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Wir fuhren einmal unser mehrere in einem Postwagen. In dem Kasten saß ein Vater mit zwei Töchtern – ich weiß es nicht genau, aber ich hielt ihn dafür. Das ältere der Mädchen, ungefähr dreizehn oder vierzehn Jahre alt, erregte durch ihr ernstes und ruhiges Benehmen unsere Aufmerksamkeit und unsern Beifall. Das jüngere war noch fast ein Kind, das mit kindlichen Augen in die Welt hinein schaute. Außer diesen drei Personen saß noch eine Frau in dem Kasten, die ich für die Begleiterin, gewesene Amme, oder sonst etwas dergleichen von den Mädchen hielt, obwohl sie vielleicht auch ganz und gar nicht zu ihnen gehören konnte; denn sie gab, ungleich der gewöhnlichen Art solcher Frauen, sehr wenige Zeichen von sich, regte sich wenig, und sprach oft wirklich postenlange kein Wort. In dem hintern Gelasse des Wagens saßen ich und ein ältlicher Mann, den wir seines blassen Aussehens und seiner schwarzen Kleidung halber scherzweise Paganini nannten. Er lächelte einmal bei diesem Spottnamen trübsinnig und sagte: »Wer weiß, ob es nicht ein sehr großes Unglük für mich wäre, wenn ich wirklich Paganini wäre.« Unter dem Vordache des Wagens saß neben dem Postgeleiter ein Student, von dem ich nichts zu sagen weiß, als daß er sehr viel aus einem Meißnerkopfe rauchte, an dem er ein langes Rohr und ein bewegliches Mundstük hatte.
Die Reise war durch ganz und gar nichts ausgezeichnet, weder durch sehr schlechtes noch durch sehr schönes Wetter – weder durch ein Glük noch durch ein Unglük – weder durch besonders langweiliges noch durch ungemein anziehendes Gespräch. Als wir uns erst ein wenig in einander hinein gelebt hätten, und die Sache ein wenig in den Gang gekommen wäre, hatten wir unser Ziel erreicht, und wir gingen auseinander.
Ich hätte das Ding längst vergessen, wenn nicht der Zufall eine Fortsezung daran gestükt hätte, wie er es oft mit den unzusammengehörigsten Sachen thut. Man wird bei solchen Vorgängen gereizt, nach einer Art Vernunft in dem Gemengsel zu suchen, und wenn wirklich etwas daraus erfolgt, schieben wir es der Vorsehung in die Schuhe – mit welchem Rechte oder Unrechte, weiß ich nicht. Die Sache aber war so. Als ich einmal, ich weiß nicht, nach welch langer Zeit in Wien war und in dem Gasthofe zur Dreifaltigkeit, den ich immer zu benüzen pflege, die hintere Wendelstiege in den Hof hinab stieg, welche Stiege gewiß jeder Reisende kennt, der einmal in diesem Gasthofe gewohnt hat, weil sie so enge ist, daß sich ihrer zwei kaum ausweichen können: so begegnete mir hinauf steigend leibhaftig und wirklich unser falscher Paganini. Ich erkannte ihn sogleich wieder, was hauptsächlich dadurch möglich wurde, daß er, wie ich glaube, den nehmlichen schwarzen Frak anhatte, wie damals im Postwagen. Da ich ihm meinen Gruß zurief, erkannte er mich auch, und wir drükten uns gegenseitig die Freude aus, uns hier so unvermuthet getroffen zu haben. Wie es bei Reisenden gebräuchlich ist, fragten wir um unser Befinden, wie lange wir schon da seien, und wie lange wir uns noch aufzuhalten gedächten. Da erfuhren wir nun, daß wir nicht nur schon drei Tage Zimmernachbarn wären, sondern daß wir es auch wahrscheinlich noch sehr lange bleiben würden. Er hatte nehmlich einen Prozeß zu betreiben, und mußte in dieser Angelegenheit viele Gänge und Besuche machen: ich war wegen der Betreibung eines Bittgesuches in Wien und hatte der Gänge und Besuche gewiß nicht weniger zu thun. Wir sprachen nach dieser Mittheilung die Hoffnung aus, daß wir uns gewiß nun öfter sehen würden, und um dies nicht eine bloße Redensweise sein zu lassen, verabredeten wir eine gemeinschaftliche Speisestunde in unserm Gasthofe, so oft es nehmlich einem jeden von uns möglich sein würde, und bemerkten, daß wir uns auch ohnedem, da wir so nahe wären, manchmal treffen könnten.
In Folge dieses Versprechens kamen wir nun an dem Wirthstische zusammen, wir fanden Behagen an einander, und jeder erschien gerne zu der festgesezten Stunde, wenn er nicht nothwendig verhindert war. Zulezt geschah es auch, daß wir sogar manchmal an Abenden, wenn es etwa regnerisch war, oder wenn Einem ein Verdruß in dem Haupte spukte, an der Thür des Nachbars pochten, wenn er zu Hause war, eintraten, ein Stündchen verplauderten, und nicht selten den Verdruß verloren, weil man ihn erzählen und sich recht weidlich darüber aussprechen konnte. Zuweilen gingen wir dann auch an irgend einen Vergnügungsort, wohin der Einzelne, wenn er nicht aufgefordert worden wäre, gewiß nicht gegangen wäre.
So lebten wir drei Wochen neben einander, und lächerlich war es, daß wir beide immer im schwarzen Frake gingen, natürlich, weil er immer bei Rechtsmännern, ich aber bei Beschüzern aufwarten mußte. Er nannte mich daher einmal, da ich wieder ganz schwarz zum Speisen nach Hause kam, Paganini den Dritten. Es war dies der einzige Scherz, den ich den Mann, der eher immer trübsinnig war, sagen hörte.
Einmal war wieder recht schlechtes Wetter. Es war kein tüchtiger Regen, der alles rauschen und strömen macht, und daher doch wieder fröhlich ist, sondern es war das Wetter, das mir schier unter allen das widerwärtigste ist: ein diker unbeweglicher Nebel, der sich wie Fließpapier an die Fenster legt, der oben am Himmel Sonne, Mond, und alle Thurm- und Häuserspizen wegfrißt, und unten auf Erden alle Dinge naß, schmuzig und tropfend macht. Zum Ueberfluße war noch Sonntag, an dem wir beide keine Geschäfte hatten. Wir saßen stochernd und in den Zeitungen blätternd herum. Da gerieth ich auf einen Einfall und legte ihn meinem Nachbar vor. Wir sollten nehmlich in eins der Theater gehen, ohne eher, als wir uns in dem Hause befänden, zu wissen, in welches, und ohne das Stük zu kennen, das aufgeführt würde; denn die Zettel, die gewöhnlich auf einem Tischlein im Speisezimmer lagen, hatten wir vorher keiner angeschaut. Ihm war es recht und ich schritt ans Werk. Ich ließ einen Lohndiener rufen, rieß aus einem weißen Blatte Papier fünf Stüke, schrieb auf jedes den Namen eines der fünf Theater Wiens, rollte sie zusammen, und befahl dem Diener, eins zu ziehen. In das Theater, dessen Namen er auf seinem Zettel finden würde, sagte ich, solle er uns Karten zu Sperrsizen holen, und die Karten in Papier gewikelt bringen. Unterwegs möge er uns einen Wagen bestellen, dem er das Theater nenne, daß er uns um halb sieben Uhr dahin fahre. Mein Nachbar ließ alles willig geschehen, und der Diener ging fort. Als er wieder gekommen war und uns die in Papier gewikelten Karten gebracht hatte, gingen wir auf mein Zimmer, und verbrachten den Rest des Nachmittages, wie man solche Nachmittage zu verbringen pflegt, das heißt, wir rauchten ein wenig, sahen bei den Fenstern auf den Nebel hinaus, und manchmal auf die Uhr. Endlich ward es finster, weil die Zeit im späten Jahre war, es ward zulezt auch halb sieben Uhr, und der Wagen wurde uns gemeldet.
Ich hatte den Plan, daß wir durchaus nichts von der Fahrt wissen sollten, ich sagte daher meinem Nachbar, daß ich die Fenstervorhänge des Wagens herab lassen wolle. Er war, wie gewöhnlich, zufrieden, und wir stiegen ein. Der finstere Wagen fuhr aus dem Thore, wendete um Eken, fuhr ziemlich lange fort, und sezte uns endlich an dem Josephstädter Theater ab. Ich sagte nun meinem Begleiter, wir wollen innen keinen Zettel anschauen, daß wir das Stük, das gespielt wird, nicht vorher kennen. Er willigte ein, wir gingen in das Haus, unsere Size wurden geöffnet und wir sezten uns nieder. Wir waren ganz nahe an der Bühne, was uns angenehm war, und was wir dem Schuze unsers Lohndieners verdankten.
Das Theater war schon sehr voll, man könnte sagen, gedrängt voll, und doch kamen noch immer neue Menschen, und klappten auf allen Seiten die Sperrsize, woraus wir schloßen, daß ein sehr beliebtes Stük bevorstehe: aber unserem Vorhaben getreu fragten wir niemanden, und da wir Fremde waren, redete uns auch niemand an. Endlich da schon alles außerordentlich erfüllt war, klang das Zeichen des Anfanges. Es wurde eine Musik gemacht, die kürzer und unbedeutender war, als sie gewöhnlich Stüken vorher zu gehen pflegt. Dann war es stille und der Vorhang ging auf. Die Bühne zeigte ein schönes Zimmer und war leer, nur daß ganz vorne an den Lampen zwei Notenpulte standen. Unter den Zuschauern war das tiefste Schweigen. Da trat ein junger schwarz gekleideter Mann aus dem Hintergrunde der Bühne hervor, und führte ein Mädchen in weißem Gewande an der Hand – es war nicht eigentlich ein erwachsenes Mädchen, sondern ein Ding, das noch zwischen Kind und werdender Jungfrau stand – das weiße Kleid ließ dem Kinde sehr wohl, es hatte zwei breite auf den Rüken hinab gehende Zöpfe, und die Augenbogen, wie ich zu bemerken glaubte, waren besonders klar. Die Haare waren einfach gescheitelt. Die Zuschauer erhoben, als sich dieses Paar zeigte, einen unglaublichen Sturm des Beifalles, und man erkannte leicht, daß er dem Kinde gelte, welches durch den jungen Mann blos eingeführt worden war. Das Mädchen, da es in die Mitte der Bühne gekommen war, verbeugte sich dankend gegen die Zuschauer und blieb dann stehen, ungefähr wie jemand, dessen Sinn schon auf ganz andere Dinge gerichtet ist, und der die vorliegenden Beifallszeichen eher als eine Unterbrechung als als etwas anderes ansieht. Endlich hörte der Lärm auf, und das Kind ging von der Mitte der Bretter, wo es bisher gestanden war, gegen die Lampen vorwärts. Seine Züge entwikelten sich – ich gerieth in das äußerste Erstaunen, und mein Nachbar und ich sahen uns plözlich an; denn das Kind war niemand Anderer, als jenes ältere der zwei Mädchen, die einmal mit uns in dem Postwagen gefahren waren, das immer so ernst gewesen war, und das uns so gefallen hatte. Es war das nehmliche Mädchen, dem der Beifallssturm gegolten hatte, und das, als wir wieder hin sahen, eben eine Geige von einem der zwei Pulte nahm, und sich noch einmal verbeugte. Mein Nachbar und ich sagten zu einander: »Wir werden also jezt das Mädchen spielen hören« und wir wußten nun auch, ohne daß es uns jemand sagte, wer von den Lampen hell beleuchtet vor uns stehe: Theresa Milanollo. – Mich ergriff nur jezt ein ganz anderes Gefühl, nehmlich die Angst, ob das Mädchen auch so gut spielen würde, wie ich es wünschte, und wie es mir um sie lieb wäre, wenn es wäre. Mir war von jeher bloße Fertigkeit sehr zuwider, und sogenannte Wunderkinder machten mir jedes Mal einen Schmerz. Welch eine Qual und welche unzählige Stunden der Anstrengung müssen vorhergehen, ehe das Kind sich die unglaubliche Fertigkeit erwirbt, und die arme gelehrige Seele ein äußerst genau in das Ganze eingreifendes Geräthe wird. Daher hatte ich Mitleiden, als ich das schöne blasse Mädchen vor den Lampen stehen sah, ehe man anfing. Die Züge waren unbeweglich und ich dachte mir damals, diese Büste könnte man in Marmor hauen. Ich glaubte zu erkennen, daß sie auf das nicht achte, was um sie vorgehe, allein das konnte eben so gut Befangenheit als Kunstgefühl sein.
Endlich begann die Musik des Orchesters – ich blikte auf sie – sie stand ruhig und sah mit ihren ernsthaften Augen vor sich. Als der Augenblik gekommen war, wo sie einfallen mußte, lag die Geige mit einem leichten Ruk an ihrer Schulter – und im Augenblike ging auch der schöne gehaltene Ton durch die Räume und durch alle Seelen. Mir war es auf der Stelle klar, dieser Ton könne gar nicht anders als aus dem Herzen kommen, so wie alle folgenden aus dem Herzen kamen, weil sie so zu Herzen gingen. Ich habe in späteren Zeiten das Mädchen wohl noch spielen, nie aber mehr sprechen gehört, ich bin mit ihr nie mehr zusammen gekommen, und habe sie auch nicht kennen gelernt. Ich kann daher aus andern Umständen nicht beurtheilen, wie tief ihr Fühlen sei: aber aus diesen Tönen war es mir eine Unmöglichkeit, zu denken, daß es nicht so sei. Ich mußte mit Befremden in das Antliz eines noch so jungen Kindes schauen, das schon so empfand. Wie ihre Saiten durch die andere Musik hervor tönten, wie sie so entschieden heraus ragte, wie ein Mann: war es mir als höre ich ein inniges, starkes, erzählendes, und manchmal auch klagendes Herz. Gar schön aber war es, wie die Unschuld in dem Spiele herrschte – eine Unschuld, die, möchte ich sagen, nur bei Kindern möglich ist, welche noch an kein Ich denken, das gefeiert werden soll, sondern die Sache spielen, die ihnen das Einzige ist, das da gelte. Ich schäme mich daher nicht, es zu gestehen, daß ich von dem Kinde mit einer tiefen schönen sittlichen Gewalt erfüllt wurde. Ich klatschte daher auch nicht in die Hände, als sie endete, was aber unzählige Andere mit fürchterlichem Gepolter thaten. Ich kann nicht denken, daß diese das Eigentliche empfinden; denn wenn ein Künstler, also ein höherer Mensch – und jeder wahre Künstler muß das sein – vor uns steht, uns einen schönern reinern Theil seiner Menschlichkeit vor Augen führt, und die unsere zu sich empor hebt: dort ist mir, als sollten wir bescheiden verehren. Mit lustigem Beifallsklatschen und Rufen lohnt man nur den bezahlten Lustigmacher. Das Mädchen senkte die Geige, es verbeugte sich nur einmal und kurz, und wurde von demselben jungen Manne, der es eingeführt hatte, wieder fort geführt.
So endete die erste Abtheilung.
Nach einem kurzen Zwischenraume, den die Menschen mit Gespräche und Gebrause ausfüllten, begann die zweite. In derselben führte Theresa die jüngere Schwester heraus. Sie hielt sie, gleichsam wie eine ältere Beschüzerin, an der Hand. Wir sahen das jüngere der zwei Kinder aus dem Postwagen, das mit seinen Augen so kindlich geschaut hatte. Das Mädchen, bedeutend kleiner als Theresa, war ebenfalls weiß gekleidet, aber statt der gescheitelten Haare und der Zöpfe hatte es ein Kinderköpfchen, rund um voll Loken. Theresa stimmte ihr die kleinere Geige, die auf dem zweiten Pulte lag, und reichte sie ihr dar. Die jüngere Schwester stand nicht, bevor das Spiel begann, mit dem Ernste, und ich möchte sagen, mit der Düsterheit da, wie die ältere gethan hatte, welche wußte, was für ein tiefes und schwankendes Ding jezt beginnen werde: sondern sie war, wie ein zuversichtliches Kind, das eine schwere Aufgabe her zu sagen hat, aber auch weiß, daß es dieselbe kann. Das Spiel fing an. Die Kleine spielte es mit Freudigkeit und mit Sicherheit – Theresa begleitete sehr bescheiden, und half nur hie und da gelegentlich mit einem starken Striche aus. Da sie endeten, erhob sich ein rauschender, stürmender, tobender Beifall. Die kleine Künstlerin verbeugte sich freudig, wie eben ein Kind, das froh ist, daß es seine Sache gut gemacht hat. Ich dachte mir: du liebes Wesen, das Herz mit seinen Freuden und Leiden muß noch nicht in dir erwacht sein; die Töne sind dir nette gute Dinge, aus denen man recht schöne Sachen machen kann – aber du erfuhrst es noch nicht, welch eine Seligkeit und auch welch eine Wehmuth in ihnen liegen könne. – Theresa führte unter einem Beifallsjubel das mit Lob überschüttete Kind von der Bühne; nur in der Mitte wendeten sich beide noch halb um und verbeugten sich.
So endete das zweite Spiel.
Im dritten spielte Theresa etwas Heiteres, aber Anstandvolles. Ich könnte sagen: sie wand ihre starken goldenen Töne herrlich um die Häupter der Menge.
Dann spielten beide ein kurzes Duett, und dann wieder Theresa allein. Mir fiel jezt mein Nachbar ein, den ich in der That ganz und gar vergessen hatte. Ich wußte nicht, ob er ein Kenner oder ein Freund der Musik sei, wir hatten, wie mir schien, von Musik früher nie gesprochen. Er war auch die ganze Zeit über so stille neben mir gesessen, er hatte mich nicht angeredet, er hatte sich nicht gerührt, so daß es begreiflich wird, daß ich, der ich so aufmerksam gegen die Dinge vor mir hingezogen wurde, auf ihn vergessen konnte. Jezt sah ich ihn an – aber ich erstaunte und erschrak fast; denn es fielen ihm Thränen, eine nach der andern, Schlag auf Schlag, über die gefurchten Wangen herab. Dabei saß er starr und unbeweglich. Alle, die um uns herum und alle, die schön gepuzt in den Logen saßen, blikten gegen die Bühne hin, und sahen ihn nicht. Ich aber war ein wenig unruhig, und meine Aufmerksamkeit war getheilt. Die Töne gingen vor uns fort, und die Musik war eine traurige. Seine Thränen wurden noch reichlicher, und meinem ihm zugewendeten Ohre war es fast vernehmlich, als seien sie in ein hörbares Schluchzen übergegangen. Ich fürchtete, ich würde ihn aus dem Theater fort bringen müssen; denn da jezt das Spiel aus war, sahen auch die Augen anderer Menschen auf ihn hin. Aber er hielt sich fest. Die Thränen wurden nicht mehrere, eher weniger, und das Schluchzen wurde nicht hörbarer. Er sah hiebei nicht rechts und nicht links.
Theresa spielte noch etwas Einfaches, sehr Edles – dann war noch einmal ein ganz kurzes Duett – und dann war die Vorstellung aus.
Da nun die Menschen sich zum Gehen erhoben, da ein Theil derselben sich in Bänken und Gängen stellte, um den lärmenden Beifall fortzusezen, so war es unter dem Gedränge leichter, meinen Nachbar fort zu bringen, da jezt niemand weiter auf ihn achtete. Ich that auch, als hätte ich nichts gesehen, und da er näher gegen das Ende der Bank gesessen war, ging er in der Menge vor mir her. Auf dem langsamen Wege bis zu dem Thore wurde nichts zwischen uns gesprochen, aber da wir in dem Wagen, den ich draußen herbei gerufen hatte, saßen, sagte er die Worte: »Ach, du unglüklicher Vater, du unglüklicher Vater!«
Da ich diese Aeußerung durchaus nicht verstand, antwortete ich nichts darauf, und er sprach auch während des Fahrens nichts weiter. Als wir in unserem Gasthofe angekommen waren, und ich eben den Fahrlohn für den Wagen bezahlte, ging er in sein Zimmer hinauf. Ich that deßgleichen, und begab mich nach einiger Zeit in das Gastzimmer hinunter, um noch etwas weniges zum Nachtmahle einzunehmen. Es saßen verschiedene Menschen da, worunter ich einige kannte, da sie ebenfalls Bewohner des Gasthofes waren, und sich gewöhnlich zu den Versammlungsstunden in dem Speisesaale einzufinden pflegten. Wir sprachen verschiedene Dinge, unter andern auch von den Geschwistern Milanollo und ihrer heutigen Vorstellung, aber nur oberflächlich, wie es bei Reisenden oft gewöhnlich ist, die, wenn sie sich auf mehrere Augenblike zusammen finden, gern einige flüchtige Worte wechseln. Mein Nachbar kam nicht zum Abendessen herunter. Ich blieb länger sizen, als gewöhnlich, theils, weil ich müde war, theils, weil die Eindrüke, welche ich empfangen hatte, nur nach und nach verschwanden.
Als ich von dem Speisesale über den Hof zu meiner Wendelstiege ging, sah ich gegen die Fenster meines Nachbars hinauf, sie waren schwarz, und er hatte bereits sein Licht ausgelöscht. Ich stieg die Treppe hinan, und da ich, um zu meinem Zimmer zu gelangen, an dem seinen vorüber mußte, hielt ich unwillkürlich an der Thür etwas an; aber es war todtenstille in dem Innern, und der Bewohner mochte wohl schon in tiefem Schlafe liegen.
Da ich mein Gemach aufgeschlossen und wieder zugeschlossen hatte, da ich mein Licht auf dem Nachttischchen entzündet hatte, da ich ausgekleidet war und in dem Bette lag: hatte ich erst die rechte Zeit, und nahm mir die rechte Muße, über das Benehmen meines Nachbars nachzudenken. Es mußte mir in der That bedeutend auffallen, und ich konnte nicht anders, als mir Vermuthungen darüber zu machen. Ich hätte in der frühern Zeit eher gedacht, daß der mittelgroße hagere blaße Mann durch Töne nicht gar leicht zu bewegen sein müsse; denn in dem Wesen desselben lag etwas Stilles, mitunter auch Trokenes, aber immer Etwas, das sich nicht aufdringt, sondern eher in sich zurük tritt, und verschließt. Daß wir ihn Paganini nannten, war mehr Schalkheit durch die flüchtigste äußere Aehnlichkeit angeregt, als daß wir ihm diese Kunst zutrauten. Es boten sich mir drei Arten dar, sein heutiges Benehmen zu erklären. Entweder war er wirklich für Musik so empfänglich, daß das außerordentliche Spiel der Geschwister Milanollo auf ihn so wirkte, daß er nicht mehr Herr seiner Bewegung war, und in die Thränen ausbrach, die wir an ihm sahen. Dann aber ist es nicht erklärlich, daß ich das nie früher bemerkt hatte; denn ungewöhnliche Empfänglichkeiten für ein Ding offenbaren sich meistens sehr bald, sei es durch die Rede, welche der Empfängliche gerne auf das Ding hinlenkt, sei es ein wenn auch minder bedeutender Anlaß, der das Ding herbei führt, und die Empfänglichkeit darlegt. Oder es mochte bei meinem Nachbar auch der zweite Fall sein, daß er nehmlich zu jener Art Menschen gehört, die, ohne es zu wissen, eigentlich tiefes Gefühl haben, das nur außerordentlich schwer aufgeschlossen wird, aber, wenn es aufgeschlossen ist, desto stärker und nachhaltiger dahin strömt. An solchen Menschen gehen oft Töne, Farben und andere Gelegenheiten Jahre lang ohne Wirkung vorüber, wie Wasser über einen Felsen; aber von Ungefähr werden sie durch einen Anlaß von ihrem unbekannten Innern ergriffen, daß sie seiner Gewalt, die sie überkömmt, gar nicht zu steuern wissen, ihr wie Kinder ohne Hülfe hingegeben sind, und ihre Rathlosigkeit vor aller Welt offenbaren müssen. Solche Menschen werden von ihren Gefühlen viel stärker erschüttert, als andere, die sie öfter haben, die ihr Herannahen merken, und tausend kleine Waffen dagegen in Bereitschaft halten. Aber auch gegen diesen zweiten Fall streitet der sonderbare Ausruf, den mein Nachbar im Wagen machte: Unglüklicher Vater, unglüklicher Vater. Dieser Ausruf stimmt mit bloßer wenn auch starker Erregung durch schöne Darlegung einer außerordentlichen Kunst nicht überein. Es bleibt daher der dritte Fall über, daß nehmlich in dem Leben dieses Mannes, der jezt in dem Zimmer neben mir einsam schläft, irgend unbekannte Verhältnisse sein mögen, die in Beziehung und Verbindung mit dieser Musik die Erregung so stark machten, daß er sie von Menschen weg in die Verborgenheit trug, und sich nicht mehr die wenigen Bissen Essen gönnen konnte, die er gewöhnlich zu seinem Abendmahle einnahm.
Ich beschloß daher, mir von der Sache gegen ihn gar nichts merken zu lassen, und ihrer, wenn er nicht selber etwas sagte, nicht zu erwähnen.
Ehe ich einschlief, dachte ich auch noch auf die mir so lieb gewordene Theresa. Es ist also nicht, wie ich Anfangs gefürchtet hatte, bloße außerordentliche Fertigkeit an ihr, sondern sie versteht, empfindet und erschafft das Gespielte. Aber auch so wollte ein Mitleid, und zwar noch ein innigeres, meine Seele um sie beschleichen. Wenn sie sehr oft in solchen heißen Gefühlen ist, so wird ihr Leben darunter ermatten, und ihre Zukunft gefährdet sein. Dies ist jederzeit der Fall, und wenn die Selbstschöpfungen gar gewaltig aus dem noch jungen weichen und hülflosen Herzen kommen, so muß dasselbe gleichsam wie in einem Samum welk werden. Aber, dachte ich wieder, sie wird schon stark und frei sein, daß sie das Gefühl ihrer Kunst ertragen kann, daß sie auch die anderen Dinge der Welt sieht, und mit gesunden Augen durch das Leben geht. Oder vielleicht wird sie durch die Wiederholung und durch die Bekanntschaft mit ihren Wirkungen weniger angegriffen, als wir, die wir von der Neuheit und von der Plözlichkeit getroffen werden. Aber der Künstler kann andererseits nur allein die zarten Tiefen des Kunstwerkes, in das er sich versenkt, ergründen, und muß ihnen die Seele hingeben: während wir blos von der Allgemeinheit der Sache überkommen werden, und nur die Allgemeinheit des Gefühles mit nach Hause tragen.
Wer kann das wissen und wer kann das ergrübeln?
Unter diesen Gedanken war nach und nach der Schlummer, dessen ich heute so bedurfte, über mich gekommen. Ich löschte mein Licht aus, und in wenigen Augenbliken waren beide Welten, die äußere und die meiner Gedanken, verschwunden.
Als ich am anderen Tage viel später als gewöhnlich, weil ich spät einschlief, erwachte, als ich mich angekleidet hatte, in den Speisesaal hinunter gegangen war, und um meinen Nachbar, an dessen Thür ich ein Vorlegschloß gesehen hatte, gefragt hatte, hieß es, daß er sehr früh ausgegangen war, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben, wann er wieder kommen werde. Ich ging nun ebenfalls an meine Geschäfte und kam nicht eher, als um die gewöhnliche Speisestunde nach Hause. Da ich in den Saal trat, sah ich ihn schon an unserem Tische sizen, und sezte mich zu ihm. Es waren mehrere Menschen an dem Tische, die gewöhnlich um diese Stunde zu kommen pflegten; mein Nachbar erwähnte des gestrigen Tages nicht. Als wir nach Tische, wie häufig, einige Minuten in unseren Zimmern allein waren, sagte er auch nichts, und ich, meinem Vorsaze getreu, schwieg ebenfalls.
Nach diesem Ereignisse ging ich noch öfters, um die Geschwister Milanollo zu hören. Ich habe aber meinen Nachbar nie dazu eingeladen, und er hatte mich in jener Zeit auch nie gefragt, wo ich gewesen sei. Von den beiden Mädchen war zwischen uns nicht mehr die Rede.
Er lebte so stille und einfach fort, er war gefällig und zuvorkommend, wenn auch schweigsam und versunken. Ich bereute es in meiner Zartfühligkeit, daß ich ihn einmal schlechtweg blos seines schwarzen Frakes und seiner blassen Gesichtsfarbe halber Paganini geheißen habe. Ich nahm mir mit festem Ernste vor, nie mehr einem Menschen auf Gerathewohl einen Spottnamen zu geben, weil ich mit ihm später besser bekannt werden und einsehen konnte, wie wenig er ihn verdiene.
Wir blieben noch immer in unserem Gasthofe. Er ging alle Tage unverdrossen, und wie es mir schien, immer eifriger seinen Geschäften nach. Mein Bittgesuch, so langsam es sich auch förderte, ging doch seinen Weg, ich hatte alle Gänge, die dafür zu machen waren, gemacht, hatte sie wiederholt und konnte jezt nichts weiter thun, als ruhig abwarten, wie die Sache ausgehen werde. Nur die Anfragen, auf welcher Stelle seiner Laufbahn das Ding jezt sei, konnten von Zeit zu Zeit gemacht werden.
Die Schwestern Milanollo waren indessen abgereiset. Die Tagesschriften, welche von ihnen voll gewesen waren, hatten allgemach aufgehört, von ihnen zu reden, die Gespräche, in denen sie eine Rolle gespielt hatten, waren verstummt, das heißt, sie handelten jezt von etwas Anderem. Nur manches verspätete Gedicht machte sich noch in der einen oder andern Spalte einer Zeitschrift gelten, und in manchem Gespräche guter Freunde, wenn eben von Musik die Rede war, wurde noch ihr Name genannt. Ich habe immer und jederzeit, wenn sich Gelegenheit dazu gab, meine tiefen Gefühle über ihr Spiel offen dargelegt, nur wenn mein Nachbar zugegen war, mied ich eher die Gelegenheit, daß er nicht auf jenen Abend erinnert würde. Endlich kam die Zeit, wo man, so sehr man sie gefeiert hatte, doch nicht mehr eigens von ihnen sprach, sondern nur, wenn sich zufällig die Gelegenheit dazu ergab. Daß etwas der Stoff des allgemeinen Gespräches einer sehr großen Stadt sei, muß es sich eben zugetragen haben, und muß Aufsehen erregen. Und gerade in großen Städten trägt sich immer etwas zu, und macht von Zeit zu Zeit etwas Aufsehen. Darum sind die Tagesgespräche so wandelbar. Wie lange das Kinderpar in dem Gedächtnisse ihrer Freunde und Verehrer fortgelebt haben mag, kann ich nicht erörtern, und es liegt nicht innerhalb den Grenzen dieser Geschichte.
Mein Nachbar und ich waren noch immer in Wien. Er wurde später sogar krank, und bei der großen sonderbaren Scheu, die er gegen jedes Hospital an den Tag legte, lag er auf seinem Zimmer neben dem meinen darnieder, und hatte einen Arzt und eine Wärterin, sonst aber niemanden. Ich ging daher häufig, wenn es meine Zeit zuließ, zu ihm hinüber, redete mit ihm, erzählte ihm die Tagesbegebnisse, was an der Wirthstafel gesprochen worden sei, wer abgereiset und neu angekommen wäre – ich gab ihm auch zuweilen Arznei ein, richtete ihm die Kissen, und erfuhr bei dieser Gelegenheit, wie bitter mager der Mann sei, wenn er so den Arm heraus strekte, um etwas zu fassen, oder wenn er etwa das Knie gegen die Deke stemmte, und eine sehr spizige Piramide machte. Er lag den ganzen Tag ruhig, es kam kein Mensch zu ihm, und man wußte auch gar nicht, welche Angehörige er habe; denn man sah ihn nie Briefe empfangen oder schreiben.
Endlich wurde er wieder nach und nach gesund, und ging in seinem schwarzen Frake aus, wie er vor der Krankheit ausgegangen war, nur daß man ihm das überstandene Uebel ansah.
Seine Abreise, wie er sagte, näherte sich nun heran. Er mußte seinen Prozeß verloren haben, weil er noch düsterer und noch trauriger aussah.
Eines Tages kam er nach dem Mittagsessen zu mir herüber und sagte, daß er Abends nach sechs Uhr mit dem Postwagen abreisen werde. Er frage mich daher, ob er mich kurz vor jener Stunde treffen könne, um von mir Abschied zu nehmen. Ich antwortete ihm, daß ich den ganzen Nachmittag zu Hause bleibe, und daß ich ihn sogar, wenn er es erlaube, bis zu dem Postwagen begleiten werde. Er nahm es gerne an, und ging wieder in sein Zimmer zurük. Von den Schwestern Milanollo hatte er richtig bis hieher kein Wort gesagt.
Am Nachmittage hörte ich ihn viel hin und her gehen; er mußte einpaken, was er selber that, weil er nie einen Diener gehabt hatte. Ein wenig nach vier Uhr, da ich eben bei meinem Fenster hinaus sah, sah ich einen Träger einen ledernen Koffer und zwei Handsäke von der Wendeltreppe herab über den Hof fort tragen, die ich als die seinigen erkannte. Von nun an war es in dem Zimmer neben mir stille.
Eine geraume Zeit nach fünf Uhr ging ich zu ihm hinüber, und fragte, wann er gehen wolle; ich sei bereitet, ihn zu begleiten.
»Ich werde gleich gehen,« antwortete er, »und wenn ihr Zeit habt, und euch die Mühe nehmt mich bis zu dem Postwagen zu begleiten, so freut es mich sehr.«
Bei diesen Worten stekte er noch Verschiedenes zu sich, und warf verschiedenes Unbrauchbare weg.
»Ich bin noch euer Schuldner,« sagte er dann, indem er etwas in ein Papier Gewikeltes, das auf dem Tische lag, nahm und es mir einhändigte.
»Wofür?« fragte ich.
»Ich habe vergessen, euch damals meinen Antheil an den Sizen und an dem Wagen zu bezahlen, als wir in dem Theater in der Josephstadt waren,« antwortete er.
»Ist es das?« sagte ich, »das ist ja so wenig, und es wäre von keinem Belange gewesen, wenn ihr ganz und gar darauf vergessen hättet.«
»Muß doch berichtet sein,« antwortete er.
Ich stekte das Papier, ohne seinen Inhalt zu untersuchen, zu mir, und verfolgte die Sache nicht weiter.
Er war indessen fertig geworden, und sagte: »Ist es gefällig?«
Ich wandte mich zum Gehen, er zog noch flüchtig die Lade des Schreibtisches heraus um zu sehen, ob er nichts vergessen habe, und wir schritten zur Thür hinaus. Es war sonderbar, es fiel mir schwer auf, obwohl ich mit dem Manne nie in einer eigentlich näheren Verbindung gewesen war, daß er nun gehe, und, als wir das Zimmer verlassen hatten, die Schlüssel an der Thür steken ließ, wo bisher immer, wenn ich in seiner Abwesenheit vorbei ging, ein festes nettes Vorhängschloß angelegt war. Als wir in den Hof gekommen waren, sagte er der Magd, die wir dort sahen, und der gewöhnlich das Zimmerfegen oblag, daß er nun reise, daß die Schlüssel steken, und daß sie über das Zimmer verfügen könne.
Wir schritten nunmehr bei dem Thore hinaus. Auf der Gasse sagte er zu mir: »Ich danke euch noch einmal sehr freundlich für die Güte und Aufmerksamkeit, die ihr in meiner Krankheit für mich gehabt habt. Ihr seid ein guter gefälliger Mensch, vielleicht treffen wir uns auf dieser Welt noch einmal irgend wo wieder.«
»Wo wohnt ihr denn?« fragte ich ihn.
»Ich habe bisher in Meran gewohnt,« antwortete er; »wo ich in Zukunft wohnen werde, weiß ich noch nicht. Wenn ihr aber einmal nach Meran kommet, dürft ihr nur nach mir fragen, und man wird euch dann meinen Aufenthaltsort schon sagen. Oder wenn ihr mir euren Wohnort nennet, so kann ich euch auch einen Brief schreiben, worin ich euch anzeige, wo ich sein werde. Wenn ihr dann einmal in die Nähe kommt, so geht ihr zu mir. Ich werde gewiß eine große Freude haben, euch zu sehen.«
»Und ich gewiß auch,« antwortete ich.
Ich nahm nach diesen Worten eine Namenskarte aus meinem Taschenbuche, schrieb mit starker Bleifeder meine Wohnung auf die Kehrseite, und sagte: »Unter dieser Aufschrift wird mich ein Brief von euch zu jeder Zeit des Jahres finden.«
Er nahm die Karte und that sie in seine Schreibtafel.
Nun gingen wir schweigend neben einander her, entweder weil wir wirklich nichts zu reden wußten, oder weil wir gespannt waren. Endlich, gleichsam um das kleine Stük Weges, das wir noch bis zur Post hatten, auszufüllen, that er die Frage: »Seid ihr schon einmal in Italien gewesen?«
»Es war wohl schon seit Jahren mein sehnlichster Wunsch, dieses merkwürdige Land zu sehen,« antwortete ich, »aber meine Verhältnisse gestatteten es bisher immer nicht, den Wunsch zu verwirklichen. Indessen gebe ich ihn nicht auf, und wenn einmal eine Zeit kommt, in der es mir möglich ist, eine große Reise zu machen, so ist Italien das Land, in welches ich sie unternehme.«
»Thut das ja,« sagte er, »es wird euch gewiß nicht reuen.«
Mit diesen Worten waren wir an der Post angekommen, und gingen bei dem großen Thore hinein. Der Innsbruker Wagen war schon angespannt.
»Nun lebet wohl,« sagte er, »ich danke euch für die Begleitung, und danke euch auch noch einmal für alles Andere, was ihr mir gethan habt, und grüsset unsere Mittagsgäste recht schön.«
»Lebet wohl,« antwortete ich, »und reiset glüklich.«
Somit war der Abschied vollbracht. Er ging an den Wagen und schaute bei allen Fenstern hinein; allein da er ziemlich spät gekommen war, saßen überall schon Reisende von verschiedener Gattung darinnen: dicke und dünne, schnurbärtige und backenbärtige, mit Tabakspfeifen und Augengläsern versehene – nur in dem hintern Gelasse bei einer Frau mit Reisesäken und Fächern war ein Pläzchen erübrigt – sein Mantel, den er vorausgeschikt hatte, lag neben den hintern Rädern auf der Erde, er hob ihn auf und that ihn um – auf der Wagendeke war man mit Schnüren und Zubinden fertig geworden, man pakte den armen alten Mann, wie es gehen wollte, ein, und fuhr mit ihm davon.
Ich blieb noch eine Weile auf der Gasse vor dem Posthause stehen, und sah dem Wagen nach, so weit ich ihn erbliken konnte. Die Eke der nächsten Gasse verdekte ihn aber bald. Hierauf ging ich in eine Gesellschaft von jungen Männern, die ich kennen gelernt hatte, die sich jede Woche an einem bestimmten Tage versammelten, und die mich hiezu eingeladen hatten. Es war eben der Tag, und wir saßen ziemlich lange beisammen, und redeten von den verschiedensten Dingen der Welt.
Am andern Tage stand ich auf, und ging wieder meinen Geschäften nach.
Es ist unglaublich, aber es ist doch so: der alte Mann, der fort gefahren war, ging mir sehr ab. Zum Zimmernachbarn hatte ich einen Fruchthändler bekommen, der immer mit den Fingern sehr schnalzte, wenn er über die Wendeltreppe hinab ging. Er war zugleich so dik, daß man auf der Stiege nicht an ihm vorbei konnte, sondern in einen Gang oder unter eine Thür gestellt, ihn vorüber lassen mußte.
Ich war noch ziemlich lange an Wien gebunden. Endlich wurde meine Bittangelegenheit doch entschieden, und zwar gegen meinen Wunsch. Der Fruchthändler war schon lange abgereist, ich hatte nach einander wohl fünfzehn verschiedene Zimmernachbarn gehabt, und jetzt, da ich meinen lang ersehnten Bescheid in die Hände bekam, pakte ich meine Sachen zusammen, und fuhr ebenfalls davon.