein Vater beschützt hatte, dieser einstige Friede wohl versagt, denn in ihrer Ehe war kaum für den Mann ein Platz, der sie geliebt und auf sie verzichtet, der sie besessen und abgetreten, der ihr drei Namen verschafft und den eigenen nicht hatte geben dürfen.

Auf meinen Glückwunsch bekam ich von Sonja den erwähnten zweiten Brief, worin sie mit dem gewohnten Kauderwelsch mir die Aufklärung über ihre letzten entscheidenden Erlebnisse gab und insbesondere für die Worte dankte, die ich ihrem gütigen Beschützer gewidmet, mich bat, zu vergessen, was er mir zugefügt und seiner wieder in alter Freundschaft und Treue zu gedenken, wie früher. Er sei jetzt auf ein ganzes Jahr beurlaubt, und habe seine lange beabsichtigte Weltreise angetreten.

Aller Verantwortung ledig, wie es sein Wunsch seit jeher gewesen, stach er, um mich seines Ausdruckes zu bedienen, endlich in die See und heute, wo wir seine 328 und die Geschichte von Sonjas vier Namen in aller Ruhe hier in diesen vier Wänden besprechen, fährt das Schicksal des wunderlichen Schelmen als ein einsames Schifflein irgendwo draußen im unendlichen Meer.


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