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Jetzt geht die Eisenbahn durch das dichte Gehölz und trennt es in zwei Theile. Vor nicht gar vielen Jahren führten keine Wege für Fremde durch den Wald, nur der Förster und Holzwärter hatten Schlüssel zu den weiß und grün angemalten Thoren und die wurden auch meistens nur im Winter geöffnet, wenn die Erde hart gefroren war und die Knechte mit den schweren vierspännigen Wagen das gefällte Holz holten. Die wenigen Fußsteige konnte man ebenfalls nicht rechnen, die dienten den Forstarbeitern, wenn sie zum Holzwärter wollten, um ihren Lohn in Empfang zu nehmen oder sich die Arbeit anweisen zu lassen. Wer in dem Walde nichts zu suchen hatte, der ging eben nicht hin, denn er lag sehr abseits von der großen Landstraße, von den Dörfern und von der Stadt am See.
Damals stand des Holzwärters Haus mitten in dem Walde, dicht von Bäumen und Gebüsch umgeben. Jetzt kann es Jeder sehen, der mit der Eisenbahn fährt, und es recht gut an dem Hirschgeweih vorne an dem Giebel erkennen, denn als die Lichtung geschlagen wurde, mußten die Bäume fallen, die förmlich ein Dach über dem Hause bildeten, und der Schienenweg führt nahe daran vorbei.
Es war recht einsam damals. Der Wald kennt keinen Sonntag und keinen Alltag, und ein Tag verging wie der andere. Im Winter waren es Wintertage und im Sommer Sommertage für die Leute in des Holzwärters Haus. Der Holzwärter hatte ein großes Revier, das ihn in Anspruch nahm, die Holzdiebe ließen ihm selten Ruhe, ebensowenig wie die Wilddiebe, und die Schwester seiner verstorbenen Frau, welche den Hausstand führte, konnte niemals mit der Arbeit fertig werden. Für die gab es nur Alltage. Die beiden Kinder kannten weder Arbeit noch Mühen, die kleinen Sorgen, welche ihren Lebenshimmel trübten, verzogen sich ebenso rasch und ebenso leicht wie die weißen luftigen Wolken am Sommerhimmel. Sie lebten ihre eigene Welt für sich, da sich Niemand viel um sie kümmerte, und so war für sie jeder Tag ein Festtag. Wer sollte sich auch mit den Kindern beschäftigen? Der Vater hatte wenig Zeit, sich mit ihnen abzugeben und die Tante war nicht kinderlieb. Sie hatte damals ein Opfer gebracht, als sie zu ihrem Schwager in die Einsamkeit zog und es übernahm, für die Kinder zu sorgen, so gut es gehen wollte. Heimlich mochte sie auch wohl gehofft haben, daß der Holzwärter sie heirathen würde. Aber der schien mit seiner verstorbenen Frau einen Theil von sich selbst verloren zu haben und ging einsilbig durch das Leben. Das ist wahr: aus reiner Liebe hatten die Beiden sich geheirathet, und die Einsamkeit im Holze war ihnen nie aufgefallen, denn das Glück, welches die Liebe gewährt, war ihr täglicher Gast.
Nun aber fühlte der Holzwärter, daß es einsam im Walde geworden war, einsamer denn je, trotz der beiden Kinder und der Schwägerin, und dies Gefühl trieb ihn ruhelos fort in den Wald und hieß ihn Gefahren aufsuchen, wie sein Beruf sie mit sich brachte. Holzfrevler und Wilddiebe fürchteten den kühnen, unerschrockenen, allzeit gewärtigen Mann, die Schwägerin grollte ihm im Stillen und die Kinder mußten mit den Brosamen von Liebe zufrieden sein, die ihnen der Vater spärlich spendete. Kannten sie es doch nicht besser.
Die äußeren Umstände wiesen die Geschwister ganz auf einander an, mehr als es außerhalb des Waldes der Fall hätte sein können, wo sich Kameraden finden und Gespielen leicht gesellen, und wer die beiden Kinder hätte beobachten können, der würde gesehen haben, daß sie Eins miteinander waren und nur für einander lebten, und für die Welt, die sie sich selbst gebaut hatten. Wenn es das Wetter nur irgend zuließ, war der Wald ihr Aufenthalt. Dort, wo der Holzweg an einem Hügel vorbeiführt, auf dem junges Gestrüpp üppig emporschoß, lagen große Steine – erratische Blöcke – unregelmäßig nebeneinander und bildeten mit ihren Zwischenräumen Gänge und Kammern mancherlei Art. Zweige, gedörrtes Farrenkraut und trockenes Laub hatten die Kinder mühsam zusammengetragen und hier und da ein künstliches Dach über den Steinkammern gebaut, das ihnen Schutz gegen die allzu heißen Sonnenstrahlen gewährte, wenn das glühende Gestirn die Lichtung über dem Hügel erreichte.
Still, unendlich still war es dort. Hin und wieder ertönte wohl der Schlag eines Vogels, Insekten flogen summend durch die Luft, allein diese kleinen Unterbrechungen störten nicht die majestätische Ruhe der Waldeinsamkeit. Dann saßen die Kinder in ihrem Steinhause und blickten in das lichte Grün des Waldes und sprachen kaum zu einander. Sie wußten, daß sie sich nahe waren und daß sie zusammengehörten, ein Mehreres begehrten sie nicht. Von der Welt wußten sie wenig. In die Schule konnte der Vater sie nicht schicken, die lag zu entfernt; für den weiten Schulweg waren die Kinder noch zu klein. Im Hause wurde wenig von der Außenwelt gesprochen, die tägliche Rede drehte sich meistens um die tägliche Noth; darum lernten sie nicht, wie es sonstwo in der Welt sein könnte, und so blieben sie allein mit sich selbst und ihrem Denken.
Was das eine von den Kindern dachte, das dachte das andere mit, sie wußten, was sie sich sagen wollten, ohne daß sie den Mund öffneten und sprachen; sie sahen sich an – das war genug, und nur wenn plötzlich ein ungewohnter Gedanke in dem einen oder andern auftauchte, dann fragten sie nach diesem oder jenem, aber sie mußten sich manche Antwort schuldig bleiben, da beide gleich gelehrt waren. Sie fragten nicht, woher die Steine gekommen, zwischen denen sie hausten, sie fragten nicht, warum die Blumen blühten, warum der Wald grün sei, warum die Sonne schiene: das. dachten sie, müßte so sein, da es immer so war. Sie spielten mit einander und meinten, es werde immer so bleiben; sie sehnten sich auch nicht hinaus aus dem Walde, obwohl sie mitunter von dem redeten, was draußen sein mochte. Ein wunderliches Bild hatten sie sich von der Welt entworfen. Sie redeten sich ein, außer ihnen, dem Vater und der Tante gäbe es nur Arbeiter, wie die, welche von Zeit zu Zeit zum Vater kamen, Leute mit verwetterten Gesichtern, rauhen Händen und schweren Stiefeln an den Füßen. Dann war noch Einer draußen, das war der Fürst, dessen Bild in schwarzem Rahmen in dem Zimmer hing. Von dem kam alles Gute: die Kuchen, die der Vater zuweilen mitbrachte, die bunten Halstücher, die sie einstmals im Winter erhielten, und die Schachtel mit Spielzeug, welche die Tante aufhob und den Kindern nie zum Spielen hergab.
»Ob er wohl viele solche Schachteln hat?« fragte das Mädchen.
»Ob die Tante sie ihm wohl auch verwahrt?« fragte der Knabe.
Darüber dachten sie lange nach und achteten nicht darauf, daß sich Leute näherten und auf die Steine zugingen. Erst als der Eingang zu der Steinhöhle sich verdunkelte, da die Leute vor denselben traten, erschraken sie über das Ungewohnte, aber sie hielten sich ganz ruhig.
»Dieser da ist der größte,« hörten sie die wohlbekannte Stimme des Vaters sagen. »Er wird zwei Platten geben, wie sie der Fürst verlangt.«
»In drei Tagen ist er gesprengt,« antwortete eine andere Stimme. »Laßt sehen, ob er gerade verläuft.« Die Kinder merkten, wie die Leute an dem Dache sich zu schaffen machten, das sie mit vieler Mühe nach und nach aus dürren Zweigen und Laub erbaut hatten; es wurde abgehoben und der lichte Sonnenschein fiel plötzlich in ihre Kammer und blendete ihre Augen.
»Was ist das?« rief der Fremde. »Giebt es Kobolde in diesem Walde? Auf eine solche Ueberraschung war ich nicht gefaßt.« Dabei blickte er lachend auf die beiden Kinder, die verstört die Augen niederschlugen und nicht wagten, den Vater anzusehen, über dessen Mienen sich der Zorn lagerte.
»Es sind meine Kinder,« antwortete er unwirsch. »Sie spielen hier. – Kobolde sind es nicht!«
»Nehmt meinen Scherz nicht übel, lieber Holzwärter,« entgegnete der Andere. »Ich sehe, es sind ein Paar liebliche Kinder, nur schon ein wenig zu groß, um im Walde die Zeit zu vertändeln. Oder hat der Schulmeister Ferien gemacht?«
»Die Kinder besuchen keine Schule – die Wege sind zu weit. Geht nach Hause, Kinder, und treibt Euch hier nicht umher. Macht Euch nützlich bei der Tante.«
Die Kinder entschlüpften und eilten von dannen. In einiger Entfernung standen sie still und sahen nach dem Hügel hinüber und nach den Steinen, bei denen die Männer deutend und redend standen. Dann gingen sie langsam weiter, aber nicht nach dem Waldwärterhause; sie suchten ein Versteck in dichtem Tannicht, da, wo sie ein Meisennest wußten. Dort setzten sie sich nieder, umschlangen sich und weinten bitterlich und achteten nicht der geschäftigen Vögel, die ihren Jungen Nahrung zubrachten und deren Anblick ihnen sonst so viel Freude gewährte. –
Der Fremde war eines Geschäfts wegen gekommen, es sollte in dem fürstlichen Park eine steinerne Treppe angelegt werden, die von einer kleinen Anhöhe an das Ufer des See's hinabführte, und dazu bedurfte man der erratischen Blöcke, welche im Walde lagen: seine Aufgabe war, die rechten Steine auszuwählen. Nun wurden neben den Felsen mitten im einsamen Walde die beiden Kinder gefunden, die sich selbst überlassen in der Wildniß aufwuchsen, an die – wie der Fremde meinte – die menschliche Gesellschaft ein Anrecht habe. Wohl erhielt der Waldwärter verdientes Lob über die treue Ausübung seiner Pflicht, die an der überall herrschenden Ordnung sich dem kundigen Auge leichtlich zu erkennen gab, wegen der Kinder aber mußte er ein strenges Examen bestehen und erhielt verdienten Tadel über die Vernachlässigung derselben. Ein Recht zu solchem Vorgehen hatte der Fremde insofern, als er ein Mitglied der Verwaltung war, wenn auch ein untergeordnetes. Aber er stand doch hoch, sehr hoch über dem Holzwärter.
In dem Waldhause wurden an dem Abend dieses Tages gar ernste Erwägungen gehalten. Die Kinder schliefen und hörten keine Silbe von dem Gespräch, das über ihre nächste Zukunft entschied, der Holzwärter aber und die Schwägerin saßen lange wach bei dem flackernden Lichte und redeten und rechneten, wie Alles zum Besten gewendet werden könnte. Der Herr von der Verwaltung hatte seinen Einfluß versprochen, um dem Knaben einen Freiplatz in der Stadtschule zu verschaffen; nun handelte es sich nur noch um den Unterhalt.
»Wenn Ferdinand ein Baron werden soll, dann thust Du wohl daran, ihn in die Stadt zu schicken,« sagte die Schwägerin. »Sonst aber hat es noch nie gut gethan, wenn geringer Leute Kinder hoch hinaus wollten!«
»Er soll nicht hoch hinaus,« erwiderte der Holzwärter barsch. »Er soll etwas lernen, damit ich nicht nöthig habe, mir Vorwürfe sagen zu lassen. Hättest Du Dich mehr um die Kinder gekümmert, so wäre mir heute ein ärgerlicher Auftritt erspart geblieben!«
»Sind es meine Kinder?« rief die Schwägerin. »Mir deucht, ich habe Arbeit genug von ihnen; sie zerreißen mehr Zeug, als sie verantworten können. Wer muß den ganzen Tag mit Nadel und Faden sitzen, wer muß für Alles sorgen? – Ich, ganz allein ich!«
»Und deshalb soll es anders werden! Ferdinand kommt in die Stadt und Elisabeth kannst Du zur Thätigkeit anhalten, damit Du eine hilfreiche Hand zur Seite hast. Von Deinen Klagen über allzuschwere Arbeit will ich nicht wieder hören.«
»So bedenke doch aber die Kosten. – Wir sind nicht reich.«
»Die habe ich bedacht. Ich werde viele Sorgen haben in der Zukunft, ich würde ihnen auch nicht entgehen, wenn der Knabe hier im Walde bliebe. Richte Ferdinands guten Kleider her, am nächsten Sonntag gehe ich mit ihm in die Stadt; das Uebrige wird sich finden.« –
Am folgenden Tage kamen Handwerker mit Schlägel und Meißel und bereiteten die Steine für die Sprengung vor. Am letzten Tage der Woche dröhnten etliche laute Schüsse durch den Wald und fanden weithallendes Echo. Auch in den Herzen der Kinder klangen sie wieder, die wußten, daß der liebste Ort, den sie aus Erden hatten, für immer zerstört wurde. Noch aber wußten sie nicht, daß ihnen eine bittere Trennung bevorstand. Das hatte der Vater verschwiegen und wollte es nicht eher sagen, als bis es an der Zeit sei. –
Es war Sonnenschein und Sonntag. Ein merkwürdiger Tag für den Knaben: der sollte zum ersten Mal den Wald verlassen, zum ersten Mal nicht mit der Schwester zusammen sein, nicht mit ihr zusammen spielen. Das war so neu und so überraschend, daß sie ganz um den Abschied kamen.
Durch den morgenfrischen Wald schritten Vater und Sohn, der Erstere still und ernst, der Letztere mit lachenden Augen und frohen Mienen. Vor Beiden lag die Zukunft; der Vater blickte weit hinaus und überdachte, was zu thun sei, damit sich Alles zum Besten seines Kindes wende, und sorgte und bangte; der Knabe gewahrte nur das Nächste und konnte sich keine Vorstellung von dem machen, was dieser eine Tag ihm bringen möchte. Bis jetzt war ihm auf dem Wege noch nichts Besonderes aufgestoßen, denn den Wald kannte er, auch die Vögel waren ihm nicht fremd. Einen Pirol hörte er singen und sah ihn oben durch die Kronen der Buchen fliegen. Er machte den Vater aufmerksam darauf, aber ihm wurde keine Antwort. So schritten sie stumm neben einander, bis sie nach langer Wanderung das Ende des Waldes erreichten und die breite Fahrstraße betraten, die zur Stadt führte. Nach einiger Zeit gelangten sie zu einem Bauerngehöft, dessen Besitzer mit dem Holzwärter bekannt war und der ihm für den heutigen Tag Pferd und Wagen zu leihen versprochen hatte.
Der kleine Einspänner stand schon draußen auf dem Hofe, der Knecht führte das angeschirrte Pferd aus dem Stall, und gar bald war Alles zur Abfahrt bereit. Als Vater und Sohn auf dem Wagen saßen, trat der Bauer heran und sagte: »Heute thu' ich Euch einen Gefallen, Holzwärter. Ich denke, Ihr werdet das nicht vergessen, wenn ich im Winter Holz kaufe und werdet dafür sorgen, daß das Maß nicht zu knapp ist und die Scheite nicht zu locker gelegt werden.« – Der Holzwärter schlug auf das Pferd und fuhr, ohne ein Wort zu erwiedern, eilig von dannen. Auf seinem Gesicht war die Röthe des Zorns aufgezogen, und die Zähne biß er fest aufeinander. Wäre es nicht für den Knaben gewesen, er hätte den Wagen stehen lassen und dem Bauern eine harte Antwort gegeben, nun aber mußte er sich der Nothwendigkeit fügen und schweigen.
Der Weg stieg langsam aufwärts. An beiden Seiten zog sich der Wald hin; Buchen, Eichen und Nadelhölzer wechselten miteinander, dann kam Haidefläche, die mit jungen Kiefern bepflanzt war, und daran schloß sich wohlbestelltes Ackerland. Als der Wagen die höchste Steigung des Weges erreicht hatte, jauchzte der Knabe laut auf. Vor ihm dehnte sich eine weite, glänzende Wasserfläche, in der Ferne von Wald und Feld umrahmt: – das war der See, und dort entdeckte sein Auge einen spitzen Thurm und viele, viele rothe Dächer: – das war die Stadt am See. Nun ging es an ein Fragen, denn alle Eindrücke, die auf ihn einstürmten, waren neu und nahmen die ganze Aufmerksamkeit des Knaben gefangen.
»Das Alles wirst Du kennen lernen,« antwortete der Vater, »wenn Du fleißig bist und Dich gut beträgst. Nun sitze ruhig, damit die Leute in der Stadt nicht über Dich lachen.«
Der Knabe hatte keine Zeit, über die Bitterkeit der letzten Worte nachzudenken, denn der Wagen rollte durch das Thor der Stadt und rasselte über das ungemüthliche Pflaster. Das war eine ganz andere Welt als in dem Walde. Jedes Haus wurde zu einem Wunder, die vielen sonntäglich geputzten Leute, die Wagen, einige Reiter zu Pferde, eine Abtheilung von Soldaten, die dahermarschirte: das waren auch Wunder, nie Erlebtes und Fremdes für den Knaben. Er vermochte nichts zu sagen und drängte sich dicht an die Seite des Vaters. Das Wäglein wurde in einem von ländlichen Leuten viel besuchten Gasthause untergebracht. Das Pferd bekam von dem mitgebrachten Hafer, für die Gäste sorgte der Wirth. Einen so freundlichen Mann hatte der Knabe nie gesehen.
Als die beiden Reisenden sich bestärkt hatten, sprach der Vater ein ernstes Wort: »Heute ist für Dich ein wichtiger Tag,« sagte er zu dem Knaben. »Wenn das Glück gut will und die Leute sich ihrer gegebenen Versprechungen erinnern, dann kommen wir nach einigen Tagen wieder zur Stadt und Du bleibst hier, damit Du die Schule besuchen und etwas lernen kannst. Mit dem Spielen und Umherlaufen ist es dann vorbei, das hat ein Ende. Nach der Kirche will ich zu den Leuten gehen, die mir helfen wollen für Dich; vorher aber wollen wir Gott bitten, daß er uns beistehe mit seinem Segen.«
Der Knabe wußte weder etwas von Gott, noch von der Kirche, und ruhig folgte er dem Vater in das große Haus, dessen Thurm er schon von Weitem erblickt hatte. Bei dem Eintritt schwollen ihnen die gewaltigen Töne der Orgel entgegen, untermischt mit dem Gesange des Chores und der Gemeinde. Der Knabe erschrak, denn noch nie hatte er Musik gehört, am wenigsten den hehren Klang des kirchlichen Werkes. Es war ihm, als vergehe ihm der Athem, er umklammerte die Hand des Vaters und ließ sich wie im Traume zu einem Plätzchen führen, das abseits neben einem der großen Pfeiler lag, die das Gewölbe trugen. Wohl wagte er nach einiger Zeit den Blick auf die ungewohnte Umgebung zu lenken, auf die goldverzierten Epitaphien an den Wänden, auf die gemalten Fenster, durch die der Tag farbig hereinschien, hoch auf zu den Gewölben, die ihm unermeßlich deuchten, aber seine Seele war ganz gefangen von dem Tonmeer, das ihn umwogte. Es durchrieselte ihn mit ungeahnten Schauern und als die feierlichen Melodien nun in lieblicher Klangfarbe wie aus der Höhe sich herniedersenkten, gedachte er der Schwester, des Waldes und des zertrümmerten Steinhauses, da mußte er weinen.
Als Gesang und Orgel verstummten und Worte gesprochen wurden, die er nicht verstand, lauschte er anfangs aufmerksam, dann aber schlossen sich allmälig seine Augen und er entschlief, das Haupt an den Vater gelehnt, der seinen Arm wie in Liebe um ihn schlang, wie er nie zuvor sein Kind an sich gezogen hatte. – Dann mischten sich sanfte Akkorde in den Traum des Knaben und trugen ihn wieder zurück in die Wirklichkeit, die ihm auch nichts Anderes war, denn ein Traum im Wachen.
Mit der übrigen Versammlung verließen sie die Kirche und traten hinaus auf den sonnenbeschienenen Markt. Da erst faßte sich der Knabe ein Herz und fragte: »Nicht wahr, da drinnen war Gott, von dem Du vorhin sagtest?«
»Ich habe ihn gebeten, daß er Dich in Zukunft schützen und schirmen möge, als Du schlummertest,« war die Antwort.
Nun wußte der Knabe, was er wissen wollte, nun konnte er der Schwester erzählen, was er gehört: er hatte einen Namen für das Gewaltige und Unbekannte. Wäre er doch nur erst wieder im Walde.
Es war aber noch mancherlei zu besorgen, ehe an den Heimweg gedacht werden konnte. Dem fremden Herrn, der im Walde so ernste Worte gesprochen hatte, wurde ein Besuch gemacht, dessen Resultat ein günstiges war, denn ein Leichtes war es dem Herrn geworden, für den Sohn des pflichttreuen Forstwärters, der noch nie mit einer Bitte gekommen war, einen Freiplatz in der Schule zu erwirken. Bei einem alten kinderlosen Ehepaar, das weitläufig mit der Mutter des Knaben verwandt war, wurde ein Unterkommen gefunden. »Er sollte es gut bei ihnen haben«, sagten die Alten. Somit ging Alles nach Wunsch und froher, als er gekommen, fuhr der Holzwärter mit seinem Sohne wieder in die Heimath zurück.
Die Sonnenstrahlen fielen schon schräge durch Laub und Zweige, als das Wärterhaus erreicht wurde. Während der Forstwärter der Schwägerin den Erfolg seiner Reise mittheilte, eilten die Kinder nach ihrem Lieblingsplätzchen zu den Steinen. Wohl sah es dort anders aus als früher, denn ihre Steinwohnung war verwüstet; darüber hätten sie sich jedoch nach Art der Kinder bald hinweggesetzt, auch gab es Aeste und Laub genug, ein neues Dach über einigen anderen Steinen zu bauen. – Eins aber ließ sie Beide tief empfinden, daß die alte Zeit verschwunden war: sie verstanden einander nicht mehr wie sonst. Der Knabe konnte nicht die rechten Worte finden, um der Schwester die Erlebnisse des Tages zu erzählen und so viel Mühe er sich auch gab – sie verstand ihn nicht. Er machte ihr Vorwürfe, daß sie nicht begreifen wollte, was er sagte, was er meinte. »Wäre ich in der Stadt gewesen wie Du, dann wüßte ich auch, was Du weißt. Nun bin ich aber bei der Tante geblieben, die hat mir gezeigt, wie sie Maschen macht, wenn sie strickt. Sieh' her, so fleißig bin ich gewesen.« Bei diesen Worten holte sie aus ihrer Tasche den ersten Versuch einer Handarbeit hervor und gedachte, der Bruder werde sie bewundern und sich mit ihr freuen. Er hatte aber kein freundliches Wort für sie: einen flüchtigen Blick schenkte er dem Gewirr von Fäden, das sie in der Hand hielt, und dann stürmte er davon. Es litt ihn nicht mehr an dem einstigen Lieblingsplatz. Er hatte am Morgen Gottes Stimme gehört, sein Herz war voll von dem, was sein Ohr vernommen und nun, da er von seinem Reichthum der Schwester abgeben wollte, mit der er bis dahin Freud' und Leid gemeinsam theilte, nun vermochte er nicht zu geben und sie nicht zu nehmen; etwas Fremdes war zwischen sie getreten.
Es war vorbei mit der alten Zeit und dem alten Leben. Dieser Tag hatte es zerstört, wie vor Kurzem die Minen der Steinmetzen die mächtigen Felsblöcke sprengten, die stillen Gespielen der Kinder. So war auch ihre noch so kleine Welt in Trümmer zerfallen.
*
Was aus der Ferne beleuchtet, geheimnißvoll und wunderbar erscheint, verliert seinen Zauber in der Nähe, das Seltene büßt seinen Reiz ein, wenn es alltäglich geworden ist, Heiliges, das die Seele mit frommem Schauer erfüllte, erweckt Schmerz, wenn es von profanen Händen angetastet wird. Der Knabe des Waldhüters hatte sich eingelebt in städtisches Thun und Treiben, ihm war die Stadt kein Wundermärchen mehr, die schöngekleideten Menschen staunte er nicht mehr an, nun da er wußte, wie sie genannt wurden, und in den Tönen der Orgel in der Kirche fühlte er es nicht mehr klingen wie eine Stimme aus einer anderen Welt, seit er am Sonntage mit im Chor singen und ebensowohl seine Püffe vom Kantor hinnehmen mußte, wie die anderen Knaben, die Allotria trieben, wenn der Prediger redete und der alte Singmeister ein wenig auf der Orgelbank einnickte.
Die beiden alten Leute, welche ihn aufnahmen, hielten ihn gut und wachten treu über ihm. War die Frau auch strenge, so war sie doch rechtlich, und der Alte ersah in dem Knaben einen Gefährten seiner Einsamkeit, dem er oft Dinge erzählte, die dieser gar nicht verstand, denen er aber williges Ohr lieh, weil er dachte, es müsse wohl so sein. Der Alte war seines Zeichens ein Maler, der in seinen jungen Jahren Florenz und Rom gesehen hatte, damals, als ihm die hohe heilige Kunst wie eine Fata Morgana voranzog, der er mit heißem Bemühen nacheilte. Es waren ihm aber nicht die Schwingen gewachsen, die ihn ganz hineingeführt hätten in das Paradies der Kunst, so viel er auch rang und kämpfte ... ihn brachten Mühen und Entbehrungen nur bis auf die Anhöhe, von der er hinüberblicken konnte in das Geisterland, zu dem er sich mit vollem Herzen sehnte, vor dem er jedoch entsagend umkehren mußte.
In der Heimath verlachten den Alten Alle, denen er einst in froher Hoffnung versicherte, daß er ein Künstler werden wolle. Er mußte es ertragen. Unverdrossen widmete er sich seinem Handwerk, das ihn gemächlich ernährte; er gründete seinen eigenen Herd und nahm ein Weib, das in der Wirtschaft tüchtig, Alles wohl zusammenhielt, das aber mitleidig lächelte, wenn er ihr von den Träumen seiner Jugend erzählte. Sie würde ihm ein williges Ohr geliehen haben, wenn sie einen Nutzen in all' den Dingen erblickt hätte, von denen er sagte, aber da sie merkte, daß ihm zur Arbeit die rechte Lust fehlte, daß er sich zur Ausübung seines Berufes zwingen mußte, wenn er von dem träumte, was er wohl vollbringen möchte, wenn ihm das Talent dazu gegeben worden sei, so suchte sie ihn mit Dingen, die das tägliche Leben angingen, hübsch unten auf der Erde zu halten. Seine künstlerischen Versuche brachten nichts ein, da Niemand ihrer begehrte, dagegen bezahlten die Bauern für eine himmelblau angemalte Truhe den gedungenen Preis willig und schenkten obendrein noch eine Kleinigkeit für die Küche, wenn die Rosen daraus in brennendem Roth grellten. Und deshalb durfte er nicht laut träumen.
Nun war der Knabe in's Haus gekommen, der verlachte den Alten nicht, der ließ sich erzählen von dem Lande Italia und seinen Wundern, von den Kirchen und Palästen und den Werken der Meister, die sie bargen. »Hätte ich nur ein einziges solches Bild malen können, wie jene,« sagte der Alte, »dann gehörte ich auch zu ihnen, dann hätte ich gewußt, warum ich lebte, dann wäre ich gern gestorben.« Der Alte bedachte nicht, daß der Knabe ihm nicht zu folgen vermochte, und wenn sie bei heiterem Wetter in dem kleinen Garten, oder zur Winterzeit in der Dämmerung im traulichen Stübchen saßen, dann entwarf der Knabe sich nach den Worten des Alten ein ganz absonderliches Bild von dem Land Italia und von der Kunst, die höher und heiliger sein sollte, denn alles Andere. Damals im Walde hatte er nicht gewußt, was die Stadt war, wenn der Name genannt wurde, aber von dem, was die Kunst sein möchte, davon konnte er sich nur verworrene Begriffe machen, wie einst von der Stadt.
In der Schule war er fleißig, er hatte es dem Vater versprochen. Viel hatte er im Anfang von seinen städtischen Kameraden zu leiden, die ihn verhöhnten ob seiner Unkenntniß der gewöhnlichsten Dinge, die ihn verspotteten, wenn er in kindlicher Unschuld ihnen einen Einblick in sein Inneres gestattete, in dem sich die kleine Welt barg, die er daheim im Walde in der Steinwohnung mit der Schwester aufgebaut hatte aus Waldesrauschen, hellem Vogelschlag und Kinderträumen. Das paßte Alles nicht in die Welt hinein, in der er jetzt lebte, und das machte die Anderen lachen. So kam es, daß er sich nicht zu den Kameraden getraute und sich von ihnen abschloß, daß er dem Alten still und schweigend zuhörte. Die Schulkameraden nannten ihn einen Duckmäuser, die beiden Alten riefen ihn bei seinem Vornamen – Keiner hatte ein liebes Wort für ihn.
Die Schmeichelnamen, welche die Liebe erfindet, waren für ihn nicht da, er vermißte sie auch nicht, da er sie bisher nicht kennen gelernt hatte. –
So vergingen die Jahre in der Stadt. Während der Ferien besuchte er den Vater. Von der Tante mußte er hören, daß er viel koste, und wenn ihre Klagen über diesen Punkt erledigt waren, fragte sie: »Wie soll das enden? Wohin soll das führen?« Die Schwester sah er nur selten, sie war bei einem Bauern in einem Dorfe untergebracht, damit sie die Schule besuche und arbeiten lerne. – Sie aber waren froh, wenn sie zu Festzeiten einander trafen.
»Es war doch besser, als wir noch klein waren,« sagte erst einst zu ihr.
»Das sagst Du?« fragte sie erstaunt. »Du bist doch in der Stadt, wo es schön ist. Ach, wie mußt Du glücklich sein!«
Da rang sich ein lauter Schrei aus seiner Brust und heftiges Weinen erschütterte ihn, als sollte er vergehen. Die Schwester schlang ihren Arm um ihn und küßte ihm Stirn und Wange, bis er wieder ruhiger wurde. Sie fragte, warum er so betrübt sei, aber er vermochte ihr keine Antwort zu geben.
»Bist Du krank?« fragte sie weiter. »Wollen wir es dem Vater sagen, daß er Rath schaffe?«
»Nein, nein!« rief er hastig. »Ich weiß selber nicht, wie mir war. Wir wollen dem Vater keine Sorgen machen, er ist alt geworden in kurzer Zeit.« –
»Seitdem er mit der Tante allein ist,« fiel die Schwester ein.
»Seitdem wir fort sind,« flüsterte Ferdinand. »Er hat uns lieb, das weiß ich, wenn er es auch nicht sagt, und nun grämt er sich nach uns, wie wir uns nach ihm grämen und dem Walde.«
»Ich bin lieber bei den fremden Leuten,« antwortete die Schwester. »Es ist geselliger, man spielt mit den Andern, und prachtvolles Essen giebt es. So herrliches Weißbrot, wie die Bäuerin zum Sonntag backt, haben wir niemals daheim bekommen. Ich könnte es auf lange Zeit nicht mehr im Walde aushalten. Du solltest dabei sein, wenn wir Blindekuh spielen, ich sage Dir, es ist köstlich.«
Ferdinand schüttelte das Haupt, er trug weder Verlangen zum Spiel, noch zu dem Brod der Bäuerin.
Der Holzwärter war in der That rasch gealtert. Noch einsilbiger als früher suchte er die Einsamkeit mehr denn zuvor. Er floh das Haus, aus dem die Kinder fortgezogen waren, das durch das mürrische Wesen der Schwägerin, die keineswegs mit den Jahren an Liebenswürdigkeit gewann, ihm von Tage zu Tage unleidlicher ward. Sie warf ihm vor, daß er ein Narr sei, nach so vielen Jahren den Verlust der Frau nicht verschmerzen zu können, aber damit traf sie nicht ganz das Rechte, denn die Zukunft der Kinder war es, die ihm Sorge machte. Sie waren ganz allein auf sich angewiesen, weniger aus dem Leben ging und jetzt – wie konnte er ihnen Schutz sein in seiner Einsamkeit? Wäre es nicht richtiger gewesen, den Wald zu verlassen und mit der Welt in nähere Beziehung zu treten, in der die Kinder um ihre Existenz zu ringen gezwungen waren? Oft trat dieser Gedanke an ihn heran, aber ebenso oft wies er ihn zurück. »Es ist zu spät geworden,« sagte er sich selbst und dieses »Zuspät« lag auf ihm wie ein schwerer Alp, wie die Sorge, die den Nacken beugt. Er fühlte, daß es abwärts mit ihm ging, und das machte ihn noch verschlossener als früher.
Er sprach mit dem heranwachsenden Knaben und fragte ihn, was er werden wolle, um in der Zukunft fest zu stehen, aber dieser wußte keinen Bescheid darüber zu geben. »Du wirst in einem Jahre konfirmirt,« sagte der Vater, »dann mußt Du wissen, was Du werden willst. Darum denke nach und vergiß nicht, daß wir uns nach unserer Decke strecken müssen.« Das versprach der Knabe zu thun, und fügte hinzu, daß er sich bei dem alten Maler Raths erholen wolle.
Es fand sich auch bald eine Gelegenheit, als der Knabe wieder in der Stadt war, dem Maler die beabsichtigte Frage vorzulegen. »Wozu treibt Dich Dein Verlangen?« entgegnete dieser. »Würdest Du einen Beruf erwählen, dem Du Dich nicht mit ganzer Seele hingiebst, so müßtest Du unglücklich für Dein ganzes Leben werden. Findest Du zuletzt nicht etwas Besseres, so bleibe bei mir und lerne mein Handwerk, ein Gehülfe wie Du, wäre mir gerade recht und was ich weiß und kann, will ich Dich gerne lehren. Willst Du das, so kannst Du jetzt schon anfangen, in Deiner freien Zeit mir zur Hand zu gehen. Wir können auch bei der Arbeit plaudern und Du hast den Vortheil, Deine Lehrzeit zu verkürzen.«
Das war dem Sohne des Holzwärters recht, und schon am nächsten Tage begann seine Thätigkeit, obgleich ihm das Farbenreiben nicht sonderlich behagte, aber es mußte sein, da er dem Vater das Versprechen gegeben hatte, die Zukunft ernst zu erfassen. An den Sonntagen unterwies der Alte ihn im Zeichnen von Ornamenten und Figuren aller Art, wie sie das Gewerbe benöthigte, und mit eisernem Fleiße wandelte Ferdinand die ihm vorgeschriebenen Wege zur Freude seines Meisters, der hin und wieder ein Wort von Begabung und Talent fallen ließ. »Es wird gehen,« sagte er zu seiner Frau, »der Junge besitzt Anlagen.«
»Wenn sie Dir nützen, dann ist es gut,« erwiderte diese. Und so kam es, daß einige Tage nach der Konfirmation der Zunftmeister den Sohn des Holzwärters als regelrechten Lehrling des ehrsamen Malerhandwerkes einschrieb. –
Die Stadt besaß aus alten Zeiten her ein Schloß, das unbewohnt war und zeitweilig zum Aufenthalt durchreisender hoher Personen diente. Es lag auf einer Anhöhe und nahm sich gar stattlich aus, nur machten die geschlossenen Fenster den Eindruck, als läge es im Schlafe und träume von vergangenen glanzvollen Tagen. Der alte Kastellan, der im Erdgeschosse wohnte, sah auch aus wie ein Ueberbleibsel aus alter Zeit, so staubig, so verwittert, so schweigsam wie die bemoosten Sandsteinsphinxe vor dem Portal.
Nur wenn er durch Nothwendigkeit gezwungen wurde, begab sich der alte Herr in die Stadt hinab. Dann trug er einen braunen Rock von altfränkischem Schnitt und weiße gewirkte Handschuhe und sah weder rechts noch links, als wollte er mit den Leuten auf der Gasse nichts zu schaffen haben. So kam er auch eines Tages zu dem Maler gegangen, damit sich dieser auf das Schloß begebe, um einen Plafond auszubessern, dem der Regen zugesetzt hatte. Es wohnten unter dem Dache des alten Schlosses Wiesel und Marder, die hin und wieder eine Schiefertafel lösten; der Kastellan konnte nicht dafür, daß der Regen sich an dem, ihm zur Obhut übergebenen alten Schlosse mitunter vergriff.
Der Meinung war auch der Maler und auch die Frau bestätigte dies, und ein Langes und Breites wurde darüber geredet, daß die Zeiten so ganz anders geworden seien, daß derartiges früher nicht hätte passiren können, daß nun aber nichts übrig bleibe, als den angerichteten Schaden so bald wie möglich zu repariren.
»Es ist aber nicht leicht zu helfen,« sagte der Kastellan, »denn der Regenfleck hat sich über einen Rosenstrauß ausgebreitet, der an die Decke gemalt ist. Werden wir das auch können?«
»Ich denke: ja,« antwortete der Maler. »Und wenn es mir nicht gelingen sollte, so wird mein junger Lehrling schon damit fertig werden. Der hat Talent.«
»Wir müssen sehen, wie's geht,« sagte der Kastellan. »Aber bald muß es sein, denn kämen Herrschaften und der Fleck wäre noch da, das würde ich nicht überleben.«
So kam es, daß am nächsten Tage der Maler und sein Zögling das Schloß betraten. Farben und Pinsel hatten sie mitgenommen, um wo möglich die Arbeit gleich zu beginnen.
Die großen Säle und Zimmer, durch welche sie geführt wurden, die nur matt vom Tageslicht erleuchtet waren, machten einen geheimnißvollen Eindruck aus den Sohn des Holzwärters. Kaum wagte er die weichen Teppiche mit den Füßen zu berühren, befangen folgte er seinen Führern, so fremd fühlte er sich in diesen Räumen. In dem Zimmer, dessen Decke beschädigt war, stand bereits eine Trittleiter, die hoch hinaufreichte und volles Tageslicht strömte durch die geöffneten Fenster ein. Während der alte Maler den Schaden in Augenschein nahm und dem Kastellan die tröstliche Versicherung gab, daß das Unglück so gut wie ungeschehen gemacht werden könne, ließ Ferdinand seine Blicke durch das Zimmer schweifen. Die weißlackirten vergoldeten Möbel aus der Zeit Ludwig des Vierzehnten, die Kredenze, auf der wunderlich geformte Porzellanvasen standen, die kleinen mit schimmerndem Perlmutter ausgelegten zierlichen Tischchen mutheten ihn eigen an. Eins aber fesselte ihn ganz und nahm alle seine Sinne gefangen, das war ein Bild in schwerem goldenen Rahmen, auf das ein herrliches Licht fiel. Da sah er von schimmerndem Golde umgeben seine innere Welt, die er bisher Niemandem zu offenbaren vermochte, verkörpert vor sich, das war der Wald, wie er einst gewesen, da er noch ein Kind war, das war Waldesrauschen und Waldesduft, wie er nie wieder vernommen seit jener Zeit, nach der er sich unbewußt gesehnt hatte so manchen Tag, so manches Jahr. Er hatte nicht gehört, daß der Kastellan fortgegangen war, er merkte nicht, daß sein Meister zu ihm trat und ebenfalls das Bild betrachtete. Nur dann erst, als der Alte ihm weich und leise zuflüsterte: »Das ist die Kunst!« da erwachte er wieder und es begann in ihm zu tagen. Der Frührothschein aus einer andern Welt war zu ihm herübergedrungen, nun verstand er den Alten, nun hatte er auch in das Wunderland der Kunst einen heißen verzehrenden Blick gethan.
»So will auch ich malen,« rief er begeistert. »Und so werde ich es!« fügte er fest und bestimmt hinzu.
Wehmüthig lächelnd erwiderte der Alte: »Diesen Maler hat noch keiner erreicht, er ist der größten einer und heißt Ruisdael. Sieh', so wie Du jetzt, habe auch ich einst gewünscht und gehofft, ich traute mir zu, das Höchste zu erreichen, bin aber unten auf der Erde geblieben.«
»So will ich versuchen, wie weit ich gelange,« antwortete Ferdinand. »Doch das Eine weiß ich, nimmer werde ich ruh'n noch rasten, bis ich auch in Farben sagen kann, was ich fühle und denke.«
»Und wenn die Andern kommen und Dich und Dein Stammeln und Lallen verspotten? Warum ziehst Du Dich zurück von Deinen Kameraden? Weil sie Dich verhöhnten, wenn Du von Deiner Heimath sprachst und sie Dir schöner deuchte als Alles. Und es waren nur Knaben, die kein Mitleid mit Dir hatten. Wird Dir je die Kunst zur Heimath und Du sprichst in Farben zu den Menschen, von dem, was Dein geistiges Auge erschaute, dann schreien die Erwachsenen Hohn, bis Du untergehst oder bis Du ein Meister geworden bist, und Du ihnen die Pforten der Schönheit so weit erschließen kannst, daß ihre blöden Augen sehen müssen. Bist Du stark genug, viel, sehr viel Leid zu ertragen, daß Du Dir eine neue Heimath gewinnen mögest?«
Ferdinand schwieg. Er gedachte seiner Heimath im Walde, des Steinhauses, das die fremden Leute sprengten, wie er in die Stadt gekommen war, die ihm ein Wunder erschien, ehe er sie kennen lernte, und wie er jetzt so einsam und verlassen sei. Einen langen, innigen Blick richtete er auf das Bild und heißglühend strömte die Sehnsucht durch sein Inneres. »Ich will die Heimath gewinnen,« flüsterte er.
»So möge Gott Dir beistehen,« rief der Alte und zog den Jüngling an seine Brust. »Er lasse Dich das Land Italia schauen und gebe Dir mehr, als er mir gab, mehr als den Willen ... auch die Kraft zur Vollendung!«
Es war still, ganz still in dem Zimmer des alten Schlosses, kein Ton drang von dem Geräusch der Stadt herauf, doch diese Stille durchschauerte den Jüngling, wie damals der feierliche Klang der Orgel, als er an des Vaters Hand zum ersten Mal in seinem Leben in die Kirche trat. Er fühlte sich zu dem alten Maler hingezogen, wie zu einem Vater, und hielt ihn fest, fest umschlungen. Er hatte einen Trunk aus dem Born der Liebe gethan, den eine alte zitternde Hand ihm reichte, einen Weihetrunk in der heiligen Stunde, in der die Kunst sehnendes Verlangen in ihm erweckte. Sie sprachen kein Wort, aber ihre Blicke ruhten auf dem Bilde des holländischen Meisters. Der Eine sog es in sich aufleuchtenden Auges, dem Andern verhüllte ein leichter Schleier das Bild, es war die Trauer um längst begrabene Hoffnungen, die in diesem Augenblicke das Auge des Alten feuchtete.
Als der Kastellan nach langer Zeit wiederkehrte, um sich über den Fortgang der Arbeit zu unterrichten, fand er, daß das Blumenbouquet an der Decke noch ebenso durch den Regenfleck entstellt wurde, wie vorher, daß noch keine Hand gerührt worden war, Abhülfe zu schaffen. Er warf einige Worte von Zeitvergeuden und Unannehmlichkeiten hin, aber er mußte sich mit dem Versprechen begnügen, daß morgen die Arbeit in Angriff genommen werden solle. Für heute sei es schon zu dunkel geworden. –
Zwischen dem Meister und Lehrling trat von diesem Tage ab eine gegenseitige Annäherung ein, die mit den althergebrachten Gebräuchen der Zunft geradezu in Widerspruch stand. Anstatt die Barschheit herauszukehren, welche in früherer Zeit als wichtiges Erziehungsmittel galt, und wenn auch nicht den Respekt, so doch die Furcht vor dem Lehrherrn förderte, verzog der Alte den jungen Menschen. Während dieser zeichnete, rieb der Alte die Farben; wo er konnte, nahm ihm der Alte die Last häuslicher Arbeiten ab. Erstand darob Zwist mit seinem Ehegemahl, so wagte er den Lehrling in Schutz zu nehmen. Es war die umgekehrte Welt.
»Ich will es ihm leichter machen, als ich es in meiner Jugend hatte,« sagte der alte Maler zu sich selber. »Nur weiß ich nicht, wie es werden soll, wenn ich keine Vorlagen mehr für ihn habe? Was kann er überhaupt bei mir lernen und hier in der Stadt, die nichts bietet? – Ja wäre er im Lande Italia, dort könnte er die Kunstwerke sehen und sie abkonterfeien, bis er selbst zu schaffen im Stande wäre. Warum leben wir nicht miteinander im Lande Italia?«
»Woran soll er seine Kräfte üben?« dachte der Alte weiter. »Gothische Blumen und griechische Borten kann er zeichnen. Das aber genügt nicht und führt ihn nicht weiter. – Ja wenn der Kastellan ihm erlauben wollte, daß er eins von den Bildern in dem Schlosse kopiren dürfte – das würde ein gewaltiger Schritt vorwärts sein!«
Es war ein schwerer Gang für den Alten, als er sich zum Kastellan begab, und ihn um die Erlaubniß für seinen Lehrling bat, ein Bild von den im Schlosse befindlichen kopiren zu dürfen. Für sich hatte er noch nie gebeten und des Bittens ungewohnt, trug er sein Anliegen so ungeschickt vor, daß der Kastellan ihn anfangs gar nicht verstand. Als dieser aber der langen Rede kurzen Sinn erfaßte und ob des ungewohnten Ansinnens eine Zeitlang nicht zu Worte kommen konnte, war eine bestimmte Ablehnung die Antwort.
»Gott soll mich aber schützen und bewahren, daß ich mich an dem mir anvertrauten Inventar versündigte!« antwortete der Kastellan.
»Es gilt ja nur einen Versuch zu machen,« rechtfertigte sich der Alte.
»Ich kann mich auf nichts einlassen,« entgegnete der Kastellan zähe. »Hat der junge Mann Talent, so wird er sich schon Bahn brechen, das haben sie alle müssen. So viel aber sage ich nur, die Sachen in dem Schlosse sind nicht für Jedermann da, und wenn Sie vernünftig sind, so treiben Sie dem jungen Manne seine Kunstgrillen aus. Kennt er sein Handwerk gut, so kann er es zu etwas bringen. Ich würde mir ein Gewissen daraus machen, einen unmündigen Menschen zu Thorheiten zu verleiten, und eine Thorheit ist die Kunst!«
Unverrichteter Sache kam der Alte wieder nach Hause und redete zu seinem jugendlichen Freunde die Worte, die der Kastellan gesagt hatte. »Es ist auch am Ende eine Thorheit,« schloß er. »Und besser wird es sein, Du schlägst Dir alle Gedanken an die Kunst aus dem Sinn. Sieh mich an und sage, was aus mir geworden ist, warum solltest Du auch so werden wie ich und in ewigem Zwiespalt mit Dir selbst leben? Wir wollen Thüren und Fenster streichen und Milcheimer bunt anmalen.«
Ferdinand erwiderte keine Silbe. Schweigend legte er das Zeichengeräth zusammen und verschloß es. Das Zeichenbrett lehnte er umgekehrt an die Wand und that ganz wie ihm der Alte befahl. Von nun an war weder die Rede von der Kunst, noch vom Lande Italia; jeder Tag, der kam. war ein grauer trüber Alltag, es war ihnen Beiden, als sei die Sonne untergegangen und werde niemals wieder scheinen.
Des Malers Frau war zufrieden mit der Wandlung der Dinge und dankte dem Kastellan im Stillen gar vielmal, daß er mit vernünftigen Worten einem Treiben ein Ende gemacht hatte, das mit dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht übereinstimmte. Das stille zurückhaltende Wesen des Jünglings gefiel ihr gar wohl und mit seinem Fleiße war sie derart zufrieden, daß sie aus eigenem Antriebe ihren Gatten veranlaßte, die nöthigen Schritte zu thun, damit der Lehrling vom Maleramte zum Gesellen gesprochen werde. »Denn,« meinte sie, »er ist groß und stattlich herangewachsen bei seinen zwanzig Jahren und kann Dich als Geselle gut vertreten. Dann hast Du mehr Ruhe und brauchst Dich nicht so zu quälen wie bisher. Aber verpflichten muß er sich, bei uns zu bleiben, damit wir Nutzen von ihm haben!«
Es wäre auch so gekommen, wie die Frau Meisterin sich ausgesonnen, aber an einem schönen Morgen erschien der junge Mann nicht bei dem gemeinsamen Frühmahle und blieb auch von diesem Tage an verschwunden, ohne ein Zeichen zurückzulassen, wohin er gegangen sei.
Der Kastellan wollte bemerkt haben, daß der junge Mann an dem Tage seines Verschwindens im frühen Morgengrauen aus dem Schloßberge gewesen sei und unverwandten Auges zu dem Gemache hinaufgeschaut habe, wo damals der Regenfleck die Decke beschädigt hatte, aber er konnte keinen Zusammenhang zwischen diesem Umstande und der Flucht des jungen Menschen finden.
»Dann weiß ich, wohin er gegangen ist,« sagte der alte Maler, und ein freudiges Lächeln überflog sein Antlitz, »dann ist er auf dem Wege nach dem Lande Italia!«
*
Es war so ziemlich alles beim Alten geblieben, im Walde sowohl wie in der Stadt am See, seit der Zeit, da der Sohn des Holzwärters in die Fremde gewandert war, ohne zu sagen wohin, und ohne einen lauten Gruß für die, zu denen er gehörte. Er mußte wandern, er konnte nicht anders. Das verschlafene Schloß mit seinen Schätzen öffnete sich ihm nicht. Der Kastellan gab nicht zu, daß er den Schöpfungen der Kunst sich nahte, um davon begeistert, zu eigener Thätigkeit zu entflammen; die Stadt war ihm zur Wüstenei geworden, auf der Dornen und Gestrüpp aufsproßte, das seine Sehnsucht zur Kunst umwucherte; da litt es ihn nicht länger in der Alltäglichkeit, und vorwärts eilte er, damit er die neue Welt fände, von der der Alte ihm vorgeträumt, die er vorahnend wahrgenommen, als er das Bild im Schlosse sah. Dem Bilde sandte er einen Gruß, als er in der Morgenfrühe die Stadt verließ, das allein deuchte ihm grüßenswerth.
Der Holzwärter hatte die Kunde von der Flucht seines Sohnes scheinbar gleichgiltig aufgenommen und ertrug die bösen Reden der Schwägerin mit äußerem Gleichmuth, im Inneren aber betrauerte er ihn und hielt von ihm wie von einem Gestorbenen. Die Schwester grämte sich im Anfange, auch machte ihr das Gerede der Leute Verdruß, aber als dieses nach einiger Zeit still und stiller wurde, vergaß auch sie ob ihrer eigenen kleinen Sorgen das Verschwinden des Bruders. Der alte Maler hoffte von Tage zu Tage auf eine Nachricht von seinem ehemaligen Zöglinge, aber der Postbote ging achtlos an seiner Thür vorbei. Die Frau des Malers nannte den Entflohenen einen Taugenichts, der sein Glück mit Füßen von sich gestoßen habe, und der Kastellan gab ihr darin vollkommen recht. In der Stadt hatte man des Jünglings vergessen, da gab es Hochzeiten, Kindtaufen, Schützenfeste und mancherlei Stadtklatsch, die Gemüther mehr als hinreichend zu beschäftigen; wer hatte Zeit an den Einen zu denken? Im Uebrigen war die Stadt dieselbe geblieben: es spielte die Jugend auf der Straße, die Alten saßen vor der Thür und die Heranwachsenden freiten und ließen sich freien, wie einst die Alten in ihrer Jugendzeit. Es war ein altes Stück, das immer und immer wieder gespielt wurde: die Rollen blieben dieselben, nur die Namen der Akteure wechselten im Laufe der Zeiten.
Er aber, der davon gegangen war, der sich frei loslöste von dem gewöhnlichen Getriebe, war ein Anderer geworden. Er hatte die Noth kennen gelernt; die war sein Gefährte geblieben, bis er mühselig unter Entbehrungen und Leiden das Land seiner Wünsche, Italien, erreichte.
Hunger und Elend trieben ihn in niedrige Dienste, bald unter die Botschaft eines ehrsamen Meisters, bei dem er, wie einst, sein Handwerk übte, bald war es einzig und allein die Kraft seiner Arme, die ihm des Lebens leidigste Nothdurft erwerben half. Aber er sah Land und Leute und mehr als das: in Schlössern, Kirchen und Galerien die Werke der Meister. Nicht überall gab es Kastellane.
Eiserner Wille beseelte ihn, der half ihm vorwärts, der ließ ihn ertragen und ausharren; die Noth vermochte nicht, ihn zu bezwingen, die versuchte an Jugend und froher Hoffnung ihre Tücke noch stets vergebens. Im Kampfe um das Dasein waren seine Kräfte erstarkt, die geistigen sowohl wie die körperlichen.
Der Sohn des Waldes unterschied sich wohl von manchen andern Menschenkindern. Frei und klar waren Stirn und Auge, Uebles hatte keine Gelegenheit gefunden, sie zu trüben; ein Etwas, das aussah wie leichter Trotz, umspielte seinen Mund. Kraftvoll, in dem herrlichsten Ebenmaße hatte sich die ganze Gestalt entwickelt, und gern weilten die Blicke auf dem jungen Manne, der unbeirrt die Welt durchzog. Manch' Meistertöchterlein hätte ihm mit Freuden die Hand gereicht, wenn er geblieben wäre; er aber konnte nicht bleiben, es trieb ihn weiter nach dem Süden.
Und als er nun endlich am Ziel war und die Stadt der sieben Hügel erreicht hatte, da sah er ein, daß er um keinen Schritt vorwärts gekommen war. Wohl stand er den Schöpfungen der größten Meister gegenüber und fühlte sich gedemüthigt ob solcher Größe ... wie aber sollte er es beginnen, den Weg zu betreten, den auch sie einst gegangen, um ihre Höhe zu erreichen? Ja, wäre er nicht in der Einsamkeit des Waldes geboren, wäre es ihm möglich gewesen, ohne Hindernisse dem Ziele zuzustreben, dann würde er nun auch schon ein Maler sein, wie so viel Andere, denen ein günstigeres Geschick zu Theil wurde, dann würde er, nicht wie jetzt nur von Ferne stehen, sondern schaffen und wirken. Er blickte vorwärts in die Zukunft, und die Gestalt des alten Malers aus der Stadt tauchte vor ihm auf. »Das ist auch mein Loos,« rief er entsetzt. Aber nur kurze Zeit ließ er sich von diesem Gedanken unterjochen. Er schüttelte ihn ab wie eine lästige Fessel. »Ich werde mir einen Meister suchen,« sagte er. »Hier in Rom muß ich ihn finden!«
Er klopfte vergeblich bei vielen Malern an. Man begehrte Proben seiner Kunst, und im Besitze einer Skizzenmappe war er nicht. Andere begehrten klingende Münze für ihre Unterweisung ... die besaß er nicht.
Endlich hatte Einer Mitleid mit ihm, ein deutscher Maler, der schon lange in Rom weilte, und dessen Namen in der Kunstwelt einen guten Klang hatte, der mochte wohl ein Gleiches erduldet haben und ihn verstehen.
So war endlich der ersehnte Tag angebrochen, so war der Führer gefunden, der ihn von den Irrwegen, die er bisher in seiner Rathlosigkeit eingeschlagen hatte, die ihn von der Kunst wegführten, während er glaubte, sich ihr zu nähern, mit ruhiger und sicherer Hand ableitete. Das hatte er wohl empfunden, daß das Wollen und die Begeisterung allein nicht den Künstler ausmachen, daß das Können nothwendig ist, um dem Wollen und begeisterter Anschauung zum rechten Ausdruck zu verhelfen. Niemand aber war gewesen, der ihm gesagt oder gezeigt hätte, wie es anzufangen sei, das rechte Können zu eigen zu gewinnen. Wohl hatte er oft versucht, selbst vorwärts zu gehen, er malte und zeichnete, wie es ihm gelingen mochte, aber wenn er seine Arbeiten ansah und sie verglich mit den Werken der Meister, dann verzagte er fast und zerstörte, was er geschaffen. Nun aber erfuhr auch er die Regeln der Kunst, wie sie die Meister den Schülern von Generation zu Generation gelehrt hatten, und begierig, wie eine sonnendürre Flur den erquickenden, wachsthumfördernden Regen auftrinkt, erfaßte sein Geist die lang entbehrte, lange vergebens gesuchte Erkenntniß von dem Wesen der Kunst.
Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, denn nun erst lernte er sehen, nun begannen die Schönheiten, die er bisher nur dunkel und geheimnißvoll ahnte, sich ihm verständnißvoll zu offenbaren.
Und von dieser Zeit an ward ihm auch das Können zu eigen. – –
Kaum war ein Jahr rastlosen Fleißes und innigster Hingebung an künstlerische Thätigkeit vergangen, als in Künstlerkreisen schon von dem seltenen Talent gesprochen wurde, und wie eine kleine Kreiswelle auf dem Spiegel eines Sees sich zu immer größeren Ringen ausbreitet, so verlautete die gute Rede über die Begabung des schweigsamen norddeutschen Malers zu Freunden der Kunst und weiter hinaus zu Fernstehenden. Die Arbeiten fanden Beifall und Aufträge wurden gegeben, und jubelnd kredenzte die Menge dem Künstler den berauschenden Becher des Ruhmes. Da schwanden die Tage und Wochen wie im Fluge, Festtage und Festwochen voll glühenden Sonnenscheines, und vergessen waren Wald und Stadt. Die lagen jenseits der Berge in graue Alltäglichkeit gehüllt fernab von der stolzen Roma im Wunderlande Italia.
Und sengend wie die Sonne des italienischen Himmels nahte sich dem jungen Maler das Leben. Es lohte in ihm auf wie verzehrendes Feuer und mit vollen Zügen trank er wonnige Lust des Lebens, als müsse er sich schadlos halten für früheres Entbehren und Entsagen. Niemand war, dem er Rechenschaft geben durfte als sich selber, Niemand war, der ihn warnte.
Unter den Huldigungen, die ihm gebracht wurden, gefielen ihm die von den Lippen schöner Frauen am meisten. Er ward umworben, statt zu werben, und geblendet von leichten Erfolgen unterschied er nicht, ob er selbst es sei, der begehrt wurde, oder der Ruhm, den er sich als Künstler erwarb.
Die Selbstliebe redete ihm vor, daß die Huldigungen ihm gälten, und doch wäre er übersehen worden, wenn der Ruhm ihn nicht emporgehoben hätte. Deshalb fing er an, sich selbst für einen Heros zu halten und die Kunst gering zu achten. Sie begann ihm zu werden, was sie schon so Vielen ward und Vielen werden wird, ein Mittel, Ruhm und Güter zu erwerben. Damals, als er die Welt des Genusses nicht kannte, als einfaches ruhiges Leben ihn festhielt und nicht lassen wollte, als ihm Muße blieb zu tiefem inneren Gemüthsleben, sehnte er sich nach der Kunst. Das innere Empfinden wollte Form und Gestalt gewinnen; nun aber, da er ein Künstler geworden, nahte sich ihm die Außenwelt mit all' ihren blendenden Reizen und ließ die heilige Schönheit, die einst sein ganzes Wesen mit hoher Begeisterung erfüllte, matt und farblos erscheinen.
Als er mit ganzem Herzen und allen Sinnen der Kunst lebte, hatte der Neid Mißgünstiger oft versucht, ihm das Schaffen und die Freude am Streben dadurch zu verbittern, daß er in übler Rede seine Werke herabzusetzen bemüht war und auch wohl den Spott zu Hülfe nahm, die Anerkennung zu verscheuchen. Diesem Neid aber setzten sich der innige Glaube an die Kunst und heilige Begeisterung entgegen, so daß er nicht mit den Pfeilen treffen konnte, die er boshaft aus Verstecken und Winkeln abschoß. Nun jedoch, da er der Kunst untreu ward, gewann der Neid die Oberhand und wußte Schwächen zu finden, die er schadenfroh zeigte und um derentwillen er Alles herunterriß, was der Künstler schuf.
Anfangs lachte er über den Tadel, den der Neid ausstreute. Was kümmerte ihn der Ausspruch, daß in seinen letzten Arbeiten bereits Manier sich geltend mache, daß der Zauber der Poesie aus ihnen verschwunden sei, der seinen früheren Werken innewohnte? Er hatte lustige Freunde genug, die ihm täglich den Weihrauch des Ruhmes streuten, und schöne Lippen nannten ihn kosend mit Schmeichelnamen. So war er auf dem Wege sich selbst zu verlieren, und er merkte es nicht.
Wohl gab es Stunden, in denen sich ihm das Gefühl der Oede und Leere nahte, aber sie kamen selten und waren rasch wieder vergessen, sie kamen auch nur dann, wenn er allein war, und da er die Einsamkeit nicht liebte, so wußte er auch Mittel, ihr zu entgehen; entweder suchte er Gesellschaft auf oder er griff zu Pinsel und Palette und malte.
Man hatte ihm gesagt, seine Bilder würden arm an Poesie und manierirt. »Warum male ich auch nur italienische Berge, die ewig sich wiederholenden Pinien und den heiteren südlichen Himmel?« fragte er sich. »Das Einerlei erscheint leicht als Manier! – Ich will den Neidern ein Bild malen, das sie eines Besseren belehren soll, und ihnen zeigen, daß ich im Vollbesitze meiner Kraft und meines Könnens bin!«
Er legte eine Landschaft an, dem Norden entnommen. Die Erinnerung mußte ihm zu Hülfe kommen, damit sich das Bild gestalte, und wie sich Linie zu Linie gesellte, wuchs in leichten Umrissen ein Wald hervor, ein Hügel von Bäumen überschattet und große erratische Blöcke lagen am Fuße der sanften Erhebung. Und als er begann, dem Entwurf das Leben der Farbe zu geben, da mußte er nachsinnen und in der Erinnerung die Töne suchen, die eine andere Natur als seine jetzige Umgebung verlangte. Da wurde längst vergangene Zeit in ihm wieder wach, es war das Bild der Heimath, das vor ihm erstand. Der Hügel im Walde, wo er glücklich gewesen war wie niemals wieder, da er noch ein Kind war und ein Wesen auf Erden hatte, das ihn ganz verstand, als wäre es ein Theil von ihm selbst. Er versuchte zu malen, allein es wollte ihm nicht gelingen, das Bild zu verkörpern, wie er es in seinem Innern erschaute, etwas Fremdes drängte sich hinein und dieses Fremde war die Gegenwart, in der er lebte. So war es doch wahr, was die Andern gesagt hatten: das, was ihn nun am innigsten bewegte, der heimathliche Wald, dessen trauliches Rauschen er zu vernehmen glaubte, in dessen mildem Smaragdlicht Frau Poesie wandelte, den konnte er nicht malen. Er erinnerte sich des Bildes im Schlosse, das ihn einst so gewaltig ergriffen, über dessen Wirkung er sich damals keine Rechenschaft zu geben vermochte. Nun konnte er sich entsinnen, daß er wie in einen Spiegel geschaut habe, in dem er die Natur erblickte, wie sie sich ihm unbewußt eingeprägt hatte, die Eins mit seinem Fühlen und Empfinden geworden war. Er hatte des Waldes, der Heimath vergessen und sie hatten dafür seiner vergessen, äußerer Schein hatte die Begeisterung verdrängt, die ihn treu durchs Leben dem erstrebten Ziele entgegen geleitete, und nun versagte ihm die Hand den Dienst, wo es galt, Schönes aus dem Innern zu Tage zu fördern. Es war öde in ihm geworden. Da faßte ihn wieder die Sehnsucht, die Sehnsucht nach der Zeit der Kinderträume, nach den Klängen der Orgel, die sein Herz mit heiligem Schauer erfüllt hatte, nach dem Bild im Schlosse, das ihn zu neuem Leben erweckte. Den alten Maler wollte er wiedersehen, den Wald, den Vater und die Schwester. Die liebte ihn, der konnte er vertrauen, die verstand ihn, hatte sie ihn doch verstanden, als sie noch klein waren und im Dickicht mit einander spielten. Das war es ja, was ihm fehlte, eine Seele, die ihm nahe stand.
Er verließ Rom, die Freunde, welche seine Grille verlachten, die Frauen, welche sein Abschied nicht betrübte, und pilgerte dem Norden zu. – – – – – – – – –
Als er den Wald erreichte, wurde ihm gar beklommen um's Herz. Alles war beim Alten geblieben, nur er war fremd geworden. Leichtlich fand er den Weg zum Holzwärterhause. Eine ihm unbekannte Frau saß vor der Thür und spann am Spinnrade. Er nannte den Namen seines Vaters. Der sei gestorben und begraben, ward ihm zur Antwort. Er fragte weiter nach der Schwester. Die sei in einem benachbarten Dorfe verheirathet, hieß es. Obgleich es bereits dunkelte, lehnte er das Anerbieten der Frau, auf die Ankunft ihres Mannes, des neuen Holzwärters, zu warten, mit stillem Kopfschütteln ab und machte sich allein auf den Weg, den kannte er noch von der Jugendzeit her recht gut. Er kannte ihn dennoch nicht wieder, denn seine Augen taugten nicht zum Sehen und in seinem Gemüthe zogen die Gedanken her, wie die Wolken am Himmel einer sturmbewegten Mondnacht im Herbste. Er gedachte des Vaters, der hatte sein Glück gewollt; wie er frei davongegangen war, wie er statt des Glückes bunten Schimmer eingetauscht, wie er dem Vater und dem alten Maler mit Undank gelohnt hatte, wie er nun von ihnen verlassen war, von denen er sich einstmals losriß. Und die Begeisterung für die Kunst, die ihn damals antrieb, so zu handeln und nicht anders? Sie war versiecht im übermüthigen Genusse. So war er verirrt im Leben, wie nun im Walde.
Mühsam nur gelangte er vorwärts. Er folgte einem Fußwege, der in das Dickicht führte, in der Hoffnung, auf demselben in's Freie zu gelangen; es war aber ein Weg, den die Rehe gebahnt hatten und der sich allmälich verlor. Er rief laut in den Wald hinein ... nur das Echo antwortete.
»So werd' ich in dieser Nacht mich auf Moos und welkes Laub betten,« sagte er. »Wer weiß,« fügte er hinzu, »ob es nicht besser gewesen wäre, ich hätte den Wald niemals verlassen, es wäre mir der Friede bewahrt geblieben, den ich nun verloren habe, den ich dahingab für Erkenntniß der Welt, für Täuschung und Wahn.«
Er streckte sich auf den Erdboden nieder und erwartete den Schlaf, der aber stand von ferne und gesellte sich nicht den Gedanken des Harrenden.
Es war ganz still geworden, kein Blatt regte sich an den Bäumen. Da war es dem Ruhenden, als vernähme er aus der Weite ein Geräusch und Laute wie von Sprechenden. Er rief laut und horchte. Ihm wurde geantwortet. Ruf und Gegenruf wechselten, das Bellen eines Hundes mischte sich in das Rufen. »Wer da?« erschallte es deutlich vernehmbar. – »Ein Verirrter.« – »Kommt hierher! Ihr seid nicht weit ab vom rechten Wege!«
Der Maler folgte der Richtung, von woher der Ruf erschallte, und erreichte nach einiger Zeit einen breiten Weg, der sich durch den Wald zog. Von oben schien das Blau des sommerlichen Nachthimmels durch die Lichtung hernieder. Zwei Männer mit Jagdflinten im Arm standen auf dem Weg und erwarteten ihn. »Wer seid Ihr?« rief der Eine ihm entgegen. – »Ein wandernder Maler, den die Dunkelheit überraschte.« – »Kein Wilddieb?« fragte der Andere. – »Nein,« erwiderte der Maler. »Einer, der des Schutzes bedarf und der sich glücklich schätzt, ihn gefunden zu haben.« Sie schritten vorwärts. Der Eine der beiden Gefährten gab sich als den Pächter eines in der Nähe gelegenen Landgutes zu erkennen, der andere war der neue Holzwärter. Gastfrei bot der Erstere dem Maler ein Unterkommen für die Nacht an, das dieser gern annahm; es wäre ihm schwer geworden, dem Holzwärter zu folgen. Dieser verabschiedete sich bald und schlug einen Seitenweg ein, der zu dem Holzwärterhause führte, der Pächter und der Maler erreichten nach einer langen Wanderung das Gehöft. In dem Wohnhause brannte Licht, man erwartete den Herrn des Hauses.
Als sie eintraten, wurde die Thür des Wohnzimmers geöffnet und eine wohltönende Stimme rief: »da ist der Vater.« Eine schlanke Gestalt eilte dem Pächter entgegen und bewillkommnete ihn mit Kuß und Umarmung. Das Licht der brennenden Lampe fiel auf die Gruppe und unwillkürlich trat der Maler in den Schatten zurück, als wollte er sich nicht störend einmischen. »Ich bringe einen Gast, mein Kind,« sagte der Pächter, indem er zärtlich den Arm der Tochter von seiner Schulter nahm und den Maler mit einer Geberde zum Nähertreten einlud. »Ein verirrter Maler, der sich schon darauf gefaßt gemacht hatte, unter den Bäumen zu übernachten. Ich denke, es wird ihm in unserem Fremdenzimmer besser behagen, als da draußen.« Das junge Mädchen verneigte sich verlegen vor dem Maler und hieß ihn willkommen; dieser dankte mit einigen unzusammenhängenden Worten.
»Wo ist die Mutter?« fragte der Pächter. »In der Küche!« antwortete das Mädchen. »Dann geh', mein Kind, und melde ihr, daß ein Gast einkehrte und besorgt, was nöthig ist, damit er es gut habe.« Das junge Mädchen nahm die Flinte und die Jagdtasche des Vaters und ging hinaus. Die Blicke des Malers folgten ihr, bis sie verschwunden war.
Vor einer Stunde noch im Walde, in öder Einsamkeit, trat ihm nun blühendes liebliches Leben entgegen; das erste Wort, das bei dem Eintritte sein Ohr vernommen, war ein liebender Gruß gewesen, der, wenn auch nicht an ihn gerichtet, ihm dennoch im Herzen wiederklang. Erst die Worte seines Gastfreundes erweckten ihn aus der Stimmung, in die ihn dieser Kontrast versetzt hatte. »Machen Sie es sich bequem und thun Sie, als wenn Sie zu Hause wären!« sagte dieser in gemüthlichem Tone.
»Wie soll ich Ihnen für die Gastfreundschaft danken, die Sie einem wildfremden Menschen erweisen?« entgegnete der Maler.
»Darüber machen Sie sich keine Sorgen,« war die Antwort. »Wäre ich an Ihrer Statt gewesen und Sie an meiner ... Sie hätten es ebenso gemacht. Nicht wahr?«
»Ebenso,« erwiderte der Maler lächelnd. »Gewiß, ebenso!«
Da traten die Frauen ein, die Gattin des Pächters, eine würdige Matrone, die den Gast herzlich willkommen hieß, und die Tochter, der die Magd mit dem Abend-Imbiß folgte. Man setzte sich und freute sich des Gebotenen. Mit anmuthiger Sorgfalt mühten sich die Frauen um den Gast und legten ihm das Beste vor; erst als das Mahl seinem Ende nahte, mußte der Pächter erzählen, wie und wo er den Fremden gefunden.
Das war bald geschehen, und nun fragte die Frau den Maler:
»Wie aber kamen Sie in den Wald?«
»Ich könnte vorgeben,« antwortete dieser, »daß ich als Maler Motive gesucht hätte, aber ich will Ihnen keine Unwahrheit sagen.« Dann fuhr er mit leiserer Stimme fort: »Ich bin daheim in dem Walde. In dem Holzwärterhause bin ich geboren; meine Kindheit verträumte ich dort unter den Bäumen. Ich suchte die alte Heimath und kannte sie nicht mehr ... so kam es, daß ich mich verirrte.«
»So sind Sie der Sohn des Holzwärters,« unterbrach ihn der Pächter, »derselbe, der einst – –«
»Der einst ohne Abschied in die weite Welt zog,« ergänzte der Maler.
Es entstand eine peinliche Pause.
»Wir haben ihn vor zwei Jahren zur letzten Ruhe bestattet,« sagte der Pächter.
»Er war ein rechtlicher Mann,« fuhr er fort, »aber still und verschlossen. Ich glaube, er liebte seine Kinder mehr als er merken ließ. Von der Zeit an, da Sie gegangen waren, nahm er sichtlich ab.«
Wieder entstand eine Pause. Der Maler bedeckte das Antlitz mit beiden Händen. Die Tochter sah den Vater mit einem Blick des Vorwurfs an, hatte er doch dem Fremden wehe gethan.
»Meine Tochter hat recht,« sagte der Pächter nach einer Weile mit milderem Ton, »sie macht mir stumme Vorwürfe, daß ich so mit der Thür in's Haus gefallen bin, auch meiner Frau scheint es nicht zu behagen, daß ich wieder einmal all' zu gerade herausgesprochen habe. Wer weiß,« wandte er sich zu dem Maler und legte seine Hand auf dessen Arm, »warum Sie damals in die Fremde zogen? Das wird auch gewiß seine guten Gründe gehabt haben. Und Jugend ... das ist einmal so – –«
Er konnte nicht ausreden, seine Gattin legte behutsam ihre Hand auf seinen Mund, damit er nicht auf's Neue ein wohlgemeintes, aber hartes Wort ausspräche. Der Maler blickte auf, und was ihm entgegengebracht wurde aus milden Augen, was er las in den Mienen der Frauen, war Mitleid, herzinniges Mitleid für ihn.
Er faßte sich und begann zu erzählen:
»Was mich hinaustrieb in die Welt, das kann ich schwer beschreiben, aber mir erging es, wie dem Vogel, der dem Süden zustrebt, wenn der Winter sich meldet. Um mich her war es Winter geworden und mit jedem Jahre ward es eisiger. Die Welt meiner Kindheit war zerstört; je mehr ich zum Leben heranwuchs, um so einsamer stand ich, denn Niemand brachte mir Liebe, wie ich ersehnte ... die lehrte mich Keiner kennen, selbst nicht der Vater.
Er mochte sie wohl begraben haben, als meine Mutter starb. – Vor der Tante hatten wir Kinder Furcht, und von der Schwester trennte mich bald das Leben, und wenn wir uns sahen, war es nicht mehr zwischen uns, wie in der Kindheit. – So hatte ich nichts, was ich hätte heiß und innig lieben können; was als Kind mir groß und herrlich, anbetungswürdig erschien, das wurde klein und gering, da ich mich ihm heranwachsend näherte und es verstehen lernte, oft auch wehrte der Spott, daß ich mich nicht mehr dem voll hinzugeben vermochte, was einst mich ganz gefangen nahm. Von Allen verlassen, offenbarte sich einst meinem Auge die Kunst, wie ein Lichtstrahl fiel es in die Dämmerung, in der ich dahinlebte, und sie war es, deren Ruf ich folgen mußte. Ich liebte sie heiß und inbrünstig: um sie zu erringen, zog ich davon ohne Gruß, ohne Abschied; ich weiß, der hätte mich festgehalten.«
Er schwieg.
»Und haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte die Frau des Pächters.
Der Maler zuckte zusammen.
»Ich bin ein Künstler geworden,« antwortete er. »Ruhm und Glücksgüter sind mir bescheert und Mancher beneidet mich. Die Sehnsucht, die mich einst forttrieb, aber ist wieder erwacht, heftiger denn je; ich muß meine Schwester wiedersehen, damit ich vergesse, daß ich fremd geworden bin. – Nun wissen Sie, warum ich nicht bleiben konnte und warum ich zurückkehrte, und wie es kam, daß ich im Walde gefunden wurde.«
»Ihre Schwester sollen Sie gleich morgen sehen,« sagte die Tochter rasch. »Sie wohnt in der Nähe und ist glücklich verheirathet. Papa läßt in aller Frühe anspannen!«
»Es soll geschehen, wie Du meinst, Elsa,« entgegnete der Vater. »Ich habe ja gleich gesagt, es müssen Gründe vorgelegen haben, Gründe ...«
Die Frau vom Hause erhob sich. »Unser Gast wird müde sein, führe ihn auf sein Zimmer, Väterchen.« Sie reichte dem Gaste die Hand und drückte die seinige herzlich. »Der Schlaf möge Ihnen Erquickung bringen,« sagte sie, »wir freuen uns, Sie unsern Gast zu nennen.«
Auch Elsa reichte dem Maler die Hand zum Gute-Nachtgruße. Er führte sie ohne ein Wort zu sagen, an die Lippen. – –
Alles schien in dem Hause zu schlafen, allein auf die Augen des Malers wollte der Schlummer sich nicht senken. Er blickte von dem Fenster seines Zimmers hinaus auf den schweigenden Wald, über dem die Sterne leuchtend aufgegangen waren. Auch Elsa fand die Ruhe nicht, sie dachte an den Maler, der Niemand hatte, der ihn liebte und dem sie so recht von Herzen wünschte, daß er geliebt werde. –
Am nächsten Morgen fuhr der Kutscher des Pächters den Maler nach dem von dem Pächter genannten Ort, wo die Schwester wohnte. Der Maler kannte das Gehöft wieder, als sie anlangten. Es war dasselbe, auf dem der Vater das Gefährte lieh, als er den Knaben in die Stadt brachte. Es wäre dem Maler angenehmer gewesen, wenn er seine Schwester an einem anderen Orte gefunden hätte, denn von jenem Tage an hatte er einen stillen Widerwillen gegen dieses Gehöft und gegen die Leute, die dort wohnten.
Die Schwester erkannte ihn nicht gleich wieder, als er sagte, wer er sei. Sie hieß ihn sich niedersetzen und wollte ihren Mann rufen.
Er aber hielt sie zurück und sprach: »Laß uns allein bleiben, ich habe mit Dir zu reden und nicht mit Deinem Manne.« Er fragte, ob sie glücklich sei. Sie sagte, es ginge ihr gut. Er fragte nach den letzten Tagen des Vaters. »Er sei beruhigt davongegangen,« antwortete sie. Ob er nach dem Sohne verlangt habe? Sie schüttelte das Haupt. »Er war mit allem zufrieden,« lautete die Antwort. »Er sagte ebenso wie damals, als ich mich verheirathete, an dem Laufe der Welt sei nichts zu ändern, so wie es kommen solle, so müsse es auch kommen.« Er fragte, ob sie sich noch der Kindheit erinnere. Sie meinte, das seien Spielereien gewesen und darüber hätten sie versäumt zu arbeiten. Da stockte die Unterhaltung, Bruder und Schwester waren einander ganz fremd geworden. Die Schwester holte ihren Mann, der den Schwager verlegen begrüßte. Nach einiger Zeit fragte er den Maler, ob er gedächte, sich in der Stadt niederzulassen, es seien jetzt schlechte Zeiten. Die Frau habe ihm nur wenig eingebracht, aber sie verstände zu arbeiten.
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen,« sagte der Maler. »Ich bedarf Ihrer Hülfe nicht.«
Der Bauer erwiderte, er meine auch nur so. Die Tante in der Stadt koste immerhin mehr, als er eigentlich nöthig habe zu geben. Der Maler versprach ihm, ihn von dieser Last zu befreien. Die Schwester sagte, wenn er dazu im Stande sei, so wäre das gut, denn sie hätten es nicht leicht und Jeder müsse sehen, wie er zu dem Seinigen komme.
Der Maler ließ anspannen und fuhr nach kurzen Worten des Abschieds wieder von dannen. So hatte er das Wiedersehen nicht erwartet. »Wir sind zwei verschiedene Wege gewandelt,« sagte er zu sich selbst. »Sie ist untergegangen in den Verhältnissen, und doch vielleicht glücklicher als ich.«
Er hatte dem Kutscher anbefohlen, den Weg nach der Stadt einzuschlagen. Nun lag sie wieder vor ihm, die Stadt am See, und als sie über das holperige Straßenpflaster fuhren, kam es ihm vor, als habe er sie nie verlassen. Nur erschien ihm Alles kleiner und armseliger als früher.
Der alte Maler lebte noch und freute sich, seinen Zögling wiederzusehen. Sie setzten sich zu einander und der Maler mußte erzählen. Sie hatten aber die Rollen getauscht. Was der Maler dem Alten von der Kunst und Rom, der Stadt im Lande Italia, sagte, kam diesem jetzt fremd vor. Die Erinnerung war abgeblaßt im Laufe der Jahre und die neuen Farben, mit denen der junge Maler seine Erzählung schmückte, paßten nicht zu dem alten Bilde, über das mehr als ein halbes Jahrhundert, ein ganzes Menschenleben hinweggegangen war.
»Warum schrieben Sie niemals?« fragte der Alte.
»Ich war im Lande Italia,« antwortete der Maler.
»Im Lande Italia,« wiederholte der Alte freudig lächelnd. »Ja, im Lande Italia vergißt sich Alles.«
»Ich werde wieder nach Rom ziehen,« sagte der Maler. »Hier im Norden friert mich.«
»Es ist doch warmer Sommer,« entgegnete der Alte. Dann fragte er, ob der Maler das Zeichenbrett auch mitnehmen wolle, es stände noch ebenso, wie er es damals hingestellt habe.
»Nein, nein,« erwiderte dieser rasch. »Ich will nichts von hier mit mir nehmen. – Und doch,« sagte er nach einer Weile, »Farben und Pinsel möchte ich haben, ich werde Jemandem ein Bild malen. So will ich holder Gastlichkeit danken.«
Der Maler kehrte spät am Nachmittage zu dem Pächter zurück. Man freute sich seiner Ankunft. Um einige Tage Rast bat der Maler, damit er eine Skizze aufnehmen könne. Die Bitte wurde ihm gern gewährt. »Er wird die Heimath malen, das Holzwärterhaus im Walde,« sagte die Frau des Pächters, »das finde ich natürlich.«
Aus den wenigen Tagen, die der Maler sich erbeten, wurden mehrere und aus den Tagen Wochen, es hielt ihn mit magischen Banden fest in dem traulichen Kreise. Er sah, daß die Liebe in dem Hause wohnte, wie innige Liebe Alle fest aneinander kettete, wie sie für einander und mit einander lebten.
Das Bild war längst fertig geworden, er fühlte den Mißbrauch der Gastfreundschaft, aber er konnte sich nicht trennen. Und doch mußte geschieden werden. An einem Abend sagte er, daß er am nächsten Tage abreisen werde.
»Morgen schon?« fragte Elsa bestürzt.
»Mein Bild ist vollendet, mich hält nichts mehr,« erwiderte er und blickte auf die Jungfrau, die erröthend das Auge niederschlug. – Er hatte die Absicht, das Bild in aller Frühe mit einigen Worten des Dankes zurückzulassen und sich zu entfernen. So schien es ihm, würde die Trennung nicht schwer werden. Als er aber das Bild in der Frühe hinab trug, fiel sein Blick durch das geöffnete Fenster in den Garten, der das Haus umgab, und er gewahrte Elsa, die aus thaufrischen Blumen einen Strauß wand. Sie mochte das Geräusch seiner Schritte gehört haben und barg die Blumen, da sie den Maler gewahrte. Er legte das Gemälde auf einen Tisch und eilte hinaus und begrüßte Elsa.
»Sie sind zu ungewohnt früher Stunde aufgestanden,« sagte er.
»Auch Ihnen könnte ich dasselbe sagen,« entgegnete sie.
»Es ist der letzte Tag,« erwiderte er.
»Der letzte Tag,« flüsterte sie leise und die Blumen, die sie unter der Schürze barg, entglitten ihrer Hand.
Er hob die Blumen auf. »Darf ich sie behalten, zum Andenken?« fragte er.
»Ich habe sie für Sie gepflückt,« sagte sie, »als eine Erinnerung an Ihre Heimath.«
»Elsa,« rief er, »ich kann nicht fort von hier, laß mich bleiben bei Dir. Nimm als Entgelt all' meine heiße Liebe für das Mitleid, das Du dem Verlassenen schenktest.« Er umschlang die zarte schlanke Gestalt und zog sie an sich. »Mitleid?« flüsterte sie. »Jetzt weiß ich es, ich habe Dich geliebt vom ersten Anblick an. Was aber kann ich Dir sein, ich bin so wenig, so gering.«
»Alles, Alles,« jubelte er auf. »Meine Heimath, nach der ich mich sehnte, die ich nun gefunden in Dir.« Er umschlang sie und in seliger Liebe vereinigten sich Herzen und Lippen. Die Sonne sandte ihre ersten Strahlen über den Wald her, ein neuer schöner Tag war angebrochen. –
Der Pächter war überrascht, als ihm die Mittheilung des Vorgefallenen ward; er hatte sich stets einen Landmann zum Schwiegersohn gewünscht, aber er fügte sich dem Unabänderlichen. »Werden Sie mein Kind glücklich machen?« fragte er. »Ich werde es!« antwortete der Maler. »Und nicht wieder davonziehen?« – »Ich bin nicht mehr einsam, ich habe nun eine Heimath!«
Die Mutter war Eins mit der Tochter. Sie hatte an dem Morgen das Bild des Malers gesehen und die Abschiedsworte gelesen. Als aber ihre Blicke sich von dem Bilde wandten und durch das geöffnete Fenster auf den blühenden Garten fielen, auf die beiden schönen Menschenkinder, die vom Sonnenlicht übergossen, von Blumen und Sträuchern umgeben, einander umschlungen hielten, da faltete sie die Hände zu stillem Gebet.
Das Bild stellte eine Waldpartie dar, im Vordergrunde lagen erratische Blöcke. An einem derselben lehnte eine weibliche, jugendliche Gestalt, als wenn sie träumerisch dem Gesange der Waldvögel in den Zweigen lauschte. Waldespoesie athmete das Gemälde, unendlicher Friede lag darüber ausgegossen.
»Das war einst das Nest zweier Vöglein,« sagte der Maler zu seiner Braut. »Das eine ist eingefangen worden und hat das Nest vergessen, in dem es aufwuchs, das andere zog in die Ferne, aber es kehrte wieder und gehört nun der Waldfee und die bist Du.«
Elsa lächelte. »Ich eine Waldfee?« fragte sie.
»Nein,« rief er. »Ein Kind, wie ich es wieder geworden bin, das mit mir eine Welt aufbauen wird, wie sich die Kinder einst unter den Steinen erbauten, nur schöner, viel, viel schöner von Liebe und Erdenglück.«