Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.
Alter und neuer Verkehr im bairischen Hochland.

 

Es ist ein sternheller Herbstabend und sausend fliegt der Zug über die welligen Fluren des bairischen Vorlands. Wir saßen schweigend in den roten Kissen; der eine der Herren war in Feuillets neues Buch vertieft » La veuve«, der andere hatte die Kölnische Zeitung wie eine große papierne Reisedecke vor sich ausgebreitet, und der dritte fror und schob mißmutig den Regulator von Kalt auf Warm.

»Ich hoffe, daß die Zimmer im Hotel geheizt sind,« sprach er kurz, während er die kleine Cigarette in Brand setzte. »Gewiß, Excellenz«, erwiderte der zweite, »wir haben ja vor der Abfahrt noch telegraphiert.«

Da rief der Schaffner mit lauter Stimme: »Station So und So; 5 Minuten Aufenthalt!« – Und hart an der Eisenbahn stand mit verschlafenen Pferden, welche die Ohren hingen, der alte, gelbe Stellwagen, eine wahre Arche Noah auf Rädern, wenn auch die Paare, die darinnen saßen, kaum wert schienen, mit so abnormen Mitteln der Zukunft erhalten zu werden. Nach reichlich zehn Minuten geriet das schwanke Fahrzeug in Bewegung; langsam ging es dahin durch das weitgestreckte Dorf, wo nur noch an einzelnen Fenstern ein Licht glänzt. Vor dem letzten Hause wird ein Brotsack abgeladen, dann knallt der Kutscher noch einmal mit der Peitsche, um bei den Pferden zu konstatieren, daß er da ist, und legt sich schlafen in die Ecke. Drinnen aber, im dunklen Pferch des Wagens, sitzt der Herr Bräumeister mit seinem riesigen Profil und die Frau Wirtin mit einem geheimnisvollen Korbe, zwei Bauern, die die hintere Ecke haben, wispern geschäftig miteinander, und ein dritter, dem der Hut vornüberfällt, schnarcht bereits in gewaltigen Zügen.

Was ich Ihnen hier erzähle, klingt wie ein Scherz und doch ist es die nackte Wirklichkeit, wie ich sie vor acht Tagen erlebte, aber die Wirklichkeit wird hier zugleich Symbol, denn die Bahnstation da zeigt uns gewissermaßen hart nebeneinander den ganzen Gegensatz, um den es sich handelt, das ist in einem einzigen Bilde der Wechsel von altem und neuem Verkehr.

Und dennoch: über dem alten Verkehr, den ich Ihnen hier schildern soll, steht noch ein älterer, welchen wir heutzutage fast vergessen haben. Denn sicherlich lebt bei vielen die Meinung, daß unser bairisches Hochland, welches bis in die letzten Generationen so abgeschieden war, in den früheren Jahrhunderten vollends eine wilde Einsamkeit gewesen sei, wo eigentlich nur der rauschende Wind über die Thäler dahinzog und wo die Sonne herabsah auf ein Volkstum voll rauhester, elementarer Kraft. Gleichwohl ist diese Vorstellung vollkommen irrig, denn gerade unser bairisches Hochland zeigt uns schon im frühen Mittelalter eine Ära kulturgeschichtlicher Blüte, lebendigen und geistigen Verkehrs, die geradezu mitbestimmend wird für die Physiognomie der älteren bairischen Geschichte.

Gehen wir von dieser Thatsache aus, dann gliedert sich der Stoff, den ich hier vor Ihnen behandeln möchte, von selbst in drei große Gruppen. Es steht zuerst jenes farbige Geschichtsbild vor uns aus der Blütezeit des alten Reiches, wo der Weltverkehr zwischen Deutschland und dem Orient durch unsere Berge ging, wo die zahlreichen Klöster des bairischen Hochlands die Mittelpunkte geistigen Lebens waren, wo Kaiser und Fürsten monatelang in diesen Gauen Hof hielten, jagten und gasteten.

Mit dem XVII. Jahrhundert aber verblassen mehr und mehr diese Farben; bald spüren wir auch hier jene tiefe Verkümmerung, welche der dreißigjährige Krieg über alles deutsche Wesen brachte, und zuletzt die ganze Isolierung, welche zwei Jahrhunderte lang das Programm der bairischen Geschichte zu sein schien. Der Zustand, der damit geschaffen wurde, das Ergebnis dieser langen inneren und äußeren Abgeschiedenheit, reicht herein bis in die vorige Generation, bis in die Zeit unserer eigenen Väter, und so steht denn als zweites Bild ein ländliches Idyll vor uns, das von der Welt nichts weiß und nichts will.

Dann aber bricht mit einmal seit den sechziger Jahren die neue Zeit mit unwiderstehlicher Gewalt in dies felsumschlossene Gebiet.

Element gegen Element vollzieht sich auch hier der Kampf und der Ausgleich, eine Flut von neuen Ideen und Thatsachen dringt plötzlich in dies stille Leben und ein Fremdenstrom, der nach Tausenden zählt, ergießt sich über das träumerische Idyll. Wie ein geheimes Fluidum, dessen man sich nicht mehr erwehren kann, geht es durch Land und Leute und das ist die dritte Epoche, das buntbewegte, rastlos sich wandelnde Bild des neuen Verkehrs.

Gestatten Sie mir nun, daß ich mich zum einzelnen wende.

Was die historische Zeit betrifft und die Bedeutung, welche das bairische Hochland damals für den geistigen und kommerziellen Verkehr besaß, so liegen die Gründe hiefür schon in dem wenigen ausgesprochen, was ich mir vorhin anzuführen erlaubte. Sie liegen darin, daß eben jene großen Faktoren, welche damals die Träger aller Lebensblüte waren, im bairischen Hochland besonders ergiebig vertreten und lokalisiert erscheinen. Ich kann ja nicht ins Detail gehen (denn das wäre der überreiche Stoff eines eigenen Vortrags), aber wenn ich Ihnen auch nur die Namen Tegernsee, Benediktbeuren oder Chiemsee nenne, so wissen Sie, daß Sie damit ebensoviele Pflegestätten eines hochgeistigen Lebens haben. Und nenne ich die Namen Hohenschwangau, Hohenwaldeck, Hohenaschau, so haben Sie ebensoviele Sitze alter mächtiger Geschlechter, die ihre Beziehungen und ihren Einfluß über weite Territorien erstreckten.

Der dritte mächtige Stand aber, der neben dem Adel und dem Klerus die Kultur des Mittelalters trug – ich meine das Bürgertum der freien Städte – hatte zwar keine direkten Positionen im bairischen Hochland, aber gleichwohl griff es in den Verkehr desselben am entscheidendsten ein, weil sein ganzer Handel auf dessen Wegen ging. Und alle diese Elemente regten sich in rastloser Rührigkeit, mit einem schöpferischen Zug in der Seele und mit reichen Mitteln in der Hand.

An das Thor von Tegernsee pochte Walther von der Vogelweide, auch Frauenlob zog durch unsre bairischen Berge, wie dies erst in den letzten Wochen aus tirolischen Rechnungsbüchern fest gestellt worden ist. Die leuchtenden Carmina burana, das Schönste, was fahrende Schüler gesungen haben, sind daheim am Fuße der Benediktenwand.

Aber nicht nur zu dichten und zu genießen, auch zu schaffen verstanden diese Menschen; auf allen Gebieten, wo wir hinblicken, finden wir eine kräftige Betriebsamkeit, die nicht den Zufall schalten läßt, sondern das Gesetz zu erforschen und den Vorteil zu wahren strebt. So wurde Agrikultur, Gewerbe und Handel betrieben und es ist gänzlich irrig, wenn wir uns etwa die Zustände jener Zeit vollkommen primitiv denken. In den gewaltigen Salzwerken des Berchtesgadener Landes z. B. war eine Industrie entwickelt, welche jährlich Hunderttausende von Zentnern ergab, jedes zehnte Schiff, das im XVI. Jahrhundert durch Passau fuhr, war mit Schellenberger Salz beladen. Und der Bergbau in Schwaz, der zwar nicht auf bairischem Boden lag, aber dessen Betrieb doch aufs engste mit bairischen Interessen verknüpft war, ergab in 137 Jahren 19,586 Zentner Silber und über eine Million Zentner an Kupfer. Tausende von Knappen waren dabei beschäftigt, die Fugger allein, welche die Hauptbeteiligten waren, hatten eine Zeitlang eine Jahresrente von 200,000 Gulden aus diesem Besitze. Wie der ganze Reichtum entdeckt wurde, ist Ihnen vielleicht bekannt; es war im Jahre 1409, wo ein wilder Stier mit seinem Horn den Bergrasen aufriß und dabei eine mächtige Silberader bloßlegte.

Auch der Stand der Fischzucht z. B., um nur eine beliebige Einzelheit hervorzuheben, zeigt uns die hohe Stufe der damaligen Kultur und ihres Verkehres. Es wurden eigene Zuchtstuben, sogenannte Ichthionotrophien, gehalten und schon im XV. Jahrhundert bevölkerte man diesen und jenen Bergsee mit neuen Arten. So ist uns ein ausführlicher Bericht erhalten, wie die Renken aus dem Kochelsee in den Walchensee verbracht wurden, mittelst großer Fässer, die ganz mit Seerosenblättern austapeziert waren; König Sigmund ließ sich gelegentlich eine Mahlzeit davon per Staffete nach Preßburg bringen.

Der große Handelsweg aber lag im westlichen Teil unseres Hochlandes und ging über Mittenwald und Partenkirchen nach Tirol. Schon seit Römerzeiten war die dortige Hochstraße ein Stück des Heerweges von Augsburg nach Verona gewesen und diese Bedeutung ist ihr auch durchs ganze Mittelalter verblieben. Der Knotenpunkt derselben war, wie erwähnt, Mittenwald, die alte media silva, die dicht vor den Gebirgspässen lag und wo uns schon frühzeitig eine merkwürdige Organisation des Verkehrs begegnet. Wer so viel mit Fremden zu thun hat, der muß vor allem des Lesens und Schreibens kundig sein, und so hatte denn schon im XII. und XIII. Jahrhundert der Markt seine eigenen Schulmeister. Die Verfrachtung der Kaufmannsgüter war ein Monopol, welches der Innung der dortigen Fuhrleute, der sogenannten »Rott« zustand, und da die Straße für den Verkehr fast nicht mehr ausreichte, so wurde 1407 auch noch eine Rottfuhr auf der Isar errichtet. Jeder der Beteiligten mußte zwei Flöße an der Lände liegen haben, die von »bestätigten Fergen« geführt und jährlich zweimal revidiert wurden; für die Kaufmannsgüter selbst aber war ein großes Magazin am Wasser errichtet, das seinen eigenen Hüter hatte.

Dort lagen die Schätze, die aus Italien und der Levante kamen, große Säcke mit Gewürz und Seide, mit Südfrüchten und Sandelholz, vor allem aber zahllose Fässer mit Öl und Wein. Nach Süden dagegen ging Aachener, Kölner und Speyrer Tuch, Weißblech, Wildfelle und Eisen. Ergaben sich Streitigkeiten in Bezug auf Fuhr und Fertigung der Kaufmannschaft, so entschied hierüber ein Gericht von 12 Schöffen, das schon im XV. Jahrhundert durch den Bischof von Freising (den Landesherrn der Gegend) eingesetzt worden war.

Seinen Höhepunkt aber erreichte der riesige Verkehr des Ortes erst, als der große Bozener Markt, auf welchem die deutschen und italienischen Kaufleute abrechneten, plötzlich nach Mittenwald verlegt wurde. Es war dies im Jahre 1487 und ein Streit, bei welchem Erzherzog Siegmund 130 venezianische Kaufleute ins Gefängnis hatte werfen lassen, gab den nächsten Anstoß hiezu; ein wahrhaft internationales Leben entwickelte sich nun in dem kleinen, felsüberragten Bergdorf, ja wer möchte es glauben, daß der Ort sogar seinen Ghetto hatte!

Schon im XV. Jahrhundert war eine eigne Judengasse in Mittenwald angelegt worden, wie uns Baader erzählt, wohl ein Unikum in der Kulturgeschichte unseres bairischen Hochlands. Rastlos und farbenhell wogte so dies Treiben, lange Reihen von Saumpferden und Wagen standen längs der braunen Häuser, an der Lände lehnten die Fergen im Lodengewand, mit der Feder am Hut, und hoch darüber stand das graue Karwendelgebirg mit seinen grünen Schluchten und Wäldern.

Das war der alte Verkehr im bairischen Hochland, aber aus dem gewaltigen Geschichtsbild kommen wir nun unvermerkt immer mehr ins schweigende Idyll. Eine Epoche weltvergessener Stille kommt jetzt für Jahrhunderte über dies schöne Land; ab und zu blitzt wohl noch in erregter Zeit ein Zusammenhang dieses abgeschiedenen Volkstums mit den großen Strömungen der Zeitgeschichte auf – im 30jährigen Krieg, im Jahre 1705 und 1809 – aber dann ging die lange Jahresreihe wieder dahin in lautloser Ruhe.

Und alles gab dieser Ruhe Nahrung und Recht. Denn wer die Kulturgeschichte Baierns während der letzten zwei Jahrhunderte kennt, der weiß, wie dieselbe förmlich auf eine Isolierung des Volksstammes abzielte, und wer den Charakter dieses Volks kennt, der weiß es, wie der letztere mit seiner schroffen geschlossenen Individualität dieser Isolierung entgegen kam. Das übrige aber, was nicht die Menschen thaten, that die Natur mit ihren Felsen und Forsten, die wie eine trotzige Mauer die eigene Welt von der Welt des großen Verkehres trennten.

Und dieser Zug weltfremder Einsamkeit reicht herein bis in die Mitte unseres eigenen Jahrhunderts, auch die kurze liberalisierende Ära Montgelas, wo man förmlich mit dem Humanismus und mit kosmopolitischen Ideen kokettierte, konnte nichts daran ändern. In ungestörter Stille ging dies Leben weiter und weder die Ereignisse, noch fremde Menschen drängten es aus seinem stetigen Geleise; ja es gab damals überhaupt noch so gut wie gar keine Fremden; ist es doch bekannt, wie in den 20er Jahren die Künstler das »Gebirg« gewissermaßen erst von neuem entdeckten. Damals waren jene Bilder, wie sie Peter Heß, Klein und Bürkel gemalt, noch eine Wirklichkeit und durch alle Lebensverhältnisse ging ein primitiver Zug, den wir heute gar nicht mehr fassen und vielleicht auch nicht mehr ertragen könnten.

Die ganze Straße von Tegernsee lief damals hart am Wasser hin und war begrenzt mit Vergißmeinnicht, und wenn es dem See einmal gefiel, sie für 8 Tage zu überspülen, so hatte die Behörde gegen dieses Vorhaben nichts Weiteres einzuwenden. Der Pfarrer und der Landrichter teilten sich in die oberste Gewalt und nach ihnen kam der Wirt. Dieser aber krankte noch nicht an solch wandelbaren Begriffen, wie es eine Speisekarte ist, denn unerschütterlich fest stand das Menu dieser alten Firmen. Ein Federbett, in dem wir heute ersticken würden, galt damals als ein Paradies für müde Glieder; wer fahren wollte, setzte sich auf den Floß oder auf einen Leiterwagen, wenn nicht gerade der Stellwagen ging (zweimal die Woche); uns würde es wohl die Seele aus dem Leibe stoßen, aber auch die Seelen, wie so manches andere, saßen damals noch viel fester.

Mit einer neidenswerten Verspätung, die der Gemütsruhe niemals zu nahe trat, kamen alle Nachrichten aus der Stadt; das mörderische Wort der »Kurse« war noch unbekannt und der Kronenthaler besaß noch seine ganze wuchtige Autorität. Die Briefe, die etwa einliefen, und das kleine Oktavblatt, das man Zeitung nannte, trug die Bötin über Land; war's allzuheißes Wetter oder weit hinauf, dann gab sie es wohl auch dem nächsten besten Buben, daß er es im Vorübergehen an dem betreffenden Hause ablege. Unglaubliche Dinge kamen dabei zu Tage. So ist es eine Thatsache, daß ein kleiner hemdärmeliger Bauernbursch meinem Vater einen Geldbrief mit einer beträchtlichen Summe überbrachte, die der König von Hannover für ein Bild gesandt, und die dieser Vorläufer Stephans ganz ruhig drei Tage in der Hosentasche umhertrug. Wie viele Purzelbäume er inzwischen auf den gemähten Wiesen geschlagen und wie es kam, daß dies Paket schließlich nicht auf einem Heuwagen deponiert wurde, soll hier nicht untersucht werden.

Das Medizinalwesen lag in den Händen des Baders oder des Landarzts, der bei jeder Diagnose von der »eingeschossenen Galle« sprach, oder geheimnisvoll dazu setzte: »Ja ja, dös is halt so a Sucht«. Dann nickten die Bauern mit dem Kopfe und sagten: »Siehgst es, der kennt sich aus.« Hier eine kleine Probe derartig naiven ärztlichen Zuspruchs:

Die alte Nandl, die is krank,
's ganz G'sicht is scho' derschwollen,
Die hat als wie a Holzfuchs zahnt,
Z'letzt laßt s' an Doktor holen.

»O mei',« hat s' g'sagt, »mit mir is g'feit,
I bin an alter Scherben.
Herr Doktor, i glaub alleweil,
Herr Doktor, i muaß sterben.«

»›Geh Muaderl,‹« hat der Doktor g'sagt,
»›So sei do' nit so dumm,
Schaug, sterben muß' ma allesamt,
Na' bringt's di' aa nit um.‹«

Geriet aber ja einmal ein Fremder mit einem bedenklicheren Fall in seine Hände, dann zuckte er vorwurfsvoll die Achseln und brummte: »Ja was war denn dös? was fangen denn Sie da an? – Jetzt machen S' nur gleich, daß weiter kommen!« und der vermeintliche moriturus salutierte und fand es geraten, nach München zurückzukehren, denn von München kamen ja damals fast allein noch die Fremden. Hinaus aber kam von den Eingeborenen fast keiner, da war das äußerste Reiseziel, wie ich es schon früher einmal erwähnte, das Münchener Oktoberfest. Die einzigen, die etwas von der Welt gesehen, waren die Soldaten aus den Napoleonischen Kriegen, aber der tiefe, lange Friede, der sie dann umgab, wob auch um ihr Erinnern seinen Schleier. Es war so schön daheim, daß niemand die Lust verspürte, sich die Welt zu besehen, es ging jedem leidlich gut genug, daß er sein Glück gar nicht draußen versuchte, und als einmal der junge Wirt von Gmund in den dreißiger Jahren nach der Schweiz ging, um Vieh zu kaufen und jenen Simmenthaler Schlag im bairischen Hochland einzuführen, dessen prächtige Kreuzungen wir jetzt dort haben, da war es ein allgemeines Erstaunen, ja fast ein Entsetzen über diesen wunderlichen Plan.

Es gab, wie gesagt, noch gar keinen Anlaß, noch kein Bedürfnis nach dem Verkehr; das wenige, was man brauchte, wurde an Ort und Stelle erzeugt oder verhandelt; die Fremden wußten es noch nicht, wie schön es da drinnen, und die Bauern noch nicht, wie gut es da draußen sei.

So mag es uns wohl heute scheinen, als wäre es, dies Bauernidyll, ein recht vereinsamtes, verwildertes und armutvolles Leben gewesen, und doch lag in dieser Derbheit soviel Herz, in ihrer Einfalt soviel gesunder Scharfsinn und in jener Armut ein Glücksgefühl, das nur der Mensch kennt, der nichts anders will, als er hat. Denn die Einheit des Lebens ist eben etwas anderes, als die Summe der Lebensgüter, und über dieser Idylle, die wir belächeln, liegt zugleich eine Klarheit und Kraft, die wir beneiden. Die roten Nelken, die da vom Fenster hernieder hingen, blühten sie nicht lachender, als all die fremden Blumen in den vornehmen Gärten? welche Farbenglut und welcher Frohsinn funkelte durch diese Feste, wenn man zum Leonhartsritt sich rüstete, oder wenn der Erntegang durch die Felder zog, wenn die Glocken läuteten am blauen Kirchweihmorgen? Wo gab es beim Tanz solch' jauchzendes Volk, wo gab es für die Arbeit eine Werkstatt, wie den hohen Wald, in dem der Axtruf erschallte, durch den der Jäger emporstieg, und durch den die Sennerin mit ihrer Herde dahinzog? – Wo gab es einen Frieden, wie ihn der Mann empfand, der in der Abendkühle auf seiner Hausbank saß und über die duftigen Wiesen dahin sah, bis der letzte Vogelsang verstummte, bis der Mond hinter den Felsen des Wendelstein heraufkam und der letzte, der vorüber ging, ihm sein »Guat Nacht« entgegenrief. – – –

Auch das liegt drinnen, in der Idylle, von der wir gesprochen, und der Alte auf der Hausbank, der niemals über die Felsen seiner Berge hinausgeblickt, er sieht doch mit scharfen Augen, was rund um ihn und in ihm vorgeht. Schweigend kehrt er nun zurück in die Stube, wo die Mutter eben mit den schmucken Töchtern schilt, daß sie gestern so spät vom Tanze heimgekehrt. Zu ihren Zeiten sei's doch besser gewesen; der Alte aber erwidert gelassen: »Geh' Muader, schaug, weil mit die alten Jahr soviel von selber aufhört, drum moana mir Alten allweil, mir waar'n besser als die Jungen«. Dann kommt der Sohn mit offner Brust und breitem Schritt, auf der gelockten Stirn den grünen Hut mit dem Gamsbart, und die weißen Zähne blitzen bei seinem lachenden Gruß.

»Vater bist müd (ruft er dem Alten zu, der sich behaglich ausgestreckt), hast wieder z'viel g'arbeit heut. Gieb doch an Ruh, Du brauchst es ja nit.«

Und der Alte nickt und erwidert gelassen: »I arbeit nit um an Lohn, i arbeit um 'n Respekt.« Auch das lag drinnen in der Idylle, von der wir gesprochen; nicht geschlossen, nicht ins Breite, nur ins Tiefe gehend, war der Kreis dieses Lebens und bedurfte keiner Erweiterung, er trug seine Mühsal und seine Freude in sich und darum war er so gehärtet gegen die Außenwelt, er hat seit uralten Tagen die unverrückbaren Ziele seines Daseins und die unversiegbaren Mittel, um dies Ziel zu erreichen. Von der übrigen Welt kannte er nichts und darum wollte er nichts von ihr – es war in der That die gute alte Zeit – ein Wort, das halb der Spott und halb die Sehnsucht geschaffen hat.

Dies Idyll freilich ist nun gründlich vorüber. Denn alles auf Erden hat seine Zeit und die »gute alte Zeit« selber ist nicht davon ausgenommen. Eine tiefe, gewaltige Umwandlung beginnt, welche die Menschen und ihre Gedanken zu einander zwingt; eine Kraft, die ihren Weg durch das äonenalte unantastbare Gestein der Felsen findet und mit magnetischer Gewalt alles Sonderleben an sich zieht, um es einzugliedern in den Zusammenhang mit den großen Strömungen und Strebungen des Ganzen. Schon seit 1848 spüren wir die ersten Zuckungen; aber es waren nur vereinzelte Funken, die der Sturm jener Tage in die Bergeinsamkeit hinaus trug, und erst mit den 60er Jahren, wo ganze Reihen in dem Gefüge der alten Ordnung zusammenbrachen, begann diese volle Neugestaltung der deutschen Verhältnisse mit einer Raschheit, mit einer Unabwendbarkeit, die etwas Fatalistisches an sich trug. So kam das Jahr 70 und schuf eine neue Welt, es faßte mit einem Eisengriff eine große Nation zusammen und machte zur Wirklichkeit, was noch vor Jahresfrist eine Legende war. Einen solchen Ruck der Zeit spürt man auch im fernsten, entlegensten Winkel; so mancher, der bisher sein Bergdorf kaum verlassen, hatte selber thätigen Teil genommen an den großen Ereignissen; eine neue Luft wehte nunmehr von da draußen herein über die Bergeszinnen, eine Luft, in der etwas vom Salzhauch der Nordsee und von der Herbheit der Heide lag, in der man den Zug der Thatkraft, der Gemeinschaft spürte. Und ob man ihn auch hier und dort nicht spüren wollte, man mußte ihn spüren, er selber kam den Menschen entgegen, auch wenn sie ihm nicht entgegen kamen.

Hoch drob'n am Berg, da liegt a Hütten,
Am Herd brennt 's Feuer in der Mitten,
Am Abend is und off' is d'Thür,
Zwoa Holzknecht sitzen da davür,
Der oa scho' in die achtz'ger Jahr,
Der ander no' nit zwanz'ge gar.
Im Wald schlagt no' a Drossel nach
Und rauschen hörst an Almenbach;
Drob'n hallt a Schuß her über'n Grat
Und na Dann. is alles wieder stad. Still.

Da kimmt a Jagerbursch vorbei.
»Wer hat denn g'schossen?« fragen s' glei'.
Der Jager sagt: »›Heunt liegt nix dran,
Mein'twegen hat's a Wildschütz than – –
Aber an andern Schuß hat's geben,
Der gang glei' auf a bessers Leben!
Habts es scho' g'hört von dera großen
Mordssach? – Am Kaiser haben s' g'schossen
Und troffen! – Er is ganz verwundt!‹«
»Was?« schreit der jung', »an so an Hund
Giebt's aa? Der sollt bei uns da sein,
Dem schlaget i as Leben ein!
Den packet i mit all zwoa Händ
Und wurf' ihn abi über's G'wänd!« Über die Felswände.

Der Alt' sinniert und schaugt nur groß
Und legt die Händ z'samm auf der Schoß;
Na' hat er g'sagt: »›I glaub's no' kaam –
Am Kaiser? – – Wie an alter Baam
So steht er dort mit seiner Kron,
Und dös hat ihm a Deutscher thon!!
Is dös a deutsche Einigkeit?
Zum Stolzsein hab'n mir Wir. wohl no' weit!‹«

's war grad Nur. a Holzknecht, der so redt'.
Oben glanzen d'Stern; er rührt si' net,
Na' legt'r a Scheit ins Feuer 'nein – – –
»›Heunt schlaf'ma do' so bald net ein!‹«

So war denn der stille Zauberkreis der Einsamkeit für immer durchbrochen, auch der Bauer hat kein Leben mehr für sich, auch die stumme Welt der Berge ist hineingerückt in den mächtigen Zusammenhang deutschen Lebens, in die gährende Bewegung der Geister, in den strömenden Verkehr der Menschen. Innerhalb der zwei Jahrzehnte, die seit dem schleswig-holsteinischen Kriege von 1864 vergangen sind, ist fast die ganze Fülle unserer modernen Kulturmittel und Lebensformen auch in unser einsames Hochland gedrungen und dort endgiltig recipiert worden, wenn der juristische Ausdruck gestattet ist. Die Einführung von Eisenbahn und Telegraph, die Mobilisierung des Besitzes, die Entwicklung von Handel und Industrie, die radikale Veränderung des Unterrichts fallen in diese Zeit; die politische Agitation beginnt, der Gemeinsinn sucht nach der Form in der Vereinigung, und über das ganze Gebiet hin ergießt sich allsommerlich ein Strom von vielen tausend und tausend Fremden. Das ist der neue Verkehr der Berge.

Ein hastiger Realismus erfüllt dies dritte Bild, das ich vor Ihnen entrollen muß; die lokalen Besonderheiten treten nur mehr schüchtern leise hervor, denn alles soll womöglich so sein, wie anderswo; man hat auf das Individuellste verzichtet, um wenigstens weltläufig zu scheinen, obwohl man es noch nicht ist.

Wer jetzt an einem Junifeiertage in unser Hochland fährt, der erkennt das alte Bergdorf kaum mehr, das ihm vor 30 Jahren lieb geworden. Etwa zweitausend Passagiere waren im Bahnzug und etwa 40 Wägen rollen jetzt auf der sonnigen Landstraße dahin – keine Leiterwagen, wie ehedem, sondern breite Omnibusse, behagliche Landauer, Phaëtons, Victorias und à la Daumont. Dahinter aber keuchen die schweren Fourgons mit 100 Paketen aus Hamburg, Leipzig und Berlin, der flinke Velocipedist huscht auf seinem Rade vorüber im eleganten dunkelblauen Jaquet, dann kommt eine Kolonne von 30 Touristen, »Alpenklubisten«, die hintereinander einherziehen mit lebensgefährlichen Bergstöcken und nicht viel bessern Jodlern, ohne Sorge und ohne Hemdkragen. Und ab und zu vielleicht einmal ein Bauer mit seinem Kühlein.

Eh man sich's versieht, ist man schon da, aber das alte Wirtshaus ist zum »Hotel« geworden und auch der alte Besitzer ist schon lange fort. Zu den acht Fremdenzimmer von ehedem wurden 80 hinzugebaut, aber auch von diesen ist keines zu haben, wenn man nicht vorher bestellt hat, denn die »Harmonie« hält heute ihr Stiftungsfest. »Aber im Nachbarhotel muß es doch Platz geben, wenn man dies dreistöckige Ungeheuer betrachtet?«

»Vielleicht – allein Sie werden kaum schlafen können, weil ein Studentenkorps daselbst heute nacht Kommers hält.« Und das alles sagt uns der Wirt mit einem Achselzucken, das dem Hotel »Vier Jahreszeiten« würdig wäre, während seine Hände ein paar Depeschen zerknittern und seine Augen unstät suchen, wo denn die Extrapost des Grafen So und So bleibt, der die zwei Ecksalons mit der Veranda bestellt hat? An dem kleinen Finger blitzt ein schmaler Ring mit drei bunten Steinen, der Scheitel ist tadellos und der dunkle Gehrock so elegant wie alles, was Van Hees gefertigt. Oh, kann man es noch ahnen, daß hier vor dreißig Jahren ein Wirt in Hemdärmeln stand, der höchstens einen Schlagring am Finger trug und auf die Frage, ob noch Platz sei, mit dem Daumen nach innen zeigte: »Da gehts eini!«

Auch da innen sieht es jetzt anders aus, als ehedem, wo man im Hausgang höchstens ein paar aufgerollte Fässer und einen knurrenden Fanghund fand. Jetzt hängt alles voll bunter Plakate, Karten und Panoramen; hier wird ein Konzert für den Abend angezeigt, dort flattert ein roter Theaterzettel und daneben am schwarzen Gitterbrett die Anzeige von ein paar Zwangsversteigerungen, die nächste Woche so nebenhergehen. Im Hintergrunde des Ganges aber schaut bisweilen ein neugieriger Kopf mit weißer Mütze vor, das ist der Küchenchef und in feiner Miene liegt ein Selbstgefühl, als ob er Brillat-Savarins Wort verstünde: »Der Koch kann gebildet werden, der Bratkünstler aber wird geboren.« Freilich – 120 Gäste sind heute an der Table d'hôte und es giebt Seefische, die von Geestemünde in direktem Versandt hierher kommen; auch sie waren in den Fourgons, die wir begegnet haben. Die See muß geben, was der See nicht mehr besitzt, selbst bis auf diesen stummen Artikel erstreckt sich der Austausch zwischen Nord und Süd und die Devise »Vom Fels zum Meer«. Zum Dessert aber giebt es Gefrorenes, das der neugegründete Konditor über der Straße liefert; früher war hier nichts gefroren, als etwa die Straße selber und die Eiszapfen am Dache.

Im unteren Speisesaal wird à la carte gespeist; hier sammeln sich vor allem die Touristen, die mit zerrissenen Stiefeln über die Berge kommen, oder Eile haben mit ihrer Mahlzeit, hier ist die Börse der Führer, der Schiffer, der Retourwagen u. s. w.

Aber auch hier – ist – chic; es thut mir leid, daß ich dies fremde Wort nicht meiden kann. Die klassische Periode jener Grobheit, wo man keine »Halbe« bekam, sondern warten mußte, bis man eine Maß brauchen konnte, ist längst überwunden.

I kimm auf d' Post 'nein: »Guat'n Ab'n'
A frische Halbe möcht i hab'n.«

»›Was?‹« sagt die Kellnerin und geht,
»›A Halbe – schaamen S' Ihna net?
Da roaf' i nit zum Faß deszwegen,
Z'erst warten S', bis S' a Ganze mögen.‹«

Die Weinkarte weist einige zwanzig Marken auf und die Kellnerin, bei der man ein Schnitzel bestellt, fragt verbindlichst: Wünschen Sie es paniert?

Das wohlthuende Gefühl, daß es im bairischen Wirtshaus keine Standesunterschiede giebt, daß da einer behaglich neben dem anderen sitzt, das hat sich wenigstens gottlob noch erhalten. Alles geht am Sonntag aufs Land und wie man sich der räumlichen Entfernung nicht mehr bewußt ist, so ist man sich der ständischen sozialen Entfernung noch nicht bewußt, die schöne Losung aller Menschenfreunde »leben und leben lassen«, beherrscht wenigstens in Baiern noch uns alle. Da sitzt am runden Tisch der Präsident mit seinen Töchtern, dahinter ein paar schmucke Offiziere im sommerlichen Zivil und Rücken an Rücken der Gemeindeschreiber des Dorfes, der Kaminkehrer und der Schneidermeister. Das erst, ich meine nicht nur die Masse der Fremden, sondern auch ihre Mischung, ist der neue Verkehr der Berge. In der Mitte des Zimmers steht ein Billard, auf dem der Herr Apotheker und der Herr Tierarzt eine Karambolpartie spielen, vor das kleine Piano aber, das in der Ecke steht, setzt sich der Herr Lieutenant nieder und schlägt einen Walzer an.

»Bringen Sie mir die Zeitung,« murmelt ein Griesgram in der Ecke und der eilige Kellner legt die Allgemeine, das Berliner Tageblatt und die Neue Freie Presse vor ihm nieder. Das alles wird gierig verschlungen, denn auch der Zeitungstieger geht aufs Land, und wenn er zu Ende ist mit Berlin und Wien, dann kommt erst das Lokalblatt des Ortes an die Reihe. Und das Lokalblatt, es ist für uns vielleicht das interessanteste von allen, denn der ganze Wandel der Zeit spiegelt sich in seinen engbrüstigen Spalten. Vorne stehen die Nachrichten, die wir vor 8 Tagen in den übrigen Blättern gelesen, und rückwärts finden wir die Fremdenliste mit verdruckten Engländern, mißverstandenen Russen und zahllosen Gästen aus allen deutschen Landen. Auch ein Feuilleton ist da, aber es handelt über den »Umgang mit Elefanten« (ich citiere wörtlich aus dem Tegernseer »Seegeist«), obwohl vielleicht vorher noch andere Umgangsformen zu erledigen wären. Nicht minder lehrreich ist der Inseratenteil, der eigentlich am schlagendsten das Ineinanderwachsen von Stadt und Land bekundet. Da sind Börsenkomtoirs empfohlen und Berliner Konserven und etwa 10mal fand ich ein Inserat des Inhalts, daß man sich für den Verkehr mit den Ostindischen Gewässern doch am besten an die Firma N. N. wende. Zugleich aber finden wir, daß am Sonntag der »Gewerbeverein«, am Montag der »Alpenverein« und am Dienstag der »Verschönerungsverein« seine Sitzung hält und gerade das ist ein völlig neues Element im ländlichen Leben. Denn der bairische Bauer ist von Haus aus der geschworene Feind jeder Vereinigung, er ist eine abgeschlossene, tief individuelle, solitäre Natur, und die Thatsache, daß solche Vereine entstehen und prosperieren können, zeigt am klarsten, wie sehr der Bauer schon zum Bürger geworden ist.

Dann steht ferner im Anzeigblatt, daß am Donnerstag Theater ist, »einheimische Dilettanten« wollen den »Herrgottschnitzer« geben und das Erträgnis ist einem milden Zweck gewidmet, selbst der Zusatz ist nicht vergessen, daß der Wohlthätigkeit keine Schranken gesetzt sind.

Ich habe nun mehrere solcher Vorstellungen gesehen und ich gestehe, daß sie nicht nur vortrefflich, sondern geradezu brillant waren. Die plastische Kraft, der künstlerische Sinn, der unbewußt in unserm Bergvolk lebt, ist ja bekannt, und die Leute brauchen eigentlich nur sich selber zu spielen, aber was gehört dazu an Weltläufigkeit, bis ein Bauer sich selber spielen kann! Noch ist die Zeit nicht allzuferne, wo der Bauer, der auf die Schranne kam und sich abends ins Hoftheater verirrte, dem Franz Moor entgegen brüllte: »Reißt ihn runter«, wo die ganze Bühne noch als bare Wirklichkeit erschien, und jetzt spielt eine Bauernmagd die erste Rolle vor Prinzen und Prinzessinnen, vor Geheimräten und Professoren, vor Berlinern und Bremensern, die alle gleichmäßig entzückt sind! Spüren Sie es, was für ein geistiger Verkehr, was für ein menschlicher Austausch dazu gehörte, bevor dies möglich war?

Gegenüber vom Wirtshaus, wo man Theater spielt, ist der Buchbinder und der Photograph. Buchbinder oder Buchhändler, das wird da draußen noch nicht so genau genommen, denn beide dienen ja der Litteratur. Es geschieht dies vor allem durch eine Leihbibliothek, in der man die sonderbarsten Nachbarschaften erlebt. Paul de Cock und die Stunden der Andacht sind da beisammen; hier ein Band Gervinus und 2 Bände Casanova – man muß sich denken »ländlich, sittlich«.

Der Photograph aber hat einen großen Kasten ausgehängt, denn er repräsentiert die Kunst, wie der Buchbinder die Litteratur, und beide sind auch im bäuerlichen Leben nicht mehr entbehrlich. Mit sonntäglichem Selbstgefühl schauen die Honoratioren des Ortes hier auf uns herab. Die schönsten Bauernmädchen stehen elegisch an einen Baumstamm gelehnt, der große Hund des Herrn Assessors und der neue Schimmel des Herrn Verwalters darf auch nicht fehlen bei diesem Rendez-vous unter Glas und Rahmen. Daneben aber finden wir zahlreiche Stadtfiguren, die sich im »Kostüm« haben photographieren lassen und deren maskierte Gesichter ganz verklärt sind über den Effekt, den sie machen. Denn es ist leider wahr, was mir einmal ein Bauer sagte: »Wenn ma' jetzt oan in Kniehosen sieht, na' is's ganz g'wiß a Stadtfrack«.

Diese Passion, sein Konterfei zu erwirken und zu vergeben, ist ungeheuer bezeichnend für unsere Zeit, weil das ganze Bedürfnis, etwas zu repräsentieren, etwas gleichzusehen (wie das triviale, aber schlagende Wort heißt), sich darin ausprägt. Jedes Miedei oder Lisei auf der Alm hat jetzt die Photographie von ihrem Schatz am »Spiegel« stecken und bei den herrschenden Gepflogenheiten kann es vielleicht bald ein Album geben. Ein paar Hausfreunde, Brüder, Nachbarn und dergl. gehen gewöhnlich drein.

Sollte man glauben, daß in demselben Ort noch vor 10 Jahren ein Mädchen zum Photographen kam und auf die Frage, ob sie ein Brustbild oder ein Kniestück wolle, schüchtern erwiderte: »Ja, am liebsten wär's mir freili scho', wenn der Kopf auch dabei wär'«.

Und wie diese Mode, so ist auch eine ganze Reihe moderner Vergnügungen, Bedürfnisse, Passionen aufs Land gekommen, die ehedem das Monopol der Städte waren. Ich garantiere Ihnen, daß vor 25 Jahren kein Bauer das Wort »Ball« verstand; man sagte »heut ist Tanz« oder »heunt is Musi'«, jetzt ist Schützenball, Veteranenball, ja sogar »Prüglerball«, den die Fuhrleute und Kutscher des Ortes halten. Und als ich neulich von Gmund landein fuhr, da hielt der Stellwagenkutscher motu proprio am Wirtshaus und sagte: »Jetzt geh'n mer nauf, denn heut is Prüglerball, da g'hör'n Sie a derzu, Herr Dokter«.

Was ein Schlittschuh sei, davon hatte man noch im Jahre 1860 kaum eine Ahnung in den meisten Teilen unseres Gebirgs, und als ich in dem genannten Jahre auf dem blanken Stahl über einen unserer Bergseen hinsauste, sahen mich die Leute fürwahr wie einen leibhaftigen Tanzbären an. Jetzt sind sie selber so klug geworden, daß die Bauernkinder von Wiessee auf Schlittschuhen zur Schule kommen, sie haben im Kopf noch ein sehr unvollständiges Alphabet, aber an den Füßen die echten Halifax. Ganze Züge von Münchnern fahren hinaus, wenn in den Zeitungen die Depesche steht, daß der Schliersee oder der Tegernsee gestern nachts gefroren ist; und es werden Wettfahrten auf dem Eise veranstaltet, als ob man auf der Rousseauinsel in Berlin wäre.

Bei einer Welt, wo soviel hineinkommt, muß schließlich doch der eine und der andere auch ein wenig hinauskommen. So hat denn auch der Bauer allmählich das begonnen, was ihm anfangs das Verhaßteste war – das Reisen, er fährt nach München, selbst wenn es nicht Oktober ist, er fährt zur Tierausstellung nach Hamburg und benützt gar fleißig die Eisenbahn, die er weiland so oft verspottet hat. Auf der kleinen Strecke von Schaftlach nach Gmund sind in 8 Monaten fast 25,000 Billets III. Klasse verkauft worden, und wenn davon selbst 10,000 auf den Fremdenverkehr gerechnet werden, so bleiben immer noch 15,000 den Bauern. Ja die letzteren sind schon so weit, daß sie den obligaten Respekt vor der Lokomotive fast verloren haben; ich hörte mit meinen eigenen Ohren einen Burschen sagen, als der Zug in Schaftlach feierlich einfuhr: »Siehgst'n, jetzt kimmt er, der Eierkäufler von Tölz.«

Ein Floßmeister aus Lenggries, der ehedem mit nassen Stiefeln in München ans Land stieg, erzählte mir neulich, daß er in Wien eingetroffen sei, und daß ihn der Fiaker, in den er einstieg, entsetzlich übernommen habe. »I hab' mi' mit so an g'wöhnlichen Menschen nit streiten wollen, i hab' ihm bloß g'sagt – fahren S' auf die Polizei!«

Ein anderer war bis Neapel gekommen, das war ein wohlbehäbiger Wirt, aber nicht immer reicht der Verstand der Reise so weit wie ihr Ziel, denn als ihn die Kameraden frugen, ob er denn auch den Vesuv gesehen und wie der eigentlich ausschaue, da erwiderte er seufzend: »Ja mein Gott, groß is er, und allweil geht der Rauch weg, grad wie a Bräuhaus schaugt er aus.«

Im selben Maße aber, wie der Personenverkehr, ist auch der Verkehr der Güter und des Handels gewachsen. Ich darf Ihnen hier ja nicht eine Statistik geben mit ihren trocknen Ziffern, aber wenn Sie selber einmal durch unsre Berge fahren, dann schauen Sie sich die Lagerplätze an, welche die Firma Steinbeiß in Brannenburg oder Schuhmacher aus Köln in Schaftlach errichtet hat, und Sie werden es spüren, was für ein Strom von Hab und Gut alltäglich hinüber und herüber geht. Eine Unzahl von Fabriken sind während des letzten Jahrzehnts im bairischen Hochland entstanden, Papier, Cement, Glas und Kohlen werden produziert und immer wirft sich die Findigkeit der Menschen noch auf neue Gebiete, wenn ich nur z. B. an die Petroleum-Bohrung in Tegernsee erinnern darf.

Aber selbst im Kleinsten zeigt sich diese Erweiterung des Verkehrs; auf dem Kaltenbrunnerhof liegen die fertigen Kistchen mit gedruckten Adressen, und die Butter, die dort gefertigt wird, ist morgen bei Herrn Hartmann in Dresden, bei Herrn Lehmann in Berlin und bei Herrn Naumann in Hamburg. Ich selbst kann keine mehr bekommen, der ganze Vorrat ist »bestellt«.

Ja im vergangenen Jahre ist es mir begegnet, daß ich einen Strauß von Alpenrosen mit nach Hause nehmen wollte und daß die Bäurin, die sie feilhielt, mir erklärte: »Ja die kann i nimmer hergeb'n, die san scho' verstellt – nach Berlin.«

Mit dem riesigen Umschwung des Verkehrs geht natürlich auch ein voller Umschwung aller Preise Hand in Hand; auch hier hat das Land sich der Stadt genähert, ja es fühlt sogar den Ehrgeiz, die Stadt zu übertreffen. Der Haushalt in den eleganten Orten unseres Gebirges ist genau um ein Dritteil teurer als in der Stadt und man hat für den täglichen Lebensbedarf ganz offen drei Klassen, einen mäßigen Preis, den die Eingebornen zahlen, einen zweiten, den die Fremden erlegen, welche ständige Gäste oder Hausbesitzer sind, und dann die Preise für die völlig Fremden, für die Passanten.

Zum Entgelt dafür hat sich freilich auch eine gewisse Coulantheit entwickelt, die man früher nicht kannte; der Mann, den man einst den Kramer hieß, wechselt jetzt rumänische Coupons mit der größten Gemütsruhe; aber die Kehrseite kommt immer wieder – der ungemessene Anspruch ans Leben, die fabelhafte Ausnützung der Stunde und der Gelegenheit. Ein Kutscher, dem ich Vorwürfe machte, daß er für eine so kurze Fahrt 24 Mark verlange, erwiderte mir: »San' S' froh, daß's keine Gulden mehr giebt, sonst kostet's 24 Gulden« und ein Hausknecht schüttelte den Kopf, als die Excellenz davon fuhr, ohne in die Tasche zu greifen, und meinte: »Mi' wundert's nur, wie der so hoch auffi kemma is, wenn der doch nirgend koa Trinkgeld giebt.«

So liegt denn auf allen Gebieten, wo wir nur die Augen hinwenden, eine andere, eine neue Welt vor uns; ich selber konnte Ihnen ja nur einzelnes bieten im Rahmen dieser engen Stunde, aber auch aus dem wenigen haben Sie wohl den ganzen Gegensatz entnommen zwischen Einst und Jetzt, zwischen altem und neuem Verkehr.

Der Grundgedanke, der selbst auch durch die stillen Thäler unserer Berge strömt, – er heißt égalite. Die Menschen kennen ja das Wort nicht, aber das Gefühl, denn alles Streben ist darauf gerichtet, die Gleichheit oder richtiger den Ausgleich mit unserer modernen Welt zu finden. Égalite – sie hat die Zeit verdrängt, denn es giebt alles zu jeder Zeit, was sonst an den Wechsel der Jahreszeiten gebunden war; sie hat den Raum verdrängt, denn sie stellt Bürgertum und Bauerntum hart nebeneinander auf dieselbe Scholle und mischt ihr innerstes Wesen; jeder will sein, wie der andere ist. Die Grenzen von Ort und Stand beginnen zu wanken vor dem bannenden Wort: égalite.

Das ist eine Thatsache und wir schaffen sie damit nicht aus der Welt, daß wir sie leugnen oder bedauern; wir müssen trachten, sie zu beherrschen.

Den ganzen Gegensatz, der diese Welt durchzieht, habe ich am lebendigsten empfunden in einer einsamen Wanderstunde.

Es war ein dämmernder Frühlingsabend; die Zweige waren noch kahl, aber in der Luft webte schon jene wunderbare Strömung werdenden Lebens. Da stieg ich den Gangsteig herunter vom Kampen zum Ringsee, der See lag da, stumm und dunkelgrün, und mitten in der Wildnis lief der Telegraph dahin, der Wind sang in den Drähten, die festgenietet waren an den uralten Bäumen.

Da durchzuckte es mich wie ein stummer Widerwillen, und doch atmete ich leise auf, denn in den Zweigen, die hochgewölbt über die Drähte niederhingen, saß eine Drossel im Dämmerlicht und sang, wie sie vor tausend Jahren hier gesungen. Und in dem wundersamen Ton lag gleichsam die Lösung all' der Gegensätze, die uns unversöhnt in der Brust liegen, lag der Einklang alter und neuer Zeit. Da spürt' ich es erst, wie viel unvergänglicher Zauber auf Erden noch waltet, den kein Verkehr hinweg trägt, den aller Wandel nicht wandelt, wenn wir nur selber fähig bleiben, ihn zu empfinden. Und in diesem Geiste soll uns allen das Wohl von Land und Leuten nahe stehn, wie ein Stück des eigenen Geschicks, und jeder einzelne soll sich das Wort zur Richtschnur nehmen, das einst der Wahlspruch Wilhelms IV. war: »Ich hab's im Herzen«.


 << zurück weiter >>