Heinrich Stilling
Buntes Allerlei
Heinrich Stilling

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Der Wellensittich.

Frauchen hatte für den Wellensittich einen wunderschönen Käfig erstanden. Er sah aus wie eine chinesische Pagode, und wenn der Vogel auf der vergoldeten Stange saß und verzweifelt hin und her wippte, löste sich irgendwo ein Mechanismus, und an der Decke des Vogelhauses bimmelte ein silbernes Glöckchen. Erst wenn der Vogel wieder ganz still saß, schwieg auch das Glöckchen. Frauchen war sehr stolz auf die chinesische Pagode, den Vogel und besonders auf das Glöckchen.

»Der arme Vogel«, hatte ihr Mann gesagt, »in acht Tagen wird er verrückt sein.«

Aber Frauchen war eine von jenen Ehefrauen, die auf eine Bosheit nicht gleich eine andere setzen. Sie ging stillschweigend an den 49 Bücherschrank im Salon, der merkwürdigerweise eine gewisse äußere Aehnlichkeit mit dem Vogelkäfig hatte. Sie nahm den Band »P« des Konversationslexikons, schlug den Artikel auf, der von den Papageien handelte, und las, nicht ohne Betonung: der Wellensittich ist seit Anfang der 1850er Jahre einer der beliebtesten Stubenvögel geworden. Er eignet sich vortrefflich für die Gefangenschaft.

»Sehr schön«, bemerkte der Mann, »aber was hat das mit dem Glöckchengebimmel zu tun?«

»Du verstehst aber auch rein gar nichts«, sagte nun doch ein wenig verärgert die Frau, »es heißt hier deutlich: ›der Wellensittich eignet sich vortrefflich für die Gefangenschaft‹; überhaupt sind alle Papageien musikalisch. Ich bin überzeugt, daß der Wellensittich in das entzückende Glöckchen ganz verliebt ist.«

Da dachte der Mann, daß es sich nicht verlohnt, für ein so ganz kleines Tier eine hartnäckige Frau ärgerlich zu machen. Er ging zur 50 Türe und sagte nur noch, in so einer Art von Rückzugsgefecht: »Von was du alles überzeugt bist, das ist schon fabelhaft; der Wellensittich ist erst acht Tage im Hause, und schon bist du über seine seelischen Eigenschaften genau im Bild.«

»Bin ich auch«, rief sie, »es hat noch keinen Mann gegeben, der eine Frau richtig verstanden hat. Wieviel weniger versteht ein Mann einen Vogel? Und da die Wachshaut von meinem Wellensittich graugrün ist, handelt es sich bei meinem Wellensittich um ein Weibchen. Um wieviel weniger . . .«

Damit brach Frauchen ihre Rede plötzlich ab, denn der Mann hatte das Zimmer verlassen. Man hörte seinen schweren Tritt auf der Treppe.

Frauchen war empört. In aller Eile legte sie etwas rot auf, und eine Stunde später hatte auch sie das Haus verlassen, um in wachsender, heller Empörung zu ihrer besten Freundin zu eilen. Sie hatte einiges zu erzählen über die 51 Verständnislosigkeit der Männer und speziell des ihrigen.

Der Wellensittich saß allein und traurig in seinem chinesischen Tempel. Die Maisonne ließ das Gold der Käfigstangen aufleuchten, und der Sittich faßte mit seinem starken Schnabel die Stange, die am schönsten glänzte. Sie ließ sich biegen, sie ließ sich wundervoll biegen.

»Wie bin ich stark«, dachte er, »ich habe bisher nur geglaubt, ich sei sehr schön. Das habe ich jeden Tag von den Menschen hören müssen; von meiner Stärke sprach man kein Wort. Oh, sie wußten warum, diese perfiden Menschen!«

Wut überkam den Wellensittich; er packte mit übervogelhafter Kraft eine zweite der schwachen Metallstangen, die unter seinem derben Zugriff einknickte. Er hüpfte aus dem Käfig, saß eine Zeitlang stolz auf dem gelben Plüschsofa, aus dessen Innerem er einige hübsche Roßhaare entnahm, um damit zu spielen.

Er wurde des Spielens bald überdrüssig und 52 flatterte etwas schwerfällig auf den Bücherschrank.

»Schön bin ich«, dachte er, »stark bin ich, und fliegen kann ich auch. Was braucht es da noch andere Eigenschaften, um froh zu sein?«

In diesem Augenblick sah er an der Wand, die von der Sonne beleuchtet war, einen kleinen, schwarzen Schatten rasch vorüberstreifen.

»Klug bin ich auch«, jubelte er, »der Schatten an der Wand war ein Bruder Vogel, der am Hause vorbeiflog. Nun weiß ich, was mir noch fehlt: die Freiheit.«

Er flog von dem Bücherschrank auf die Fensterbank. Das Fenster stand offen.

Auf der Fensterbank saß er nun einige Zeit und betrachtete neugierig die Straße, dann schweifte sein Blick hinüber in den großen Garten, wo die Obstbäume in voller Blust standen. »Da will ich hin, mitten hinein in die weißen Blüten.«

Auf dem Kamin des Nachbarhauses saß unbeweglich eine dicke Amsel. 53

»Bruder Vogel«, rief der Wellensittich, »komm hilf mir! Ich war in Gefangenschaft bei den grausamen Menschen. Ich habe mich befreit; aber das Fliegen fällt mir noch sehr schwer. Komm hilf mir!«

Die Amsel saß unbeweglich auf ihrem Kamin.

Da plusterte der Wellensittich sein prächtiges Gefieder auf:

»Bruder Vogel, kannst du mich denn nicht sehen? Ich trage doch ein Gewand, das hundert Schritte weit leuchtet. Ich bin aber gar nicht stolz darauf, es hat mir in meinem Leben viel mehr geschadet als genützt. Ich habe eine ganz einfache Vogelseele, das wirst du gleich erkennen, wenn du herüberkommst. Hilf mir, Bruder Vogel!«

Die graue Amsel, ein fettes Weibchen, betrachtete einen Augenblick den Wellensittich, dann wendete sie ruckartig den Kopf auf die Seite und flog auf die Silberpappel im großen Garten. Dort saß bereits ihr schwarzglänzender 54 Gemahl, der mit der Verspeisung eines Regenwurmes beschäftigt war. Sie setzte sich ganz in seine Nähe, natürlich einige Zweige höher als er, und sprach so heftig auf ihn ein, daß er bald seinen Regenwurm zusammenringelte und auf einen anderen Baum flog. So hatte er die Möglichkeit einer Diskussion geschaffen, bei der er aber trotzdem den kürzeren zog.

Es wurde mählich Abend, und die untergehende Sonne legte einen rosigen Schimmer auf die blühenden Obstbäume des Gartens. Da überkamen den Wellensittich dunkle Erinnerungen aus Vaters, Großvaters und Urgroßvaters Zeiten. Ganz leicht, so dünkte es ihm, erhob er sich, flatterte einen Augenblick auf der Stelle, überquerte die Straße und stieß mitten hinein in das Blütenmeer. Dann faßte er mit dem Schnabel einen wirklichen, lebendigen Ast, ein Schwung, und nun saß er, ein wenig zittrig, aber stolz über die gelungene Flucht, im rundesten Apfelbaum des großen Gartens. 55

»Minna!« rief der Knabe, der im Garten spielte, »Minna, auf unserem großen Apfelbaum sitzt ein Papagei!«

Aber Minna hörte nichts. Sie war im Begriffe, sich schön zu machen. Sie war dick und nicht mehr ganz jung, und in einigen Minuten mußte, ledig seiner Post, der blondlockige Briefträger am Küchenfenster vorübergehen.

Am Gartenzaun sammelte sich ein Häuflein von Kindern an. Sie kletterten am Zaun empor und vollführten einen lebhaften Lärm.

»Macht, daß ihr vom Zaun herunterkommt!« sagte der Knabe, »der Zaun gehört meinem Vater, und wenn ihr ihn kaputt macht, dann verprügelt er euch!«

Ueber den Köpfen der Kinder sah plötzlich das Gesicht eines Erwachsenen in den Garten.

»Was ist denn los, Karli?«

»Auf unserem großen Apfelbaum sitzt ein Papagei, Herr Briefträger!«

»Was, ein Papagei? Den muß ich sehen!«

Er preßte mit beiden Händen die leere 56 Tasche fest an den Leib, trat einige Schritte zurück, nahm Anlauf und schwang sich mit einem gewaltigen Schwung über den nicht zu hohen Zaun. Dabei zertrampelte er einige Erdbeerpflanzen; aber er tat es unwissentlich; denn er hatte den Blick fest auf den Apfelbaum gerichtet.

»Das ist tatsächlich ein Papagei, der ist irgend jemand fortgeflogen. Aber wem? Ich kenne niemand in meinem Bezirk, der einen Papagei hat.«

»Vielleicht kommt er direkt aus Südamerika«, meinte der Knabe.

»Unsinn«, ließ sich die Stimme Minnas vernehmen, die der steigende Lärm herbeigelockt hatte und die neben den zertrampelten Erdbeerpflanzen kniete, um sie sorgfältig wieder aufzurichten. »Sie hätten auch etwas weiter springen können. Die armen Erdbeeren! Sie wissen doch, mein Vater ist Obergärtner bei Brunslaffs . . . Wem sagten Sie, daß dieser Wellensittich gehört?« 57

»In meinem ganzen Bezirk ist niemand, dem ein Papagei gehört.«

Minna stand auf und trat neben den Briefträger; unter der Schürze verkrampfte sie ihre Hände.

»Wie lange«, frug sie, »sind Sie schon in unserem Bezirk?«

»Zehn Wochen!«

»Und dann wissen Sie nicht, daß die Frau Kuhnhenn, bei der es kein Mädchen länger als vier Wochen aushält, weil es jeden Abend Heringe gibt, und die schon einmal geschieden ist und jetzt vor ihrer zweiten Scheidung steht, weil sie ihren Mann mißhandelt, seit acht Tagen einen Wellensittich hat?

Karli, geh in die Massenstraße 76 und sage der Frau Kuhnhenn, ihr Wellensittich hätte es bei ihr auch nicht ausgehalten und sei zu uns geflogen.«

»Das wirst du nicht ausrichten«, sagte energisch der Briefträger, »das kann man innerlich meinen, aber aussprechen ist unanständig.« 58

Dabei dachte er: Gott sei Lob und Dank, daß ich auf ihre Ersparnisse noch nicht hereingefallen bin. Die läßt mir keine Ansichtskarte ungelesen durch.

Was Minna dachte, war kürzer: ein Waschlappen ist er. So was nennt sich Briefträger. Wieder nichts.

Karli flog durch die Massenstraße. Da sah er eine Frau, die alle Bäume betrachtete.

»Frau Kuhnhenn, Ihr Wellensittich sitzt auf unserem Apfelbaum!«

»Ach, du kleiner Engel«, rief sie, »hier hast du fünf Pfennig. Was hätte mein Mann gesagt, wenn er nach Hause gekommen wäre? Warte einen Augenblick, ich will noch rasch den Käfig holen, damit sich Schatzi hineinsetzen kann.«

»Ist das nicht ein wundervoller Käfig?« sagte sie dann, als beide durch die Massenstraße liefen, »und jeden Tag hat er sein regelmäßiges Fressen gehabt. Ach, die Undankbarkeit; werde du nur nicht auch einmal so, mein Junge.« 59

»Guten Tag, Frau Kuhnhenn«, grüßte Minna, »ich habe unseren Karli nach Ihnen geschickt, weil Ihr Wellensittich auf unserem großen Apfelbaum sitzt. Das ist aber recht, daß Sie gleich Ihren Käfig mitgebracht haben. Eine Frau denkt doch immer an alles, Frau Kuhnhenn.«

»Woher kennen Sie mich denn eigentlich?«

»Ich bin mit Ihrer verflossenen Marie befreundet gewesen; ihre Vorgängerin, die Liese, habe ich auch gekannt. Doch da sind wir am Apfelbaum; mitten drin sitzt Ihr Schatzi.«

»Schatzi«, flötete Frau Kuhnhenn, indem sie ihre chinesische Pagode ins Gras unter den Apfelbaum stellte, »komm doch herunter ins Häuschen zu Frauchen, es ist auch etwas Schönes im Näpfchen, im Futternäpfchen!«

Sie öffnete die Türe zum Käfig und sah erwartungsvoll in die Höhe. Der Wellensittich entfaltete tatsächlich die Flügel und flatterte einige Zweige höher.

»Dreckspatz«, rief empört der Briefträger, 60 sonst aber nichts; ein Blitzstrahl aus den Augen Minnas hielt ihn davon ab.

»Ihr Sprung in meine Erdbeerpflanzen hat das arme Tier nervös gemacht, wie überhaupt Ihr ganzes lautes Wesen«, sagte sie, »ich werde jetzt meine große Leiter holen und den Käfig auf die oberste Sprosse stellen. Dann wird der Vogel im Laufe des Abends hineinfliegen. Nein, danke, Herr Briefträger, ich kann die Leiter mit dem Karli allein holen und aufstellen. Das würde Ihnen so passen, ja das würde Ihnen zweifellos passen, die Leiter zu halten und dummes Zeug zu schwatzen. Frau Kuhnhenn weiß auch, was hinter den Männern steckt, nicht wahr, Frau Kuhnhenn? Kommen Sie morgen früh wieder, dann liefere ich Ihnen den Käfig samt dem Wellensittich ab.« –

Erleichtert sah der Wellensittich die Menschen fortgehen.

»Nie mehr bringt ihr mich in euren Käfig«, dachte er, »und wenn ihr ihn mir direkt vor den Schnabel stellt. Und wenn ich sterben muß 61 – zum ersten Male dachte er an das Sterben – und wenn ich sterben muß, dann will ich in der Freiheit sterben.«

»Die bösen Menschen sind fort«, rief er dann, »ihr Brüder Vögel kommt und rettet mich!«

Wirklich erhoben sich die beiden Amseln von ihren Plätzen und flogen auf den Wellensittich zu. Sie stießen so auf ihn zu, daß eine Menge seiner schönen Federn auf den Boden flogen.

»Was soll das«, rief der Wellensittich ganz benommen, »ihr habt mir weh getan. Ich bin doch nur ein kleiner Vogel; ihr müßt sanftmütiger mit mir umgehen.«

»Sanftmütiger umgehen«, lachte die schwarze, glänzende Amsel, »es wird dunkel, morgen früh kannst du was erleben!«

»Kannst du was erleben«, echote die graue Amsel, als sie, wie es schien, sehr einig mit ihrem Gemahl davonflog.

Die Nacht über saß der Wellensittich auf 62 seinem Zweig und dachte über diese Worte nach. Er war sehr müde.

Als der Tag graute, lauerten auf allen Bäumen, rings um den großen Apfelbaum herum, zahllose Vögel aller Gattungen. Die graue Amsel hatte sie herbeigeholt.

»Los!« pfiff der schwarze, glänzende Gemahl, der auf dem Dachfirst saß, und eine Wolke von Vögeln stürmte in den großen Apfelbaum.

»Brüder Vögel«, rief der Wellensittich, »ich bin ein armes, kleines Tier«; aber der Ruf ging unter in dem Lärm, der nun anhub, als man von allen Seiten auf ihn einhackte.

Noch immer war er guten Glaubens: »Sicher ist dieser Apfelbaum ein Vogelheiligtum gewesen, und ich hätte mich nicht hineinsetzen dürfen. Aber woher sollte ich das wissen, der ich in Gefangenschaft war. Sie haben mich sehr roh behandelt, meine Brüder Vögel . . .«

Er sah sich um; auf dem höchsten Zweige des Apfelbaumes saß die schwarze, glänzende 63 Amsel. Sie hielt auf Disziplin; kein Vogel hatte bisher dem schwer dahinflatternden Wellensittich folgen dürfen. Nun pfiff sie, die ganze Meute erhob sich und jagte, die beiden Amseln an der Spitze, dem buntfarbigen, fremden Vogel nach. Dreimal umflatterte der Wellensittich den Garten, inmitten eines Gebalges von Vögeln aller Arten. Von oben, von unten, von allen Seiten trafen ihn scharfe Schnabelhiebe. Zu Tode verwundet, sank er schließlich unter der jungen Eiche am Gartenhag nieder. Der Lärm der Vögel verstummte wie mit einem Schlage. Vorsichtig, fast als in Ehrfurcht vor dem herankommenden Tode, senkten sie sich nieder und bildeten einen weiten Kreis um den sterbenden Wellensittich. Die graue Amsel stelzte mit zierlichen, sicheren Schritten auf ihn zu.

»Brüder Vögel«, stöhnte er und sah bittend in die Runde, »ich bin doch nur ein armer, kleiner . . .«

Er vollendete den Satz nicht mehr; ihn traf 64 der sichere Streich des mit allen henkerlichen Befugnissen ausgestatteten Nachrichters.

 

»Wir haben einen Kakadu im Garten«, sang Karli, als er die Treppe herunterkam.

»Was?« sagte der Vater, der aus seinem Arbeitszimmer trat, »ein Kakadu im Garten? Deswegen der verdammte Lärm, der mich aufweckte und dann keinen vernünftigen Gedanken fassen ließ.« Der Vater war Dichter und hatte vernünftige Gedanken sehr notwendig. »Natürlich«, fuhr er fort, »wenn es sich einbürgert, daß es bei uns im April so heiß wird wie sonst im August, dann ist es kein Wunder, wenn wir die ganze afrikanische Tierwelt auf den Hals bekommen.« Der Vater war Dichter und deswegen in der Naturgeschichte nicht sehr bewandert. »Ich will mir diese Kakadus, die mich an der Arbeit hindern werden, ansehen«, sagte er dann entschlossen, »ich will mir sie noch vor dem Frühstück ansehen, komm Karli!« 65

Karli war aber schon an die Haustüre gelaufen; es hatte geschellt. Man hörte die ärgerliche Stimme der Minna:

»Karli, ein für allemal, du hast die Türe nicht aufzumachen. Das schickt sich nicht. Ich mache die Türe auf beim Briefträger und bei dem Herrn Landgerichtspräsident. Ach, laß mich, du dummer Fratz, meinetwegen, bei dem Briefträger kannst du sie in Zukunft aufmachen.« –

»Onkel, wir haben einen Papagei im Garten!«

»Nein, dummer Junge, es ist ein Wellensittich, wenn ihn nicht heute nacht die Katz gefressen hat.«

»Papageien im Garten«, meinte der Vater Dichter, der inzwischen auf den Flur getreten war.

»Stelle dir nur vor, Bruder, Papageien im Garten und da soll man etwas arbeiten können.«

Sie gingen in den Garten hinaus, wo unter 66 dem großen Apfelbaum, auf der Leiter, die leere chinesische Pagode stand.

»Wie können Sie mir solchen Kitsch in den Garten stellen«, sagte der Dichter, »fort mit dem Zeug.«

»Sagen Sie das nicht zu laut, Herr Professor, die Besitzerin von dem, was Sie Kitsch nennen, ist schon mit zwei Männern fertig geworden.«

»Minna, Minna«, mischte sich der Richter ein, »ich bin froh . . . Für was sind wir eigentlich in den Garten gekommen? Ich glaube, euer fremder Vogel ist tot, die anderen Vögel haben ihn umgebracht.«

»I wo«, meinte Minna, »wie wird ein Vogel einen anderen töten! Das ist die Katz vom Herrn Wartenegger gewesen; ich habe die beiden schon längst auf der Latte.«

Ein Morgenwind fuhr durch den Garten und bewegte die Zweige der Bäume. In der chinesischen Pagode auf der Leiter fing das silberne Glöckchen leise zu läuten an.

»Totenglöckchen«, sagte der Richter, und 67 sein Blick ging zum Dachfirst, wo breit und herausfordernd die graue Amsel saß. »Es kann die Katze des Herrn Wartenegger gewesen sein; aber sie braucht es nicht gewesen zu sein, Minna.«

»Du hast recht, Bruder«, ließ sich die Stimme des Dichters vernehmen, »es sind unbedingt die anderen Vögel gewesen. Wenigstens sie müssen es gewesen sein, wenn ich aus der Geschichte eine Novelle mache, und zwar sofort. Die Aeußerlichkeiten stehen sicher in Brehms Tierleben, ich will gleich einmal nachschlagen. Wie haben Sie den Vogel doch genannt, Minna?«

Er lief fort, gefolgt von Minna, die vergebens versuchte, die auf dem Boden schleifende rote Schnur seines Schlafrockes aufzuheben.

*

»Onkel, es ist alles aus«, eine verstörte Knabenstimme rief es, »komm unter die Linde! Der Wellensittich ist tot, die frechen Tiere haben ihn umgebracht.« 68

»Es ist alles aus«, wiederholte er, als der Richter neben ihm stand und ihm beruhigend über den blonden Schopf strich.

»Es ist nie alles aus«, sagte der Richter so stark und sicher, daß der Knabe seinen Blick nicht mehr auf den kopflosen schönen Vogel richtete, sondern ihn ansah, »merke es dir für dein ganzes Leben: es ist nie alles aus. In diesem Augenblick schon sitzt dein Vater am Schreibtisch und dichtet die Geschichte vom Wellensittich. Und . . . wirst du ihn vergessen, den Wellensittich?«

»Nein, nie, Onkel, ich werde ihn begraben . . .«

Am Abend desselben Tages saß der Richter ermüdet in seinem Sessel. Er hatte einem von einer Welt von Feinden verfolgten Angeklagten, seinem richterlichen Gewissen gemäß, zum Freispruch verholfen.

Er malte mit seinem Bleistift Buchstaben. Als er sie ansah, stand vor seinen Augen ein Wort. Es hieß: 69

Wellensittich.

Ja, kleiner Vogel, du hast nicht umsonst gelebt. Sie haben alle nicht umsonst gelebt, die zerrissen wurden. 70

 


 


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