Otto Stoessl
Johannes Freudensprung
Otto Stoessl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Johannes Freudensprung und der Meister

Johann, der Sohn des bürgerlichen Tapezierers und Dekorateurs Michael Freudensprung, wurde nach der Bestimmung seines Schicksals und Willens schon frühe zu einem Johannes, obgleich diese Umwandlung aus der mißgeschickten Gans leider keinen Schwan hervorbrachte. Er ließ zwar fortan sein bisher kurzgeschnittenes, fahlblondes, borstiges Haar wild wachsen, damit es nach seinem Plane in Locken walle, aber er brachte es nur zu hängenden Strähnen und Zotteln, und auch die künstlerische Nachlässigkeit der Halsbinde, der ausgewachsenen und ausgefransten Hosen und der Jacke erschien weniger genialisch, als bloß verwahrlost. Sein Gefühl aber sicherte ihm, was sein Ansehen fragwürdig machte: die Welt mochte ihn verlachen, er war doch der auserwählte Diener des Höheren und entschlossen, seinen Stolz halb demütig, halb trotzig, doch vielsagend durch alles Ungemach seiner Tage zu tragen.

Auch Samuel Schnabel war in jener Zeit der Krisis, wo die griechische Sprache im Gymnasium unangenehm wird, an jenen Scheideweg gelangt, hatte sich auf seine Weise ebenso rasch entschlossen, erschien in einem Flausröckchen mit wehender blauweißgetupfter Krawatte, ließ sein braunes, lockiges Haar bis zu den Schultern wachsen, brachte einen schönpolierten Geigenkasten 4 mit, den er unter der Bank zärtlich streichelte, so oft ein verhaßter Aorist umsonst an sein Sprachwissen berief und erwiderte alle Niederlagen der Prüfungen mit einem dreisten, verächtlich ablehnenden Benehmen. Auf diesem Wege – die Professoren nannten ihn »den ins Verderben«, er selbst »die Laufbahn« – mußte er dem Johann Freudensprung so notwendig begegnen, wie zwei Tropfen sich finden, die hintereinander über die Dachrinne rollen. Für Gesicht und Geruch gab es ja einigen Widerstand, wenn man sich diesem Freudensprung anschließen wollte, schön war er nicht und, da er zu Hause einen Lehrjungen abgeben mußte, Wolle krämpelte, Matratzen stopfte, Tapeten kleisterte, Roßhaar und crin d'Afrique kämmte, haftete ein gewisser fader Werkstattgeruch von Federn, Insektenpulver, alten Stoffen und eingeschlossener Luft an ihm, und an seinen Schultern zog er Spuren von Pferdehaar, Wollfäden und Draht mit sich.

Aber da Freudensprung begeistert war, ließ Samuel Schnabel sich ihn gefallen, seine entzückte Demut und wie er ordentlich vor Anbetung des um zwei Köpfe kleineren Geigenkünstlers balzte. Jeder, der bewundert, ist ein Opfer, je armseliger er erscheint, um so großartiger dünkt der Triumph den Sieger, als mache er selbst den niederen Staub jauchzen und zu Golde. Und wenn sich ein Gottbegnadeter mit einem solchen Wurm einläßt, hält er sich noch ein besonders edles Werk zugute.

Samuel Schnabel nahm sich denn dieses Begeisterten an, er lud ihn zu sich nach Hause ein, um ihm vorzuspielen.

Samuels Vater war Handelsagent und mußte tüchtig reisen, ausbieten und sich bewegen, um diesen 5 Sohn so recht wachsen und gedeihen zu lassen, denn ein Künstler will mit Ganslebern und anderen guten Sachen ernährt sein. Aber das und überhaupt alles hatte die Mutter, Frau Regina Schnabel zu bestimmen, wie man denn im Hause nur die Gattin und den Sohn bemerkte, während der Vater klein, dürftig und bescheiden sich mit der Gabe der Unsichtbarkeit von Ecke zu Ecke verbarg, wenn er überhaupt vorhanden war. Frau Regina Schnabel, obgleich zum Herrschen doch äußerst klein geboren, half diesem Übelstande ab durch eine gewaltig laute, gebieterische Stimme und durch eine ganz besondere Art sich zu kleiden, sie bevorzugte nämlich weitausgehende Mäntel, die sie wie ein runder Berg umgaben, so daß sie zumindest den gleichen Raum in der Breite einnahm, der ihr der Höhe nach gebührt hätte. Wenn sie derart als Glocke dastand, konnte man glauben, sie sitze, und wenn sie auf einem Sessel Platz nahm, sie hockte auf dem Boden, aber das verschlug ihrer angeborenen Bedeutung nicht das mindeste, denn wenn sie die Stimme erhob, klang es wie aus einer schrillen Höhe, aus den Wolken.

Freudensprung drehte sich höflich und verlegen in diesem engsten mit Dekorationen und notwendigen Gegenständen vollgepfropften Raume herum, er wand sich zwischen einer altdeutschen Kredenz und Stühlen mit gepreßter Lederimitation, hütete sich vor Nippsachen, die auf einem dreifüßigen Taburett für ihr Leben zitterten, während große, wallende Samtvorhänge auf geschnitzten Stangen Ruhe geboten, dazwischen winkte ein Haubenstock voller Kleider. Noch war ein Tisch mit Geschirr und Nähsachen überhäuft, ein Brüsseler Teppich, ein 6 Dekorationsdivan mit falschem Perserüberwurf, ein »Schlafepatent-Fauteuil«, bis man zum Pianino kam, das, von einem Makartbukett beschattet, als Allerheiligstes dastand. Aus diesem Hintergrunde grüßte Frau Regina Schnabel den Johann mit herablassender Freundlichkeit: »Mein Schamu hat mir schon erzählt, daß Sie von der Kunst begeistert sind, kommen Sie nur zu uns. Es ist schon recht, wenn ein junger Mensch für was Höheres einen Sinn hat. Also soll Ihnen mein Schamu vorspielen. Ich bin zwar sonst nicht dafür, daß er sich schon jetzt vor Krethi und Plethi hören läßt, aber vor einem guten Freunde macht's ja nichts aus.«

Damit nahm sie vor dem Pianino Platz und schickte sich an, ihren Sohn zu begleiten. Sie wühlte unter den Noten herum und entschied: »Du spielst die Nocturne von Vieuxtemps. Mit drei Jahren Geigenlernen spielt mein Schamu die Nocturne von Vieuxtemps.«

Der angehende Virtuose klemmte die Geige zärtlich an den Hals und stimmte sie eindringlich. Dann setzte sich Samuel in eine edle Bereitschaft, das rechte Bein als Spielbein zierlich voran, den Oberkörper soweit als tunlich zurückgebogen und begann den Vortrag, in den Zügen bei geschlossenen Augen einen schwärmerischen Ausdruck, als trinke er Honig, und jeweilen warf er in der Bewegung des Spiels die kastanienbraunen Locken mit kühner Gebärde zurück.

Johann erkannte nicht so sehr an den Tönen selbst, als an der Weihe der ganzen Handlung die große Sache und lauschte innig ergeben, wie ein Indianer dem Schöpfungsgeheul des Urwaldes als der Stimme des großen Geistes.

Endlich hatte Samuel das Tonstück mit freundlichem Lächeln beendigt, senkte die Geige mit klug 7 berechnender Bescheidenheit, und Frau Regina drehte sich auf dem Klavierstockerl mit gebieterischem Blicke nach Johann um. Jetzt mußte sich das Publikum äußern. Freudensprung neigte in tiefer Ergriffenheit das Haupt, blickte begeistert um sich und seufzte: »Wunderschön, o du hast viel Talent.«

»Was, Talent hat er? Ich sage Ihnen, junger Mann, mein Schamu ist ein Fenom. Ein Fenom. Ein Fenom.«

Erst nach einiger Überlegenheit stellte Johann aus einigen Resten griechischer Erinnerung fest, Frau Regina halte ihren Sohn durchaus für eine Naturerscheinung.

»Mei Schamu is e Fenom,« wiederholte sie, und Johann bestätigte es jetzt begeistert, weil er das Wort verstand.

Fortan ergab sich Freudensprung dem Freunde wie ein gehorsamer Hund, er besorgte ihm und Frau Schnabel Botengänge, half ihr in der Wirtschaft und bei den vielfachen Arbeiten, die sich an den Dekorationsgegenständen ergaben. Endlich wurde Johann – nein, Johannes in Konzerte mitgenommen, denn Frau Regina bekam Karten zu allen Virtuosenproduktionen der Stadt.

Der erste Abend im Bösendorfer Saale war für den Jünger ein unvergeßlicher Eindruck. Er fand sich tunlich sauber mit seinem Sonntagsstaat angetan, gewaschen, mit sorgfältig gebürsteten Stiefeln und naßgekämmten Haaren in Frau Reginas Wohnung ein, wo Schamu schon gerüstet dastand, im Samtgewand und einem breiten weißen Umlegkragen, die kastanienbraunen Locken schön gescheitelt, mit Glacéhandschuhen, während seine Mama eine größere Rotonde 8 als sonst umhing und über die bloßen Arme zwei Schlangen von taubengrauen Handschuhen zog, die sich ins Unermeßliche ausdehnten. Über die Handschuhe streifte sie – es war Winter – sowohl zur Schonung als wegen der Wärme wollene, gestrickte Fäustlinge, hing einen Pompadour um, in welchem etliche Sacktücher, drei Schinkensemmeln, ein perlmutternes Opernglas, eine Geldbörse, verschiedene Konzertprogramme, Zeitschriften und ein paar Exemplare von Hosenschützern Platz fanden. Diese merkwürdigen Gummistreifen, welche an den Rand der Männerhosen genäht werden sollten, um sie vor dem Ausfransen zu schützen, waren ein patentierter Artikel, dessen Vertrieb sie förderte. So zogen sie aus. Unterwegs hielt sich Frau Regina in etlichen Herrenmode- und Schneidergeschäften auf, wo sie für die Hosenschützer warb, um nach etlichen Minuten bald mißmutig, bald befriedigt herauszukommen. Endlich schob man sich durch die enge Herrengasse in einem Wirbel von Spaziergängern, Konzert- und Theaterbesuchern, schönen Frauen in fabelhaften Abendmänteln und Pelzen, langsam fahrenden Wagen, sausenden Automobilen zum Eingang des alten Palais, wo eine sparsame Beleuchtung von fünf oder sechs gelben elektrischen Birnen den berühmten Saal anzeigte.

Der nicht sehr hohe, gleich einer großen Schachtel geschlossene Raum im matten Lichte der opalisierenden Glaskugeln atmete eine sozusagen tierische behagliche Wärme aus, die irgendwie, wenn auch noch so unbestimmt, an seine einstige Eigenschaft als Pferdestall erinnerte. Auf dem Podium, unter den helleren Glühlampen, reckte sich ein mächtiger schwarzer Flügel aus, und gravitätische Diener bewegten sich, im 9 vorläufig noch halbleeren Saal, mit gemessener Gleichgültigkeit.

Durch die zwei Eingangstüren wallte ein unablässiger, sachter Strom von schwarzgekleideten Herren und schön aufgeputzten Damen mit blanken Nacken, feinen Frisuren, mit Perlenketten, Pelzboas, rauschenden Seidenröcken, Spitzenkragen, Diamantohrringen, Fächern, mit schmachtenden, gleichgültigen, gespannten, witzigen, traurigen oder munteren Zügen, ein Rauschen, Summen von Gesprächen, Schallen von Tritten, Klappen von Sitzen wehte hin und her, wärmte die enge Luft und machte sie prickelnd, daß sich das Fieber der Spannung wollüstig steigerte. Längst hatte Schamu neben Johannes in einer der letzten Sitzreihen Platz genommen, während Frau Regina mit wichtiger Miene ins Künstlerzimmer abschob, um noch, wie sie sagte, mit dem gefeierten Virtuosen einiges zu besprechen. Indessen zeigte Schamu seinem Freunde die ortsüblichen Größen, schwärzliche, zugleich wichtig und wurstig dreinschauende Herren mit schäbigeren schwarzen Röcken als die anderen, und mit Augengläsern. Sie benahmen sich gegen das Publikum ungezogen, schwatzten miteinander und tauschten laute Bemerkungen: die Kritiker. Johannes staunte über alles und alle. Hier erweiterte sich sein Begriff der Kunst, als einer Sache, die so viele Menschen in Bewegung, Schmückung, schöne Kleider, Begeisterung versetzte, andere zum Besserwissen und Reden und zum Verdienen anregte, Frauen ins Licht stellte, einen Saal festlich strahlen, summen und sich füllen ließ. Dies alles war Kunst und Musik, noch bevor der Künstler kam.

Endlich erhob sich ein allgemeines Knattern, eine 10 Salve von klatschenden Händen, schon war Frau Regina wieder neben ihren Schützlingen, reckte sich in ihrer Rotonde gleichsam über sich selbst hinaus, streckte die beiden Arme in den taubengrauen Handschuhen hoch empor und ließ sie in den Lüften zusammenschlagen, mehr zum Sehen als zum Hören, und rief mit lauter Stimme: »Evviva, Evviva!«

Oben auf dem Podium machte ein Mann mit einer ungeheuren Mähne eine tiefe Verbeugung und bedankte sich für die begeisterte Begrüßung, setzte sich dann am Flügel zurecht und begann zu spielen. Was er hier vorbrachte, schien weniger wichtig, als wie er es tat, denn sein ganzer Körper rollte und glitt, wälzte und bäumte sich über das Klavier, seine Mähne wallte vornüber und wurde im plötzlichen Aufschwung wieder zurückgeworfen, seine Arme wanden sich, krochen, schlugen, hüpften, spazierten nebeneinander, kreuzten sich, und die Finger der unablässig tätigen beiden Hände eilten, hämmerten, streichelten, fegten, schwebten, tanzten, stießen einander und brachten eine Flut von Tönen in Bewegung, die halbwegs sangen, dann wieder durchdringend wühlten wie ein Knurren und Brummen, Schreien und Toben eines Unwetters, dann säuselte was drein, tauchte wieder unter, das Ungeheuer unter den Händen eines zweiten dröhnte schließlich gewaltig auf, und eine neue Salve von Beifall bezeugte das gute Ende. Wiederum erhob Frau Regina ihre beiden taubengrauen Arme mächtig in die Lüfte und klatschte, sah sich mit befeuernden Blicken rings um, auch Schamu klatschte wie besessen, so daß Johannes unwillkürlich das gleiche tat und die übrigen mit einfielen. »Bravo, bravo!« 11 schrie Frau Regina unablässig und stand wie eine Glocke da.

Dies wiederholte sich einen ganzen Abend lang, bis zum Schluß des Konzerts die Begleitung schon aus sich selbst heraus einen unabhängigen Taumel entfesselt hatte, so daß sie eine Unterhaltung für sich wurde, zu der es mitgehörte, daß Frau Regina unversehens ihre natürliche Größe zur innenwohnenden Gemütsbedeutung ins rechte Verhältnis brachte, indem sie auf die Bank stieg und nun, ums doppelte fast gewachsen, ihre taubengrauen Arme noch mächtiger über den Köpfen des Publikums zusammenschlug und mit kräftiger Stimme »Bravo, bravo!« sang. Die Zuhörer drängten vorwärts zum Podium hin, alle Gleichgültigen, gesellschaftlich Gelassenen verließen den Saal, nur die Tiefbewegten, deren Aufschwung dieses Extravergnügen forderte, hatten sich in unmittelbarer Nähe des Flügels und des Löwen zusammengewälzt, Frau Regina, an jeder Seite einen Knaben, stand zuvorderst. Der Virtuose, mit verschwitztem Hemd, rotem Gesicht, mit verwunderten, glotzenden, aber nichts erblickenden Augen, am Frack ein rotes Bändchen, verbeugte sich tief und verschwand, um, immer wieder gerufen, lächelnd zu erscheinen, bis er sich endlich zu einer Zugabe entschloß. Er blickte um sich, als verlangte er den Wunsch des Publikums nach irgendeiner Glanzleistung zu vernehmen und dann entsprechend zu erfüllen. Allerhand Stücke wurden durcheinandergerufen, so daß man nicht einmal die Namen verstand. Aber Frau Regina schrie mit ihrer Stimme aus den Wolken so laut, daß sie alles übertönte: »Tannhäuserparaphrase«. Der Virtuos gehorchte und ließ das Ungeheuere 12 hereinbrechen. Er gab ein zweites, ein drittes Tonstück hinzu, immer nach dem Wunsche der hier offenbar maßgebenden Frau Regina, die zum Dank ihren Beifall mit Zurufen, Seufzern, Lachen, Jauchzen kundgab und überallhin zu gleichem Überschwang winkte, bis sich endlich der Saal verfinsterte und auch die tollsten Stürmer den Raum langsam verließen.

Frau Regina behauptete das Schlachtfeld und tobte weiter, ihre beiden Begleiter mit ihr. Endlich rief sie: »Ins Künstlerzimmer!« und eilte voraus. Johann wollte bescheiden zurückbleiben, aber Schamu zog ihn mit.

In einem kleinen, rotausgeschlagenen Kabinett saß der Virtuose ermüdet an einem Tische vor einer halbgeleerten Champagnerflasche und etlichen Gläsern. Zufällig war kein anderer Bewunderer hier, nur ein Diener machte sich an dem Lorbeerkranze zu schaffen, der dem Tastenfürsten gereicht worden war.

»Meister,« seufzte Frau Regina. Der also Angerufene schaute hochrot, gelassen, todmüde auf die begeisterten Ankömmlinge. »Meister,« wiederholte Frau Regina ihre Anrede, »wie haben Sie heute gespielt,« und ließ sich auf ein Knie nieder, Schamu zu ihrer Rechten, Freudensprung zu ihrer Linken, der in diesem Augenblick ihren bestimmenden Händedruck spürte, der auch ihn zum Niederknien zwang. So bemächtigte sie sich der Rechten des wehrlosen Klavierbändigers und küßte sie laut. Schamu übernahm die Hand von ihr, und plötzlich sah auch Johannes eine heiße, rote, weiche, fette Hand vor seinem Munde und küßte sie, wenn auch widerstrebend. »Danke, danke,« sagte der Meister. Endlich erhob sich die Begeisterte nach vollbrachter Weihehandlung, zog Schamu 13 das Fenom und Johannes nach sich und trat den Heimweg an.

Im großen, kühlen Vorraum des Bösendorfer Saales kam man unter das angenehme Gedränge der verwandelten und vermummten Personen, rieb sich an Pelzen und Spitzenschals und sah liebliche Gesichter unter Hauben hervorglänzen, bedeutende Männerstirnen von mächtigen Hüten beschattet. Dazwischen wand sich die Glocke Regina und schallte plötzlich wiederum mit all ihrem Blech: »O schönen guten Abend, Herr Professor Kühne, was sagen Sie, hat er heute nicht ein wenig daneben gehaut?«

»In der Tat, in der Tat, werte Frau, wie ein Schwein, aber er darf sich's erlauben,« entgegnete ein beleibter, breitspurig, gleich einem Dachshund sich fortbewegender älterer Herr, dessen dünne, fadenscheinige, graue Locken unter einem verbogenen Kalabreser hervorflatterten. Er schien zu frieren, denn er trug keinen Wintermantel oder Pelz, sondern nur einen alten Kamelhaarhavelock, in dessen Taschen er seine Hände verbarg, während er den Hals unter den aufgestellten Kragen duckte. Er schaute durch seine goldgefaßten Brillengläser Schamu das Fenom und Johannes scharf an, verzog seinen Mund zu einem mißmutig liebenswürdigen Lächeln und sprach: »Ei, da haben Sie ja den Sohn mitgebracht. Nun, was macht denn unser angehendes Genie, was macht Ihre Geige, Herrchen Schnabel?«

Frau Regina übernahm sogleich die Antwort. »Ja, Herr Professor, wir wollten doch über unsere Sache sprechen, was ist's also mit Schamus Porträt, ich sag' Ihnen, der Junge spielt zum Staunen, Sie dürfen mir's glauben, ich bin zwar die Mutter, aber ich 14 täusche mich nicht, in der Kunst bin ich unparteiisch, ich verstehe ja den Rummel, Sie sollen sehen, was aus dem Buben wird. Trachten Sie, daß Sie ihn beizeiten entdecken, Meister!«

»Gewiß, gewiß, meine Gnädige, aber Kunst kostet Geld, zum Entdecken Amerikas brauchte auch Kolumbus ein Schiff, und das Schiff des Künstlerruhmes ist die Presse.«

»Sehr gut, geistreich, Herr Professor,« klang Regina die Glocke dazwischen.

»Wovon lebt aber wieder die Presse? Nur von denen, die sie fördert. Ich habe Ihnen ja neulich schon angedeutet, wie wir die Sache zum Schwimmen bringen. Sie lassen zwölf Stück Porträts unseres jungen Künstlers bei meinem Photographen anfertigen, Makartformat, in ganzer Figur, zur Reproduktion geeignet. Das Bild bringe ich dann auf der ersten Seite meines ›Apollo‹.«

»Aber der Photograph ist zu teuer, ich könnte die Bilder doch von einem Amateur gratis bekommen, und hundert Kronen für die Aufnahme in das Blatt, hundert Kronen, Herr Professor, denken Sie, ich bin eine arme Frau. Könnte ich Ihnen nicht lieber ein paar Abonnenten und Inserate verschaffen?«

»Nein, gnädige Frau, Sie wissen, wie schwer es ein künstlerisches Unternehmen in Wien hat, um sich durchzusetzen, besonders wenn es sich von allen Parteien und Cliquen fernhält und unabhängig seinen eigenen, idealen Weg geht. Ohne fixe, sichere Beiträge kann ich es nicht betreiben. Und für eine Folioseite sind hundert Kronen gewiß nicht zu viel, wenn ich meinen Essay dazu als kritische Begleitung des Bildes erscheinen lasse, wofür ich als für eine 15 Herzenssache ohnehin nichts berechne. Ist dieser Artikel erschienen, dann läßt sich vielleicht ein Konzert veranstalten, bei Ihrem großen Bekannten- und Verwandtenkreise setzen wir die Billette stürmisch ab, meine Gesangsschülerinnen werden meine neuen Lieder singen, und Ihr Schamu ist eingeführt. Er kann spielen, was er will. Wir werden schon den Wienern was hinlegen, nicht wahr, mein Herrchen?«

Frau Regina zog den Professor abseits, hing sich in seinen Arm und sprach leise auf ihn ein, während Schamu den Johannes hinterdrein führte.

Endlich mochten die beiden vorne handelseins geworden sein und standen auf einer Laterneninsel des Michaelerplatzes still, um Abschied zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit stellte Frau Regina Johannes vor. »Meister, hier ist ein Jüngling, der sich für die Kunst begeistert, Herr Johannes Freudensprung, erlauben Sie, daß ich ihn an Ihr Herz lege. Er ist ein Student und sehr geschickt in allen Arbeiten, er hat mir schon manche wertvolle Hilfe geleistet, ein treues Gemüt, ein sonniger Mensch. Er hat eine schöne Stimme, Sie können ihn ausbilden.«

»Ei, ei, freut mich sehr,« nickte der Professor und besichtigte den hochaufgeschossenen Jünger mit höflicher Neugierde.

Johannes strahlte vor Genugtuung und Verlegenheit. Die Nachricht von seiner schönen Stimme überraschte ihn aufs tiefste.

»Aber ich habe ja noch nie gesungen,« flüsterte er.

»Oh, ich kann eine Stimme auch ohne das beurteilen,« berichtigte ihn Frau Regina.

»Nun, einmal muß man eben beginnen,« beruhigte der Professor. »Kommen Sie bei 16 Gelegenheit einmal zu mir, junger Mann, springen Sie Freudensprünge.«

Damit klopfte er dem beglückt Verlegenen in die Gegend des rechten Brustkastens, denn er reichte ihm nicht bis zur Schulter, Schamu dem Fenom tätschelte er die Wangen, Frau Regina küßte er die Hand im Fäustling. Dann bewegte er sich fort, den Kopf in die Schultern gezogen, so daß der Kalabreser unmittelbar auf dem Rumpf zu sitzen schien.

»Ein sehr gebildeter Mensch,« seufzte Frau Regina und hob die Wichtigkeit der Stunde für ihren Schützling hervor.

In der Tat nahm Herr Professor Kühne den Jüngling seiner ersten Gönnerin ab, belegte ihn bald gänzlich für sich mit Beschlag, und binnen kurzem war es ihm gelungen, einen vollständigen Famulus aus dem begeisterungsglühenden Johannes zu machen.

Jede freie Tagesstunde und, so oft es nur anging, auch eine verbotene widmete dieser dem teuren Meister in dessen Atelier, denn sowohl aus Gründen der Kunst als wegen der Billigkeit hatte Herr Professor Kühne eine hochgelegene Vorstadtmansarde inne, die eigentlich für die Werkstätte eines Malers, nicht zum Wohnen bestimmt war. Dort stand in der Mitte ein Klavier, an der Wand ein Sofa, drei Stühle und ein Kleiderstock, worauf des Meisters ganze Garderobe versammelt war. Sonst hing noch sein Porträt da, firnisstrahlend, mit einem verstaubten Lorbeerkranz umwunden. Auf dem Fußboden verweilten einträchtig Notenhefte und zerknüllte Papiere mit Speiseresten, Haufen von Zeitungsnummern, Kragen und Manschetten nebeneinander, während der breite Rücken des Flügels auch noch als Schreib- und Eßtisch diente. 17 Hier empfing Herr Professor Kühne seine Schüler und Schülerinnen, hier komponierte er, hier schrieb und korrigierte er sein Journal »Apollo«, hier schlief und aß er. Hier erzog er sich auch seinen Jünger Freudensprung. Und zwar brachte er ihm, zunächst mit einiger Mühe, denn der Schüler war nicht eben musikalisch begnadet, seine berühmte Ballade »Der Wirt an der Mahr« bei, die Johannes mit dröhnendem Eifer singen und pathetisch deklamieren lernte, wobei der Meister ihm alle Einzelheiten unter beleidigenden, aber aufmunternden Zurufen: »Esel«, »Rindvieh«, »Tapezierergehirn«, »Leichensänger« und dergleichen moralisch nahelegte. Dafür saß aber dieses einzige Stück unfehlbar im Gedächtnis des Jünglings, so daß er, mitten in der Nacht aufgewacht, ohne weiteres den »Wirt an der Mahr« intonieren konnte. Diese ständige Bereitschaft war auch nötig, denn so oft ein neuer Gesangsschüler oder ein musikalischer Gönner oder selbst ein gleichgültiger Besuch das Atelier beehrte, mußte Johannes den »Wirt an der Mahr« schmettern zur Ergötzung des Gastes, zum Beweise des musikalischen Genies seines Meisters und auch der unfehlbaren Lehrmethode, die sogar aus einer Giraffe einen Balladensänger hervorzubringen vermocht hatte. Wenn aber Freudensprung inzwischen etwa einen Gang für Kühne zu tun, Korrekturen in die Druckerei zu tragen oder Bilder vom assoziierten Photographen abzuholen, Abonnementsbeträge für den »Apollo« einzutreiben, Inserate zu werben, Freikarten von den Konzertbureaus abzubetteln hatte, ließ Kühne den Besucher nicht fort, ehe sein Famulus wieder da war und, noch erhitzt und atemlos von der Besorgung, in der nötigen begeisterten Haltung 18 ans Klavier trat und unter den dröhnenden Schlägen der Kühneschen Begleitung den unsterblichen, endlosen »Wirt an der Mahr« seinen Heldentod fürs Vaterland erleiden ließ.

Diese vielseitige und bereitwillige Tätigkeit an der Seite des Meisters machten Johannes' Gymnasialstudien notwendig ein Ende, nicht ohne schwere Auseinandersetzungen mit dem Vater Tapezierer, der sich indessen mit der Aussichtslosigkeit des Lateinischen und Griechischen trösten mußte und wenigstens eine gewisse Förderung des Geschäftes erhoffte, denn Johann führte ihm allerhand berühmte Kundschaften zu, die freilich vorläufig bloß Bestellungen machten und mit Freikarten bezahlten. Aber welche Lust für Johannes, zu einer jungen Opernsängerin früh am Morgen berufen, ohne Arg ins Schlafzimmer eingelassen und von der noch im Morgenerwachen blinzelnden Schönen heiter angelacht zu werden: »Jessas, Freudensprung, tausend Kommissionen hab' ich für dich, erst springst zum Kassierer und holst mir einen Vorschuß und zwei Freibillette für heut abend, aber daß er dir keine schlechten anhängt, Ecksitze brauch' ich für meinen Grafen, ganz vorn, dann schaust du zur Garderobiere, dann holst mir von der Schneiderin den Abendmantel, vom Zuckerbäcker was Süßes, ein paar Schaumrollen und eine Sachertorte, vom Delikatessenhändler einen Matjeshering, nicht vergessen, ich brauch' was Saures nach dem gestrigen Halloh, und hier arrangierst du mir dann eine Portiere und die Mullvorhänge, und dafür kriegst du einen Stehsitz zur Aida.« Wenn dann zwei weiße Arme aus der Federdecke nackt hervortauchten, unter den Kissen ein Freibillett suchten und es dem errötenden Burschen 19 entgegenstreckten, war er über Gebühr belohnt. »Königin, das Leben ist doch schön.« Solche Verbindungen verdankte er seinem Meister, der, wenn auch nur ein geringer Verwalter des Ruhmes, doch von allen Sängern und Schauspielern eines gewissen herablassenden und spöttischen, aber duldsamen Verkehres gewürdigt wurde, denn kein Mime wagt es, auch den machtlosesten Vertreter der Presse abzustoßen, »man kann nie wissen«, wer heute verkannt wird, ist morgen am Ende doch ein Genie, und was schadet es, wenn man sich bei ihm beliebt macht, ihn »Meister« oder »Herr Doktor« nennt und ihm Freikarten schenkt. Das kostet nichts und erhält die Freundschaft. So fiel auch für den Famulus immer ein Brosamen der Gnade ab, zumal er sich erkenntlich zeigte und seine Zeit und Arbeit mit Wonne herschenkte. So sprang er für viele Tenöre, Soprane, Altistinnen vom Agenten zum Theaterkassierer, vom Weinhändler zur Tabaktrafik, vom Arzt zur Manikure, vom Musikaliengeschäft zum Konzertbureau, dazwischen besorgte er Möbel und Dekorationen, brachte Bilder an, hing Vorhänge auf, schleppte Gegenstände zum und vom Versatzamt, richtete Botschaften aus, vermittelte Nachrichten, merkte alle Namen, hütete sich vor Verwechselungen und kehrte stets von seines Vaters Laden und Wohnung und von seinen vielen Geschäften ins Atelier seines Meisters zurück, gleich einer Spiralfeder, die nach allem Schwung ihre vorbestimmte Lage wiederfindet. Dort bei Professor Kühne hatte er seinen wahren geistigen Halt und Trost, trotzdem ihn der Meister nicht gerade immer gnädig oder zart, sondern mit Strenge, böser Laune, harten Worten behandelte, aber das gehört eben mit zum stürmischen 20 Leben der Kunst und zur Weihe des Genius, dem Johannes diente. Und welcher Stolz, wenn er zu guter Letzt doch den »Wirt an der Mahr« singen oder mit dem Professor ein Stück Brot teilen durfte, denn es kam sehr oft vor, daß weder in der Börse noch in der Westentasche oder auf dem Aschenbecher Kühnes sich ein letztes Geldstück vorfand, um ein Mittagessen zu kaufen, und daß Johannes von einer Firma hinausgeworfen worden war, wenn er ein Inserat für den »Apollo« herausschinden wollte, oder daß eine Berühmtheit durchaus die Taxe für ihr Bild in Makartformat verweigerte, das auf der ersten Seite der Zeitschrift mit nachfolgendem Essay des Meisters als Einnahme und letzte Rettung geplant war. Gingen doch, unglaublich genug, sogar die noch unberühmten Künstler aus, die zu entdecken Kühnes Lebensberuf und Haupteinkommen war.

In diesen schlechten Zeiten hatte nicht einmal die Eitelkeit Geld für Porträts und Begeisterungsartikel und mußte sich wohl oder übel an dem einsamen Bewußtsein des eigenen Wertes wärmen, so daß Herr Professor Kühne kein Geld fand, im Winter seinen Ofen zu heizen und fallweise eine Nummer des »Apollo« ausbleiben lassen mußte, wenn der Drucker keinen Kredit gab und kein hoffnungsvolles Genie seine Entdeckung in bar bezahlte.

Da starb eines Tages, vom Schlage getroffen, Michael Freudensprung der Vater und hinterließ ganz unerwartet seinem Sohne ein paar tausend Gulden, mit denen sich der junge Mann auf einmal für reich und unermeßlich frei hielt.

Nach Erledigung der Trauer- und Begräbnisfeierlichkeiten, bei denen Meister Kühne als teilnehmende 21 Berühmtheit Figur machte, während viele Künstler sich mit denkwürdigen Beileidsbriefen und Karten einstellten, die Johannes in einer Alabasterschale seiner Werkstatt zur Schau brachte, begab sich der Jünger, gefaßt, aber erleichtert in Kühnes Atelier, um seinen Dienst wieder anzutreten. Der Professor war ausgegangen. Johannes schickte sich eben an, den verwahrlosten Raum ein wenig zu säubern und kehrte die Papierfetzen und Abfälle zusammen, als eine unbekannte Dame in Schwarz eintrat und nach Kühne verlangte. Freudensprung machte seine Reverenz und lud sie zum Bleiben, bis der Herr Professor zurückkomme. Die Dame schlug den Schleier zurück und ließ ein blasses Gesicht mit leidensvollen, aber zugleich von innerer Kraft erhellten Zügen erblicken, in das wirres schwarzes Haar aus dem großen Samthut wild hineinhing. Offenherzig, wie alle, die bei Kühne verkehrten, erzählte sie bald, was sie hierher geführt hatte. Sie war, obgleich man sie durchaus für unverheiratet hätte halten mögen, die Gattin eines Geschäftsmannes, der für ihre höheren Ziele und Anlagen kein Verständnis und keine Zeit aufbrachte. Ihr Drang zur Kunst blieb unbefriedigt, sie wollte Opernsängerin werden und von Kühne ihre Stimme prüfen lassen, sie ertrug diese bürgerliche Existenz ohne höheren Aufschwung, ohne geistige Interessen nicht länger, eigentlich wollte sie wenigstens ihre Wohnung neu einrichten und etliche Dekorationen anbringen, aber sie fragte sich, ob derlei in einem so trostlosen Dasein überhaupt einen Sinn hätte. Anderseits möchte sie wieder in die weite Welt hinaus. Kurz Pläne, Wünsche, Seufzer, Fragen flogen aus ihrem Munde und schwirrten 22 durcheinander, wie viele, laute Vögel über ein Stoppelfeld im Winter, wo es kein Korn gibt. Freudensprung lauschte ergriffen. Endlich fing er einen Wunschvogel: den von der Zimmerdekoration. Die Dame möchte sich in seine Werkstätte bemühen, er sei zufällig Dekorateur, nicht von innerem, aber von äußerem Beruf und wegen seiner heißen Liebe für alles Künstlerische doch nicht ohne Begabung auch für diesen Schmuck des Lebens. Er wollte ihr Möbel, Vorhänge, Arrangements zeigen. Die Dame lächelte wehmütig: sie fürchte die hohen Kosten einer solchen Ausrüstung, die vielleicht, ja höchstwahrscheinlich zwecklos sei, denn sie wisse doch nicht, ob, warum, wie lange, wofür. Freudensprung legte die Hand aufs Herz, da sei Gott vor, ihm käme es auf ihre Gemütsruhe an und auf das Glück, ihr zu dienen. So begab sich denn die Dame mit ihm in sein Geschäft, da Kühne ausblieb.

Es verging ein Tag, und zwei und drei vergingen, eine Woche, ein Monat verstrich, und Freudensprung erschien nicht mehr bei seinem Meister. Der erschrockene Kühne, dem der rastlose Sänger des »Wirts an der Mahr«, der rüstige Werber von Abonnenten und Inseraten, der Botengänger, Freikartenabgraser, Geldzusammenkratzer, Dienstmann, Atelierputzer, der Schild, der alle Schimpfworte auffing, das Gefäß, das alle üblen Launen ohne Widerspruch faßte, schmerzlich mangelte, entschloß sich endlich zu einem Besuch in Freudensprungs Geschäft. Er fand es verschlossen, die Werkstätte ausgeräumt. Die Nachbarn berichteten, der junge Mann habe das Ganze eilig losgeschlagen und sei mit einer Dame verreist. Kühne griff sich an den Kopf: sein Johannes mit einer Dame! Nun trau 23 einer der Unschuld und Treue! Dieser abgefeimte Jüngling war kein selbstloser Diener der Kunst, sondern eigenmächtig, wie nur einer! Freudensprung mit einem Weibe auf und davon! Gab es noch Kinder auf der Welt! Dieser gewissenlose Mensch noch Verführer, noch Abenteurer auf eigne Faust, Verräter!

Allgemach hatte Kühne das Ungeheure vergessen und wieder allein seinen schwierigen Lebenswandel aufgenommen, zwischen Hunger und Porträtbetteleien, Schülerkonzerten und Berühmtheitsarrangements in sanfter Mühsal und ohne Jünger. Die Wogen langer Zeit schlugen mit Fluten von Kunstsensationen über ihm zusammen und zogen sich dann wieder in der Ebbe sacht zurück, doch ließ keine seinen Freudensprung vor des Meisters Füßen liegen. Dieser Johannes schien im großen Meere ertrunken, was anderseits, wenn man seine Schändlichkeit ermaß, doch wieder als gerechte tröstliche Strafe des Schicksals gelten durfte.

Aber siehe da, eines Tages schlug doch eine Welle den Jünger ans Land, arg zugerichtet, als Angeklagten und Gefangenen. Und Professor Kühne sah seinen Schützling im Landesgericht wieder, als Häftling bei einer Verhandlung, zu der er, der Meister, als Zeuge vorgeladen war.

Da bekam man eine wunderliche Irrfahrt und eine Reihe merkwürdiger Abenteuer dieses Johannes Freudensprung zu hören. Weder der Gerichtshof noch die Zeugen, weder Ankläger noch Verteidiger konnten den eigentlichen Zusammenhang und Sinn des Tuns und Leidens des armen Burschen begreifen, nur rauschte um alle Begebenheiten der Verhandlung ein 24 leiser Strom von Heiterkeit und Spott, worin alle mit Behagen plätscherten, die dieser hoffnungslosen Torheit nicht fähig gewesen wären.

Also Johannes war der Entführung der Agnes Siebenrock angeklagt. In Port Said hatte man ihn abgefaßt, als er mit der Frau beim Konsul erschien, um eine Unterstützung zur Heimfahrt zu erbitten, da ihm alles Geld ausgegangen war. Sein Ruhm und Steckbrief war ihm vorausgeeilt, so daß der Konsul ihn anfuhr: »Das ist ja nicht Ihre Frau, sondern die Agnes Siebenrock aus Wien und Sie haben sie entführt.« Wenn ein Konsul durch Steckbriefe genau unterrichtet ist, sagt er dem Schutzflehenden alle Missetaten immer auf den Kopf zu. Der Amtsherr ließ darauf die Frau in ein Kloster, Freudensprung in den Kotter schaffen und von Kawassen bewachen, bis man die beiden sorgfältig, wenn auch zu spät getrennt auf einem Lloyddampfer nach Wien, sie in den Gewahrsam des Gemahls, ihn ins Landesgericht einlieferte.

Aber vorher! Freudensprung erzählte bescheiden und bedrückt, was er alles durchgemacht hatte. Die gnädige Frau hatte ihm in Wien ihr Schicksal geklagt, wie sie unverstanden und traurig dahinlebe, zuerst habe sie bloß eine neue Einrichtung gewünscht und die Möbel in seinem Geschäfte besichtigt, aber dabei sei ihr noch trauriger zumute geworden, denn es hätte doch keinen Sinn gehabt, sich mit neuen Möbeln auszustatten, wenn man im Leben so unglücklich war. Darum habe er der gnädigen Frau angeboten, mit ihr in die Welt hinauszufahren und ein neues Dasein, ein neues Glück zu suchen. Die frische Seeluft werde der gnädigen Frau gewiß gut 25 tun und seine Verehrung und Sorgfalt würden ihre Gemütsverfassung bessern und befreien. Die gnädige Frau entschloß sich nach einigem Besinnen, behob 2567 Kronen aus der Kasse ihres Gemahls, er sein ganzes väterliches Erbteil und den Erlös aus dem raschen Verkauf seines Geschäftes, und mit diesem Gelde reisten sie vom Westbahnhofe in der zweiten Klasse nach Amsterdam, von wo sie sich auf einem großen Dampfer der Batavialinie nach Kapstadt einschifften. Der Gemahl der Dame wußte anfangs freilich nicht, wohin sie entschwunden war und glaubte sie bei Anverwandten, erstattete die Abgängigkeitsanzeige bei der Polizei und wartete weitere Nachrichten ab, bis er aus Transvaal eine Ansichtskarte erhielt, worin ihm die Gattin heiter und ohne Arg von ihrem Ausfluge Mitteilung machte und beste Reisegrüße sandte. Solche Nachrichten gab sie ihm von jeder Station ihrer Fahrten und der Polizei damit alle notwendigen Anhaltspunkte für Freudensprungs Verfolgung, der dann auch mit genauen Steckbriefen in jedem Ort von Afrika bekannt und berühmt gemacht wurde.

Da jedoch derlei Personsbeschreibungen und literarische Leistungen zumeist nur von der Polizei gelesen und gleich manchen Größen nur im engsten Kreise bekannt werden, blieb Freudensprung unangefochten, und bis Kapstadt war alles recht gut gegangen, die gnädige Frau hatte sich in der frischen Luft erholt, war heiter und sah sich in der schönen Welt mit Vergnügen um. Sie besuchten die Stadt und hörten in der Kirche eine Messe an. Ein Herr, den sie trafen, riet ihnen, nach Durban zu fahren, weil es auch dort sehr schön sei. Sie leisteten dieser 26 verlockenden Aufforderung Folge und reisten nach Durban. Hier begann aber ihr Mißgeschick, denn als sie sich ausboten lassen wollten, wies ihnen ein Policemann ein Telegramm vor, laut dessen ein Mädchenhändler dringend verfolgt werde. Johannes wollte dieser nur für ihn offenkundigen Verwechslung nicht zum Opfer fallen, darum zog er sich mit der Dame wiederum auf das Schiff zurück. Aber das gleiche Telegramm versagte ihm die Landung an der Delagoabai und an jedem einzelnen Hafenplatze der afrikanischen Küste. Am Zambesifluß endlich, wo es bereits weniger Behörden gibt, wollte ihn der Kapitän zwar ausschiffen, hier aber konnte Freudensprung wieder nicht zustimmen, denn in diesem Gebiet hausen lauter Neger und nur wenige Portugiesen, welche inmitten der schwarzen Weiblichkeit für weiße Frauen eine besondere Schwäche haben. Er konnte doch die gnädige Frau solcher Gefahr nicht aussetzen. Leider war ihnen hier bereits alles Geld ausgegangen, nur nach vielem Bitten nahm sie ein anderer Schiffsherr auf und führte sie nach Sansibar, wo sie vom österreichischen Konsul 18 Pfund bekamen, womit sie bis Port Said in die Arme der rächenden Gerechtigkeit spediert wurden. Von dort an, von der Anrede des Konsuls, von der Einsperrung der gnädigen Frau ins Kloster, Freudensprungs in den Kotter, vom Geleit der Kawassen und schließlich von der getrennten Rückfahrt nach Europa usw. war ja die Geschichte wieder einfach.

»Da haben Sie also eine hübsche Rundreise gemacht,« sagte der Präsident.

»Das wollte ich aber gar nicht,« entgegnete Freudensprung bescheiden, »ich wollte nach Transvaal, aber 27 man hat uns ja dort nicht landen lassen. Die gnädige Frau wäre gern in Transvaal geblieben.«

»Das bezweifle ich,« meinte der Staatsanwalt.

»Haben Sie immer gnädige Frau zu ihr gesagt?« fragte der Präsident mit liebenswürdigem Hohne und hielt sich auf diese zarte Anspielung etwas zugute.

»Ja,« antwortete Johannes treuherzig, »ich habe es mit der gnädigen Frau nur gutgemeint, leider ist alles schlimm gegangen. Ich kann es gar nicht begreifen.« Die Entführte bestätigte mit einer gewissen Gelassenheit Freudensprungs Aussage, er habe sie nur als gehorsamer Begleiter durch die afrikanische Welt geführt. Warum sie ihm gefolgt sei, konnte sie allerdings nicht so recht aufklären, sie habe seiner Begeisterung nicht wiederstehen können, sie habe es in Wien nicht mehr ertragen, sie habe das Ganze auch nur für eine Vergnügungsreise gehalten, sie könne sich schließlich über den jungen Mann nicht beklagen, nur sei die endlose Fahrt schließlich unbequem geworden. Dabei sah sie den Angeklagten gleichgültig und unwichtig an, während er den Kopf senkte und demütig um Entschuldigung bat, daß er ihr so viel Ungelegenheiten verursacht habe. Inzwischen hatte der beleidigte Gatte freilich das Scheidungsverfahren eingeleitet, und die Dame wäre jetzt auch ohne so weite Flucht frei gewesen, aber nun war es zu spät.

Meister Kühne wurde vom Verteidiger als Zeuge über Freudensprungs Gemüts- und Geistesverfassung geführt und konnte über den Jünger nicht viel anderes aussagen, als daß er ein dienstwilliger, begeisterter Anhänger seiner Kunst gewesen sei, von allerhand schwärmerischen Idealen erfüllt, aber gutmütig und zu jedem Opfer fähig. Das half alles nicht, 28 Freudensprung wurde wegen listiger Entführung einer Ehefrau zu zwei Monaten Kerkers verurteilt, nahm den Spruch gebeugt entgegen und warf nur noch einen flehenden Blick auf Agnes Siebenrock, die ihn indes nicht anschaute, sondern sich unter ihrem großen Samthute verbarg.

Nach zwei Monaten klopfte es an Meister Kühnes Atelier. Freudensprung stand draußen und wartete auf Einlaß. Kühne schlurfte und brummte drinnen, ohne zu antworten, Johannes hörte ein umständliches Rücken von Geräten, das Flüstern einer hellen Stimme, die entsetzt mit Kühnes fettem Baß flüsterte, Freudensprung pochte abermals, endlich rief Kühne: »Wer ist draußen?«

»Freudensprung.«

»Du? Hörst du, ich bin nicht zu Hause!«

»Aber Meister, ich bin's ja.«

»Esel, das hör' ich, aber ich bin nicht zu Hause.«

»Sie müssen mir öffnen, Meister, schicken Sie mich nicht fort.«

»So komm in drei Teufels Namen nach einer Stunde wieder.« Freudensprung entfernte sich langsam, um nach der angegebenen Zeit abermals bescheiden zu pochen und endlich eintreten zu dürfen.

Kühne lachte verlegen, als er Freudensprung hiermit zum erstenmal und als erster nach der verbüßten Strafe wiedersah. Johannes blickte sich befremdet in dem altgewohnten Raume um, in dessen Ecke vor dem Kleiderstocke eine wohlbekannte, schicksalsvolle Gestalt im staubgrauen Mantel und mit dem großen Federhut über dem bleichen Gesichte, halb abgewandt, mit peinlichem, höhnisch verlegenem Lächeln dastand. Agnes Siebenrock.

29 Freudensprung sah auf den verehrten Meister, dann auf die gnädige Frau, runzelte die Stirn, verbeugte sich vor Kühne, vor der Dame, erblickte allerhand umhergestreute weibliche Kleidungsstücke, Haarnadeln, Kämme, Parfümflaschen, Wäschesachen und errötete tief, dann schlug er beschämt die Hand vor die Augen, murmelte fassungslos etwas Unverständliches, machte kehrt, schlug die Tür hinter sich zu, noch bevor Kühnes: »Was ist dir denn, Alter?« an sein Ohr drang, und rannte davon. Als er über die Stiege hinabpolterte, hörte er noch in sein fassungsloses Weinen hinein ein helles Lachen von oben her.

Seitdem war Freudensprung verschollen. Wer weiß, in welchem Winkel er sich verbarg, wovon er lebte, was er arbeitete, von welchen Brosamen er sich nährte.

Hüte sich einer vor den Abenteuern, die ein Frauenzimmer als Mitgift mitbringt. Auch ein Größerer als Freudensprung ward mit ihnen nicht fertig. Agnes Siebenrock ließ sich vorläufig von Herrn Professor Kühne im Gesange ausbilden. Da sie bei ihrer Scheidung vom gutmütigen Ehegatten wohl schon zum Dank für die Befreiung eine ansehnliche Rente erhalten hatte, strebte ihr Ehrgeiz und ihre sogenannte Sehnsucht nach Höherem. Kühne hatte sie einmal wiederum mehr als ihr lieb war mit Solfeggien gequält, an denen ihre Stimme auf- und abkletterte, ohne an irgendeinem Tone Halt zu finden. Grob zu werden und zu fluchen getraute er sich nicht, dazu war er für diese wählerische Schülerin nicht mehr jung genug, so sang sie drauflos, daß es ihm ein Vorklang der Höllenmusik schien, er schrie dazwischen, wiederholte fünfmal den zugehörigen Klavierakkord, 30 bat und flehte, sie lachte, weinte, schmähte dazwischen, schlug endlich das Notenheft unter einem ganz natürlichen Stimmaufwand zu Boden und stand in der erregtesten Haltung des ziellosen weiblichen Grimmes da, als es draußen klingelte.

Kühne beeilte sich, den erlösenden Gast einzulassen. Was war Samuel Schnabel für ein vielversprechender Mensch geworden! Zierlich, nach der neuesten Mode herausgeputzt, die kastanienbraunen Haare zwar lockig, aber nur als Andeutung der Künstlerschaft etwas länger als sonst üblich, doch sorgfältig gescheitelt, Lackschuhe, weiße Gamaschen, ein schwarzes Schnurrbärtchen über der vollen Oberlippe, die sich zum gefälligsten Lächeln rundete, als er eine Dame wahrnahm.

Kühne machte die Herrschaften bekannt, Agnes nickte voll Zuckersüßigkeit, und Schnabel rundete die Lippen noch mehr, als habe er Honig drauf verspürt. Alles lächelte, wo vorher noch die übelsten Solfeggien und Schimpfworte durcheinandergefahren waren. Kühne blickte nach einem verfügbaren Stuhle um, räumte endlich von dem am wenigsten belasteten Sessel ein paar Noten, Röcke, Seife und Kammzeug weg und bot ihn dem Besucher an, der nicht früher Platz nahm, als bis Agnes sich an den Rand des Sofas gesetzt hatte.

»Sie müssen schon entschuldigen, Schnabel, es sieht bei mir nicht wie bei Hofe aus, Geld wächst mir noch immer nicht auf der flachen Hand, und meine Kunst geht nicht nach Brot!«

Agnes nickte dazu mit einem boshaften Lächeln, denn sie kannte diese Rede schon längst auswendig.

»Also was führt Sie zu mir, junger Mann?«

Samuel Schnabel wollte ein Konzert geben, Kühne 31 sollte dafür wirken, Publikum sammeln, in der Presse agitieren und so weiter.

»Ein Porträt?«

Schnabel lächelte: »Meinetwegen, aber gratis. Nur von unbekannten Genies mögen Sie die Taxe einheben, ich kenne diesen Spaß und hab' ihn nicht mehr nötig.«

»Ohne Porträt kann ich nichts für Sie tun, mein Bester, grundsätzlich nicht!«

»Sprechen wir erst vom Konzert,« lenkte Schnabel ab. Kühne sollte mitwirken dürfen, als Klavierspieler, als Komponist, wenn er Schüler etwas vortragen lassen wollte. »Als Conférencier, als Billetteur,« lachte Schamu unverschämt.

»Ich werde singen,« schlug Agnes vor.

»Aber nein, das ist nicht möglich,« warf Kühne ein.

»Warum nicht?« fragte Schnabel interessiert, »die gnädige Frau hat eine wundervolle Stimme, ich habe sie von der Stiege her gehört, wundervoll, Meister.«

»Sie kann doch keinen einzigen Ton singen, sie knarrt ja wie die Haustüre in Mießmoll.« Kühne schüttelte sich vor Begeisterung über diesen mutigen boshaften Witz.

»Ich werde singen,« erklärte Agnes um so fester, je ärger sie sich beleidigt sah.

»Nein, du wirst nicht singen.«

»Ich werde singen.«

Dieses Sagen und Widersagen endigte damit, daß Agnes Siebenrock ein Doppelporträt anregte, das auf ihre Kosten Samuel Schnabel, den Geiger, und sie, die Sängerin, dem Publikum als neue musikalische Sterne unter einem präsentieren und wozu Kühne den Text schreiben sollte. Dieser Vorschlag 32 erregte einen Seelenkampf im Meister; danach kurze, atemlose Stille, während welcher Samuel Schnabel und Agnes seelenvolle Blicke eines urzeitlichen Einvernehmens austauschten. Dann aber begann Kühne, Schamu das Fenom einen Lausbuben, Agnes eine hergelaufene Siebenmännerröckin zu titulieren und bildete sich ein, die beiden hinausgeworfen zu haben, als sie unter Gelächter einträchtig und ohne weiter ein Wort an ihn zu verlieren, sein Atelier verließen, die Tür hinter sich zuschlugen und auf jedem Treppenabsatz neuerdings zu lachen begannen, als sei von ihnen alle Fröhlichkeit der Welt und alles heitere Einverständnis zweier schöner Seelen soeben zum erstenmal und für alle Ewigkeit entdeckt worden.

Eines Abends wanderte Frau Regina Schnabel, noch kleiner als vordem wegen ihres höheren Alters und manchen ausgestandenen Kummers, allein zum Bösendorfer Saale, in einer urtümlichen, schlotternden Rotonde, mit dem zugehörigen Pompadour und den taubengrauen Riesenschlangenhandschuhen, als ihr Blick plötzlich einen verwahrlosten, abwesend vor sich hinschauenden Menschen aufgabelte und den Schützling von einst erkannte.

»Johannes!« rief sie. Der blieb stehen, sah sie zuerst ganz fremd an, dann begriff er, wer die Frau war, zog seinen verbeulten Hut ab, grüßte und wartete, was sie wollte.

»Nun, Johannes, kennen Sie mich nicht mehr? Ich bin doch die Mutter vom Schamu.«

Ach ja, Schamu das Fenom, was war's mit dem? Er steckte eine möglichst interessierte Miene auf und wartete in alter Demut auf Frau Reginas lebhaftes Geläute.

33 »Nun, wie ist es Ihnen denn gegangen all die Zeit? Schlecht, was? Und wie steht die Kunst? Sie haben viel mitgemacht, ich weiß. Aber erst ich!«

»Und wie geht's Ihrem Sohn, was macht denn der Schamu, gibt er bald ein Konzert?«

»Fragen Sie mich nicht, Freudensprung, fragen Sie mich nicht, was hab' ich mit meinem Schamu erleben müssen. Dazu zieht man sich die Kinder groß! Der Junge war doch so brav und so ein Genie, Sie wissen doch, den Ysaye hätt' er einstecken können. Und ich hab' gehofft, er wird mich in meinen alten Tagen unterstützen, alles hab' ich den Jungen lernen lassen, und mit lauter Leckerbissen hab' ich ihn gefüttert. In Samt und Seide hab' ich ihn gewickelt. Ich hab' mir das Geld vom Munde abgespart, müssen Sie wissen. Und jetzt steh ich da, und er geht mir davon und lebt mit einem gemeinen Frauenzimmer. Läßt sich fangen von einem abgefeimten Weibsbild, das jedem Strizzi zu schlecht wäre. Geht mit ihr, lebt mit ihr und verludert sein schönes Geigenspiel, daß er gar nichts mehr kann. Eine ordinäre Person mit einem ordinären Gesicht, so schwarz und vertan, wie mein Mantel da. Nicht einmal hübsch ist sie. Dem alten Esel, dem Kühne, hat er sie ausgeführt, dem Schwindler, dem Trottel, und diese Person verführt nun mein einziges Kind, meinen Augentrost, meine Hoffnung, mein Glück auf Erden. Derweil kann ich alte Frau betteln gehn, weil mein einziger Sohn eine Mätresse hält. Aber ich werde ihm zeigen, verklagen werde ich ihn. Er muß mich unterstützen. Ich hab' ihn doch auch erhalten. Ich kann's bei Heller und Pfennig ausrechnen, was ich in den Buben hineingesteckt habe. Von dem Kapital könnte ich mir 34 ein Haus bauen und nach Nizza fahren.« So weinte sie und klagte und rechnete durcheinander, schüttelte ihre Arme gegen den Himmel, schwur Rache, schluchzte, sah dabei zu Freudensprung empor, verlangte von ihm Billigung, Empörung, Teilnahme.

»Mei Schamu tut mir das an, jetzt wo ich so alt und zuckerkrank bin, der Professor gibt mir kein Jahr zu leben, und mein Schamu hält sich eine Mätresse.« Freudensprung hörte zu und nickte abwesend. Endlich schob sie sich mit einem letzten Schluchzen davon und ließ Johannes stehen. Der überlegte einen Augenblick und rannte dann, wie in plötzlichem befreitem Entschluß, nach Kühnes Atelier, pochte und wartete diesmal nicht lange. Der Meister kam ihm entgegen, auch er, wie es Johannes zum erstenmal schien, alt und gebrechlich fast, ausgehungert, mühselig, das gerunzelte Gesicht vom ungepflegten weißen Haar überströmt, ungewaschen, in abgerissenem Schlafrock.

»Ei, Johannes, bist du doch wieder da. Lang hast du dich nicht sehen lassen. Ja, ja, Jugend, hast andere Dinge zu tun, als dich um deinen alten Meister zu kümmern, hast vielleicht wieder eine kleine Weltreise gemacht oder eine Erbschaft vertan? Übrigens schaust du nicht gerade großartig aus, wie ich da sehe. Ja, ja, die Weiber! Haben wir beide das notwendig gehabt? Ich alter Esel und du, du, du Tapezierergehirn. Das kommt, wenn unsereins nicht mit der Kunst genug hat, sondern Leben fressen will. Wer so lange Kunst gegessen hat, verdaut kein Weiberfleisch mehr. Übrigens, was das Essen betrifft, ich kann dir ja gestehen, ich habe schon zwei Tage keinen ordentlichen Bissen gehabt. Mich hungert mörderisch. Kannst du vielleicht aushelfen? Hast du 'n paar 35 Kreuzer? Her damit, Schächer!« Er lachte zähnefletschend. Freudensprung nickte bekümmert: nein, er hatte nichts, gar nichts, nicht einmal eine Geldbörse, geschweige denn eine Münze. »Na, dann spring hinunter, mein Bester, und schaff' was, stiehl meinetwegen oder bettle oder pumpe, bringe einen reichen Mann mehr oder minder schonungsvoll um, oder stampf wenigstens eine Semmel aus dem Boden, wenn du was Warmes erreichen könntest, wär's freilich besser, aber schaff was, irgendwas für den Magen, verstehst du, etwas Füllendes. Du hast jüngere Beine, mach fort, Johannes, geschwind, mir kracht der Magen. Solange mich hungert, bin ich, der ich bin. Geschwind, Freudensprung, wenn dir mein Leben lieb ist. Die Welt soll uns nicht unterkriegen, da du wieder hier bist, du alter Narr, mein Leichensänger, mein armer Begleitesel.« Freudensprung nickte demütig und eilte die Treppen hinab.

Nach einer Stunde kam er wieder. »Nun?« fragte Kühne gierig. Johannes präsentierte ihm bescheiden eine Tüte mit zwei Schusterlaibeln. »Mehr habe ich nicht ausfechten können in der kurzen Zeit, Meister.«

»Nun, viel ist's ja freilich nicht, du bist kein Diplomat und Lebenskünstler, das hätte ich mir denken können, aber etwas ist's doch, gib!« Und riß ihm die Tüte aus der Hand und biß in das frische Brot und begann voll Hunger zu essen. »Na, und was ist's mit dir? Iß doch auch. Das ist dein Teil und gehört dir zu.« Er reichte ihm großmütig das zweite Brot. Freudensprung setzte sich neben Kühne auf den Rand des schmutzigen Sofas, schwieg und wies das Angebot mit einer leisen Gebärde ab und sah herzlich dem gierig Kauenden zu. Da griff Kühne nach dem zweiten Schusterlaibel und lachte: »Dir ist der Appetit 36 vergangen, mein Sohn? Nur Geduld, wenn du einmal so alt bist wie ich, Meister Joachim Kühne, wird dir das Leben den Hunger nicht mehr verderben.« Das frische Brot krachte unter seinen mächtigen Bissen. Und damit war er wieder vergnügt. Und Freudensprung sah ihm mit einem demütig glücklichen Blicke zu, da er wieder seinen Meister, und für immer, hatte. 37

 


 


 << zurück weiter >>